13. Kapitel

Lara stand in dem breiten Eingang der Höhle und lauschte der leisen Melodie, die zu ihr drang. Es waren Frauenstimmen, die dort sangen. Die wehmütigen Laute erinnerten sie an ihre Tanten, die ihr damals in den Eishöhlen unter dem Gletscher etwas vorgesungen hatten, wenn sie allein und traurig gewesen war. Für einen Moment blieb sie stehen, um zu lauschen.

»Ich kenne dieses Lied. Es ist ein Schlaflied«, sagte sie. »Es klingt wundervoll auf Karpatianisch. Ich habe es den Kindern in den Heimen, in denen ich lebte, vorgesungen. Als ich merkte, dass sie die Sprache nicht verstanden, habe ich die englische Version gesungen. Ich war mir nie ganz sicher, was die letzte Zeile bedeutete, aber die Melodie und Worte trösteten mich und die anderen Heimkinder, für die ich sang.«

»Das Lied wird von karpatianischen Müttern gesungen, bevor ihr Kind das Licht der Welt erblickt«, erklärte Nicolas. »Während die Mutter auf die Nacht wartet, in der sie ihr Baby in den Armen halten kann.«

Nicolas sang es mit melodischer Stimme vor: »Tumtesz o wäke ku pitasz belsó. Hiszasz sívadet. Èn olenam goeidnod. Sas csecsemom, kunász. Rauho jone ted. Tumtesz o sívdobbanás ku olen lamtad belsó. Gond-kurwpadek ku kirn te. Pesänak te, asti o jüti, kidüsz.«

Lara übersetzte das Wiegenlied leise für sich. »Fühl die Stärke, die du in dir hast. Vertrau deinem Herzen, ich werde dein Führer sein. Schsch, mein Kleines, schließ die Augen und fühl den Frieden, der zu dir kommen wird. Fühl den Rhythmus tief im Innersten. Wellen der Liebe, die dich zudecken und schützen bis zu der Nacht, in der du kommst.« Sie sah ihn fragend an. »Was bedeutet die letzte Zeile?«

»So viele unserer Frauen verlieren ihre Kinder«, antwortete Nicolas. »Deswegen sagen sie ihnen, dass ihre Liebe sie beschützen wird, bis die Kleinen bereit sind, in unsere Welt zu kommen.«

»Es ist sehr schön.«

Alles an der Nacht erschien ihr schön. Nicolas hatte Stunde um Stunde damit zugebracht, sie zu lieben, mit unstillbarem Verlangen nach ihr, wie es schien. Sie hatten eine kurze Pause eingelegt, um sich in dem warmen Teich zu erholen, und auch dort hatte er sie in Besitz genommen. Er kannte jeden Zentimeter ihres Körpers, und der heiße Blick, den er ihr zuwarf, ließ sie erröten, weil er ihr das Gefühl gab, als bedürfte es nur einer kleinen Ermutigung, damit er sie gleich hier am Eingang zu der Höhle nahm.

»Ich habe nicht wirklich das Gefühl, dass ich hierher gehöre, Nicolas«, sagte sie leise. »Ich kenne niemanden, und Natalya wird nicht hier sein.«

Es war nicht so, dass Lara übertrieben schüchtern war, aber sich mit den karpatianischen Frauen in einem so emotionalen Moment zu treffen, wenn auch sie gerade sehr gefühlsbetont und dünnhäutig war, beängstigte sie ein bisschen.

»Raven hat alle Frauen um Teilnahme gebeten, und sie verlangt sehr wenig von unseren Leuten.«

»Ich glaube nicht, dass sie mich damit gemeint hat. Sie kennt mich ja nicht einmal.«

»Alle wissen von dir, Lara. Dies ist eine sehr kleine Gemeinde, und wir benutzen alle einen gemeinschaftlichen Kommunikationsweg. Als Raven alle Frauen zusammenrief, hat sie zweifellos auch dich gemeint. Ich würde dich begleiten, doch es ist eine Zeremonie für Frauen, nicht für Männer.«

»Natalya ist auch eine Frau«, murmelte Lara verstimmt. »Und sie wird bestimmt nicht kommen.«

Nicolas nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, Lara, aber es ist eine uralte Zeremonie, und das eine oder andere Detail könnte dir helfen, dich an mehr von dem zu erinnern, was du in der Eishöhle gesehen hast. Unsere Kinder überleben nur selten im Bauch der Mutter, und außerhalb des Mutterleibs noch viel seltener. Sie können nicht unter die Erde gehen, wie sie es müssten, weil ihre Eltern sie dort beschützen könnten. Unsere Frauen können sie nicht einmal ausreichend ernähren. Wir müssen wissen, warum diese Dinge geschehen, und du hast möglicherweise wertvolle Hinweise, um uns zu helfen. Dies könnte ein ungeheuer wichtiger Moment für unser Volk sein, Lara.«

Sie befeuchtete mit der Zungenspitze die Lippen. »Ich kann die Erinnerungen nicht bewusst zurückbringen. Wenn ich mich zu sehr anstrenge, ist alles wie ein leeres Blatt.«

»Zu deinem eigenen Schutz«, erklärte Nicolas. »Aber deine Tanten haben das, was sie wussten, nicht vor unserem Volk verborgen. Wenn es so wäre, hätten sie deine Erinnerungen ausgelöscht, statt sie nur in dir zu verbergen.«

»Nicolas?« Eine Frau erschien plötzlich neben ihnen. »Ist das Lara?« Sie lächelte warmherzig, ihr Gesicht war glatt und ruhig, trotz der Anspannung, unter der sie stehen musste. Ihr Haar war leuchtend rot und fiel ihr in einem dicken, kunstvoll geflochtenen Zopf auf den Rücken. »Ich bin Shea Dubrinsky, Jacques’ Seelengefährtin. Wir können dir gar nicht genug dafür danken, Lara, dass du gekommen bist. Nicolas meint, du könntest uns vielleicht ein paar Hinweise geben, die zur Lösung unseres Rätsels beitragen.«

Lara holte tief Luft, warf Nicolas einen hilflosen Blick zu und sah dann Shea an. »Ich kann meine Erinnerungen nicht einfach so heraufbeschwören, doch hin und wieder kann ich einen Blick darauf werfen. Falls ihr also glaubt, dass es euch hilft, bin ich natürlich gern bereit, euch alles zu erzählen, was ich weiß.«

»Wir wollen schon morgen Abend in die Eishöhle«, setzte Nicolas hinzu. »Wenn du uns das bisschen mehr Zeit geben kannst, Shea, indem du Raven und Savannah hilfst, noch etwas länger durchzuhalten, besteht die Möglichkeit, dass wir dort weitere Hinweise finden.«

Shea runzelte die Stirn. »Ich beschäftige mich schon geraume Zeit mit Forschungen zu dem Problem. Bis jetzt wissen wir, dass wir es mit einer Kombination von schädlichen Einflüssen zu tun haben, bei denen unter anderem auch die Kontamination des Bodens eine Rolle spielt. Damit die Erde uns beleben und heilen kann, müssen wir durch unsere Haut die für uns lebensnotwendigen Mineralien aufnehmen. Jede Gegend hat andere Mineralien und unterschiedliche Ebenen der Fruchtbarkeit, aber wir finden auch immer mehr Toxine im Boden. Unsere Spezies ist an die Erde gebunden, wie ihr wisst, wir können ohne sie nicht überleben. Falls Xavier also etwas erfunden hat, eine chemische Verbindung oder einen Parasiten, der im Laufe der Jahrhunderte unsere Spezies langsam umgebracht hat, und wenn wir herausfinden, was es ist, haben wir, glaube ich, eine Chance, etwas dagegen zu unternehmen.«

Shea war Ärztin und Forscherin, bevor Jacques sie für sich beansprucht hat. Sie hat in Medizinerkreisen einen außerordentlich guten Ruf genossen.

»Ich habe eine Erinnerung an Xavier aus der Zeit, als ich etwa sieben oder acht war«, sagte Lara, »ein kurzer Blick auf eine Frau, die gerade ihr Baby verloren haben musste. Es befand sich auch Erde in ihrem Zimmer. Und Xavier war sehr erfreut, dass sie das Kind verloren hatte.«

Kleine Fältchen erschienen auf Sheas Stirn, als ihre Brauen sich zusammenzogen. »Er hat mehrere Jahrhunderte gehabt, um seine Angriffe zu optimieren.«

»Oder etwas einzuführen, das Zeit brauchte, um seine Wirkung zu entfalten«, meinte Nicolas. »Ich muss jetzt leider gehen.« Er machte eine respektvolle Verbeugung vor Shea. »Wir halten heute Abend einen Rat der Krieger ab.«

Sie verzog das Gesicht. »Den so ungeheuer wichtigen ›Lasst die Frauen barfuß und schwanger zu Hause‹-Rat? Ja, ich würde sagen, du hast einige Entscheidungen zu treffen. Vielleicht sollte ich zu Hause bleiben und meine Forschungen vergessen und sie einfach Gregori und Gary überlassen. Schließlich habe ich einen Sohn, um den ich mich kümmern muss.«

Lara runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht ...«

»Hat Nicolas es dir nicht erzählt? Die Männer halten heute Nacht eine Versammlung ab, um zu entscheiden, ob es Frauen erlaubt – erlaubt! – werden sollte oder nicht, Vampire zu bekämpfen, oder ob wir besser zu Hause bleiben und Babys kriegen sollten.«

»Ich glaube, es wäre eine gute Idee, jetzt zu verschwinden«, sagte Nicolas und nahm Laras Gesicht zwischen seine Hände, um sie zu küssen.

Sie errötete ein wenig, aber ihre Augen glänzten, und sie erwiderte den Kuss. Bevor sie jedoch protestieren oder Fragen stellen konnte, verwandelte sich Nicolas auch schon. Er wollte sich nicht von Shea Dubrinsky in eine Diskussion verwickeln lassen, ob Frauen Vampire bekämpfen sollten oder nicht. Die Debatte zwischen den Männern würde heiß genug werden. Es war kein Entschluss, den irgendeiner von ihnen auf die leichte Schulter nehmen würde, doch es musste etwas unternommen werden, um die Spezies der Karpatianer zu retten. Schnell sandte er Lara noch eine Welle der Liebe zu, bevor er in der Nacht verschwand.

Lara starrte ihm nach. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass er sie tatsächlich mit einer Gruppe ihr völlig fremder Frauen allein gelassen hatte. Außerdem hatte er sich wie ein Feigling davongemacht, bevor sie ihre Meinung dazu äußern konnte, dass Männer hier offenbar über die Frauen bestimmten.

Natürlich werde ich mir deine Meinung dazu anhören.

Seine vertraute Stimme in ihrem Bewusstsein ließ sie erneut erröten. Lass mich nicht zu lange allein.

Ich komme so schnell wie möglich wieder.

Der beruhigende Tonfall seiner Stimme entlockte ihr ein Lächeln, und sie warf einen Blick in den Tunnel, der zu einem tiefer liegenden Raum in der Höhle führte. »Sind viele Frauen hier?«, fragte sie Shea.

»Im Moment nur etwa ein Dutzend. Deswegen sind wir mehr als froh, dass du dich uns angeschlossen hast. Es gibt nicht so viele von uns hier in den Bergen. Außerdem mussten wir Abgesandte zum Rat der Krieger schicken, um für uns zu sprechen und uns später Bericht zu erstatten. Leider könnten die Männer nämlich ein stichhaltiges Argument haben, und wenn es so ist, wollen wir es alle hören, damit auch wir eine Chance haben, zuzustimmen oder nicht.«

Shea war zwar um Objektivität bemüht, doch das Thema verärgerte sie auch ganz offensichtlich. Laut Nicolas war sie eine moderne Frau, die Medizin studiert hatte, einen Ruf als anerkannte Forscherin besaß und das Gefühl hatte, dass die Männer die Frauen benachteiligten, statt sie zu fördern. Offenbar wollte sie aber fair sein und warten, bis sie alle Fakten hatte. Lara war sie gleich sympathisch.

Shea deutete mit einer Handbewegung auf die Höhle. »Komm und lass dich den anderen vorstellen!«

Lara folgte ihr den schmalen, gewundenen Tunnel hinab, der tiefer in den Berg hinunterführte. Wie die Höhle, die Nicolas bewohnte, war auch diese zu warm, um ein Teil des Netzwerkes der Eishöhlen zu sein, und als sie in die Tiefe hinabstiegen, nahm die Wärme sogar noch zu. Wandleuchter erhellten ihnen den Weg, kleine Lichter, die mehr glühten als flackerten. Das gedämpfte Licht fiel auf die Kristalle in den Tunnelwänden, die mit ihren unterschiedlichen Formen und Farben unter den Lichtern ein beeindruckendes Schauspiel boten und die Wand fast surreal erscheinen ließen. Wie in einem traumähnlichen Zustand hatte Lara beinahe das Gefühl, rückwärts durch die Zeit zu der Wärme und der Sicherheit des Mutterleibes zurückzukehren.

Als sie den Raum betraten, in dem die Frauen sich versammelt hatten, wurde die Illusion sogar noch stärker. Zwei der Frauen, Raven und Savannah, lagen in der Mitte auf dem Boden. Ihre Körper waren von schwarzer, mineralhaltiger Erde bedeckt. In einem lockeren Halbkreis um sie herum standen die anderen Frauen und sangen leise das karpatianische Wiegenlied, bei dem sie sich hin und her wiegten, als hielten sie ein Baby in den Armen.

Zwei andere Frauen, eine große, elegante und eine schmale, junge und sehr zerbrechlich aussehende, standen mit erhobenen Händen am äußeren Rand der Erde um Raven und Savannah und sangen leise eine andere wohlklingende Melodie, zu der sie in einem komplizierten Muster die Füße bewegten.

»Syndil und Skyler«, flüsterte Shea. »Sie beleben die Erde. Sie rufen die Mineralien und Heilkräfte zur Rettung unserer Kinder an. Beide sind von unschätzbarem Wert bei der Reinigung der Erde gewesen. Skyler ist Syndils Lehrling und arbeitet schon sehr, sehr gut.«

Es war ein erhebender Anblick, wie diese beiden Frauen ein uraltes Ritual zur Reinigung der Erde durchführten und die Natur um Hilfe anriefen, um die Kinder ihres Volkes zu retten. Lara hörte zu, als Shea ihr die einzelnen Frauen vorstellte, aber sie verfolgte auch die Zeremonie, und ihr wurde ganz warm ums Herz, als sie in Gedanken jeder anmutigen Bewegung der Hände und Füße der beiden Frauen folgte. In irgendeinem Teil ihres Bewusstseins kannte sie diese Zeremonie. Die Worte, die gesprochen wurden, ihr Rhythmus und die Muster waren ihr so vertraut, als wären ihr schon lange vor ihrer Geburt die Kräfte zum Reinigen der Erde übergeben worden.

Es zuckte ihr in den Füßen, sich den beiden Frauen anzuschließen, ihre Hände flatterten und hoben sich, um einen fließenden Bogen in die Luft zu zeichnen. Sie fühlte den Puls der Erde, und ihr Herz veränderte seinen Rhythmus, um sich dem Lied und der Melodie anzupassen. Oh ja, die Worte waren schon in ihr, uralt und schön und von weiblicher Macht erfüllt.

Oh, Mutter Natur, wir sind deine geliebten Töchter. Lara verneigte sich respektvoll, und ihre Füße bewegten sich wie von selbst, um die anmutigen Drehungen aufzugreifen, die Syndil und Skyler an zwei der vier Ecken des Lagers von Raven und Savannah ausführten. Instinktiv übernahm Lara die dritte Ecke. Wir tanzen, um die Erde zu heilen. Wir singen, um die Erde zu heilen. Wir vereinen uns mit dir. Unsere Herzen, Gedanken und Seelen werden eins.

Die Musik war schon in ihrer Seele vorhanden – aber sie brauchten eine vierte Frau. Die drei tanzten und sangen, ihre Stimmen wurden kräftiger, doch sie brauchten eine Stimme mehr. Sie waren nicht stark genug. Mit einem leichten Stirnrunzeln warf Lara Syndil einen Blick zu. Sie mussten ihre Schritte einander anpassen. »Spürt ihr es?«

Die Frauen verstummten. Die warme Höhle pulsierte von der unterbrochenen Macht. Lara hätte in Verlegenheit geraten müssen angesichts all dieser fremden Augen, die auf ihr ruhten. Sie war nicht sicher, ob sie recht hatte, aber irgendetwas fühlte sich ... nicht richtig an. Wieder sah sie prüfend Syndil an. Große Macht ging von der Frau aus und vibrierte in der Luft um sie herum. Sogar ihre Aura flimmerte und pulsierte.

Syndil runzelte die Stirn. »Der Tanz ist nicht ausgewogen, doch daran können wir nicht viel ändern.« Sie blickte Skyler an. »Was meinst du?«

»Es geht einigermaßen, aber er ist nicht ganz richtig so.« Das junge Mädchen zog die Schultern hoch. »Wir können nicht mehr als unser Bestes tun. Wir brauchen vier und sind nur drei.«

Syndil nickte. »Ich stelle den Tanz und die Töne des Liedes auf die Menge der Toxine ein, die ich durch meine Fußsohlen spüre. Mit dieser Erde müssen wir besonders vorsichtig sein, weil wir sie für die Babys vorbereiten.«

Lara nickte stirnrunzelnd und hob die Hand, um die durch den Raum pulsierende Macht zu spüren. »Einige der Gewebe sind ein bisschen schief. Wir brauchen eine vierte Weberin.«

»Es gibt keine. Die anderen können Macht beitragen, aber nicht den heilenden Gesang hervorbringen.«

»Gibt es niemand anderen unter euch, der dazu in der Lage ist?«, fragte Lara Syndil.

Syndil schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Wir nehmen an, dass Skyler dem Geschlecht der Drachensucher entstammt, doch wir wissen es nicht mit Sicherheit. Da sie die Erde jedoch schreien hörte, ist sie, falls kein Drachensucher-Blut in ihren Adern fließt, zumindest doch so einfühlsam wie ich der Mutter Erde gegenüber.«

»Sie hat Drachensucher-Augen«, stimmte Lara zu.

Skylers Augen waren zu alt für ihr junges Gesicht. Und sie erinnerten Lara an Razvans Augen. Wahrscheinlich war das junge Mädchen eines der Kinder, die Xavier mit Razvans Körper gezeugt hatte, um sich von dem Blut seiner Nachkommen ernähren zu können. Und irgendwie war das Mädchen dann bei den Karpatianern gelandet. Der Gedanke war beunruhigend, und einen Moment lang sehnte Lara sich nach dem Trost von Nicolas’ starken Armen. Spontan versuchte sie, die geistige Verbindung zu ihm herzustellen, und er war sofort bei ihr.

Du brauchst mich?

Jetzt kam sie sich ein bisschen dumm vor. Sie war nicht drauf und dran, ein Kind zu verlieren, aber sie zitterte, weil ein junges Mädchen die gleichen Augen wie ihr Vater hatte.

Nein, nein, es ist alles in Ordnung, beruhigte sie Nicolas.

Du brauchst mich nur zu rufen, Lara. Ich bin bei dir.

Sie fühlte sich sicher und getröstet von seinen Worten, und zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie ein Zugehörigkeitsgefühl.

Es geht mir gut. Diesmal sagte sie es mit Überzeugung, und dann wandte sie sich Raven zu und erwiderte ganz offen ihren besorgten Blick. »Wir brauchen Natalya.«

Die Frauen sahen sich an. »Natalya ist eine Kriegerin. Sie sagt, sie kann die Erde nicht spüren«, erklärte Shea. »Sie hat nicht die Sensitivität dafür.«

Laras Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Tatsächlich? Das hat sie gesagt?«

Shea und Raven wechselten einen langen Blick, dann runzelte Raven die Stirn. »Mikhail hat mir erklärt, sie könne die Erde nicht heilen, so wie ihre Familie es konnte. Ist das denn nicht so?«

Lara schürzte ihre Lippen. »Natalya pulsiert geradezu vor Macht. Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn sie es nicht könnte.«

»Dann ruft sie her«, schlug Raven vor.

»Sie ist beim Kriegerrat und spricht für uns«, gab Shea zu bedenken.

»Ruft sie her!«, wiederholte Raven, und diesmal war es ein Befehl. »Wenn es noch Hoffnung gibt, diese Kinder zu retten, ist das wichtiger als die Debatte mit den Männern. Letztendlich wird Mikhail die Entscheidung fällen, ob Frauen an der Seite ihrer Männer kämpfen dürfen oder nicht, und wir alle werden uns ihr beugen müssen.«

Niemand erhob Einwände. Raven machte selten – falls überhaupt je – ihren Rang als Frau des Prinzen geltend, doch im Moment bestand kein Zweifel, dass sie Natalya herbeizitieren lassen wollte.

Ravens Gesicht war tränenüberströmt, und ihr Kummer lastete schwer auf all den anderen Frauen. Raven hatte einen Verlust überlebt, und nun drohte ihr ein weiteres Kind zu entgleiten. Neben ihr lag blass und abgespannt Savannah, die sich mit geschlossenen Augen darauf konzentrierte, ihre Zwillinge bei sich zu behalten.

Beide Frauen konnten mit ihren ungeborenen Kindern kommunizieren, was den drohenden Verlust jedoch noch schwerer machte, denn die Babys entwickelten bereits Persönlichkeiten.

»Ruf sie her, Shea!«, beharrte Raven.

Shea versuchte, die geistige Verbindung zu Razvans Zwillingsschwester herzustellen.

»Warum zögert Shea, sie zurückzurufen?«, flüsterte Lara Syndil zu.

»Natalya ist anders«, antwortete Syndil. »Sie ist die älteste noch lebende Frau, die der Blutlinie der Drachensucher entstammt, und als solche ist sie enorm mächtig. Darüber hinaus ist sie eine Kraft, mit der man auch in jeder anderen Hinsicht rechnen muss, und sie geht ihren eigenen Weg. Ich glaube, sich immer vor Xavier verstecken zu müssen, hat sie mit der Zeit zur Einzelgängerin gemacht. Sie ist stets freundlich und respektvoll, neigt aber dazu, für sich zu bleiben. Man sieht sie nur selten ohne Vikirnoff.«

Es überraschte Lara nicht, dass Natalya eine Einzelgängerin war. Sie wirkte wie eine sehr selbstbewusste Frau, doch sie war Razvans Schwester und die Enkelin eines der ruchlosesten Männer, die es je gegeben hatte. Wahrscheinlich hatte sie schon in frühester Jugend stets auf der Hut sein und Angst haben müssen, jemandem zu vertrauen. Lara, die nicht sicher war, ob sie ihre eigene traumatische Kindheit je überwinden würde, um sich ganz an Nicolas binden zu können, konnte die Zurückhaltung ihrer Tante jedenfalls sehr gut verstehen.

Natalya kam mit ihrer gewohnten natürlichen Anmut und Gelassenheit herein, ihre blaugrünen Augen groß und fragend. »Du brauchst mich, Raven?«

Die Gefährtin des Prinzen nickte. »Wir kämpfen verzweifelt darum, unsere Kinder zu retten, und Lara und Syndil glauben, dass du die Einzige bist, die uns dabei helfen kann.«

Natalya blickte sich in der Höhle um und sah dann Lara an. »Ich habe keine Erfahrung in heilenden Ritualen, aber wenn ihr mir sagt, was ich tun soll, werde ich mein Bestes geben.«

Raven atmete erleichtert auf. »Danke, Natalya.«

Savannahs lange Wimpern hoben sich. Ihre Augen waren feucht vor Tränen. »Meine Töchter danken dir auch. Sie versuchen, sich festzuhalten, doch mein Körper wehrt sie ab.« Sie schlang die Arme um ihren Bauch und wiegte sich hin und her. »Ich sage ihnen, dass ich sie bei mir behalten will, aber sie fühlen sich von meinem Körper angegriffen.«

Raven nickte. »Genauso ist es bei mir auch. Und ich könnte es nicht ertragen, ein weiteres Kind zu verlieren.«

Die Verzweiflung in ihrer Stimme griff Lara ans Herz. Eine große, elegante Frau mit taillenlangem schwarzem Haar kniete sich sofort zwischen die zwei schwangeren Frauen und legte beiden eine Hand auf.

»Das ist Francesca, die Seelengefährtin Gabriels«, stellte Natalya sie Lara vor. »Sie ist Heilerin und Skylers Adoptivmutter. Eine erstaunliche Frau. Und nun sagt mir, was ich tun soll!«

Lara war froh, ihre Tante hierzuhaben. Sie kannte keine der Frauen, und wenn sie Skyler anschaute, kam es ihr so vor, als sähe sie sich selbst als junges Mädchen: ein bisschen verloren, sehr allein, traumatisiert. Der Teenager verunsicherte sie und ließ sie sich verwundbar fühlen. Natalya dagegen schien den Frauen ein Rätsel zu sein, auch wenn offensichtlich war, dass alle sie bewunderten.

»Als Erstes müssen wir die Erde heilen«, erklärte Syndil. »Wir haben die fruchtbarste hierher gebracht, die wir finden konnten, und sie mit mehr Mineralien versehen, aber wir müssen sie noch von allen Giften reinigen.«

»Und den Parasiten«, murmelte Lara.

Shea fuhr herum. »Was hast du gesagt?«

Lara wünschte, sie hätte den Mund gehalten, denn alle sahen sie nun erwartungsvoll an. Sie drückte zwei Finger an ihre pochende Schläfe. »Tut mir leid. Ich habe nur laut gedacht.«

»Nein, ich muss wissen, was du gesagt hast«, beharrte Shea.

Lara zuckte unglücklich die Schultern. Sie wollte nicht einmal an ihre Kindheit denken, geschweige denn darüber reden. »Xavier hat stets mit Parasiten experimentiert. Er war nie mit ihnen zufrieden und suchte immer nach Verwendungsmöglichkeiten für sie. Einmal sagte er, sie seien nützlicher gewesen als seine talentiertesten Magier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendetwas täte, ohne zuallererst an sie zu denken. An die Parasiten, meine ich. Er könnte Gifte für die Erde entwickeln, aber was ist, wenn er einen Schmarotzer geschaffen hat, der in den Körper eingedrungen ist und eine Schwangerschaft verhindert?«

Francesca stand langsam auf und suchte über Ravens und Savannahs Köpfe hinweg Sheas Blick.

»Wir haben nach unbekannten Mikroben Ausschau gehalten. Wir durchleuchten die Frauen ständig«, sagte diese. »Gregori würde so etwas nicht entgehen.«

»Das mag ja sein«, versetzte Lara, »doch Xavier ist ein Meister in der Arbeit mit mikroskopisch kleinen Amöben. Und wenn ihr tanzt, um die Erde zu heilen, haltet ihr nach bekannten Toxinen Ausschau.«

Shea runzelte die Stirn. »Hast du eine Ahnung, wie viele Toxine man in der Nabelschnur eines Neugeborenen oder in der Muttermilch findet? Die Erde ist unser Lebensraum und das, was uns verjüngt, aber unsere Kinder können nicht mit uns unter die Erde gehen oder die perfekteste und nahrhafteste Milch trinken, die die Natur hervorzubringen vermag. Ich kann dir jede Chemikalie nennen, die wir im Boden gefunden haben – die meisten von ihnen erzeugen Krebs –, und ...«

Raven legte beschwichtigend eine Hand auf den Arm ihrer Schwägerin. »Lara, unsere Wasserversorgung und unser Boden werden von der allerreinsten Quelle, unserem Gletscher, gespeist. Doch obwohl das so ist, muss Syndil die Erde heilen.«

»Ich sage ja auch nur, dass euer Gletscher möglicherweise nicht die allerreinste Quelle ist. Die Eishöhlen gehören Xavier. Sie verlaufen viele Meilen weit unter den Bergen und sind wie eine ganze Stadt. Sein Berg liegt über eurem Zuhause, und sein Gletscher bildet die Grundlage für eure Wasserversorgung; das Gletscherwasser dringt in eure Erde ein. Ihr habt Xavier unberücksichtigt gelassen, weil ihr dachtet, er sei tot. Aber das ist er nicht. Niemand wird ihn töten. Und er hasst die Karpatianer. Wenn er könnte, hätte er schon einen Weg gefunden, etwas in eure Organismen einzuschleusen, das eine Schwangerschaft verhindert.« Lara fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich behaupte nicht, dass es keine derzeit bekannten Toxine sind, ich finde nur, dass ihr auch in die Vergangenheit blicken solltet, um nach Antworten zu suchen.«

Sie konnte fast nicht glauben, dass sie vor diesem Kreis von Frauen ihre Meinung äußerte. In der Zeit nach ihrer Flucht aus den Eishöhlen war sie gewissermaßen »unter dem Radar« geblieben und stets so still und bescheiden wie nur möglich aufgetreten. Sie hatte schnell gelernt, dass sie nicht auffallen durfte, wenn sie bei einer Pflegefamilie oder in einem Zigeunerlager bleiben wollte – was nicht ganz einfach war mit ihrem Haar und ihren Augen, die je nach Stimmung ihre Farbe wechselten. Die Zigeuner, bei denen sie gewesen war, waren gut zu ihr zu gewesen, aber sie waren abergläubisch, und Laras fremdartige Erscheinung hatte in Verbindung mit ihren psychischen Fähigkeiten häufig Ablehnung hervorgerufen.

»Nur keine Schüchternheit«, ermutigte Francesca sie. »Wir brauchen so viele neue Ideen wie nur möglich, Lara.«

»Nun, wenn ihr mich fragt, ist es nicht nur möglich, dass Xavier etwas mit euren Problemen zu tun hat, sondern sogar mehr als nur wahrscheinlich. Er könnte Toxine in Boden und Wasser verbreiten, aber ich würde mein Leben darauf verwetten, dass er die karpatianischen Frauen mit irgendetwas infiziert hat, das ihre Körper dazu veranlasst, die Babys abzustoßen.«

»Wir haben die Frauen gründlich untersucht, und nicht alle haben das Problem«, sagte Francesca.

»Lasst uns weitermachen«, unterbrach Syndil die Diskussion. »Raven und Savannah brauchen jetzt reichhaltige Erde, um ihren Körper zu kräftigen.«

»Oh, mein Gott!« Shea fuhr herum und sah Francesca aus großen Augen an. »Wir haben die Frauen untersucht, doch es sind die Männer, die das Geschlecht des Kindes bestimmen. Das ist sowohl bei den Menschen als auch bei den Karpatianern so. Aber die Männer haben wir nicht untersucht! Und unser Problem begann mit einer ungleich niedrigeren Geburtenzahl von Mädchen als von Jungen.«

Francesca versuchte offenbar, ihre eigene Erregung zu unterdrücken, und mahnte sich nach so vielen Enttäuschungen zur Vorsicht. »Das klingt vernünftig, doch wir müssen auch weiterhin alle anderen Möglichkeiten in Erwägung ziehen.«

Shea nickte mehrmals und drückte Ravens Hand. »Wir werden Syndil und den anderen helfen, diese Erde zu der bestmöglichen für dich und Savannah zu machen«, versprach sie. »Und dann ziehe ich mich in mein Labor zurück und versuche, das Rätsel zu lösen. Ihr müsst nur noch ein bisschen länger durchhalten.«

Raven nickte, aber feine weiße Linien umgaben ihren Mund, und nackte Verzweiflung stand in ihren Augen. Lara musste sich abwenden, weil sie es nicht ertrug, die Qual in ihrem Blick zu sehen.

Auch einige der anderen Frauen hatten offenbar Ravens Gesicht gesehen, denn sie formten wieder einen lockeren Halbkreis um die beiden Schwangeren. Über einer Feuerstelle in der Ecke hing ein dampfend heißer Wasserkessel, in den Francesca mehrere große Steine unterschiedlicher Zusammensetzung gab. Während sie noch einige kleine blaue Sträußchen und etwas Alraune dazugab, zündeten andere Frauen Duftkerzen an, und sowie der aromatische Duft von Lavendel und Jasmin die Luft erfüllte, stimmten die Frauen wieder das karpatianische Wiegenlied an.

Lara spürte, wie ein überwältigendes Gefühl der Liebe zu den ungeborenen Kindern sie erfasste, als sie einstimmte und ihre Stimme hob, um die Kleinen zu beschwören, sicher und geschützt im Mutterleib zu bleiben und zu warten, bis sie geboren wurden und von liebevollen Armen aufgenommen werden konnten.

Sie spürte auch, dass die elektrisierende Empfindung großer Macht in dem Raum jetzt ein wenig anders als zuvor war. Weibliche Energie war ebenso stark wie männliche, aber sie enthielt auch Mutterinstinkt und Mitgefühl. Da Lara zum Teil auch Magierin war, reagierte sie sehr empfindlich auf die Unterschiede, und als sie die individuellen Energiefäden untersuchte, konnte sie sehen, dass die Netze, die um Raven und Savannah gewoben wurden, aufrichtige Liebe und vollkommene Harmonie enthielten. Die Frauen waren zusammengekommen, um die Babys zu retten, und so unterschiedlich sie von Charakter und Herkunft her auch sein mochten, hatten sie doch alle genau die gleichen Ziele und Absichten in ihren Herzen.

Die vereinte Kraft der Frauen war erstaunlich. Lara fühlte sich durch sie gestärkt und ermutigt, nicht nur ein Teil dieser wunderbaren Schwesternschaft zu werden, sondern zukünftig auch mehr Vertrauen in sich selbst und in andere zu setzen.

Sie ließ ihren Blick über die Frauen in der Höhle gleiten, nahm freudig ihren Anblick in sich auf und sonnte sich in dem Gefühl der Einheit und Gemeinsamkeit mit ihnen. In ihnen allen lebte Macht, und sie vereinten diese positive Energie und nutzten sie zum besten aller Zwecke: um Leben zu retten.

Lara gab ihre Stimme dazu, die eine sanfte, melodiöse Bitte und ein liebevoller Trost für diese armen ungeborenen Kinder war. Die Frauen verschmolzen ihr Bewusstsein miteinander, damit sie einander spüren und sich nahe sein konnten, und sie fühlten auch Raven und Savannah und durch sie die Kinder.

Savannahs beide Töchter lagen eng aneinandergekuschelt, lauschten angestrengt und versuchten, die Krämpfe zu ignorieren, die sie gelegentlich erfassten. Ravens Kind war ein Junge, den ihr Körper jedoch verzweifelt abzustoßen versuchte, um sich von dem Eindringling zu befreien. Der Kleine war zutiefst verwirrt und durcheinander, er wusste nicht, ob er kämpfen sollte, um bei seiner Mutter zu bleiben, oder versuchen sollte, Frieden zu erlangen, indem er ging. Raven sprach zärtlich zu ihm, wiegte ihn sanft und hielt beschützend die Arme über ihn, als läge er schon auf ihrer Brust.

Syndil bedeutete Skyler, ihren Platz an der gegenüberliegenden Ecke des Lagers einzunehmen, das für die beiden schwangeren Frauen aus weicher Erde vorbereitet worden war. Natalya und Lara übernahmen die unteren Ecken. Schweigen legte sich über die Höhle, bis das einzige noch verbliebene Geräusch Ravens und Savannahs schweres Atmen war.

Syndil hob die Arme, und die anderen drei Frauen taten es ihr nach. Ihre Füße vollführten kleine Tanzschritte, ihr Körper wiegte sich anmutig, während ihre Hände elegante Linien in der Luft beschrieben. Skyler wartete ein paar Momente ab und summte in perfekter Harmonie die Melodie mit Syndil mit, bis ihre Hände und Füße den Rhythmus aufnahmen und sie, zwei Zeilen später als Syndil, mit der ersten Zeile des Gesangs begann. Lara folgte Skylers Beispiel und wartete instinktiv, bis ihre Füße und Hände sich aus eigenem Antrieb zu bewegen begannen. Sie spürte, wie der heilende Gesang aus ihrem tiefsten Inneren in ihr aufstieg, um sich Bahn zu brechen. Die Luft flimmerte vor Energie und Macht. Und dann schloss auch Natalya sich ihnen an.

Ihre Stimmen erhoben sich, und alle vier Frauen tanzten eine komplizierte Schrittfolge zu dem Geräusch ihrer nackten Füße auf dem Boden, als bezögen sie direkt aus dem Inneren der Erde die Musik dazu. Lara spürte das Lied und seinen Rhythmus durch die nackten Sohlen ihrer Füße. Sie kannte jeden Schritt, bevor sie ihn machte, jede anmutige Bewegung ihrer Hände und jedes Wiegen ihres Körpers. Das Lied war in ihrem Geist bereits vorhanden, in perfekter Harmonie mit den anderen drei Tänzerinnen und perfekt auch auf die Töne aus der Erde abgestimmt.

Oh, Mutter Natur, wir sind deine geliebten Töchter. Wir tanzen, um die Erde zu heilen. Wir singen, um die Erde zu heilen. Wir vereinen uns mit dir. Unsere Herzen, Gedanken und Seelen werden eins.

Während sie das Lied sangen, merkte Lara, dass es diesmal richtig war und die Frauen zu einer Einheit mit der Erde, dem Himmel über ihnen und dem heißen Erdkern unter ihnen verschmolzen.

Oh, Mutter Natur, wir sind deine geliebten Töchter. Wir huldigen unserer Mutter und beschwören den Norden ... Syndil verbeugte sich tief und vollführte eine Drehung. Den Süden. Skyler wiederholte die Bewegung in perfekter Synchronisation mit Syndil. Den Osten. Lara verneigte sich respektvoll und drehte sich mit den anderen beiden Frauen, als Natalya an der Reihe war. Den Westen. Alle vier Frauen vollführten die vierte Verbeugung und drehten sich in exakt dem gleichen Moment um. Den Himmel über uns, die Erde unter uns und auch das Innere der Erde.

Macht flammte auf, die jetzt so lebendig war, dass sie die Luft im Raum zum Schwingen brachte; sichtbare Fäden verbanden alle Frauen miteinander und schöpften Kraft aus ihrer Energie.

Unsere Liebe zu dem Land heilt, was in Not ist. Wir vereinen uns jetzt mit dir, Erde zu Erde. Der Zyklus des Lebens ist vollständig.

Der Boden unter ihren Füßen erwärmte sich. Raven und Savannah schnappten nach Luft, als eine Welle der Hitze über ihnen zusammenschlug. Die Farbe der Erde verdunkelte sich noch mehr und wurde zu einem tiefen, fruchtbaren Schwarz, das von Mineralien funkelte.

Unter den Sohlen ihrer nackten Füße spürte Lara die Freude der Erde, die durch ihre Beine in sie hinaufströmte, um ihren ganzen Körper mit Kraft und Glücksgefühlen zu durchfluten. Als Teil eines kosmischen Ganzen war sie eins mit den Frauen und eins mit dem Universum und empfand ein wunderbares Selbstvertrauen und Gefühl des Einklangs mit sich selbst. Für diesen einen denkwürdigen Moment fühlte sie sich frei von Ängsten und Verwundbarkeiten und als Teil eines größeren Ganzen. Ein schon fast euphorisches Gefühl des Wohlbehagens durchflutete sie, das ihr von der Energie und dem Frieden um sie herum übermittelt wurde.

Die Tänzerinnen hörten auf, sich zu wiegen, und gruben ihre Hände in den fruchtbaren Boden, der weitaus wertvoller für sie war als die reichhaltigste aller Goldminen. Sie hätten alle ausgelaugt und erschöpft sein müssen, aber die Erde erfüllte sie mit Energie.

Syndils Gesicht spiegelte die gleiche Freude wider, die Lara empfand, und ihre Augen glänzten vor Erstaunen.

»Das ist es, was die Erde für unsere Frauen sein sollte«, sagte sie. »Und zu viert können wir jetzt so viel mehr bewirken.«

»Ich spürte schon einen Unterschied«, sagte Savannah erleichtert. »Die Krämpfe haben bereits ein wenig nachgelassen.«

Raven biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. »Mir hilft es nicht. Die Wehen werden stärker.« Verzweiflung prägte ihre Stimme.

Lara, die noch immer eins war mit den anderen Frauen, rührte den Geist des Kindes an. Furcht und Schmerz überschwemmten sie. Ihr war, als würde sie aus einem sicheren Zufluchtsort herausgezerrt, und erschrocken unterdrückte sie einen Schrei. Dem kleinen Jungen war bewusst, was mit ihm geschah, und er suchte immer wieder den Kontakt zu seiner Mutter.

Raven versuchte, ihn vor dem Schmerz und den unaufhörlichen Angriffen gegen seinen kleinen Körper abzuschirmen. Aber mehr als den körperlichen Angriff gegen ihn spürte Lara den schwer zu definierenden Strom von etwas anderem. Stirnrunzelnd blickte sie Natalya und die anderen an, um zu sehen, ob sie es auch bemerkt hatten. Das hatten sie. Alle waren von der gleichen Furcht und Verzweiflung beherrscht, den Kleinen zu verlieren.

Lara befeuchtete die Lippen, die plötzlich wie ausgetrocknet waren, und suchte instinktiv Kontakt zu Nicolas. Sofort war er da, umhüllte sie mit seiner Wärme und flößte ihr Selbstvertrauen ein mit seiner Kraft. Schon etwas gefasster atmete sie tief ein und wieder aus und versuchte, dem Faden dunklen Einflusses zu folgen, der sowohl die Mutter als auch das Kind bedrängte. Bevor Lara allerdings seinen Ursprung finden konnte, entfernte sich der Junge noch weiter.

Raven brach in tiefe, herzzerreißende Schluchzer aus, die Lara das Herz zusammenkrampften. »Ich kann nicht noch ein Kind verlieren. Mein Junge ist zu winzig, um ihn ohne eine Mutter in die nächste Welt zu schicken. Ich muss mit ihm gehen ...«

Die Frauen schnappten gleichzeitig nach Luft und waren alle sehr blass geworden.

»Das kannst du nicht!«, rief Shea. »Auf keinen Fall.«

»Mutter«, protestierte Savannah.

»Raven.« Francescas Stimme war völlig ruhig. »Wenn du beschließt, mit deinem Sohn zu gehen, wird Mikhail euch folgen. Aber unser Volk braucht euch beide. Du bist verstört, Raven, und denkst nicht klar.«

Doch Raven konnte nicht aufhören zu weinen. Shea setzte sich neben sie auf die Erde und nahm sie in die Arme, während Savannah ihre Hand ergriff.

»Ich verstehe nicht, was sie damit meinte, dass Mikhail ihr folgen wird«, flüsterte Lara Natalya zu.

»Seelengefährten können nicht ohne einander sein. Falls Raven also beschließen sollte, ihr Kind ins nächste Leben zu begleiten, bliebe Mikhail keine andere Wahl, als ihr zu folgen, denn sonst würde er zum Vampir. Das kann nicht Ravens Wille sein, schon gar nicht als Frau des Prinzen. Er ist unser Anführer. Und wenn Savannah nicht seinen Platz einnehmen kann, haben unsere Feinde gewonnen, und unsere Spezies wird aussterben.«

Lara erstarrte. Still wie eine Statue stand sie plötzlich da, und kalte Angst lief ihr den Rücken hinunter. Nicolas hätte zum Vampir werden können. Sie war drauf und dran gewesen, diese Welt aus freiem Willen zu verlassen, ohne auch nur zu ahnen, welch grausame Konsequenzen das für ihn oder sein Umfeld hätte haben können. Er hatte nie darüber gesprochen und ihr keine Vorwürfe gemacht. Nicolas war ein erfahrener Jäger. Hätte er die furchtbare Verwandlung vollzogen, wären viele durch seine Hand gestorben, bevor er selbst vernichtet worden wäre.

Den Blick auf Ravens tränenüberströmtes Gesicht gerichtet, nahm sie noch mehr von der fruchtbaren Erde in die Hände. »Du darfst das Leben deines Mannes nicht riskieren.« So wie sie selbst es getan hatte, selbstsüchtig und ohne einen Gedanken an die Folgen für alle anderen.

Als sie die anderen Frauen betrachtete, die sich hier versammelt hatten, um die Kraft der Erde wiederherzustellen und das Leben von drei Kindern zu retten, erkannte sie, dass jede von ihnen auf ihre eigene Weise wertvoll war und sie alle zu dem größeren Guten beitrugen. Sie war ebenso ein Teil dieses Lebenskreises, wie Nicolas, Raven und die ungeborenen Kinder es waren. Jeder von ihnen war etwas Besonderes und konnte einen wichtigen Beitrag leisten. Vielleicht wusste keiner, was es war, aber sie mussten das Leben achten, dafür kämpfen und jeden Einzelnen für wichtig erachten.

»Du wirst hier von so vielen gebraucht, Raven«, murmelte sie, als sie zum ersten Mal ganz klar erkannte, dass das große Ganze sich aus Einzelnen zusammensetzte. »Wir würden alle schwächer durch dein Ende.«

»Ich brauche dich, Mutter«, sagte nun auch Savannah und ergriff beschwörend Ravens Arm. »Ich brauche dich hier bei mir. Ich bin deine Tochter. Selbst wenn du nur mich hättest – wäre ich es dir nicht wert, für mich zu bleiben?« Ihr Gesicht war angsterfüllt und sehr weiß vor dem Hintergrund der schwarzen Erde. »Du kannst mich nicht verlassen, Mutter!«

»Das weiß ich, Kind.« Raven legte die Arme um ihre Tochter. »Ich ertrage es nur nicht, noch ein Baby zu verlieren. Er ist noch so klein, und er will leben. Aber er ist so weit entfernt ...«

Francesca packte Raven an den Armen und schüttelte sie ein bisschen. »Sieh mich an!«, befahl sie und wartete, bis Raven ihr gehorchte. »Du bist in Panik. Doch du musst ruhig sein, damit der Kleine ruhig sein kann. Du musst daran glauben, dass wir ihn retten können, damit auch er darauf vertraut.«

»Aber er hat Schmerzen und ist sehr verängstigt«, wandte Raven ein.

»Das weiß ich, Liebes. Und du spürst seinen Schmerz und seine Angst, und sie vergrößert deine, doch das wird ihm nicht helfen. Wir jedoch können helfen. Wir alle. Sieh dich um. Wir sind alle bei dir, und wir werden dir und deinem Jungen helfen.«

Savannah nickte. »Auch ich werde helfen und die Zwillinge auch.«

Lara suchte im Geiste wieder nach dem Faden. »Hier ist eine dunkle Macht am Werk. Ich spüre sie, wenn ich mit dir und deinem Kind verbunden bin. Sie versucht, dich und deinen Sohn zu beeinflussen, damit ihr aufgebt. Du musst dich wehren, Raven. Lass nicht zu, dass Xavier dieses Kind bekommt! Lass nicht zu, dass er uns dich und deinen Jungen nimmt! Erkauf mir etwas Zeit!«

Francesca und Shea fuhren zu ihr herum und starrten sie mit großen Augen an. »Bist du sicher, Lara?«, fragte Francesca. »Wirklich sicher?«

»Sie ist kaum wahrzunehmen, die dunkle Macht, aber sie ist da. Ihr könnt mir glauben, dass ich Xaviers Einfluss überall erkennen kann, egal, wie leicht seine Berührung ist.«

»Ich muss wissen, was du spürst«, meinte Francesca. »Was ist mit dir, Natalya? Fühlst du es auch?«

Natalya wurde ganz still und lauschte in sich hinein. Dann nickte sie bedächtig. »Ja, Lara hat recht. Und Savannah steht unter dem gleichen Einfluss. Bei ihr ist er noch nicht so stark, weil die Zwillinge ihre Energie vereinen, um ihre Kräfte zu vermehren, doch die dunkle Macht bestürmt auch sie. Sie werden sich nicht mehr lange dagegen behaupten können, wenn es so weitergeht – jedenfalls nicht, bis sie so weit sind, den Mutterleib verlassen zu können.«

Savannah legte ihre Hände beschützend auf ihren Bauch. »Was können wir dagegen unternehmen?«

»Wir müssen diese Macht vernichten, was immer sie auch angreift«, sagte Francesca.

»Soll ich Gregori kommen lassen?«

»Und Mikhail?« Ravens Stimme zitterte.

Lara runzelte die Stirn. »Wir können nicht riskieren, dass das Böse sich zurückzieht, falls es sich durch einen Mann bedroht fühlt. Die Männer sind die Beschützer und Wächter. Uns Frauen empfindet es nicht als Bedrohung.«

»Kannst du es verfolgen?«, warf Natalya ein. »Denn wenn du mir ein Ziel gibst, kann ich es vernichten«, erklärte sie mit absoluter Zuversicht.

Lara nickte. »Ich denke schon, dass ich das kann.«

»Raven?«, sagte Francesca. »Es ist deine Entscheidung. Deine und Savannahs. Wenn ihr meint, Mikhail und Gregori sollten herkommen, um zu versuchen, diesen Mordversuch an euren Kindern zu verhindern, rufen wir sie auf der Stelle her.«

Stille trat in der Höhle ein, als Raven und Savannah einen langen Blick tauschten. Das Wasser in dem großen Kessel kochte noch, die Luft war von den beruhigenden Düften von Lavendel und Jasmin erfüllt. Raven sah der Reihe nach die wartenden Frauen an, die alle aus einem einzigen Grund gekommen waren: um ihre ungeborenen Kinder vor dem Tod zu retten.

Schließlich hob Raven den Kopf, beugte sich zu ihrer Tochter vor und küsste sie, bevor sie sich entschlossen Lara zuwandte. »Findet dieses ... Ding und lasst es uns vernichten!«