4. Kapitel
Lara stand plötzlich mitten in einer erstaunlich warmen Höhle tief unter der Erde. Wasser lief von den Wänden in einen dampfend heißen Teich, Duftkerzen in Wandhaltern verbreiteten flackerndes Licht und warfen Schatten auf die seltsam glitzernden Wände. Lara war so perplex, sich in dieser Umgebung wiederzufinden, dass sie sich einmal schnell im Kreis drehte und die Finger um den Griff des Messers krallte, das sie seitlich an ihrem Gürtel trug.
Nervös befeuchtete sie dann die Lippen und wandte sich an Nicolas. »Wo bin ich hier, und wie bin ich hergekommen?«
»Bevor du durchdrehst und das Messer, das du in der Hand hast, nach mir wirfst«, erwiderte er gedehnt, »solltest du wissen, dass du keine Gefangene bist. Ich habe einen Pfad in deinem Bewusstsein offen gelassen, damit du jederzeit den Ausweg findest, wenn du gehen willst oder glaubst, es tun zu müssen. Dieser Ort ist der sicherste und friedlichste, den ich kenne. Außerdem habe ich ihn zu deiner Sicherheit noch mit Schutzzaubern belegt. Es gibt ein Bett im Nebenraum, wo du dich ausruhen kannst.«
Sie durchforstete ihre Erinnerung und fand den Ausweg sofort. Es war, als hätte sie die Höhle schon tausend Mal betreten und kenne jeden Raum und jeden Gang. »Ich habe ein Zimmer in dem Gasthof.« Ihre Hand um den Messergriff entspannte sich nicht.
»Das ist im Moment von mehreren Männern besetzt. Ich dachte, vielleicht würdest du dich an diesem friedlichen Ort ein bisschen wohler fühlen.«
Nicolas’ schwarzes Haar, das ihm verwegen in die Stirn fiel, lenkte ihren Blick auf seine dunklen Augen, und der Impuls, ihm die seidigen Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, war so stark, dass sie einen Schritt zurücktrat, um dem Drang nicht nachzugeben.
»Das erklärt nicht, wie ich hierhergekommen bin oder warum du mich vorher nicht gefragt hast.«
Er zuckte die breiten Schultern, was einen interessanten, sehr reizvollen Effekt unter seinem Hemd bewirkte. Lara musste sich alle Mühe geben, nicht seine beeindruckenden Muskeln anzustarren.
»Ich habe dich hierher getragen. Wir haben uns in Nebel aufgelöst, um unbemerkt und schneller voranzukommen.«
Lara erstickte fast. »Ich verwandele mich nicht!«
Seine Augen funkelten sie an, seine Mundwinkel verzogen sich belustigt. »Du hast dich so problemlos verwandelt, dass ich dachte, du hättest das schon immer getan.«
Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Und wieso erinnere ich mich nicht daran?«
»Hast du oft Gedächtnislücken? Ist das etwas, dessen ich mir bewusst sein müsste und worauf ich achten sollte?«
»Ha, ha. Du findest dich wohl wirklich witzig, was? Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht verwandelt, und in Nebel schon gar nicht!« Und sie hatte es versucht, tausendmal, immer wieder, bis sie irgendwann geglaubt hatte, sie habe ihre Kindheit nur erfunden.
»Du weißt, wie es geht. In deinem Bewusstsein ist das Wissen vorhanden.«
»Tatsächlich?« Für einen Moment vergaß sie, dass sie ärgerlich auf ihn war. Sie wollte keine alten Erinnerungen ausgraben, um herauszufinden, ob sie sich verwandeln konnte, aber wenn er recht hatte, wäre das zweifellos ein ausgesprochen nützliches Talent. Ihre Tanten waren verwandlungsfähig, das wusste sie. Sie waren in Drachengestalt gefangen gewesen, aber das war nicht ihre natürliche Gestalt. Sie hätte wissen müssen, dass sie ihr neben Sprachen, Heilkünsten und Magie auch diese Fähigkeit mitgegeben hatten. »Ich wusste das gar nicht.«
»Nun, über das Wissen verfügst du jedenfalls. Du brauchst natürlich Hilfe, weil du keine reinblütige Karpatianerin bist, aber es ist gar nicht schwer. Du hast Barrieren um dich, Schutzzauber. Deine ganz persönlichen habe ich gefunden«, stellte er nüchtern fest und beobachtete sie prüfend. »Doch da sind auch noch andere Schutzzauber, die von einem Mann und zwei Frauen erzeugt wurden, die offenbar nicht wollen, dass du dich an deine Kindheit erinnerst.«
Die beiden Frauen mussten ihre Tanten sein – aber der Mann? Ihr Vater? Sie kannte keine anderen Männer. Doch warum sollte ihr Vater einerseits eine Barriere vor ihren frühesten Erinnerungen erzeugen, sie andererseits jedoch tagtäglich mitansehen lassen, wie er sich von ihrem Blut ernährte? Wie so oft in den letzten Stunden drehte sich ihr der Magen um, und sie wandte sich von Nicolas ab, weil sie nicht noch mehr Schwäche vor ihm zeigen wollte. Sie hatte häufig Albträume, aber noch nie war jemand dabei gewesen und hatte diese bösen Träume gesehen. Und in ihren früheren Flashbacks – sofern man sie so nennen konnte – hatte sie Razvan auch noch nie angekettet und als Gefangenen gesehen.
»Ich verstehe überhaupt nichts von all dem.«
Warum sah sie nun statt sich selbst plötzlich Razvan als das Opfer? Nichts schien mehr einen Sinn zu ergeben, nicht einmal ihr eigenes Verhalten. Lara konnte sich einfach nicht erklären, warum ihre Tanten – oder jemand anders, der ohne ihr Wissen in ihrem Kopf gewesen war – nicht wollten, dass sie sich an ihre Zeit als Kind erinnerte.
»Warum sollten sie meine Erinnerungen auslöschen wollen?«, murmelte sie und konnte die gequälte Miene ihres Vaters nicht aus ihrem Kopf verdrängen.
»Sie wollen sie nicht auslöschen, sondern dich davor beschützen«, erklärte Nicolas. »Die Erinnerungen sind noch da, du musst sie nur entdecken.«
»War es real? Was wir gesehen haben, meine ich, war das real?«
Er hob eine Hand, die Kerzen flackerten auf, und der angenehme Duft von Lavendel, Honig und Flieder erfüllte den großen Höhlenraum. Nicolas wollte, dass sie sich besser fühlte ... doch man belog seine Seelengefährtin nicht. »Deine Erinnerungen wurden unterdrückt, aber nicht verändert. Sie sind sehr real.«
»Dann hast du also die gleichen Bilder wie ich gesehen?« Ausgelöst durch Blut und Parasiten und diese unheimlichen silbrigen Augen. Lara seufzte und atmete tief den beruhigenden Duft der Kerzen ein.
»Ja. Und ich habe die Spuren der Ketten an Razvan gesehen. Mein Bruder Riordan wurde einmal gefangen genommen und in solche Ketten gelegt. Es ist nicht leicht, einen Karpatianer gefangen zu halten. Ich glaube, wer auch immer hinter all dem steckt, hat sich große Mühe gegeben, seine Technik zu perfektionieren.« Und deinen Vater benutzt, um zuerst an ihm herumzuexperimentieren.
Lara fing Nicolas’ Gedanken auf, bevor er ihn verbergen konnte. Sie sah sich nach etwas um, das ihr als Sitzgelegenheit dienen konnte. Sofort stand ein bequemer Sessel mit weichen Kissen vor ihr. Lara fragte nicht, wie er dahin gelangt war, sondern ließ sich dankbar darauf nieder, weil sie befürchtete, dass ihre Beine sie nicht viel länger tragen würden.
»Ich verstehe das nicht, Nicolas. Wenn dein Bruder die gleichen Kettenspuren hatte, war er dann Xaviers Gefangener? Erzähl mir von deinem Bruder.«
»Wir leben im Regenwald in Südamerika. Er ist schon seit vielen Jahrhunderten unser Zuhause, und unsere Familie hat sich dort gut eingerichtet. Riordan war auf Patrouille, da wir mehr Aktivitäten registrierten ...«
»Xaviers Aktivitäten, meinst du?«
Nicolas schüttelte den Kopf und bemerkte, dass Lara nicht aufhörte, ihre Schläfen zu massieren. Als er ihren Geist anrührte, entdeckte er dort einen starken Kopfschmerz. »Nein, ich spreche von Vampiren. Die Jaguarmenschen teilen sich mit uns den Amazonas, und die Vampire haben sich zusammengetan, um uns Karpatianer zu vernichten. Da sie einen unserer Verbündeten loswerden wollten, begannen sie, die Jaguar-Spezies zu verderben. Riordan stieß auf Beweise für die Präsenz der Vampire und fiel einem falschen Hilferuf zum Opfer, als er ihre Spur verfolgte.«
Nicolas trat hinter Lara und legte seine Fingerspitzen an ihre Schläfen. Sie versteifte sich und zog den Kopf weg, bevor sie ihm einen misstrauischen Blick über die Schulter zuwarf.
»Lass mich machen«, sagte er sanft. »Es ist nicht nötig, dass du Schmerzen hast.«
Sie hielt den Atem an, weil sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte, was nur sehr selten bei ihr vorkam. Aber Nicolas brachte sie mit seiner Nähe durcheinander. Sie schienen dieselbe Luft zu atmen, sie spürte ihn unter ihrer Haut, und jede einzelne Zelle ihres Körpers war sich seiner überaus bewusst.
»Es ist eine Kleinigkeit für mich, dir deine Kopfschmerzen zu nehmen.«
Und es wäre dumm und kleinlich von ihr, sein Angebot zurückzuweisen. »Erzähl mir mehr von deinem Bruder.«
»Er wurde in einem Labor gefangen gehalten.«
»Dann ist es das Gleiche. Sie haben an ihm herumexperimentiert! Das ist doch sicherlich kein Zufall.«
»Sie experimentierten hauptsächlich mit Tieren, aber als sie Riordan hatten, ketteten sie ihn mit von Vampirblut beschmierten Ketten an die Wand, ähnlich jenen, die du Razvan tragen sahst. Das Blut brennt wie Säure, gnadenlos und äußerst schmerzhaft. Sie schwächten Riordan mit ständigen Blutentnahmen und einem Gift, das ihm injiziert wurde.«
Lara runzelte die Stirn, als ihr eine vage Erinnerung an Nadeln kam, aber sie versuchte nicht, sie festzuhalten, sondern ließ zu, dass sie sich wieder verflüchtigte.
Nicolas drückte seine Fingerspitzen auf den Puls an Laras Schläfen und behielt sie dort, um ihr Wärme und heilende Energie zu übermitteln. Er konnte ihr spontanes Mitgefühl für seinen Bruder spüren. »Er ist in Sicherheit und heute sehr glücklich«, sagte er schnell. »Seine Seelengefährtin hat ihn gerettet und unserer Familie Hoffnung gebracht und den Glauben, dass wir anderen Männer vielleicht auch unsere Gefährtinnen finden könnten, wenn dies Riordan sogar unter den unwahrscheinlichsten Umständen gelingen konnte. Und darum schafften wir es, länger durchzuhalten, als wir es für möglich gehalten hätten.«
Da seine Familie über enorme Begabungen verfügte, waren sie auch mit einem weit gefährlicheren Element belastet. Während alle karpatianischen Männer mit der Zeit eine Düsternis in ihrer Seele entwickelten, besonders die zum Krieger geborenen, war diese bei den Brüdern de la Cruz schon von Geburt an stark vorhanden gewesen. Sie waren schnell davon vereinnahmt worden und hatten großen Gefallen gefunden an ihrer Ausbildung, dem Kampf, der Jagd und insbesondere dem Rausch des Tötens.
»Wie kann das sein?«, fragte Lara neugierig. »Meine Tanten sagten, der karpatianische Mann trüge den Samen des Vampirs in sich.«
»Das ist eine Sichtweise. Fest steht, dass alle karpatianischen Männer sich dafür entscheiden können, ihre Seele aufzugeben. Wir bewegen uns in öden, grauen Welten, in denen wir nur unsere Erinnerungen haben oder den Geist anderer anrühren können, die die Schönheit unserer Umgebung noch sehen und empfinden. Es ist schwer, gegen das Verlangen nach Gefühlen – egal welchen Gefühlen – anzukämpfen.«
»Ist mein Vater ein Vampir?«
Nicolas schwieg einen Moment und ließ seine Hände auf ihre Schultern sinken, um auch dort mit einer Massage ihre Anspannung zu lindern. »Wir wissen nicht, was dein Vater ist. Manchmal glauben wir, dass er tot ist, und dann taucht er plötzlich wieder irgendwo auf. Er hat viele Gesichter, und er hat zahllose Verbrechen gegen unser Volk begangen, aber keiner weiß mit Sicherheit, was im Feindeslager vor sich geht. Du könntest unser größter Hinweis sein. Du und deine verlorenen Erinnerungen.«
»Aber was haben meine Erinnerungen zu bedeuten? Ich habe meinen Vater immer für einen Dämon gehalten. Er hat mir mein Blut gestohlen, hat meine Handgelenke, meinen Nacken, meine Adern aufgeschlitzt. Er behandelte mich, als wäre ich nichts als eine Mahlzeit für ihn. Das ist das Einzige, woran ich mich erinnern kann.«
»Wir kennen und verstehen den Zeitrahmen nicht. Vielleicht gab es eine Zeit, in der ihr beide zusammen Gefangene wart.«
»Es ergibt aber keinen Sinn, dass meine Tanten meine Erinnerungen an ihn als Gefangenen blockieren sollten. Wozu sollte das gut sein? Und wie du schon sagtest, war auch ein Schutzzauber, den ein Mann gewirkt hatte, unter meinen Barrieren. Ich weiß nur von meinem Vater und Xavier, aber du würdest das Böse spüren, wenn einer von ihnen einen Schutzzauber gewoben hätte. Und zu welchem Zweck hätte er mir nur Erinnerungen daran lassen sollen, wie er sich von meinem Blut ernährte? Warum sollten sie alle wollen, dass ich meinen eigenen Vater für die schlimmste Art von Monster halte?« Lara schlug die Hände vors Gesicht.
Nicolas blieb hinter ihr und fuhr fort, ihre verkrampften Nackenmuskeln zu massieren. »Vielleicht sind die wahren Erinnerungen ja noch schlimmer als der Glaube, dass dein Vater ein Ungeheuer war.«
»Du hast ihn erkannt. War er noch am Leben?«
»Wir glauben ja.«
»Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Als er in Gestalt einer älteren Frau in dem Gasthof erschien, in dem du ein Zimmer hast. Dort fand gerade eine Feier statt, und die Seelengefährtin des Bruders unseres Prinzen ...«
Lara stieß zischend den Atem aus und fuhr herum, um Nicolas anzusehen. »Sag mir ihren Namen! Sie hat doch sicher einen Namen.«
Ungerührt von ihrem Ärger zuckte er die Schultern. »Shea, Jacques Dubrinskys Gefährtin, erwartete ein Kind. Die ältere Frau griff sie mit einer vergifteten, mit Widerhaken versehenen Nadel an und hätte sie umgebracht, wenn mein Bruder Manolito sich nicht vor Shea geworfen hätte, um sie zu beschützen. Zum Glück hat er den Angriff überlebt.«
Lara gab einen leisen Laut von sich und wandte sich wieder von ihm ab, doch weder seine sanften Hände noch das beruhigende Aroma des Lavendels und des Honigs konnten ihr Entsetzen über diese neuerliche Heimtücke ihres Vaters dämpfen. »Shea war also schwanger, und Razvan versuchte, sie und ihr ungeborenes Kind zu töten.«
»So scheint es.«
Lara schüttelte den Kopf. »Es tut mir schrecklich leid. Ich habe nicht über das hinausgedacht, was er mir angetan hat, aber das hätte ich tun sollen.«
Nicolas bewegte sich so schnell, dass sie nur etwas ganz Verschwommenes sah und spürte, bis er vor ihr stand und mit sanften Fingern ihr Kinn anhob. »Du bist nicht verantwortlich für Razvans Taten. Ganz allein er trägt die Verantwortung dafür.«
Sie brachte ein kleines Lächeln zustande. »Danke, dass du das sagst. Und was ist mit meinen Tanten? Weißt du irgendetwas über sie?«
»Tut mir leid, Lara, aber ich habe nichts davon gehört, dass sie irgendwo lebend gesehen wurden. Falls sie überhaupt deine Tanten sind.«
»Meine Großtanten«, erläuterte sie. »Aber ich habe sie immer Tanten genannt.«
Er lächelte. »Das hatte ich mir schon gedacht. Wenn sie deine Großtanten sind, würde das sie zu Rhiannons Töchtern machen. Wir wissen, dass Rhiannon Drillinge mit Xavier hatte. Zwei Mädchen – deine Tanten – und Soren, deinen Großvater. Soren ist vor einigen Jahren von Xavier ermordet worden. Die Mädchen sind seither nie wieder gesehen worden. Wie sehen sie aus?«
»Ich habe sie nur in Drachengestalt gesehen. Sie waren schwach und krank. Xavier benutzte sie als ... als Blutspenderinnen und erhielt sie zwar am Leben, aber in einem sehr geschwächten Zustand. Er hatte große Angst vor ihnen. Oftmals, wenn eine aufgetaut wurde, hielt er der anderen ein Messer an die Kehle. Sie haben mich vor dem Verrücktwerden bewahrt, indem sie flüsternd zu mir sprachen, wenn es ganz schlimm wurde, und mich ablenkten, wenn ich wieder mal als Blutquelle benutzt wurde.«
»Bist du sicher, dass sie Rhiannons Töchter waren?«
»Die Liebesgeschichte, die sie mir erzählt haben, handelte von ihrer Mutter Rhiannon und ihrem wahren Seelengefährten. Xavier ermordete ihn, und dann hielt er Rhiannon gefangen und zwang sie, ihm Kinder zu gebären. Das waren die Drillinge. Er glaubte, er sei unsterblich, wenn er von dem Blut der Karpatianer lebte. Ich bin sicher, dass die Dinge, die meine Tanten mir erzählt haben, der Wahrheit entsprachen, oder zumindest sagten sie, es wäre so.« Lara sah Nicolas an. »Du konntest mich mit den rituellen Worten an dich binden. Woher sollten meine Tanten dieses karpatianische Ritual kennen, wenn sie nicht Rhiannons Töchter wären?«
»Dominic, Rhiannons Bruder, hat viele Jahre nach ihr oder Nachrichten von ihr gesucht. Man unterrichtete uns, dass sie durch Xaviers Hand gestorben war, und Dominic, der so gehofft hatte, von seinen Nichten zu hören, wird sehr traurig sein über die Neuigkeiten.«
»Aber sie könnten auch noch am Leben sein«, wandte Lara ein. »Möglich ist es. Sie halfen mir, aus der Eishöhle zu entkommen, und vielleicht haben sie es ja dann auch geschafft. Xavier ließ sie nicht zu Kräften kommen, doch sie waren schlau und könnten trotzdem einen Weg gefunden haben. Deshalb bin ich hierher zurückgekehrt, um es herauszufinden. Ich werde nach Hinweisen darauf suchen, was aus ihnen geworden ist.«
Nicolas zog scharf den Atem ein. »Die Eishöhlen sind viel zu gefährlich, Lara. Ihre letzten Besucher kamen gerade noch mit dem Leben davon. Sie sind kein Ort, den du betreten solltest.«
Lara hielt ihren Blick auf den sanft gegen das Ufer plätschernden Teich gerichtet. »Warst du schon einmal dort unten?«, fragte sie, obwohl es sie im Grunde gar nicht kümmerte, wie er darüber dachte. Sie war jedenfalls fest entschlossen, die Höhle wieder aufzusuchen und herauszufinden, was aus ihren Tanten geworden war.
»Nicht selbst, aber alle Karpatianer tauschen Wissen untereinander aus. Vikirnoff und seine Frau mussten gegen Schattenkrieger, Vampire und Magier kämpfen, als sie in den Höhlen waren.«
Lara runzelte die Stirn und blickte verärgert zu ihm auf. »Seine Frau? Nicht schon wieder. Hat sie keinen Namen? Oder schätzt ihr Frauen so gering, dass ihr euch nicht einmal die Mühe macht, euch ihre Namen einzuprägen?«
Nicolas beugte sich zu ihr herab und legte seine Lippen an ihr Ohr. »Ich glaube, du versuchst, einen Streit vom Zaun zu brechen, weil du erschüttert bist über die Rückblenden, die du erlebst. Du hast oft genug an meinen Geist gerührt, um zu wissen, dass ich Frauen respektiere und mein Leben hingeben würde, um sie zu beschützen.« Er zupfte spielerisch an ihrem langen Zopf. »Ich muss den Prinzen sprechen und werde dann auch Neuigkeiten von deinem Freund erhalten. Außerdem brauche ich Nahrung und du auch. Bleib also hier und ruh dich aus! Ich werde dir etwas zu essen und zu trinken mitbringen, und dann können wir gemeinsam herausfinden, was mit deinen Tanten geschehen ist.«
Das Gefühl seines warmen Atems an ihrem Ohr und das verführerische Streifen seiner Lippen lösten ein solch wohliges Erschauern in ihr aus, dass ihre Brüste prickelten und ihre zarten Spitzen sich versteiften. Mit einem kleinen klickenden Geräusch biss sie die Zähne zusammen.
»Ich will absolut nichts mit Blut zu tun haben!«
»Das dachte ich mir schon.« Nicolas richtete sich auf und entfernte sich von ihr. Er glitt wieder mit dieser eigenartigen Lautlosigkeit über den Höhlenboden, die Lara an eine Dschungelkatze auf der Jagd erinnerte. »Geht es dir wieder gut genug, um hier allein zu bleiben, oder wird diese Höhle noch mehr Erinnerungen in dir hervorrufen?«
Sie bedachte ihn mit ihrem grimmigsten Stirnrunzeln. »Ich bin Höhlenforscherin und halte mich bereits mein halbes Leben in Höhlen auf. Ich hatte nur ein kleines Problem für einen Moment, als ich diese widerlichen Parasiten sah. Aber jetzt geht es mir wieder gut. Bestens sogar, Nicolas.« Sie blickte sich ganz bewusst noch einmal um. »Ich finde es ziemlich schön hier unten.«
Und das war es auch. Die Wände waren von Mineralien und Kristallen durchzogen. Kerzen in allen Größen waren überall verteilt. Der Teich sah einladend aus. Die Luft war frisch und beruhigend. Hinter dem Raum, in dem sie sich befand, konnte sie eine Art Schlafzimmer sehen, das ähnlich wie ein Zimmer in einem Haus über der Erde eingerichtet war. Nicolas hatte sich sichtlich Mühe gegeben, ihr einen ruhigen, sicheren Platz zum Ausruhen zu verschaffen.
»Die Schutzzauber sind aktiviert. Es sind die neuesten, die wir haben, um Feinde fernzuhalten, die sich mit unseren Gebräuchen auskennen. Du wirst hier sicher sein. Und solltest du mich brauchen, musst du nur rufen«, sagte Nicolas. »Ich werde dich hören.«
»Wie ist es möglich, dass wir uns auf diese Art verständigen können?«, fragte Lara neugierig. »Wir benutzen nicht den sonst bei Karpatianern üblichen Kommunikationsweg. Ich dachte, der würde durch eine Blutsverbindung hergestellt. Du hast mein Blut genommen, aber ich nicht deins.«
Dessen war er sich nur allzu gut bewusst. Das Verlangen danach, ihr Lebenselixier zu kosten, dröhnte in seinen Ohren, donnerte in seinem Herzen, rauschte durch seine Adern und ließ das Blut in seinen Lenden pochen. Er holte tief Luft, um seinen Körper zu entspannen und seinen Geist im Zaum zu halten, weil seine animalischere Seite dominieren wollte. »Du bist meine Seelengefährtin, und ich habe uns aneinander gebunden. Der Rest wird mit der Zeit schon kommen.«
»Und wenn nicht?«
Er zuckte die Schultern. »Dann überleben wir dieses Leben nicht und werden in das nächste gehen, um es von Neuem zu versuchen.«
Sie beobachtete, wie seine hochgewachsene Gestalt sich in Nebel auflöste, der aus der Höhle strömte. Erst dann merkte sie, dass sie den Atem angehalten hatte, stand auf und streckte sich, um ihre verkrampften Muskeln zu entspannen. Statt erleichtert zu sein, dass sie hier war, müsste sie verärgert sein, weil Nicolas sie ohne ihre Zustimmung von ihren Freunden weggebracht hatte. Aber wenn sie ehrlich war, hatte sie in jenem Raum im Gasthof nicht einmal mehr atmen können. Und klar denken schon gar nicht. Sie war nicht stark genug als Heilerin, um Terry von den Parasiten zu befreien. Ohne sie in diesem Zimmer würden die Karpatianer noch mehr der ihren herbeirufen, und Terry würde bessere Chancen haben.
Sie seufzte, weil sie wusste, dass Terrys und Geralds Erinnerungen ausgelöscht werden würden, dies aber die einzige Möglichkeit war, ihre Freunde zu beschützen. Und vielleicht hatten ihre Tanten ja aus genau dem gleichen Grund ihre eigenen Erinnerungen gelöscht oder blockiert.
Lara zog sich aus und legte ihre ordentlich gefalteten Kleidungsstücke auf einen flachen Felsen am Rand des Teichs, bevor sie in das an Mineralien reiche Wasser stieg, um ihre Verkrampfungen zu lösen. Das heiße Wasser umspülte ihre Schenkel und vertrieb die Kälte abscheulicher Erinnerungen.
Langsam schwamm sie durch den brodelnd warmen Teich und spürte augenblicklich, wie ihr Kopfschmerz nachließ und sich die verkrampften Muskeln an ihrem Nacken entspannten. Mit einem wohligen kleinen Seufzer ließ sie sich auf dem Rücken dahintreiben und schloss die Augen.
Mit trägem Flügelschlag überflog Nicolas den Wald. Um die Entfernung leichter und schneller zurücklegen zu können, hatte er die Gestalt einer Eule angenommen, denn er hatte viel zu tun. Das Allerdringlichste war, mit dem Prinzen zu sprechen und ihm die Botschaft zu überbringen, derentwegen er so weit gereist war. Trotzdem ließ er sich Zeit in der Luft, weil er zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren das unglaubliche Gefühl des Fliegens genoss, statt es als selbstverständlich zu betrachten.
Der Anblick des sanft fallenden Schnees, der hohen Bäume, die sich leicht im Wind wiegten, ja, selbst der Duft der frischen Luft bereiteten ihm große Freude, als er zum Waldboden und der verabredeten Stelle hinunterstieß. Er hatte den Prinzen kontaktiert, um sich zu erkundigen, ob Laras Freund noch lebte, und gleich auch eine Zusammenkunft mit Mikhail verabredet, solange der Prinz noch in der Gegend war. Für dieses Treffen hatte er den Wald in den Bergen gewählt, weil die Karpaten über eine ganz besondere Magie verfügten.
Als er seine menschliche Gestalt annahm und seine Stiefel im Schnee und der vielschichtigen Vegetation darunter versanken, verspürte er wieder seine sofortige Verbindung mit der Erde. Seine Spezies entstammte dieser Erde und brauchte ihre Fruchtbarkeit, um sich zu erholen und zu verjüngen. Die Karpatianer fühlten sich verwandt mit den Pflanzen und den hohen, majestätischen Bäumen, und auch die Tiere und Vögel in der Natur waren ihre Brüder. Nicolas nahm seine Umgebung in sich auf und ließ sich von Gefühlen überwältigen, die er so lange nicht empfunden hatte.
Im Schutz des dichten Waldes wartete er auf Mikhail und wünschte fast, er hätte die Besprechung mit dem Prinzen geführt, bevor seine Emotionen wiederhergestellt worden waren. Über ihm ließ sich eine Eule auf einem Ast nieder und flatterte noch einmal mit ihren Schwingen, bevor sie sie zusammenlegte und auf den Boden hinunterstieß. Im letzten Moment begann das Tier zu flimmern und sich in einen Mann zu verwandeln.
»Ich habe dich unruhig auf und ab gehen sehen, Nicolas«, sagte Mikhail, als er geschmeidig auf dem Boden landete. »Das kann nichts Gutes bedeuten.«
»Ich überbringe Nachrichten, Mikhail, und du hast recht, sie sind nicht gut. Meine Brüder lassen dich grüßen, und Zacarias hat mich gebeten, das Treuegelöbnis meiner Familie dir und unserem Volke gegenüber zu erneuern.«
»Eure Treue wurde nie infrage gestellt.«
Nicolas erwiderte den wissenden Blick seines Prinzen ruhig. »Als dein Vater noch herrschte und wir jung, anmaßend und von unserer eigenen Wichtigkeit überzeugt waren, saßen wir oft am Lagerfeuer und diskutierten andere Möglichkeiten, als blind dem traditionellen karpatianischen Kurs zu folgen. Meine Familie und die Malinovs standen sich damals sehr nahe. Wir kämpften Seite an Seite und teilten unsere Erinnerungen, als unsere Emotionen allmählich nachließen. Wir verbrachten sehr viel Zeit miteinander.«
Mikhail nickte zustimmend, schwieg jedoch und wartete, weil er wusste, dass Nicolas nur selten ein Gespräch begann, wenn er nichts Wichtiges zu sagen hatte.
»Die Brüder Malinov hatten eine Schwester, ein kluges, schönes Mädchen, das von uns allen sehr verehrt wurde.«
»Ivory«, sagte Mikhail und rief sich ihr Bild vor Augen. Groß und schlank, mit Haar wie schwarze Seide, das ihr bis zur Taille reichte, war sie äußerlich wie innerlich sehr anziehend gewesen. Wohin sie auch ging, brachte sie eine frische, wohltuende Brise mit sich, die selbst in die Herzen der ältesten Krieger und finstersten Jäger Frieden bringen konnte. Natürlich erinnerte Mikhail sich an sie. Es waren sogar Gedichte und Lieder über die legendäre Ivory verfasst worden.
»Ihre Eltern waren kurz nach ihrer Geburt gestorben, und unsere beiden Familien zogen sie zusammen auf«, fuhr Nicolas fort. »Damit hatte Ivory zehn ältere, vom Krieg gestählte und strenge Brüder, was nicht leicht für sie gewesen sein konnte, aber sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und sang und ließ die Welt wie einen heiteren Ort erscheinen, selbst als die Farben und Gefühle für uns verblassten. Ivory vermochte einen Anschein dessen wiederherzustellen, was wir verloren hatten, wenn wir in ihrer Gesellschaft waren. Aber sie wollte studieren und die Magierschule besuchen, denn sie war sehr klug, und ihr reger Geist verlangte nach Anregung. Außerdem trug sie große Macht in sich und brauchte das Wissen, um eine solch großartige Gabe besser nutzen zu können.«
Mikhail kannte die Geschichte, doch er unterbrach Nicolas nicht, weil er instinktiv erkannte, dass sein Freund sie noch einmal erzählen musste, um sich an alle Einzelheiten zu erinnern, die gesagt werden mussten, vor allem aber, um seine Neuigkeiten auf die einzige Art und Weise darzulegen, die ihm möglich war.
»Wir glaubten damals schon, dass Xavier die Freundschaft des karpatianischen Volks missbrauchte. Eine heftige Debatte tobte deswegen unter unseren Leuten, und wir wollten unsere Frauen keinen Gefahren aussetzen. Vlad gab sich alle Mühe, den Frieden zu bewahren, als viele der Ältesten sich an seinem immer launenhafteren Verhalten zu stören begannen. Die anderen konnten wir nicht daran hindern, ihren Töchtern und Seelengefährtinnen das Studieren zu erlauben, aber Ivory untersagten wir es, sofern einer von uns sie nicht begleiten konnte. Und da wir zu den Waffen gerufen wurden, konnten wir das nicht und mussten sie allein lassen.«
Allein und ohne Schutz. Nicolas sprach es nicht aus, doch der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Selbst heute noch, Hunderte von Jahren später, erinnerte er sich an diesen Moment des Abschieds, als wäre es erst gestern gewesen. Ivory, seine Adoptivschwester und einziger Sonnenstrahl in seiner schrecklich öden Welt, lächelte ihn und seine Brüder mit Tränen in den Augen, aber tapfer, an und erfüllte ihre Gedanken und Herzen mit Wärme und Liebe, als sie sich von ihr verabschiedeten. Sie behielt ihre Ängste für sich und ließ sie alle mit so viel Trost und glücklichen Erinnerungen ziehen, wie sie ihnen nur vermitteln konnte.
»Ich erzähle dir das alles, Mikhail, damit du weißt, wie unsere Gemütsverfassung war, als diese furchtbare Tat begangen wurde«, sagte Nicolas. »Nicht, um dich zu kränken oder Schuld auf deine Schultern zu laden. Ich weiß, dass du Befehl gabst, deinen eigenen Bruder auszulöschen, als es nötig war. Aber Tatsache ist, dass Vladimir diesen Befehl schon Jahre vorher hätte erteilen müssen.«
Ein Muskel zuckte an Mikhails Kinn, doch er sagte noch immer nichts und wartete nur ab.
Nicolas rieb seinen Nasenrücken und suchte Mikhails Blick. »Dein Bruder war abartig, und das wusste Vlad. Dein Bruder wollte Ivory, obwohl er wusste, dass er nicht ihr wahrer Seelengefährte war. Und deine Schwester Noelle trug den gleichen Wahnsinn in sich.«
Mikhail nickte. Er hatte den Tod seiner Schwester ebenso wenig angeordnet wie sein Vater den seines Bruders – und Jacques hatte den Preis dafür gezahlt. »So viel Macht in unseren Adern kann verderblich und unheilvoll sein, genau wie in jeder anderen Familie.«
Nicolas nickte. »Das ist wahr. Als wir erfuhren, dass Ivory von einem Vampir getötet worden war, suchten wir nach ihrem Leichnam, um zu versuchen, sie aus der Schattenwelt zurückzuholen, doch wir konnten sie nicht finden. Wir hatten das einzige Licht in unserem Leben verloren und mit ihm jegliche Erleichterung von dem Wahnsinn unserer Existenz. Von da an schmiedeten wir nachts am Lagerfeuer Pläne, wie wir die Dubrinskys in die Knie zwingen und die Herrschaft eines Mannes beenden konnten, der nicht mehr in der Lage war, ein Volk zu führen. Unsere beiden Familien hatten die Fähigkeit entdeckt, Macht zu vereinen und zu teilen, wie die Daratrazanoffs es können. Damals glaubten wir, weil wir es den Daratrazanoffs nachmachen konnten, müsse es noch eine andere Familie geben, die der Lebensquell für unser Volk sein könnte.«
»Ein Lebensquell muss imstande sein, alles Wissen und alle Macht, gegenwärtige wie vergangene, für unsere Leute zu bewahren. Er verbindet durch seinen Geist alle Karpatianer nicht nur auf telepathische, sondern auch auf physische Weise miteinander«, sagte Mikhail. »Ich weiß von keiner anderen Familie, die dazu in der Lage ist.«
Nicolas seufzte. »Damals erschien es uns nur logisch, dass es, wenn wir das Gleiche zustande brachten wie die Daratrazanoffs, es noch eine andere Familie geben musste, die unser Volk regieren konnte. Wir wussten, dass die deine Wahnsinn in sich trug und von einem Kontrollzwang über das andere Geschlecht beherrscht war, und waren uns sicher, dass wir einen anderen, würdigeren Führer finden könnten.«
»Und so ließt ihr euch etwas einfallen, um uns zu vernichten?« Eine ruhige Akzeptanz schwang in der Stimme des Prinzen mit.
»Ja«, gab Nicolas aufrichtig und noch immer völlig unerschrocken zu. »Zusammen mit den Brüdern Malinov. Und sie verwirklichen den Plan. Wir glauben, dass sie schon seit Hunderten von Jahren dabei sind, es zu tun. Zuerst als Karpatianer und heute vielleicht als Vampire.«
Mikhail entfernte sich nachdenklich ein paar Schritte und kam dann wieder zu Nicolas zurück. »Ich werde unsere Jäger einberufen.«
Nicolas stellte eine geistige Verbindung zu Lara her und sah, dass sie sich zufrieden in dem warmen Wasser in der Höhle treiben ließ. Er nickte Mikhail zu. »Ich glaube, wir haben keine andere Wahl.«
Krieger, findet euch zur Ratsversammlung ein!, sandte Mikhail den Ruf gleich aus.
Die beiden Karpatianer wechselten noch einen langen Blick, bevor sie Anlauf nahmen und sich als Eulen in die Luft erhoben, um über die schneebedeckten Gipfel zu der uralten Höhle zu fliegen, in der die Ratsversammlungen abgehalten wurden. Die beiden Raubvögel legten die Flügel an, als sie durch den Eingang flogen, sich schnell verwandelten und dann über den langen Gang zum Sitzungssaal hinuntereilten.
Nicolas war seit Jahrhunderten nicht mehr in der Höhle gewesen, aber sie flößte ihm immer noch das gleiche Gefühl von Ehre, Stolz und Kameradschaft ein wie früher in den alten Zeiten. Der Ehrfurcht gebietende Sitzungssaal war groß und rund und mit einem natürlichen Kamin in seiner Mitte ausgestattet. Die in der alten Sprache verfasste Inschrift an der Wand zeigte den Ehrenkodex des Kriegers an, nach dem er all diese Jahrhunderte gelebt hatte. Ehre, Gnade und Redlichkeit, Treue und tödliche Entschlossenheit – das waren ihre Gesetze, ihre Art zu leben.
Die Mauern der Höhle waren von einem dunklen Mitternachtsblau, beinahe wie der Himmel draußen, und mächtige Stalagmiten ragten in einem Halbkreis fast bis zu der hohen Decke auf, von der wiederum spiralförmige Stalaktiten herunterwuchsen, die von in ihnen eingeschlossenen bunten Mineralien glitzerten. Kristalle in unterschiedlichen geometrischen Formen standen aus den Mauern hervor und warfen beeindruckende Prismen auf den Boden. Das Innere der Höhle wurde von darunterliegenden Magmakammern aufgeheizt, was die Karpatianer zwang, ihre Körpertemperatur zu regulieren.
Vor langer Zeit war die Höhle von hydrothermalem Wasser durchflutet gewesen, aus dessen reichen Mineralablagerungen sich große, leuchtende Kristalle gebildet hatten. Diese Kristalle halfen den Kriegern, sich auf bevorstehende Schlachten, Strategien und Lösungen, aber auch auf das tägliche rigorose geistige und körperliche Training zu konzentrieren, dessen Weiterführung alle karpatianischen Krieger schwören mussten.
An den ersten großen Raum schloss sich ein zweiter, sehr viel kleinerer an, der vollständig umringt von Lavafelsen war. Einladender, reinigender Dampf stieg aus dem Inneren der zweiten Kammer auf und winkte ihnen.
In der Höhle wimmelte es von großen, dunklen, alleinstehenden Männern mit unnahbaren, kalten Augen. Mit seinen neuen Emotionen war Nicolas auf einmal in der Lage, Trauer und Verzweiflung für diese Krieger ohne Hoffnung zu empfinden, die nur für ihre Ehre lebten und nicht nur den Vampir bekämpften, sondern – was noch schlimmer war – auch gegen seinen Lockruf anzukämpfen hatten. Nicolas holte tief Luft und ließ die Magie der Höhle ihre Wirkung entfachen.
Er stand in der Mitte der kristallinen Höhle, am selben Ort, an dem so viele legendäre Krieger vor ihm gestanden hatten. »Es wird nicht leicht sein, meinen Brüdern gegenüberzutreten, wenn unser Familienname zum ersten Mal, seit wir denken können, mit Schande befleckt ist.«
Mikhail warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. »Es ist ein bisschen überheblich, Nicolas, Scham über Dinge zu empfinden, die vor Hunderten von Jahren geschehen sind – als wärt ihr die Einzigen, die je einen Fehler gemacht haben! Du und deine Brüder habt eure Treue oft genug bewiesen. Manolito hat mir und auch Shea und ihrem ungeborenen Kind das Leben gerettet. Sollte ich vielleicht den Kopf hängen lassen vor Scham über all die Irrtümer, die mir im Laufe der Jahrhunderte unterlaufen sind? Wenn ich es täte, würde ich nie den Himmel sehen.«
Nicolas zuckte die Schultern, und ein kleines Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, huschte über sein Gesicht. »Wir hatten damals einen Plan gefasst, deinen Vater abzusetzen und die Herrschaft der Dubrinskys zu beenden. Die Dinge, die wir planten, waren im Grunde nichts als leeres, wütendes Geschwätz, Mikhail, aber als wir um dieses Lagerfeuer herumsaßen und die Einzelheiten eines langfristigen Plans besprachen, haben wir Verrat an dir und unserem Volk begangen. Das ist durchaus ein Anlass, sich zu schämen.«
Mikhail runzelte die Stirn. »Wenn ihr das Geschlecht der Dubrinskys vernichtet hättet, wer würde dann heute eurer Meinung nach die Macht und das Wissen unseres Volkes besitzen?«
»Da wir die gleichen Fähigkeiten wie die Daratrazanoffs besaßen, waren wir überzeugt davon, dass es noch andere Familien wie sie und uns geben musste. Wir hatten vor, sie ausfindig zu machen. Später gaben wir den Plan natürlich auf, und seither hat sich niemand mehr für irgendeins der anderen Geschlechter interessiert, um festzustellen, ob sie ein Lebensquell sein könnten.«
»Und hattet ihr von irgendeiner anderen Familie den Eindruck, dass sie dazu in der Lage war?«
»Du klingst, als wärst du bereit, auf der Stelle alles hinzuwerfen, wenn es eine gäbe.«
»Ohne Zögern«, sagte Mikhail, aber dann seufzte er und schüttelte den Kopf. »Nein, es gibt keinen richtigen Weg, Nicolas, und nur weil mein Geschlecht die Last der Führung tragen muss, haben wir noch lange nicht die Lösungen für alles. Ich bin genauso fehlbar wie jeder andere Karpatianer. Jedes Mal, wenn wir ein Kind verlieren. Jedes Mal, wenn eine unserer Frauen eine Fehlgeburt hat oder ein Kind stirbt. Ich betrachte es als mein Versagen und meine Schande, dass ich nicht die Lösung für unser aussterbendes Volk gefunden habe. Ich sitze gut geschützt in meinem Haus, während meine Krieger ausziehen, um das Böse zu bekämpfen, und Teile von sich selbst dabei verlieren. Gute Männer, bessere als ich, stehen praktisch unermüdlich zwischen mir und der Gefahr. Würde ich beiseitetreten und einen anderen regieren lassen? Auf der Stelle – vor allem, wenn er klüger wäre als ich.«
Nicolas schüttelte den Kopf. »Wir haben damals einen Fehler gemacht – genau wie du jetzt, Mikhail, wenn du so denkst.«
Der Prinz schenkte ihm ein kleines schiefes Lächeln. »Ich habe sogar schon daran gedacht, mir das Leben zu nehmen. Bevor ich Raven, meine Seelengefährtin, fand, wollte ich meinem Leben ein Ende setzen, um das endgültige Aussterben unserer Spezies nicht mitansehen zu müssen. Du und die anderen Krieger, die meinem Vater dienten, seid viel älter, habt länger gejagt und länger durchgehalten, aber ich konnte unter der Last meiner Versäumnisse nicht mehr weitermachen. War das nicht viel schlimmer? War das nicht Feigheit?«
Nicolas schüttelte den Kopf. »Ich glaube, es war Verzweiflung. Als ich in der gleichen Situation war, bin ich auf der Straße herumgelaufen und wollte dort die Morgendämmerung abwarten, weil ich mir nicht zutraute, es auch nur eine weitere Nacht zu schaffen. Jeder Jäger sieht sich irgendwann diesem Moment gegenüber, aber wir tragen dazu nicht auch noch die Verantwortung für eine ganze Spezies auf unseren Schultern.«
Mikhail klopfte ihm auf die Schulter. »Wir sind alle fehlbare Männer, alter Freund. Jeder Einzelne von uns. Wir sündigen, und unsere Frauen retten uns.«
Nicolas antwortete mit einem schiefen Grinsen. »Das ist wahr.«
»Erzähl mir von deiner Gefährtin. Woher kommt sie? Das Drachensucher-Blut ist stark in ihr.«
Nicolas’ weiße Zähne blitzten in einem echten Lächeln auf, das seine Augen zum Leuchten brachte. »Sie ist die Tochter von Razvan, und sie ist wirklich ganz erstaunlich. Ich kann dir nicht einmal beschreiben, wie es in mir aussieht. Ich kenne sie kaum, und doch will ich schon jeden Augenblick mit ihr verbringen. Sie erschien buchstäblich aus dem Nichts heraus, genau im richtigen Moment, und rettete mir das Leben, meinen Verstand und meine Seele. Ich sehe mich um und verstehe nicht, wie ich all diese Jahrhunderte ohne sie überlebt habe. Die Welt ist wieder lebendig für mich, Mikhail. Ich hatte die Schönheit der Natur schon ganz vergessen. Ehrlich gesagt hatte ich sogar vergessen, was für ein Gefühl es war, meine Brüder aufrichtig zu lieben.«
Mikhail stieß einen tief empfundenen Seufzer aus. »Ein weiteres Kind mit Drachensucher-Blut ist uns mehr als nur willkommen. Und was die Freude angeht, die unsere Gefährtinnen uns bringen, so habe ich Raven jetzt schon viele Jahre in meinem Leben und bin trotzdem jedes Mal, wenn ich aus dem Schlaf in der Erde erwache, von Neuem überwältigt von dem Geschenk, das sie mir gemacht hat.«
Nicolas räusperte sich. »Ich bin mir nicht sicher, ob meine Seelengefährtin einen Grund sieht, bei mir zu bleiben.«
»Es gibt für unsere Frauen keinen anderen Grund, bei uns zu bleiben, als die Art und Weise, wie wir sie an uns binden können. Sie sind Licht in unserer Dunkelheit, und je dunkler unsere Seelen sind, desto stärker muss die Frau sein. Pass also gut auf deine Gefährtin auf, Nicolas. Sie ist ein unermesslich kostbarer Schatz.«
Nicolas ließ sich Mikhails Worte durch den Kopf gehen. Es gab tatsächlich keinen anderen Grund für ihre Frauen, sie zu akzeptieren, als die uralten rituellen Worte, die ihre Seelen aneinanderbanden. Sein Einfluss auf Lara war bestenfalls noch ziemlich schwach. Er brauchte Zeit, um ihre Verbindung zu festigen und ein gewisses Vertrauen zwischen ihnen herzustellen, auch wenn er insgeheim der Meinung war, dass sie ohne Frage bei ihm bleiben müsste.
Er blickte sich um und spürte den subtilen Einfluss der Kristalle, die Energie der Höhle mit dem tief unter ihr fließenden Magma und des Schnees, der sich tausend Fuß darüber sammelte. Nicolas breitete weit die Arme aus. »Und dieser Ort voller Macht. Auch die Schönheit dieser Höhle hatte ich schon fast vergessen. Und die Klarheit, die sie uns gewinnen lässt.«
Mikhail nickte. »Es gibt keinen anderen Ort auf Erden, der sich mit ihr vergleichen lässt. Sie ist Feuer und Eis zugleich, Leidenschaft und Kontrolle. Die Erde hat schon immer die Antworten für unsere Spezies enthalten.« Er ließ seinen Blick über die wundersame Zurschaustellung der Schönheit der Natur gleiten. »Hoffentlich kommen wir heute Nacht der Lösung unserer Probleme näher!«