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Auch drei Wochen später bestätigte Eva ihre letzte Aussage, und so sah man von einer weiteren Tortur ab, beschloss aber, noch einmal den Stadtboten Wilhelm Kratzer auszuschicken. Rund um Nördlingen und Regensburg solle er nachforschen, wo überall die Delinquentin ihre Übeltaten begangen habe, dann wolle man das Urteil fällen.
Seitdem man Eva der Straßenräuberei überführt zu haben glaubte, worauf für Weibspersonen der Tod durch Ertränken stand, erfuhr sie in ihrer Haft eine Reihe von Erleichterungen. Tagsüber wurde eine Tranlampe unter die Decke gehängt, samstags durfte sie sich waschen, und abends gab es einen Krug schweren, süßen Rotwein, den sie sich mit Michel teilte.
«Es ist eine Schande, dieser Prozess! Gewiss hast du viele dumme Sachen getan, aber ein so junges Ding wie du hätte Gnade verdient. Glaub mir, ich bet jeden Tag für dich, dass die Herren Richter sich nochmal besinnen.»
«Ach, Michel, ich hab keine Angst mehr vor dem Tod. Nur vor dem Sterben ein bisserl. Man mag mich endlich richten und mir das Leben nehmen – ich begehr nicht länger zu leben. Nicht mal ein Zuhause hab ich, es würd alles nur immer so weitergehen. Und dazu hab ich keine Kraft mehr.»
Zu diesem Zeitpunkt erwartete Eva längst keine Wunder mehr. Anfangs hatte sie noch zu jeder Stunde gebetet, hatte kreuz und quer sämtliche Gebete aus ihrer Kindheit aufgesagt, das Ave-Maria, das Glaubensbekenntnis, das deutsche Vaterunser nach Doctor Luther, das Paternoster auf Latein. Zu Gott und Jesus Christus hatte sie gebetet, zu Maria, den Engeln und allen Heiligen, und immer wieder zu Sankt Leonhard, dem Schutzpatron der Gefangenen, der manch einen durch ein Gnadenwunder von den Ketten befreit hatte. Hatte gehofft auf solch ein Wunder: dass eines Morgens der Riegel aufspringen und sich die Tür in die Freiheit öffnen, ja selbst, dass Gott ein Erdbeben oder eine Flut schicken würde, die sie aus ihrem Gefängnis befreite. Nicht zuletzt aber hatte sie auf Moritz gehofft, darauf, dass irgendeiner der Ratsherren doch nach ihm geschickt hatte und er mit einer Schar Reiter hier eintreffen würde, um sie zu holen. Was für ein kindischer Irrglaube!
Irgendwann dann war der letzte Funken Hoffnung in ihr erloschen, und das Warten in ihrem elenden Loch wurde zu einer größeren Qual, als es die Tortur gewesen war. Wie lange schon hatte sie keine Amsel mehr in den Bäumen zwitschern gehört, wie lange keinen Sonnenstrahl, keinen Windhauch mehr gespürt? Dass es Herbst geworden war und es auf den Winter zuging, verriet ihr nur die Kälte, die sie nachts kaum mehr schlafen ließ, und dass es einen Wechsel zwischen Tag und Nacht gab, nur die kleine Lampe an der Decke.
Sie begann, sich mehr und mehr mit dem Tod zu beschäftigen. Würde sie, wenn sie beim Jüngsten Gericht vor Gott trat, Gnade erfahren, nach allem, was sie getan hatte? Oder würden ihre Sünden so schwer wiegen, dass ihr der Weg in Gottes ewiges Reich auf immer verwehrt blieb? Oder behielten doch die Lutheraner recht, wenn sie sagten, Gottes Gnade gelte allen Gläubigen, ganz gleich, was sie sich auf Erden hatten zuschulden kommen lassen? Sie selbst jedenfalls bereute ihre Fehler zutiefst und ersehnte nichts mehr, als einzugehen in jenes Reich des Lichts, als endlich befreit zu sein von diesem Leib, der ihr auf unerklärliche Weise so viel Unglück und Leid gebracht hatte, von Kindheit an.
Anfang November erfuhr Eva von ihren Wärtern, dass der Stadtbote von seiner Erkundungsreise zurück sei, und sie wappnete sich innerlich für das nun folgende Verhör. Sie würde alles daransetzen, dass es das letzte wäre und es zu keiner weiteren Tortur mehr käme.
Einige Tage später war es so weit. Trotz der verbesserten Kost der letzten Wochen konnte Eva kaum noch aufrecht stehen, als sie im Wägloch den Gerichtsherren vorgeführt wurde. Dieses Mal war auch wieder der Amtsbürgermeister anwesend, der das Verhör beinahe feierlich eröffnete.
Eva schwankte von einem Bein aufs andere, während der Schreiber den Bericht verlas. Sie vermochte den Ausführungen nur mit Mühe zu folgen, manches kam ihr vertraut vor, anderes ganz und gar fremd. So habe sie einem Ingolstädter Schiffsmann einen Rock gestohlen. Einen Herbergswirt, dem Leinwand geraubt worden sei, gebe es hingegen in der ganzen Straubinger Gegend nicht. Der Löwenwirt in Calmunz sei zwar nicht bestohlen worden, dafür habe er von einem ungeheuerlichen Zechbetrug durch eine junge Frau und einen Knaben berichtet. Und rund um Velburg habe man von den Zünften erfahren, wie ein Schneiderknecht namens Adam Auer Brauch und Ordnung der ehrwürdigen Handwerke schamlos ausgenutzt und sich Zehrpfennig und Unterkunft erschlichen habe. In Velburg selbst schließlich sei man auf einen der Nördlinger Wegelagerer gestoßen, den Peter Messelseder, der dort gefänglich einliege und alles gestanden habe.
Solchermaßen ging es weiter. Namen und Orte flogen ihr um die Ohren, bis sie schließlich gar nichts mehr verstand. Sie schreckte erst auf, als Heidenreich mit donnernder Stimme das Wort an sie richtete.
«Gestehst du, den Calmunzer Löwenwirt um eine beträchtliche Zeche geprellt zu haben?»
«Ich hatte Hunger», flüsterte sie.
«Ob du gestehst, will ich wissen?»
«Ja.»
«Gestehst du, dem Ingolstädter Schiffsmann einen Rock gestohlen zu haben?»
«Ja.»
So ging es immer fort, und Eva antwortete auf jede Frage mit Ja.
«Kommen wir jetzt zum wichtigsten Punkt der Anklage zurück – der Straßenräuberei.» Heidenreich wandte sich an die anderen Ratsherren. «Dieser Peter Messelseder hat umfassend gestanden – darunter die beiden Überfälle, die unsere Malefikantin erwähnt hat. Den bei Nördlingen beschrieb er haarscharf so, wie ihn auch die Barbiererin geschildert hat. Zwar sei weder eine Eva beteiligt gewesen noch ein Schneiderknecht namens Adam – nur eine Landstörzerin, die Liesel genannt. Die sei mit der Beute auf und davon. Zudem hat er den Meuchelmord an vier Krämern gestanden, eine Meile vor Regensburg – er leugnet allerdings, dass da ein Weib dabei gewesen sei. Ganz offensichtlich will er die Barbiererin schützen, aber durch ihr Wissen um die Einzelheiten können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Delinquentin beide Male an diesen schändlichen Verbrechen beteiligt war und somit den Tod durchs Wasser verdient hat.» Er beugte sich über den Tisch. «Gibst du also zu, dass du zu dieser Rotte von Straßenräubern und Mördern gehörst und arglose Kaufleute überfallen hast?»
Eva sah verwundert auf. «Überfallen? Rotte?»
Auf einen Wink Heidenreichs hin trat der Scharfrichter zu ihr, und Eva schrie auf: «Wartet! Fragt mich gütlich – fragt mich alles, was Ihr zu wissen wünscht.»
Damit wiederholte sich die Vernehmung wie zuvor, nur dass es sich nun um die Einzelheiten zu den beiden Straßenrauben drehte. Auf jede Aussage Heidenreichs, auf jede Kleinigkeit musste sie antworten, und sie tat dies, ohne den Sinn der Frage zu verstehen, ein jedes Mal mit leisem «Ja». Am Ende schien der Inquisitor vollkommen erschöpft, und während er sich den Schweiß von der Stirn wischte, musste Eva feierlich und vor Gott versichern, dass all die Dinge so stünden, wie es geschildert worden war.
«Mein Kind» – Flanser sah sie voller Mitgefühl an –, «gibt es noch etwas, was du dir von der Seele reden möchtest?»
Müde schüttelte sie den Kopf, doch Flanser wandte den Blick nicht von ihr ab, und so murmelte sie: «Es tut mir alles von Herzen leid. Ich hab den Tod wohl verdient, nichts ist mehr an seinem Platz in meinem Leben, alles ist von hier nach da gerückt, ich find mich doch selbst nicht mehr zurecht!» Ihre Stimme festigte sich. «Viel Falsch, Betrug und bestimmt auch böse Schelmenstücke hab ich mit den Menschen getrieben, seitdem ich von zu Haus weg bin. Ohne es immer zu wollen, hab ich so viel Unheil gestiftet, dass sich mir schon alles im Kopf dreht. Und ich wär froh, endlich vor den Höchsten Richter zu treten. Trotzdem flehe ich Euch an, ehrsamer und weiser Rat: Mit Morden, Rauben und Brennen hab ich nie zu tun gehabt, und so bitt ich das hohe Gericht um einen gnädigen und schnellen Tod.»