Eva rieb sich die schmerzenden Handgelenke, auf denen die Fesseln dunkelrote Abdrücke hinterlassen hatten, dann zog sie Niklas in ihre Arme.
«Wir sind gerettet, mein Kleiner», flüsterte sie.
Der Zöllner stand breitbeinig vor ihnen auf der Ladefläche, deren Plane zurückgeschlagen war. Über ihnen leuchtete ein tiefblauer Himmel, von dem die Abendsonne wie zum Hohn über ihre Dummheit lachte. Nie wieder, schwor sich Eva in diesem Augenblick, würde sie auf die Freundlichkeit fremder Leute hereinfallen.
«Ihr brauchts keine Angst mehr haben», sagte der Zöllner. «Und jetzt runter von dieser Mistkarre.»
Er half ihnen vom Wagen und führte sie nach vorn zur Deichsel. Dort bot sich ihnen ein seltsames Bild: An einem Schlagbaum lehnten Vinzenz und Eusebia Fettmilch, die Hände an das Holz gebunden, er mit wutverzerrtem Gesicht, sie mit zitternden Mundwinkeln und rotgeheulten Augen. Rechts und links von ihnen hatten sich zwei mit Spießen bewehrte Männer aufgepflanzt, dahinter, in gebührendem Abstand, glotzten sich Gaffer jeglichen Alters die Augen aus dem Kopf.
Eva holte tief Luft. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass dieser Albtraum ein Ende hatte. Schwindel und ein Gefühl der Schwäche erfassten sie. Dazu war ihr fast schlecht vor Hunger.
«Was geschieht nun?», hörte sie jemanden fragen und wandte sich zur Seite. Aus dem Schatten eines Baumes löste sich eine schlanke, hochgewachsene Gestalt und kam in schlaksigem Gang auf sie zu. Wie bei einem hochbeinigen jungen Pferd, dachte Eva, und dann: wie bei Adam. Sie sah das schmale, glatte, noch sehr junge Gesicht, die dunkelbraunen, welligen Haare, die bis zur Schulter reichten, das Bärtchen über den vollen Lippen und flüsterte: «Adam!»
Dann warf sie sich mit einem unterdrückten Schluchzen in seine Arme.
«Ist ja gut», hörte sie eine tröstende Stimme. «Es ist vorbei.» Eva hob den Kopf und blickte in ein lächelndes Gesicht, auf dessen linker Wange sich eine dunkle Narbe abzeichnete. Die Augen waren, ganz anders als bei ihrem älteren Bruder, von einem selten klaren Grün.
«O Gott, verzeiht mir», stammelte sie. «Ich dachte, Ihr wärt Adam, mein älterer Bruder Adam.»
«Nein, ich bin leider nur Moritz.» Er lachte. «Moritz von Ährenfels.»
Sie wollte sich aus seinen Armen lösen, da gaben ihre Beine unter ihr nach, und sie sank schlaff auf die staubige Straße. Der Fremde beugte sich hinunter, hob sie auf und trug sie an den Wegesrand, wo er sie vorsichtig ins Gras legte. Dann hockte er sich neben sie.
«Gütiger Herrgott, du bist ja völlig entkräftet. Du hast sicher Hunger und Durst.»
Er band seine Wasserflasche vom Gürtel und hielt sie an ihre Lippen. Der Wein, den sie schmeckte, war süß und stark.
«Es geht schon wieder, edler Herr. Habt vielen Dank», sagte sie und richtete sich auf. Wie hatte sie nur so kreuzblöd sein können – diesen Junker in seinem dunkelblauen Samtumhang und dem kunstvoll bestickten Wams für Adam zu halten! Sich diesem Fremden mir nichts, dir nichts in die Arme zu werfen! Am liebsten wäre sie vor Scham im Erdboden versunken.
Sie gab sich einen Ruck. «Wo sind wir hier, Herr?»
«In der Jungen Pfalz, nicht weit von Neumarkt.»
Eva sagte weder das eine noch das andere was. Sie wollte nur noch fort von hier, fort von diesem schäbigen Leiterwagen, in dem sie so endlos lange Stunden gefangen waren, fort von all diesen Leuten, die längst neugierig zu ihr herüberstarrten. Verlegen ließ sie sich von dem jungen Edelmann auf die Beine helfen. Für einen kurzen Augenblick nahm sie den Geruch von frisch gemähtem Gras und Pferden wahr, der von ihm ausging, dazu ganz zart der Duft nach Zimt und Honig.
«Ihr wart unsere Rettung», sagte sie mit rauer Stimme. «Ich weiß wirklich nicht, wie ich Euch danken soll.»
Der Junker schüttelte den Kopf. «Das war nur unsre Pflicht. Solchem Kupplerpack muss das Handwerk gelegt werden.»
Sie trat einen Schritt zurück. Dabei trafen sich ihre Blicke. Die leuchtend grünen Augen betrachteten sie durchdringend. Eva senkte den Blick und strich sich durch die Locken. Meine Güte, wie dreckig und zerlumpt musste sie auf diesen jungen Vornehmen wirken!
Der Zöllner trat auf sie zu.
«Verzeiht die Störung, Junker Moritz. Es ist beschlossne Sach, diese Erzlumpen nach Neumarkt zu bringen. Und der Wagen ist beschlagnahmt.»
«Recht so. Ist Diebesgut darauf?»
«Ja. Das meiste aber wertloses Glump.»
«Uns hat er auch bestohlen», wagte Eva einzuwerfen. Dabei hielt sie den Blick weiterhin gesenkt. Allerdings nicht aus einem Gefühl der Ergebenheit heraus, sondern weil dieser Moritz von Ährenfels, der nur wenige Jahre älter war als sie selbst, sie verwirrte. Und das lag nicht nur an der verblüffenden Ähnlichkeit mit ihrem Bruder Adam.
«Dann komm.» Moritz von Ährenfels legte seine Hand auf ihre Schulter – warm und leicht spürte Eva sie durch den Stoff ihres Kleides – und führte sie zurück zum Wagen. Dort hockte Niklas auf der Deichsel und kaute mit vollen Backen. Auf seine Wangen war Farbe zurückgekehrt, und seine hellen Augen strahlten, während er vor dem guten Dutzend Menschen, das ihn umringte, von seinem Abenteuer prahlte.
Eva musste lächeln.
«Ist das dein Bruder?»
«Ja, Herr.»
«Ein netter Kerl. Und die anderen Mädchen – sind das deine Schwestern?»
«Nein, Herr. Ich hab sie unterwegs getroffen.»
«Unterwegs?»
«Ja. Wir waren auf dem Weg nach Straubing, zu unserer Muhme.»
«Straubing! Das ist ja unendlich weit weg von hier. Habt ihr denn keine Eltern?»
«Nein, Herr.»
Der Junker betrachtete sie in einer Mischung aus Erstaunen und Mitleid. Dann bot er ihr den Arm, um ihr auf den Wagen zu helfen – so galant, als sei sie ein Edelfräulein.
«Nimm dir, was dir gestohlen wurde. Und was du sonst noch brauchen kannst», fügte er leise hinzu und zwinkerte verschwörerisch. «Das tut keinem weh.»
Eva brauchte nicht lange, um den Sack zu finden, in dem Niklas’ Schuhe, ihr Mantel und ihre Geldkatze lagen. Dazu nahm sie noch einen kleinen, mit Wein gefüllten Wasserschlauch an sich, den sie unterwegs gut würde brauchen können, und ein Eckchen Schinken samt einem Kanten Brot, die als kläglicher Rest in Fettmilchs Vorratskiste lagen. Mehr wollte sie nicht von all diesem schmutzigen Kram.
Inzwischen waren auch ihre Weggenossinnen auf den Wagen gestiegen und begannen, voller Raffgier in den Kisten und Körben zu wühlen. Angewidert kletterte Eva vom Wagen. Moritz von Ährenfels schien auf sie gewartet zu haben.
«Mir ist da ein Gedanke gekommen», sagte er und wirkte nun seinerseits fast verlegen. «Ich nehm dich und deinen Bruder mit nach Neumarkt. Es gibt dort einen Ratsherrn, einen guten Freund von mir. Er wird euch beiden für eine Weile Obdach geben, zumindest so lang, bis ihr euch erholt habt.»
«Liegt dieses Neumarkt auf dem Weg nach Straubing?»
«Nein, gerade entgegengesetzt.»
Sie schüttelte den Kopf. «Dann habt vielen Dank, aber wir müssen nach Straubing.»
Sie wollte davon, Niklas holen, doch der Junker hielt sie zurück.
«Ich kann dich nicht gehen lassen. Es wird bald dunkel.»
Seine grünen Augen sahen sie flehend an.
«Junker Moritz!» Einer der Wächter winkte herüber. «Euer Pferd steht bereit. Wir müssen los.» Dann grinste der Mann breit. «Das Madl da nehmt nur mit, es hat noch Platz auf dem Wagen. Wer hätt gedacht, dass Ihr heut gleich zu vier feschen Madln kommt?»
Hatte Eva eben noch einen Atemzug lang gezögert, so stand ihr Entschluss jetzt fest: Niemals würde sie sich in die Obhut dieser fremden Leute begeben. O nein – das Schicksal hatte sie ein für alle Mal gelehrt, wohin kindisches Vertrauen führen konnte.
«Komm, Niklas!», rief sie. «Wir müssen los.»
Mit einem prallen Tuch voller Proviant schlenderte Niklas auf sie zu. «Fahren wir denn nicht mit den andern?»
«Nein, Igelchen. Das ist die falsche Richtung.»
Sie nahm seine Hand. «Gott schütze Euch», wandte sie sich an Moritz von Ährenfels. Der starrte sie jetzt fassungslos an. Er wirkte plötzlich wie ein enttäuschter kleiner Junge.
«Und wer beschützt dich, außer unserm Herrgott?»
«Ich selbst. Das ist allemal das Beste.» Ihre Stimme zitterte leicht. Vom Kutschbock her trötete ungeduldig ein Horn.
«Dann nimm wenigstens das hier.»
Der Junker zog unter seinem Umhang ein Jagdmesser hervor, und unwillkürlich zuckte Eva zusammen. Die Klinge funkelte in der Abendsonne, in den Knauf aus Horn war ein Wappen eingraviert: drei Ähren über einer gezackten Felsspitze.
«Es ist aus bestem Damaszenerstahl. Und hier – das Lederetui. Bind es dir unter die Schürze; damit es niemand sieht. Drei, vier Ackerlängen bergab findest du einen Unterstand für Jäger, dort seid ihr sicher für die Nacht.»
Eva nickte nur stumm, dann lief sie los.
«Halt, warte doch. Wie heißt du überhaupt?»
Sie war nahe daran zu lügen, dann aber rief sie über die Schulter zurück: «Eva.» Sie würden diesen Mann ohnehin nie wiedersehen.
Als sie mit großen Schritten der Straße hügelabwärts gefolgt waren bis zum Saum eines Wäldchens, wandte Eva sich noch einmal um. Oben, im fahler werdenden Abendlicht, stand Moritz von Ährenfels und sah ihr nach.
«Ich will nicht im Wald schlafen», maulte Niklas. «Und überhaupt: Warum sind wir nicht bei den freundlichen Männern geblieben?»
«Das verstehst du nicht. Und jetzt gib Ruh, da vorn ist schon der Unterstand.»
Als sie es sich auf dem Bretterboden der Hütte einigermaßen bequem gemacht hatten, kauerte sich Eva unter ihrem Mantel zusammen, ohne auch nur ein Krümchen ihrer Vorräte anzurühren, so erschöpft fühlte sie sich plötzlich. Fast augenblicklich schlief sie ein, mit dem tröstlichen Duft nach frischem Gras, Honig und Zimt in der Nase.
Sie erwachten von dem Geräusch knarrender Wagenräder, das von der nahen Landstraße herüberdrang. Eva wunderte sich, wie lange sie geschlafen hatten, denn die Sonne stand bereits recht hoch am Himmel.
«Jetzt hab ich Hunger», sagte sie und breitete ihre Schätze vor sich aus: den Schinken und das Brot, dazu von Niklas noch einige Äpfel, halb zerkrümelte Kuchenränder und zwei hartgekochte Eier. So reichhaltig war ihr Morgenmahl schon lange nicht mehr ausgefallen. Aber ihr Bruder schüttelte nur den Kopf. «Mir ist übel.»
«Du wirst doch nicht krank? Gütige Mutter Gottes, du darfst jetzt bloß nicht krank werden!»
Schmerzvoll verzog Niklas das Gesicht und hielt sich den Bauch. Da begriff Eva: Niklas hatte sich am Vortag schlichtweg überfressen! Beinah musste sie lachen.
«Das geht vorbei. Hier, trink von dem Wein, der Hunger kommt von allein.»
Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg. Eva wusste: Sie waren weiter entfernt von ihrem Ziel denn je, doch sie wollte sich nicht entmutigen lassen. In sicherem Abstand folgten sie einer Gruppe von Knechten und Mägden. Die schmale Straße schlängelte sich durch eine Hügellandschaft, die viel lichter und freundlicher wirkte als der bairische Nordwald. Jetzt schmückten sich die Magerwiesen rundum mit den gelben, blauen und weißen Blütenglocken der Kuhschelle, dazwischen leuchtete purpurrot das Knabenkraut.
Eva hatte ihren kleinen Bruder angewiesen, sich auf keinerlei Gespräche mit Fremden einzulassen, am besten solle er ganz den Mund halten. Zudem wollte sie die größeren Städte umgehen. Allzu sehr fürchtete sie, wieder irgendwelchen Blutsaugern und Bösewichtern auf den Leim zu gehen. Was sie stattdessen vorhatte, war, die kleinen Flecken und Dörfer rechts und links der Landstraße aufzusuchen, um dort gegen ein Almosen zu singen. Schließlich hatte sie eine begnadete Stimme, wie man ihr schon oft genug geschmeichelt hatte. Dazu würden sie vielleicht auch hin und wieder etwas aus den Gärten und von den Feldern stibitzen, wenn sich die Gelegenheit bot. Das dürfte auch für Niklas und seinen kindlichen Gerechtigkeitsglauben keine allzu große Sünde sein.
In der Mittagszeit entdeckten sie den ersten Weiler etwas abseits der Straße. Die Handvoll Häuser lag von einem niedrigen Palisadenzaun umfriedet, dahinter tummelten sich etliche Hühner, Gänse und Schweine.
«Hier wohnen keine Hungerleider», murmelte Eva befriedigt und gab Niklas Anweisung, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Sie stellten sich dicht an den Zaun. Sofort kam ein alter Mann in dem kurzen, grauen Nestelkittel der Bauern, barfuß und mit nackten Beinen, auf sie zugeschlurft.
«Was wollt ihr?»
«Wir täten gern was singen, wenn Ihr erlaubt», erwiderte Eva höflich.
«Eine Musikantentruppe», gackerte der zahnlose Alte und kratzte sich unter seinem losen Kittel ungeniert am Gemächt. «Das hatten wir schon lang nicht mehr. He, Matthes, Hannes, Kathrin, aufi, aufi! Da will wer für uns singen!»
Eine jüngere Frau mit zwei Knaben kam neugierig näher, und Eva stieß ihren Bruder in die Seite.
«Los, das Trinklied der Scherenschleifer», zischte sie.
Doch sie kamen nicht mal bis zur letzten Strophe. Niemals hätte Eva gedacht, dass Niklas dermaßen falsche Töne von sich geben würde. Aus dem Kreis ihrer Zuhörer, der schnell auf ein gutes Dutzend angewachsen war, drang das erste Gelächter, bald schrie jemand: «Aufhören!», ein anderer: «Haut bloß ab, das hält ja keiner aus!», und der Alte bückte sich gar und streckte ihnen den blanken Hintern zu.
Eva sang schneller, verhaspelte sich in den Worten, schließlich rief ein halbwüchsiger Bursche: «Ich lass die Köter raus, das wird ihnen Beine machen.»
Und wirklich öffnete sich jetzt mit lautem Knarren das Holztor, und zwei struppige Hunde rasten kläffend auf sie zu. Eva zog Niklas fest an sich: «Bleib ruhig stehen, um Himmels willen. Dann beißen sie nicht.»
Dabei zitterte sie selbst vor Angst angesichts der hochgezogenen Lefzen der beiden Biester.
«Ruf die Hunde zurück. Wir gehn ja schon», bat sie den Burschen, der dem Ganzen mit verschränkten Armen zusah.
«Am besten auf Nimmerwiedersehen.» Er pfiff die Hunde zu sich heran. «Und jetzt verschwindet. Vagantengesindel!»
Unter dem Hohngelächter der Dörfler trotteten sie zur Straße zurück. Niklas kämpfte deutlich sichtbar gegen die Tränen an.
«So wird das nichts.» Eva schüttelte wütend den Kopf. «Das nächste Mal singe ich allein, und du wirst dazu tanzen.»
«Ich will aber nicht den Affen machen!»
«O doch, das wirst du. Wie kann man nur so grässlich falsch singen!»