20

Nur schwerlich kam Eva darüber weg, was sie an jenem Tag Anfang Oktober von ihrer Muhme erfahren hatte – dass Josefina nämlich in ihrer Not tatsächlich bei den Straubinger Verwandten um Hilfe gebeten hatte. Es war an einem schwülen Sommertag letzten Jahres gewesen, an einem Sonntag, und Ursula und Endress Wolff waren eben vom Kirchgang zurück, als ein Stadtwächter sie aufgesucht hatte: Eine junge Fremde warte am Passauer Tor und begehre Einlass. Sie hätte sich als Nichte des ehrenwerten Ratsherrn ausgegeben, sehe aber gar zu abgerissen aus, sodass man entschieden habe, den Fall zunächst zu prüfen.

Ihre Muhme hatte erst geglaubt, es handele sich um einen üblen Scherz, als sie und ihr Mann dem Wärter hinüber zum Torhaus gefolgt waren, aber dann hatte sie in dem blassen, abgemagerten Mädchen, das drinnen auf der Bank saß, sofort ihre Nichte Josefina erkannt. Und noch etwas hatte ihr Blick auf Anhieb erfasst: dass Josefina schweren Leibes war.

Über die Begegnung selbst hatte Evas Muhme kaum ein Wort herausgelassen, nur so viel gab sie Eva gegenüber preis, dass ihr Mann sich, mit Hinweis auf seine Stellung und Reputation in der Stadt, geweigert hatte, Josefina bei sich aufzunehmen, und sie selbst habe sich dem fügen müssen. Immerhin aber habe sie sich ausbedungen, das Mädchen nicht mittellos ziehen zu lassen, und ihr ein Bündel mit sauberer Kleidung und Wegzehrung ins Torhaus gebracht. Dabei habe sie ihr auch heimlich einige Silberstücke zugesteckt und ihr geraten, sich zum Zeitpunkt der Niederkunft an ein Spital zu wenden.

«Etliche Wochen lang hat mich das schlechte Gewissen nicht mehr schlafen lassen», hatte Ursula Wolffin ihren Bericht beendet. «Du kannst dir meinen Schrecken vorstellen, als dann ihr beide hier aufgetaucht seid. Glaube mir, Eva, ich bete jeden Tag für deine Schwester, aber ob ich damit etwas wiedergutmachen kann, bezweifle ich. Kannst wenigstens du mir verzeihen?»

Im Grunde hatte Eva das schon während des Geständnisses ihrer Muhme getan – welche Mittel besaß eine Frau schon gegen den eigenen Mann? Die Wut auf Endress Wolff hingegen ließ nur langsam nach. Liebend gern hätte sie ihm ins Gesicht gesagt, was sie von ihm hielt, doch um des Hausfriedens willen hatte sie ihrer Muhme versprochen, kein Wort mehr über Josefina zu verlieren, auch nicht ihrem Bruder Niklas gegenüber.

So vergingen diese ersten Wochen nach ihrer Genesung in einem Wechselbad der Gefühle. Ohnmächtiger Zorn und Enttäuschung wechselten sich ab mit tiefer Dankbarkeit für die Wärme und Fürsorge, die Ursula Wolffin ihr entgegenbrachte. Wo immer sich Eva im Haushalt nützlich machen wollte, achtete die Muhme darauf, dass die Arbeit nicht zu anstrengend wurde, und beste Kost gab es im Hause Wolff ohnehin. Dass der Rats- und Handelsherr uneingeschränkter Herrscher über sein kleines Reich hier am Stadtmarkt war und keine Widerworte duldete, merkte sie schon bald. Und auch, wie sehr ihre Muhme manchmal darunter litt. Nicht einmal in der Erziehung ihrer Kinder oder im Umgang mit Agatha und dem Küchenmädchen Zenzi hatte sie freie Hand.

Was Eva daher umso mehr verblüffte, war das Verhältnis des Hausvaters zu Niklas: Ihr Bruder war ihm tatsächlich wie ein leiblicher Sohn geworden. Ihm hörte Endress Wolff zu, ihm erteilte er das Wort zu diesem oder jenem, bei ihm konnte sein strenges Gesicht plötzlich weich werden und strahlen, wie es bei den eigenen Töchtern niemals der Fall war. Niklas selbst nahm das hin wie ein kostbares Geschenk, ohne Dünkel, aber auch ohne falsche Demut oder Unterwürfigkeit. Zugleich hatte er in seiner unbeschwerten, lustigen Art auch die Herzen der drei Mädchen erobert, vor allem das von Aurelia, der Ältesten. Kurzum: Niklas hatte das Zuhause gefunden, nach dem er sich gesehnt hatte. In dieser kurzen Zeit war er sichtlich aufgeblüht und schien alles Kindliche und Ängstliche verloren zu haben.

Die Vormittage verbrachte er in der Regel im Kontor oder im Warenlager, die sich beide zum Hof hin im Erdgeschoss befanden. Dort half er entweder dem alten Gesellen, dessen Augenlicht nachließ, die Ein- und Ausgänge der Waren zu erfassen, oder er sah Buchhalter Pfefferlein, einem gutmütigen, freundlichen Mann, ein wenig über die Schulter. Dass Niklas bereits seinen Namen schreiben konnte, hatte Eva gewusst, nicht aber, dass er fließend lesen konnte.

Es war ausgemachte Sache, dass Eva bis spätestens Martini, wenn sich die Mägde und Knechte gemeinhin in Stellung begaben und hierzu in allen größeren Flecken Gesindemärkte stattfanden, bei Wolffs Freund, dem Getreidehändler, vorstellig werden sollte. «Wenn er dir gar zuwider ist, finden wir was anderes für dich», hatte Ursula Wolffin ihr versprochen, aber Eva bezweifelte, dass ihr Mann sie überhaupt nach ihrer Meinung fragen würde.

Als sich dann der erste Novembernebel über die Donauniederung legte und Bäume und Häuser hinter kalten, weißlichen Schwaden verschwinden ließ, musste Eva mit sich kämpfen, nicht in Schwermut zu versinken. Längst war sie wieder vollkommen gesund. Sie und Niklas waren so wohlgenährt wie nie, und sie trugen feine Kleidung und Lederschuhe. Nie zuvor hatten sie einen solchen Wohlstand genossen. Auf den Gassen grüßte man sie mit respektvoller Freundlichkeit, gerade so, als seien sie die leiblichen Kinder dieses angesehenen Kaufmanns. Umso mehr grauste ihr davor, schon bald für einen wildfremden Mann die Dienstmagd spielen zu müssen. Hätten sie dieses Straubing nur gleich nach der ersten Nacht wieder verlassen, dachte sie immer häufiger. Jetzt aber war es zu spät – jetzt konnte sie Niklas nicht mehr aus seiner neuen Familie herausreißen.

Wenige Tage vor Martini versammelte sich die Familie zum Abendessen in der wohlig beheizten Stube. Niklas hatte an diesem Tag zum ersten Mal seinen Oheim zu einem Kunden begleiten dürfen, einem Weinhändler, der schwere rote Weine aus dem Ungarischen über die Donau hierher nach Straubing transportierte. Diesen Wein ließ Endress Wolff dann neben anderen Waren wie Tuche und Öle über den Baierweg ins Böhmische schaffen, bis hin nach Prag.

«Dieser habsburgische Beutelschneider wird jedes Jahr unverschämter», polterte der Kaufmann los, nachdem er seinen ersten Becher Bier geleert hatte. «Jetzt verlangt er zwanzig Goldgulden auf den Eimer Tokajer. Zwanzig Goldgulden! Das ist der Wert von zwei Milchkühen. Und warum? Weil angeblich die Hafen-, Schiffs- und Grenzzölle erneut angestiegen seien, das zweite Mal in diesem Jahr. Da hab ich auf dem Heimweg meinen kleinen Kompagnon hier gefragt, ob ich das nun glauben soll. Und wisst ihr, was er geantwortet hat?»

Lachend gab er Niklas einen Klaps gegen den Hinterkopf. Der wurde rot bis unter die Haarwurzeln.

«Warum ich denn meine Waren nicht selbst auf dem Schiffsweg verfrachten würde – damit hätte ich die Kosten im Blick. Dieses Teufelskerlchen! Grad mal elf Jahre alt und redet daher wie ein alter Hase. Genau das, liebe Ursula, habe ich mir nämlich für das nächste Jahr vorgenommen: Endress Wolff wird sich vergrößern und verändern.»

Der Blick ihrer Muhme wirkte eher ängstlich denn erfreut. «Wie meinst du das, lieber Mann?»

«Nun – die Art Handel, die mein Vater und mein Großvater betrieben haben, ist nicht mehr zeitgemäß. Der Saumhandel bringt nicht genug ein. Die Säumer werden in ihren Forderungen immer unverschämter, und der Baierweg mit dem vielen Räubergesindel im Nordwald wird immer unsicherer. Zudem lassen sich per Schiff weitaus größere Mengen transportieren. Ich werde also im nächsten Jahr einen Schiffszug anschaffen!»

Sein Blick ruhte auf Niklas, voller Wohlwollen.

«Und du wirst ab Jahreswechsel die Deutsche Schule besuchen. Mit dem Schulmeister ist schon alles besprochen. Schließlich sollst du mich und Pfefferlein einmal würdig ersetzen können, wenn wir auf Reisen sind, und dafür hast du noch eine Menge zu lernen.»

«Ist das wirklich wahr? Ich darf auf die Deutsche Schule?»

«Aber ja! Und samstags und nach den Schulstunden nehmen Pfefferlein und ich dich unter die Fittiche. Wirst sehen, wir machen aus dir einen gestandenen Kaufmann.»

Eva konnte ihrem Bruder ansehen, dass er seinem Oheim am liebsten um den Hals gefallen wäre. Allerdings waren solcherlei Gefühlsbekundungen Endress Wolff höchst zuwider, das hatte auch Niklas gelernt, und so beschied er sich damit, ein mehrfaches «Danke!» zu stammeln.

«Darf Niklas dann für immer bei uns bleiben?», fragte Aurelia mit glänzenden Augen. Für dieses Mal sah Wolff darüber hinweg, dass eines seiner Mädchen ungefragt das Wort ergriffen hatte, und entgegnete beinahe feierlich: «Ja, das darf er.»

Von ganzem Herzen gönnte Eva ihrem Bruder diese Anerkennung, diese glückliche Fügung seines Schicksals. Zumal der Hausvater ein Mann war, der zu seinem Wort stand – ob es sich nun um ein Versprechen oder ein Verbot handelte. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ein leiser Gram in ihr nagte. Den eigenen Töchtern brachte er nicht halb so viel Zuneigung entgegen wie seinem Neffen – dass die drei Mädchen nicht vor Eifersucht platzten, war geradezu ein Wunder. Und was aus ihr, Eva, wurde, schien ihn schon überhaupt nicht zu kümmern. Nur noch wenige Tage würden ihr an der Seite ihres Bruders bleiben, in der Obhut dieser sanften, lieben Frau, die ihrer Mutter so ähnlich war. Zwar lag dieses Bogen nur zweieinhalb Wegstunden entfernt, hatte sie von Ursula Wolffin erfahren, aber dennoch! Sie hatte nicht die geringste Lust, den Dreck irgendwelcher fremden Leute wegzuschaffen.

Indessen kam alles anders: Einen Tag vor Martini lief Zenzi, das Küchenmädchen, auf und davon. Ursula Wolffin war wie vor den Kopf geschlagen. Sie stand gerade mit Agatha und Eva in der Küche, um das Morgenmahl zu richten.

«Dieses undankbare Ding! Wie kann sie uns nur von heut auf morgen im Stich lassen?»

«Vom Brotgeld und von den Vorräten hat sie auch was mitgehen lassen, die Satansmetze», fauchte Agatha. «Euer Gemahl sollte das vor Gericht bringen.»

Ursula Wolffin seufzte. «Das wird nichts nützen. Die ist doch längst über alle Berge, und morgen wird sie sich irgendwo auf einem Gesindemarkt bei neuen Herrschaften verdingen. Was sollen wir jetzt bloß machen?»

Da öffnete sich die Tür, und der Hausvater erschien mit Niklas im Schlepptau. Nachdem er von der bösen Nachricht erfahren hatte, runzelte er die Stirn.

«Hört bloß auf mit dem Gejammer! Das Luder war keinen Pfifferling wert. Faul war sie und dumm obendrein. Ursula, du gehst morgen mit Agatha auf den Markt und schaust dich nach einem neuen Mädchen um. Derweil marschieren Niklas und ich mit Eva nach Bogen. Was ist mit dir, Niklas – warum guckst du so entgeistert? Hast du etwa keine Lust mitzukommen?»

«Doch, schon – aber warum bringen wir Eva weg und holen einen fremden Menschen ins Haus? Meine Schwester kann wunderbar kochen und einmachen, das hat sie bei Odilia Edelmanin gelernt. Warum also die Katze im Sack kaufen?»

Für einen kurzen Moment wirkte Endress Wolff verärgert über diesen vorlauten Einwand. Dann kratzte er sich den Bart: «Hm, so ganz unrecht hast du eigentlich nicht. Ich muss zugeben, dass deine Schwester fleißig und verlässlich ist. Andererseits hab ich meinem Freund versprochen, Eva vorbeizubringen.»

«Lässt sich das nicht rückgängig machen?», fragte seine Frau vorsichtig.

Der Hausvater musterte seine Nichte von oben bis unten, und Eva kam sich vor wie bei einer Fleischbeschau.

«Nun gut. Neue Umstände erfordern neue Beschlüsse. Ich miete zu Mittag ein Pferd und reite nach Bogen. Und du, Eva, machst ab heute die Küchenarbeit. Worauf wartest du noch?»

Dieses Mal konnte Niklas nicht an sich halten und fiel seinem Oheim mit einem unterdrückten Jauchzen um den Hals.

 

Ungewöhnlich früh und mit eisigen Krallen legte sich der Winter über den Gäuboden. Evas sechzehnter Geburtstag – zwei Wochen vor Weihnachten – verlief als ein ganz gewöhnlicher Tag, denn die Wolffens hingen wie die große Mehrheit in der Stadt dem alten Glauben an. Inzwischen konnte Eva über das allerorts übliche Glaubensgezänk nur noch den Kopf schütteln. Es schien ihr, als hänge ein jeder mal dieses, mal jenes Fähnchen in den Wind, gerade wie es passte. So hatte sie es in ihrer eigenen Familie erfahren, so war es auch hier in Straubing. Was wohl der Herrgott von all diesem Hin und Her hielt?

Von ihrer Muhme wusste sie, dass die Donaustadt noch bis vor wenigen Jahren ein Zentrum der Reformierten gewesen war, die sich in der Demut Christi übten und den Lehren Luthers folgten – bis der Baiernherzog aus dem fernen München dagegen polterte und den neuen Glauben als Adelsverschwörung und Landesverrat geißelte. Als er schließlich immer mehr Jesuiten ins Land holte und die ersten Lutheraner Straubing verlassen mussten, kippten die Zunft- und Ratsherren einer nach dem anderen um, und flugs wurden wieder die Rosenkränze und Madonnenbilder aus den Kisten gekramt. So auch im Haus von Endress Wolff, wo nun nach alter Tradition der Tag des Namenspatrons statt des Geburtstags gefeiert wurde.

Daher gedachte an diesem Morgen auch nur Niklas ihrer, mit einer herzlichen Umarmung und einem Sträußchen getrockneter Herbstblumen.

«Du siehst manchmal so traurig aus», sagte er ihr dabei. «Geht’s dir nicht gut?»

«Schmarrn! Alles ist bestens.» Sie strich ihm übers Haar und versuchte zu lächeln. «Und jetzt lass mich in die Küche, ihr wollt schließlich alle was zu essen.»

Längst hatte Eva begriffen, warum Zenzi von hier weggelaufen war: Mit der alten Agatha war es nämlich kaum auszuhalten. In alles mischte sie sich ein, an allem fand sie etwas auszusetzen. Dabei hatte Eva die Küchenarbeit sehr wohl im Griff, es zahlte sich nämlich aus, was sie bei Odilia gelernt hatte. Doch kaum kam ihrer Muhme oder, wenn auch höchst selten, dem Hausherrn ein Lob über ihren goldgelb geschmälzten Haferbrei oder die Art ihrer Kräuterwürze über die Lippen, versuchte Agatha, sie schlechtzumachen. Einmal hatte die Alte ihr gar unterstellt, etwas vom Marktgeld unterschlagen zu haben. Da war Eva drauf und dran gewesen, alles hinzuwerfen. Zum Glück hatte sich dieser üble Verdacht schnell als nichtig herausgestellt, denn es war der Hausherr selbst gewesen, der Geld für einen Boten aus dem Kästchen genommen hatte. In aller Form hatte sich Agatha daraufhin bei ihr entschuldigen müssen, mit verkniffenem Gesicht, nur um ihr kurz darauf zuzuraunen: «Halt dich bloß nicht für was Bessres, nur weil du das Schwesterkind der Herrin bist!»

Das mit Agatha war das eine. Das andere war, dass sie sich zunehmend wie in einen Käfig gesperrt fühlte. Außer mittwochs und samstags, den Markttagen, setzte sie keinen Schritt vor die Tür. Ihr Bereich beschränkte sich auf Küche und Vorratskammer unten im dunklen Erdgeschoss und auf die Wege treppauf, treppab in die Wohnstube. Immer häufiger verharrte sie dort am Fenster, starrte hinaus auf den Stadtplatz, auf dem zwischen den bunten Lauben und vollbepackten Schrannen das Leben pulsierte, reckte den Kopf nach links, hin zum Passauer Tor, hinter dem die Welt begann. Auch wenn sie dankbar war, dass sie in dieser kalten, dunklen Jahreszeit ein Dach über dem Kopf hatte und versorgt mit allem war, was der Mensch brauchte: mit Arbeit, gesunder Kost und warmer Kleidung, so sehnte sie sich doch immer mehr nach dem Anblick von saftigen Wiesen unter einem endlosen Himmelszelt, nach dem Gefühl von Wind und Sonne auf der Haut und den mannigfaltigen Lauten der Natur.

Einen Tag nach Weihnachten, einem Sonntag, überraschte Endress Wolff seine Familie mit dem Vorschlag, alle zusammen einen kleinen Ausflug zu unternehmen. Eva hatte die letzten Tage von früh bis spät in der Küche verbracht, um die sieben Gänge des Festessens vorzubereiten, war hierzu am Weihnachtstag sogar halb in der Nacht aufgestanden, um vor der heiligen Messe noch ein letztes Mal Hand anzulegen – jetzt freute sie sich umso mehr auf diese Abwechslung. Endlich einmal würde auch sie aus der Stadt herauskommen!

Rasch packte sie mit Hilfe ihrer Muhme zwei Körbe voll Mundproviant, dann versammelten sich alle vor dem Haus, samt Buchhalter Pefferlein, Agatha und dem alten Gesellen. Dick eingemummelt in Mäntel, Pelzkappen und wollene Handschuhe, vor den Gesichtern weiße Atemwölkchen, stapften sie los. Es ging in Richtung Wachturm, der die langgestreckte Marktstraße in zwei Hälften teilte, von dort dann weiter zum Spitaltor. Es waren erstaunlich viele Menschen unterwegs an diesem sonnig kalten Wintertag, und alle schienen dasselbe Ziel zu haben: das Altwasser der Donau, auf das der harte Frost der letzten Wochen eine dicke Eisschicht gezaubert hatte.

Eine halbe Stunde später erreichten sie die mit Erlen bestandenen Uferwiesen. Die Gräser und Blätter, mit Raureif überzogen, glitzerten in der Sonne, ein zartblauer Himmel spannte sich, ohne eine einzige Wolke oder Schliere, über die gleißende Fläche des Eises.

«Ist das nicht herrlich?», sagte Ursula Wolffin und breitete die Arme aus.

Aurelia strahlte ihren Vetter an. «Im Sommer kann man hier Boot fahren, auf kleinen Zillen. Das ist erst schön!»

Sie traten näher ans Ufer, wo sich inzwischen ein Haufen Volk drängte, jeglichen Alters und jeglichen Standes. Alle wollten sie das schier Unfassbare erproben – einmal wenigstens den Fuß aufs Eis setzen oder gar den Altarm des mächtigen Donaustroms überqueren. Manche zogen einander auf kleinen Holzschlitten, andere schlitterten mit viel Schwung über die glattesten der Flächen und fanden sich dann nicht selten auf dem Hintern wieder.

«Also, mich kriegt da keiner drauf», knurrte der Geselle, nahm Pfefferlein beim Arm und zog ihn mit sich auf eine der Holzbänke. Agatha folgte ihnen mit missmutigem Gesicht.

«Schaut mal! Schaut mal!» Aufgeregt deuteten die beiden jüngsten Mädchen auf eine Gruppe junger Burschen, die schwerelos wie Daunenfedern über das Eis glitten und dabei elegante Kreise zogen. Andere stießen sich mit langen Stöcken ab, erreichten damit eine atemberaubende Geschwindigkeit und rasten wie Lanzenreiter aufeinander zu.

Eva kniff die Augen zusammen.

«Wie kann das gehen?», fragte sie ihre Muhme.

«Sie haben Gleithilfen», antwortete an deren Stelle Endress Wolff. «Schweinsfußknochen, die mit Lederriemen unter die Schuhe geschnallt sind.»

«Das würd ich auch gern mal versuchen.»

Wolff lachte. «Das ist nichts für euch Frauen. Da würdet ihr euch nur alle Knochen brechen. Geht ihr lieber schön vorsichtig zu Fuß aufs Eis und haltet euch fest. Ich werd derweil schon mal den heißen Gewürzwein kosten. Bis später dann!»

Eva sah ihm nach, wie er in Richtung der Brettertische davonschritt, wo allerlei Leckereien feilgeboten wurden und süßer Wein in Kesseln überm Feuer dampfte. Jetzt grüßte er nach links und rechts, grad so, als sei er ein Landgraf, der die Reihen seiner Untertanen abschreitet. Wie gern hätte sie ihm erwidert, dass sie in ihrem Leben schon ganz andere Sachen geschafft hatte, als auf dämlichen Knochenstücken übers Eis zu rutschen.

Ihr Blick fiel auf das Herzogsschloss, das sich zu ihrer Rechten trutzig aus dem Mauerring der Stadtbefestigung bis dicht ans Ufer schob. Obwohl sich die bairische Herzogsfamilie höchst selten hier aufhielt und die goldene Zeit des Unterlands längst vorbei war, präsentierte sich Straubing als schmucke kleine Residenzstadt: Plätze und Straßen waren gepflastert, die Fassaden der Häuser stets sauber und Mauerwerk wie Tore und Türme in bestem Zustand. Die Donaubrücke, drüben vor dem Schloss, hatte eine eher traurige Bekanntheit erlangt: Hier hatte vor über hundert Jahren die Baderstochter Agnes Bernauer ihren grausamen Tod gefunden. Um der unstandesgemäßen Liebe zwischen ihr und dem Herzogssohn Albrecht ein für alle Mal ein Ende zu setzen, hatte man sie in einen Sack gebunden und in die Fluten geworfen. Angeblich war es ihr gelungen, die Beinfesseln zu lösen und ans Ufer zu schwimmen. Dort habe der Henker auf sie gewartet und mit einer Stange ihren Kopf so lange unter Wasser gedrückt, bis sie ertrunken sei. Als späte Sühne dann hatte ihr der alte Wittelsbacher Herzog eine Kapelle am Petersfriedhof gebaut, worin ihre Gebeine nun ruhten.

Jeder hier in Straubing kannte diese Geschichte, und für Eva war sie einmal mehr ein Sinnbild dafür, dass letztlich immer nur die Frauen für ihre Taten büßten – sogar für ihre Liebe. Wie zum Exempel sah sie in diesem Augenblick die junge, bildhübsche Patriziertochter Catharina an die Seite ihres Oheims treten, Schulter an Schulter ließen sie sich einen Krug Gewürzwein einschenken, lachten sich an mit geröteten Wangen. Eva warf einen verstohlenen Blick auf Ursula Wolffin, die, umringt von ihren Kindern, an der Uferböschung stand. Konnte es sein, dass ihr das Geschwätz der Ratschkatln vom Markt noch gar nicht zu Ohren gekommen war? Diese ungeheuren Gerüchte von einer heimlichen Liebschaft zwischen dem Rats- und Handelsherrn und der Amman’schen Catharina? Oder wollte sie davon gar nichts hören? Längst hatte Eva nämlich erfahren, dass der ach so gestrenge Endress Wolff ein rechter Schürzenjäger war.

«Was ist? Kommst du nun mit aufs Eis?» Niklas zog sie beim Arm. «Oder hast du Angst?»

«Ich werd dir gleich! Von wegen!» Eva drehte sich lächelnd zu ihrer Muhme um und fragte: «Kommst du auch?»

«Ich weiß nicht – wird uns das Eis denn tragen?»

«Aber ja. Wenn einer einbricht, dann zuerst der fette Kerl dort hinten.»

Vorsichtig kletterten sie die Böschung hinunter und wagten die ersten Schritte auf der eisglatten Fläche, aus der hier und da Büschel von Riedgras ihre frostigen Spitzen streckten. Es war ein seltsames Gefühl, auf diesem unbekannten Grund zu wandeln, auf diesen gefrorenen Wassern des mächtigen Stroms. Manche Stellen waren weiß wie Schnee, andere so glasklar, dass man die Steine und Pflanzen darunter erkennen konnte.

«Ich bleib mit den Mädchen lieber hier beim Ufer», sagte Ursula Wolffin. «Du auch, Aurelia!»

Eva knuffte ihren Bruder in die Seite. «Na, dann komm!»

Sie rannte los. Mit den glatten Sohlen ihrer Schuhe ließ es sich herrlich rutschen, so herrlich, dass es sie alsbald auf den Hintern schlug. Lachend ließ sie sich von Niklas aufhelfen.

«Weiter hinaus?», fragte der.

Sie nickte. «Weiter!»

Auf der Mitte des Flusses hielten sie inne. Wenn man lange genug lauschte, konnte man das Eis knistern und knacken hören. Bis hierher hatten sich nur ein paar wenige Knaben und Männer gewagt. Jetzt warfen sie Eva anerkennende Blicke zu.

«Du bist ganz schön mutig», flüsterte Niklas ihr ins Ohr.

«Blödsinn. Was soll uns schon geschehen, an solch einem herrlichen Wintertag! Es ist grad so, als würde sich der Herrgott mit uns freuen.»

«Hör zu, Eva, ich muss dir ein Geheimnis verraten, ein ganz unglaubliches. In der Heiligen Nacht hab ich gehört, was unser Oheim zur Muhme gesagt hat. Ich schwör dir, ich wollt nicht lauschen, aber die Tür war halt nicht verschlossen. Ich wär auch weitergegangen, aber da hatt ich meinen Namen gehört.»

«Jetzt red schon.»

Niklas holte tief Luft. «Endress Wolff will mich an Sohnes statt annehmen. Ich soll einmal sein Erbe und Nachfolger werden!»

«Das ist – das ist wunderbar. Wirklich, Igelchen, ich freu mich für dich.»

Jetzt war es Eva, die so tief Luft holte, dass ihr die eisige Kälte in die Lungen stach. Für ihren Bruder hatte sich also alles zum Guten gewendet, eine glänzende Zukunft tat sich ihm auf, voller Sicherheit und Wohlstand.

Ihr Blick schweifte erst nach Norden über die Hügel des Vorwalds, hinter denen sich blau und mächtig die Berge erhoben, dann gegen Süden über die schier endlose Ebene des fruchtbaren Gäubodens. Dazwischen schlängelte sich das glitzernde Band der Donau verheißungsvoll in Richtung Horizont. Keine Mauern, keine Tore stellten sich dem Auge in den Weg, alles war Weite und Klarheit, Himmel wie Landschaft. Alles schien unendlich.

«Gehn wir zurück», sagte sie schließlich mit rauer Stimme. «Unsere Muhme macht sich gewiss schon Sorgen.»

 

Der Winter blieb kalt und frostig, und als er Ende März den ersten milden Frühlingstagen weichen musste, stand Evas Entschluss fest: Sie würde weiterziehen, und mit einem Mal wusste sie auch, wie sie halbwegs gefahrlos durch die Lande kam. Mochte es ihr auch noch so schwerfallen, Niklas in der Obhut der Verwandten zu lassen – nichts hielt sie mehr im Haus ihres Oheims, dem Frauen nichts anderes waren als Arbeitstiere oder schmückendes Beiwerk der Mannsbilder. Sie konnte nur hoffen und beten, dass Niklas von dieser Art nichts annehmen würde.