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Der Wind, der durch die Ritzen und Winkel pfiff, verriet, dass es draußen stürmte, das spärliche Licht der Tranlampe, dass es Tag war. Eva war gerade erwacht, als sie eine Gestalt durch den niedrigen Türrahmen kommen sah, die sich an die Wand lehnte. Es war nicht die gebeugte, knorrige Gestalt von Michel, auch nicht die feiste, untersetzte des anderen Wärters, des Mattis. Der hier war hoch gewachsen und schlank und atmete schwer, während er sie jetzt zu betrachten schien.

Sie richtetet sich auf: «Meister Sick?»

«Gütiger Herr im Himmel», flüsterte der Mann.

Eva glaubte zu träumen. Was sie gehört hatte, war die Stimme von Moritz! Sie schloss die Augen und ließ sich auf ihr Strohlager zurückfallen. Da fühlte sie eine kühle Hand über ihren Arm streichen, hörte immer wieder ihren Namen, spürte ein tränennasses Gesicht in ihrer Handfläche. Als sie die Augen aufschlug, kauerte Moritz neben ihr im Stroh und weinte.

«So hat dir also endlich jemand Bescheid gegeben», flüsterte sie.

«Nein.» Moritz sah sie erstaunt an. Sein Gesicht war aschfahl. «Ich war immer wieder unterwegs, bis ich vor einigen Tagen von diesem Prozess erfuhr. Von einem falschen Schneiderknecht namens Adam Portner, der eine Frau ist.» Sie verstand ihn kaum, so leise sprach er. «Ich hab gebetet, dass du es nicht bist, die hier im Kerker sitzt, und es doch von ganzem Herzen erhofft, weil ich schon geglaubt hatte, dich nie wiederzusehen. Gütiger Herrgott» – jetzt begann er wieder zu schluchzen –, «was haben sie mit dir gemacht?»

Ganz licht und klar war sie mit einem Mal und begriff, dass er wahrhaftig bei ihr war: Moritz, ihr Geliebter, saß hier bei ihr in ihrem Verlies. Sie war nicht mehr allein.

«Jetzt wird alles gut», murmelte sie.

«Ja!» Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest umschlungen.

Dann hörte sie ihn erzählen, wie er, nachdem er gewaltsam nach Oettingen verschleppt worden war, sie überall hatte suchen lassen, von seinen besten Männern, selbst durch Regensburg seien sie gekommen.

«Aber nirgends war ein Schneider namens Adam Portner oder eine junge Frau mit Namen Eva zu finden.»

«Die gab es auch nicht mehr», sagte sie leise und bat ihn weiterzuerzählen.

Wochen später habe er sich schließlich einen Urlaub ausgebeten und sich selbst auf den Weg gemacht. Als Allererstes habe er das alte Jagdhaus aufgesucht: Es war bis auf die Grundmauern niedergebrannt!

«Danach bin ich zur Burg geritten und hab dort meinen Vater zur Rede gestellt. Ich hätt ihn fast meuchlings gemordet, nur um etwas über dich herauszufinden. Aber er hat nur höhnisch gelacht und mir geraten, doch im Jagdhaus nach deiner Asche zu suchen.» Er schloss für einen Moment die Augen, und seine Lippen zogen sich vor Schmerz zusammen. «Da bin ich wieder zurück nach Oettingen und habe mich beim Grafen freiwillig für einen Feldzug nach Italien gemeldet, in der festen Absicht, auf dem Schlachtfeld zu sterben. Aber Gott hat es anders gewollt. Im blutigsten Getümmel hab ich nicht mal einen Kratzer abbekommen!»

Eva lächelte. «Dafür will ich Gott danken.»

«Aber ich bin zu spät gekommen! Warum hab ich dich nicht früher finden dürfen? Warum hier, in diesem elenden Loch?»

«Du bist nicht zu spät. Ich habe mich mit allem abgefunden, was kommen mag. Dass du jetzt hier bist, ist das Schönste, was mir noch geschehen konnte!»

Zärtlich strich sie über sein schmales Gesicht, seine Narbe an der Wange, über den geschwungenen, schönen Mund, küsste ihm die Tränen von den Augen, wie um ihn in seinem Leid zu trösten. Dann fanden sich ihre Lippen. Vorsichtig, sacht und schließlich voller Verzweiflung küssten sie sich, bis von der Tür her ein lautes Räuspern zu vernehmen war.

«Ihr müsst gehen, Herr. Sonst bekomm ich Ärger.»

Es war Michel, der unsicher den Kopf hereinstreckte.

Widerstrebend löste sich Moritz von ihr, und sie standen auf.

«Ich hab noch einen Wunsch», sagte sie. «Meine Schwester Josefina ist in Ulm, bei den Beginen. Lass sie wissen, dass unser kleiner Bruder in Straubing ist, bei unserem Oheim Endress Wolff. Dass es ihm gutgeht und sie sich nicht sorgen muss. Sag ihr, dass ich sie liebe und sie für mich beten soll.»

«Bitte, Eva, sprich nicht so!» Moritz’ Blick war verzweifelt. «Du wirst nicht sterben. Ich hol dich hier raus.»

«Du kannst nichts mehr tun», sagte sie ruhig. «Ich weiß das.»

«Aber es gibt einen alten Brauch: amor vincit omnia, Liebe wiegt stärker als alles. Ich werde dich losheiraten. Ich werde beim Rat der Stadt um deine Heirat bitten, werde alle Freunde, die mir noch geblieben sind, als deine Fürsprecher aufbieten, und dann ziehen wir weit weg von hier.»

Eva sah ihn nur stumm an, während Michel ungeduldig mit seinem Schlüsselbund klapperte. Da beugte sich Moritz noch einmal zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: «Ich liebe dich, Eva. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben.»

 

Moritz hatte ihr versprochen, bald wiederzukommen und sie dann als seine Braut mit sich zu nehmen. Ersteres glaubte sie fest, das Zweite, wusste sie, würde niemals geschehen. Derweil hielten über ihr, im altehrwürdigen Nördlinger Rathaus, die Herren der Stadt über sie Gericht.

Eine Woche nachdem Moritz bei ihr gewesen war, wurde sie ein letztes Mal vorgeführt. In fünfundzwanzig einzelnen Punkten waren ihre Straftaten aufgelistet, und Eva bestätigte jeden einzelnen davon. Als sie einen letzten Wunsch äußern durfte, bat sie um die Gnade, wie ein Mann hinausgeführt und als Mann mit dem Schwert gerichtet zu werden. Dann durfte sie zurück in ihr Loch, wo sie schon am nächsten Morgen von Michel erfuhr, dass ihr Urteil gefällt sei: Die Vielzahl ihrer Verbrechen und die Tatsache, dass sie eine Frau sei und auch wie eine Frau gerichtet werden müsse, ließe keine andere Sühne zu als den Tod durch Ertränken.

«Übermorgen soll es geschehen.» Dem alten Mann liefen die Tränen übers Gesicht. «Dabei hat die halbe Stadt Fürbitte für dich eingelegt. Allen voran der Sick und sogar der Flanser. Aber dieser Heidenreich ist ein solcher Bluthund, und der Bürgermeister ist auch nicht besser.»

«Weine nicht, Michel.» Sie nahm von dem Becher Rotwein, den der Wärter ihr für dieses Mal schon zum Morgen gebracht hatte. Er schmeckte süß und schwer. «Ich warte auf den Tod wie auf einen guten Freund. Auch wenn ich mir das Sterben weniger qualvoll gewünscht hätte», fügte sie hinzu. «Und jetzt lass mich bitte allein. Ich bin so furchtbar müde.»

Bis zum angekündigten Hinrichtungstag blieb sie auf ihrem Lager liegen, schlief die meiste Zeit, aß nichts und trank nur hin und wieder einen Schluck von dem abgestandenen Wasser, das Mattis ihr gebracht hatte. Der junge Wärter war ein grober Kerl, der aus seiner Verachtung für Eva nie einen Hehl gemacht hatte. So war auch jetzt, als an besagtem Tag niemand erschien, um sie zu holen, nichts aus ihm herauszubringen. Wie immer, wenn er Wachdienst hatte, schob er den Becher unter dem breiten Spalt der Tür hindurch, ohne sich die Mühe zu machen, sie zu öffnen. Auf ihre Fragen gab er keine Antwort, doch zum Abschied sagte er: «Draußen beim Bleichgumpen hat der Werkmeister schon eine Brücke errichten lassen. Da wirst du in den Sack gebunden und runtergelassen.»

Am nächsten Tag endlich öffnete sich knarrend die Tür, und jemand trat ein. Eva hob den Kopf.

«Moritz!»

Mühsam erhob sie sich und klopfte das Stroh von ihrem schmutzigen Kleid. Er hatte es also wahr gemacht und war noch einmal gekommen, ein letztes Mal. Nun würde sie sich von ihm verabschieden können. Doch Moritz war nicht allein. Im ersten Augenblick glaubte Eva, es sei ein Mönch, der da unschlüssig hinter ihm verharrte. Dann erkannte sie eine Frau in der graubraunen Tracht der frommen Schwestern – eine Frau, auf deren zartem, blassem Gesicht die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte. Es war Josefina.

Wortlos umarmten sich die beiden Schwestern.

«Danke», stammelte Eva und drückte Moritz’ Hand. Alle drei setzten sie sich auf die Strohschütte, die Michel an diesem Morgen ausgewechselt hatte, als habe er von dem Besuch gewusst. Keiner sprach ein Wort, stumm hockten sie da und weinten und hielten einander im Arm, bis endlich Josefina zu sprechen anfing.

«Ich bin so froh, dich zu sehen – meine kleine, närrische, tapfere Schwester!» Sie begann erneut zu weinen.

Eva streichelte ihre Hand. «Wie geht es deinem Jungen?»

«Er ist gestorben, schon im ersten Jahr. Friedlich und still ist er eingeschlafen und nicht mehr erwacht. Gott hat es so gewollt.»

Eva nickte. «Wirst du für mich beten, wenn es so weit ist?»

Da schrie Moritz auf. «Du darfst nicht gehen, Eva! Jetzt, wo ich dich gefunden habe! Wie kann Gott das zulassen? Warum hat er mir nicht geholfen, dich hier rauszuholen?»

Dann erzählte er stockend und immer wieder von Schluchzern unterbrochen, wie er beim Rat der Stadt um Gnade gefleht hatte. Ein gutes Dutzend Edelleute habe er beisammengehabt, alle hätten sie Fürsprache eingelegt, selbst der Reiter, dem sich Eva so frech in den Weg gestellt hatte.

«Und dann – über den alten Brauch des Losheiratens, über meinen Willen, dich zu heiraten, hat dieser elende Bürgermeister nur dreckig gelacht! Ich bin schuld, ich allein bin schuld! Warum nur habe ich dich damals im Jagdhaus alleingelassen?»

Sein ganzer Körper bebte, als er jetzt seinen Kopf in Evas Schoß legte.

Eva wartete, bis er sich beruhigt hatte, dann sagte sie: «Gott hat gefügt, dass wir heute zusammen sind. Einen größeren Wunsch hätte er mir nicht erfüllen können.»

Ernst betrachtete Josefina ihre jüngere Schwester. «Vertraust du ganz auf Gott?»

«Ja.»

«Dann kann dir auch nichts zustoßen.»

«Das Einzige, was mich manchmal zweifeln lässt», sagte Eva nach einem Augenblick des Schweigens, «ist, dass ich so wenig Gutes getan habe. Dass mein Leben alles andre als gottgefällig war.»

«So darfst du nicht denken, Eva! Gott sieht hinter die Dinge. Wie viele Menschen tun wohlgefällige Werke nur aus Selbstsucht, zum Heil der eigenen Seele, und nicht um der Caritas willen. Du aber hast so vieles aus wirklicher Nächstenliebe getan – für mich, aber vor allem für unseren kleinen Bruder. Für ihn hast du auf so vieles verzichtet. Zweifle nicht mehr und vertraue auf die Gnade Gottes. Versprichst du mir das?»

«Ich versprech es dir. Und ich weiß auch, dass ihr alle für mich beten werdet.»

Dann bat sie Josefina, zu erzählen, wie es ihr in den letzten Jahren ergangen war. In klaren, einfachen Worten berichtete die Schwester, wie sie hochschwanger durch die Lande geirrt war, erzählte ohne jede Bitterkeit von ihren Entbehrungen und Enttäuschungen, ihren Ängsten und Nöten und der schrecklichen Einsamkeit, schließlich von der Geburt ihres Sohnes und dessen Tod. Erst bei den frommen Schwestern der Beginen habe sie erfahren, was ein erfülltes Leben ausmache: einen festen Halt zu haben in der Gemeinschaft und darin die Freiheit, zu handeln und zu helfen.

Danach war die Reihe an Eva, zu sprechen. Während ihre Hände in denen ihrer Schwester ruhten, ihr Kopf an Moritz’ Schulter, erinnerte sie sich plötzlich an so viele helle, glückliche Stunden, an so viele Menschen, die ihr geholfen oder ihr in Liebe und Fürsorge begegnet waren, dass es sie selbst erstaunte. War ihr Leben nicht auch wunderbar gewesen?

Bis zum Abendläuten ließ der alte Wärter sie beisammen, ohne zu stören. Dann nahmen sie Abschied. Eva löste den Knoten ihres Lederbandes und legte Moritz den Talisman um den Hals.

«Du sollst ihn tragen. Er ist von Niklas und hat mir immer Kraft gegeben. Jetzt brauch ich ihn nicht mehr.»

Moritz’ Lippen zitterten. «Ich will mit dir in den Tod gehen.»

«Nein, Moritz, niemals! Du musst für mich beten, verstehst du nicht? Außerdem: Nun hab ich alle Zeit der Welt, um auf dich zu warten.»

 

Am Tag nach Sankt Nikolaus, Anno Domini 1565, wurde Eva am frühen Morgen aus ihrem Gefängnis hinausgeführt. Schwarz bewölkt war der Himmel, in der Ferne zuckten Blitze. Aus schwarzem Loden waren auch Evas Hose und Wams, die ihr die Nördlinger Schneider eigens für diesen Tag und auf eigene Rechnung gefertigt hatten.

Von der Rathaustreppe herab verlas man nach altem Brauch öffentlich das Urteil, bevor der Stab über der Delinquentin brechen sollte. In das leise Gemurmel der Menschenmenge, die sich auf dem Markt drängte, in deren neugierige, aber auch mitleidsvolle Blicke hinein schleuderte der Kanzleischreiber mit seiner schneidenden Stimme die Worte:

«Auf beschehene Inquisition und auf die hier verlesenen Fälle von Diebstahl und Raub, ferner von vielfältig Falsch, Betrug und Misshandlung, worin keine Besserung oder Nachlassung bei der Malefikantin zu verhoffen ist, darauf ist heute durch den Ehrsamen und Weisen Rat dieser Stadt Nördlingen nach der Kaiserlichen und Heiligen Reichs Halsgerichtsordnung als Recht erkannt, dass erwähnte Eva Barbiererin derenthalben durch den Nachrichter vom Leben zum Tode gestraft und gerichtet werden soll …»

«Indessen» – eine kunstvolle Pause ließ die Zuhörer augenblicklich verstummen –, «indessen sei ihr, Gott zu Gefallen, durch das hohe Gericht Milde und Gnade gewährt, aufgrund ihrer Jugend und ihres kränklichen Zustands und insbesondere der mannigfachen Fürsprache etlicher unserer Bürger: allen voran der ehrwürdigen Handelsherren Hans Husel und Jeronimus Frickinger nebst den Zunftmeistern der Stadt sowie zahlreicher Edelleute der Umgegend, allen voran der Edle und Feste Moritz von Ährenfels. So wird denn Eva Barbiererin hiermit und endlich vom Wasser zum Schwert begnadigt.»

Etlichen Frauen und selbst Männern rannen vor Erleichterung die Tränen übers Gesicht. So auch der frommen Schwester in graubrauner Tracht und dem jungen Edelmann, die einander fest bei der Hand hielten und sich jetzt in den endlosen Strom hinaus zur Hinrichtungsstätte einreihten.

Fast lautlos bewegte sich der Zug zur Stadt hinaus, durch das Reimlinger Tor hin zum Rabenstein, gleich an der Straße nach Augsburg. Kein Kreischen, kein Grölen war zu hören, wie sonst bei solchen Spektakeln. Im Gegenteil: Gemessenen Schrittes, wie bei einer feierlichen Prozession, begleitete man die Delinquentin auf ihrem letzten Weg, und nicht wenige murmelten leise ein Gebet.

Als Eva den Rabenstein, die mannshohe, kreisrunde, aus Stein gemauerte Richtstatt, bestieg, erwartete sie oben bereits Meister Endris Franck, Henker zu Nördlingen, das Schwert in beiden Händen. Sie kniete nieder. Suchend schweiften ihre Augen über die Menge, bis sie Josefina und Moritz fand, in vorderster Reihe, gleich neben den Ratsherren. In diesem Augenblick riss der regenverhangene Himmel auf, die Sonne brach durch das dunkle Grau, und ein Regenbogen ließ seine Farben leuchten. Sein mächtiges Halbrund schien die ganze Welt zu umspannen, und Eva begann zu lächeln. Jetzt bist auch du bei mir, kleiner Bruder, dachte sie. Sitzt dort oben und begleitest mich auf meiner letzten Reise.

Als das Richtschwert sich hob, sah Eva, wie Josefina die Hände zum Gebet faltete und Moritz zu ihr aufschaute, dann versank ihr Blick für immer in den dunkelgrünen, weit aufgerissenen Augen des Geliebten.