12
Zwei Stunden später wurde die Ahnung zur furchtbaren Gewissheit. Längst hätten sie die Stadt, deren Umrisse Eva in der Ferne gesehen hatte, erreichen müssen.
Sie stieß Theres in die Seite.
«Hier stimmt was nicht. Die führen uns am Narrenseil – wir müssten schon lange da sein.»
Ihre Stimme zitterte, jede Faser ihrer Muskeln war angespannt.
«Affengeschwätz!» Theres schnaubte verächtlich. «Was bist du immer so misstrauisch?»
Eva schüttelte den Kopf. «Du hättest hören sollen, wie sie über uns getuschelt haben, vorhin, bei der letzten Rast.»
Sie warf einen Blick in Richtung Kutschbock. Zwischen den Umrissen der beiden Fettmilchs war nur ein kleines Stückchen Himmel zu sehen. Da spürte sie, dass der Wagen leicht bergauf zog, als ob es wieder in die Berge ginge.
«Ich will jetzt wissen, wo wir sind.»
Entschlossen kroch sie über die rüttelnde Ladefläche nach vorn. Und traute ihren Augen nicht: Da war keine Flussniederung mehr! Stattdessen ging es links der Straße eine Böschung hinunter, rechter Hand zog sich dichter Wald den Berghang hinauf. Noch etwas anderes entdeckte sie: Fettmilch hatte sich das Haar hinters Ohr gestrichen, ganz deutlich sah sie nun das geschlitzte Ohrläppchen. Dieser Mann war gar kein ehrbarer Schlossermeister! Wegen irgendeines Vergehens hatte man ihn aus der Zunft ausgeschlossen und als sichtbares Zeichen hierfür den Ohrring ausgerissen.
«Das ist doch die falsche Richtung!», stieß sie hervor.
Vinzenz Fettmilch fuhr herum. Er wirkte erschrocken, brach dann aber in schallendes Gelächter aus.
«Aber nein, meine Süße, wir sind schon richtig hier.»
Im nächsten Augenblick schnellte seine Faust gegen ihre Brust, sie fiel ins Dunkel des Wagens zurück, krachend schlug ihr Kopf gegen etwas Hartes. Für kurze Zeit wurde ihr schwarz vor Augen, dann hörte sie die Schreie der anderen Mädchen, dazwischen lautes Fluchen von Eusebia. Sie spürte, wie ihr die Hände auf dem Rücken gefesselt wurden.
«Los, bring das Miststück nach hinten, zu den anderen», hörte sie den Mann rufen. Unter geräuschvollem Schnaufen schleifte Eusebia sie über die Ladefläche, Evas Knie krachten gegen irgendeine Kiste, ihr Hinterkopf dröhnte. Sie wollte schreien, doch ihre Kehle war vor Entsetzen wie zugeschnürt. Jetzt erst bemerkte sie, dass der Wagen zum Halten gekommen war.
Als ihre Augen endlich die Dunkelheit durchdrangen, erkannte sie, dass auch die anderen mit den Händen auf dem Rücken gefesselt waren. Vinzenz Fettmilch hockte zwischen ihnen.
«So, ihr Schönen, reden wir nicht länger um den heißen Brei.»
In seinen Händen blitzte ein Dolch auf.
«Wenn wer schreit, schlitz ich dem Zwerg hier den Bauch auf.»
«Das wär nicht das erste Mal.» Sein drohender Tonfall wurde sanfter. «Was seid ihr doch für dumme Hennen! Zu glauben, wir würden euch um Gotteslohn durch die Welt kutschieren! Wollen doch mal sehen, was wir uns als Belohnung holen können.»
Er riss Niklas die neuen Schuhe von den Füßen und stopfte sie in einen Sack. Als der Junge zu schluchzen begann, verpasste ihm Eusebia augenblicklich eine Maulschelle.
«Hör auf zu flennen, Rotznase. Mein Bruder spaßt nicht mit seinem Dolch!»
«Genau!»
Als Nächstes zog Fettmilch den Mädchen ihre Wolltücher von den Schultern und knüllte sie zu den Schuhen in den Sack.
«Ja, was haben wir denn hier für ein Meisterstück! Das bringt uns sauber zwei bis drei Gulden ein.»
Damit war Evas Lodenmantel gemeint, der auf einer der Kisten lag.
«Bitte, Gevatter!» Eva brachte kaum einen Ton heraus. «Wir geben Euch alles, was wir haben. Wenn Ihr uns nur freilasst!»
«Halt die Goschn! Und jetzt zu euren Geldkatzen! Bah, die sind ja schlapp wie Greisenschwänze. Bis auf einen.» Er kicherte und riss mit einem Ruck Evas Beutel vom Rock. Ohnmächtige Wut stieg in ihr auf, als er in ihrem mühsam erarbeiteten Geld kramte.
«Lasst ihr uns jetzt gehen?», fragte Theres mit dünner Stimme.
Fettmilch lachte. «Glaubst im Ernst, dass wir euch wegen dieser erbärmlichen Ausbeute mitschleppen? Nein, nein, ein viel größeres Geschäft versprechen wir uns mit euch Süßen. Aber keine Angst, es wird euch gut ergehen, wenn ihr euch nur ein wengerl anstellig zeigt.»
«Die Schmale hier» – Eusebia tippte mit ihren Wurstfingern gegen Evas Brustbein und grinste –, «die wird dem Pfaffen gefallen! Die erinnert ihn gewiss an seine Ministranten.»
Wie ein Dolchstoß durchfuhr es Eva: Sie waren einer Kupplerin in die Hände gefallen. Sie waren tatsächlich einem dieser teuflischen Weiber auf den Leim gegangen, die in Not geratene Mädchen als Dienstmägde anlockten und dann gewaltsam in ihr Winkelbordell in irgendeiner fernen Stadt verschleppten! Und dort mussten sie geifernden, geilen Mannsbildern zu Diensten sein.
Auch Susanna schien zu begreifen. Ihr gellender Aufschrei zerriss die Stille. «Nein!»
Da schlug ihr Eusebia so heftig rechts und links ins Gesicht, dass das Mädchen ohnmächtig zur Seite kippte.
«Treibt bloß keine Possen mit uns!», schnauzte Fettmilch. «Und wer an den Zollstellen das Maul aufreißt, erlebt den nächsten Tag nicht mehr. Du kutschierst, Eusebia. Ich geb auf unsere Madln acht. Los geht’s, auf nach Nürnberg!»
Das, was jedem Trödler, jedem Kaufmann ein Graus war, diese ständigen Schlagbäume und Zollhäuschen, wurde zu Evas ganzer Hoffnung. Vielleicht würde einer der Mauteintreiber merken, dass sie hier gefangen waren. Doch ihr heimliches Flehen wurde nicht erhört.
Bei jedem Halt hörten sie Eusebia denselben Sermon säuseln: Sie seien Trödler, die mit ihren Kindern und einem Haufen alten Eisens unterwegs ins Fränkische seien. Dann beglich sie ohne Murren ihre Maut, während Vinzenz Fettmilch hinten auf der Ladefläche seinen Dolch bereithielt. Einmal, als ein Zollbüttel den Kopf ins Halbdunkel der Plane steckte, um Eusebias Angaben zu überprüfen, sah Eva die Gelegenheit gekommen.
Weiter kam sie nicht.
«Au!» Ein kurzer, stechender Schmerz fuhr ihr in die Seite, während gleichzeitig Fettmilch mit seinem dröhnenden Organ zu jammern begann.
«O meine arme Tochter, meine arme geliebte Tochter! Hast du wieder diese Gesichte? Verzeiht, Herr, meine Tochter ist mit Blödigkeit geschlagen, seit sie letzten Winter von einer Brücke ins eiskalte Wasser gestürzt ist. Jetzt beruhige dich doch, mein Liebes.»
Er legte den Arm um Eva und zog sie an sich. «Wenn du noch einen Laut gibst», flüsterte er, «fährt dir die Klinge bis ins Gedärm.»
«Na dann – nichts für ungut, Meister. Pfiad’s Euch Gott und gute Weiterfahrt.»
Der Kopf des Zöllners verschwand. Ein Rucken ging durch den Wagen, und sie fuhren an.
Fettmilch lockerte seinen Griff.
«Euer Evchen hat jetzt einen hübschen Kratzer in der Seite und einen Riss im Kleid. Für nichts und wieder nichts. Ich hoff, ihr andern lernt daraus.»
«Tut es sehr weh?», flüsterte Niklas.
«Nein, Igelchen. Es ist schon wieder vorbei.»
Dabei brannte die Einstichstelle wie Feuer. Erschöpft schloss sie die Augen. Niemals würden sie heil hier herauskommen. Und wenn sie dann erst in Nürnberg waren, in dieser riesigen, fremden Stadt, würden sie ihren Entführern erst recht ausgeliefert sein. Denn sie besaßen nur mehr das, was sie auf dem Leib trugen. Den anderen Mädchen hatten sie sogar die Briefe mit den Zeugnissen ihrer Dienstherren abgenommen.
Zwei Tage und zwei Nächte hockten sie gefesselt in ihrem dunklen, engen, rumpelnden Gefängnis, bei Wasser und trocken Brot. Des Nachts band Fettmilch ihnen die Füße aneinander, um sich selbst dann irgendwo zur Ruhe zu legen.
Am dritten Tag kamen sie an Regensburg vorbei, wie sie aus den Wortfetzen zwischen den beiden heraushörten, ohne dass sich irgendeine Gelegenheit zur Flucht geboten hätte. Dabei trennte nur eine dünne, schmutzige Plane sie von der Außenwelt, marschierten, ritten, fuhren andere Menschen nur wenige Schritte entfernt an ihnen vorbei. Schmerzhaft nah hörten sie fremde Stimmen, Rufe, Lachen, ohne dass sie es gewagt hätten, ihre elende Lage laut herauszuschreien. Eva hatte längst alle Hoffnung aufgegeben. Dass sie nicht, wie die anderen Mädchen, in dumpfer Teilnahmslosigkeit versank, lag einzig an ihrem kleinen Bruder. Niklas brauchte sie jetzt mehr denn je. Wenn er wach war, presste er sich an sie, meist zitterte sein schmächtiger Körper vor Angst. Dann erzählte sie ihm kleine Erlebnisse aus der Glatzer Kindheit oder erfand irgendwelche albernen Geschichten, bis er sich beruhigte. Vinzenz Fettmilch ließ Eva gewähren, ermunterte sie sogar manchmal, weiterzumachen, wenn Niklas eingeschlafen war. Überhaupt zeigte er sich erstaunlich friedfertig, solange sie sich still in ihr Schicksal fügten.
In der dritten Nacht lagen sie wieder, mit den Füßen aneinandergebunden, auf ihrer inzwischen grauenhaft stinkenden Strohschütte und versuchten, in den Schlaf zu finden. Da hörte Eva irgendwann die beiden Fettmilchs miteinander flüstern. In der Stille der Nacht verstand sie jedes Wort.
«Was machen wir eigentlich mit dem kleinen Bettseicher?» Das war Eusebias Stimme.
«Wieso? Der ist doch ein gutes Faustpfand. Keine der Metzen will, dass ihm ein Leid geschieht, also halten sie das Maul.»
«Ich mein, in Nürnberg.»
«Hab ich noch nicht drüber nachgedacht. Aber du hast recht, da ist er uns nur im Weg. Wir sollten ihn vorher loswerden.»
Eusebia kicherte leise. «Die Wasser der Altmühl wären tief genug!»
Am liebsten hätte Eva laut geschrien in ihrer Not. Wie konnte Gott so viel Boshaftigkeit zulassen? Waren sie nicht genug gestraft? Und wenn einer gestraft gehörte, dann sie selbst. Lieber Herrgott im Himmel, verschone Niklas, flehte sie in ihrem Innern. Ich weiß, ich hab vielmals gesündigt, aber schenk mir nur noch ein einziges Zeichen deiner Güte, beschütze meinen kleinen Bruder, um Jesus Christus willen!
Als Niklas sie erschrocken mit der Schulter anstieß, merkte sie, dass sie laut zu schluchzen begonnen hatte.
Mit einem heftigen Ruck hielt der Wagen an. Eva schreckte aus ihrem Dämmerzustand. Die Sonne stand schon tief und erreichte mit ihren Strahlen fast ihr Lager. Mehrere Männerstimmen waren zu hören, dazwischen die von Eusebia. Es klang, als sei man sich nicht einig über die Weiterfahrt.
«Was ist los, Weib?» Vinzenz Fettmilch richtete sich stöhnend neben Eva auf und kroch in Richtung Kutschbock. «Keinen Mucks, ich warn euch», zischte er noch, dann kletterte er neben seine Schwester.
«Jetzt stell dir vor», schimpfte Eusebia, «da wollen die von uns eine Brückenmaut über zwölf Pfennige, dabei ist hier nichts als ein dreckiger Acker! Oder siehst du irgendwo einen Fluss?»
«Bist narrisch?», schnauzte Fettmilch. «Gib das Geld raus und halt’s Maul.»
«Genau!», belferte einer der Männer. «Sonst könnt Ihr mit Eurem gschlamperten Wagen gleich wieder umkehren.»
«Kenne ich Euch nicht?» Eva horchte auf. Diese Stimme war ganz jung.
«Bin ich Euch nicht», fuhr dieselbe Stimme fort, «letztes Jahr auf der Hofmark meines Vaters begegnet?»
«Nicht dass ich wüsste», entgegnete Fettmilch mürrisch.
«Ich bin mir aber sicher. So schnell vergesse ich kein Gesicht.»
«Und wer soll Euer Vater sein, bitt schön?», fragte Eusebia schnippisch.
«Herrgott, sei doch still!», zischte Fettmilch.
«Roderich von Ährenfels. Ein Ministeriale des Baiernherzogs Albrecht.»
«Kennen wir nicht, den edlen Herrn.»
«Dann deckt doch mal Eure Plane vom Wagen. Damit wir genauer sehen können, was Ihr so durch die Gegend fahrt.»
«Was soll das?» Eva hörte eine Mischung aus Angst und Wut aus Fettmilchs Stimme heraus. Ihr stockte der Atem. War das ihre Rettung?
«Meint Ihr nicht, Junker Moritz, wir sollten die beiden ziehen lassen? Jetzt, wo sie bezahlt haben?» Das war offenbar der Zöllner, der sich Zeit und Mühe einer genaueren Untersuchung sparen wollte.
«Das denk ich auch.» Fettmilch bekam wieder Oberwasser. «Wir sind ehrenhafte Händler, auf dem Weg nach Nürnberg. Außerdem habt Ihr als bairischer Junker hier auf dem Boden des Pfälzers gar nichts zu sagen.»
«Pass bloß auf, du großgoscherter Lumpensammler!», blaffte jetzt der Zollbüttel. «Ich hau dir gleich meinen Spieß in die Rippen, wenn du vor dem Junker das Maul so aufreißt. Im Namen des Pfalzgrafen und Herzogs Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken: Mach sofort die Plane auf!»