17
«Das war nicht recht. Der arme Wirt hat alles umsonst gekocht.»
Im Morgengrauen hatten sie ihre Zuflucht in der Kapelle verlassen. Jetzt schlugen sie sich durch dichtes Unterholz, die Zweige zerkratzten ihnen die Beine.
«Dummerchen!» Eva musste fast lachen. «Da waren am Schluss so viele Gäste, die werden schon alles aufgegessen haben.»
Dabei hatte sie am Vorabend selbst das schlechte Gewissen geplagt. Nachdem Niklas eingeschlafen war, eingerollt in ihre alten Kleidungsstücke, hatte sie noch lange vor der Stelle gekniet, wo sie Marias Bildnis wusste, und in völliger Dunkelheit inbrünstig gebetet.
«Trotzdem.» Niklas schob die Unterlippe vor. «Außerdem hast du dem Wirt gesagt, ich wär blöde. Das war gemein.»
«Seltsam. Ich hab gesagt: seltsam.» Sie blieb stehen und küsste ihn. «Dafür gab es das beste und fetteste Essen seit langem. Das war’s doch wert, oder nicht?»
Sie blinzelte gegen die Sonnenstrahlen, die das Laubdach der Bäume durchdrangen.
«Ich denk, wir können jetzt auf die Straße zurück. Ich glaub nicht, dass der Wirt uns groß suchen lässt. Sonst müsst er ja zugeben, dass ihn ein junges Mädchen übers Ohr gehauen hat.»
Die Landstraße verlief dicht am Fluss, der sich durch ein weites und blühendes Tal wand. An seinem breiten Lauf reihte sich Mühle an Mühle, eine wohlhabender als die nächste, oben auf den Höhen ragten Burgen und Ruinen in den Sommerhimmel. Dazu luden saubere, freundliche Gasthäuser zur Rast ein. Nur das Marschieren war hier, wie immer auf solchen Straßen in feuchtem Talgrund, mühsam: Der Knüppelweg, der äußerst nachlässig mit Sand und Erde aufgefüllt war, ließ einen stolpern, hielt man die Augen nicht auf den Weg. Eva wunderte sich, wie wenige Menschen heute unterwegs waren. Als sie erfuhren, dass Sonntag war, verspürte sie ganz plötzlich den Wunsch, einmal wieder, nach langer Zeit, einen Gottesdienst zu besuchen.
Niklas schien davon nicht eben begeistert. «Wir haben noch gar nichts gegessen.»
«Ach, Igelchen, du denkst nur noch ans Essen! Also gut. Aber im nächsten Dorf gehn wir dann in eine Kirche.»
Sie setzten sich an den Brunnenrand vor einer der Herbergen, füllten ihren Wasserschlauch auf und aßen das restliche Brot. Steile Felswände schoben sich hier seitwärts gegen das Tal, die Straße war auf einmal menschenleer.
«Wie weit ist’s noch nach Regensburg hin?», fragte Eva ein Mädchen, das gerade Wasser aus dem Brunnen schöpfte und sie dabei immer wieder misstrauisch beäugte.
«Drei Wegstunden», entgegnete es unwillig. «Übrigens kann mein Vater es nicht leiden, wenn Leute vor seinem Haus die Brotzeit nehmen. Verschwindet also besser.»
«Wir sind gleich weg», beschwichtigte Eva und lächelte so freundlich, wie sie es vermochte. Nach ihrem Schelmenstreich vom Vortag wollte sie jeden Ärger vermeiden. Andererseits verspürte sie auch einen gewissen Stolz darüber, wie gut er ihr gelungen war. «Sag mir nur noch eins: Weißt du, wo man in Regensburg übernachten kann – gegen Gotteslohn natürlich?»
«Solche seid ihr also. Dacht ich mir’s schon.» Das Mädchen rümpfte die Nase. «Hungerleider und Habenichtse werden erst gar nicht dort reingelassen. Na ja, ihr könnt’s ja mal in Stadt am Hof versuchen, auf der andern Seit von Regensburg. Da gibt’s ein Spital.»
«Danke.»
Doch das Mädchen hatte schon auf dem Absatz kehrtgemacht und verschwand nun grußlos in der Herberge. Im selben Augenblick bog ein Mann um die Ecke, etwa Mitte zwanzig und in der Tracht eines Handwerksgesellen. Trotz der sommerlichen Wärme trug er einen kurzen schwarzen Mantel, unter dem eine Pluderhose mit grellroten Strumpfbändern zu sehen war, die er zu großen, albernen Schleifen gebunden hatte. Dazu saß ein hoher Hut mit Pfauenfeder schief auf seinem Langhaar. Er zerrte einen knochigen Maulesel am Strick hinter sich her.
«Ihr wollt also nach Regensburg», sagte er und grinste breit.
«Habt Ihr was dagegen?», gab Eva schnippisch zurück. Es ärgerte sie, dass der Mann sie belauscht hatte.
«Im Gegenteil. Will ja selber dorthin. Eine nette Begleitung tät mir gefallen. Ich kenn auch eine Abkürzung, oben durch die Hügel.»
So einer fehlt uns grad noch, dachte Eva. Der Kerl sah mit seinem verschlagenen Gegrinse alles andere als vertrauenserweckend aus. Außerdem machte er den Eindruck, als habe er schon am frühen Morgen dem Branntwein zugesprochen, so wie er die Worte zerkaute. Jetzt setzte er sich auch noch neben sie auf den Brunnenrand.
«Bist eine Dienstmagd, was?», nuschelte er.
Eva gab keine Antwort, was den Burschen nicht zu kümmern schien.
«Ja, fürwahr ein hartes Brot. Den ganzen Tag Wäsche schrubben, Holz schleppen, die Scheißhafen der feinen Herrschaften ausleeren – eine elende Plackerei! Da hab ich’s besser getroffen. Ich kann in einer Stunde so viel verdienen wie du in sieben Jahren. Und muss nicht mal dafür arbeiten.»
«Wie das?», fragte Niklas mit großen Augen, und Eva trat ihn gegen das Schienbein.
«Das würdst gern wissen, du kleiner Wunderfitz», kicherte der Mann. «Aber ich verrrat’s dir nicht. Außer ihr kommt mit mir. Ich würd euch auch …»
«Wir brauchen keine Begleitung», unterbrach Eva ihn barsch. Der Mann wurde ihr immer widerwärtiger. «Wir warten hier auf unseren Oheim.»
«Dann betet nur, dass er gut bewaffnet ist. Hier in der Gegend wimmelt es nämlich von Mordbrennern und Gartknechten. Die schneiden dir schon um eine Handvoll Pfennige das Gedärm raus.»
Eva spürte, wie sich Niklas’ Finger vor Schreck in ihren Arm krallten. Niemals war dieser Kerl ein Handwerker, eher ein ausgekochter Spitzbube oder noch Übleres. Einer dieser Schnapphähne, die die Reisenden auf der Straße ausplünderten. Sie musste ihn so schnell wie möglich loswerden.
«Jetzt kriegt ihr Angst, was?», fuhr der Fremde fort, als hätte er Evas Gedanken gelesen. «Ich kannte mal einen Schelm, der hat in nur acht Wochen drei Dutzend Häusern den roten Hahn aufs Dach gesetzt und den Sackmann gemacht. Er hat eine Feuerspur gelegt vom Elsass über den Schwarzwald bis ins Schwäbische. Das war ein Malefizkerl! Nur leider hat man ihn in Reutlingen aufs Rad geflochten.»
Über ihnen klappte ein Fenster auf.
«Hatt ich dir nicht gesagt, du sollst von meinem Grund und Boden verschwinden, du Saubazi?»
Eva und Niklas sprangen erschrocken auf. Über ihnen lehnte ein Mann über dem Sims und hielt einen dampfenden Kessel bereit.
«Bevor ich Amen gesagt hab», brüllte er, «bist du weg. Sonst verseng ich dir und deinem Schindesel das Fell!»
Schon hatte sich der Fremde auf sein Reittier geschwungen und trieb es mit einem Prügel in hastigen Trab.
«Wart nur», schrie er über die Schulter zurück. «Dich setz ich auch auf mein Kerbholz, du hinterfotziger Scheißhaufen!»
Niklas sah ihm nach.
«So ein großgoscherter Prahlhans!»
«Vielleicht auch nicht», sagte Eva leise.
«He, ihr zwei Daumendreher, das gilt auch für euch!»
Rasch zerrte Eva ihren Bruder vom Brunnen weg und rannte zur Landstraße. Dort blieb sie mit klopfendem Herzen stehen.
«Was machen wir jetzt?», fragte Niklas mit ängstlicher Stimme.
«Wir warten, bis jemand vorbeikommt, und dann nichts wie weiter.»
Wenig später zogen vier Händler des Weges, ordentlich gekleidet und mit schwerbepackten Maultieren. Ihnen schlossen sie sich nach einem kurzen Gruß an. Die Männer kümmerten sich nicht weiter um sie, und Eva war das gerade recht.
«Wirst sehen, in zwei, drei Tagen haben wir es geschafft. Dann sind wir bei unserer Muhme. Und bei Josefina», setzte sie hinzu und wusste selbst nicht, ob sie daran noch glaubte.
Sie waren nicht allzu weit gekommen, hatten zwischen sich und den Händlern einen kleinen Abstand gelassen, um ungestört schwatzen zu können, als hinter einem Felsen ein Mann hervorgesprungen kam. Er fuchtelte aufgeregt mit den Armen.
«Helft mir, um Gottes willen! Mein alter Vater ist schwer gestürzt.»
Vielleicht hatten die Schauergeschichten jenes Prahlhanses Evas Sinne für die Gefahren der Landstraße wieder geschärft und damit ihr Gutes gehabt – jedenfalls erkannte sie sofort, dass da etwas nicht stimmte. Ohne nachzudenken, nahm sie ihren Bruder bei der Hand und zog ihn hinter das dichte Buschwerk, das am Wegrand, zwischen Fahrstraße und Felswänden, wucherte. Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Moment ertönten laute Rufe und wütende Befehle, es klang nach einer ganzen Horde von Männern. Eva verstand so etwas wie: «Los, her damit!» – «Aber schnell!» – «Bitte nicht!» – «Erbarmen!» Dann wurden gellende Schreie von den nackten Felswänden zurückgeworfen und hallten durch das Tal, wieder und wieder, Schmerzensschreie, immer qualvoller, immer lauter, obwohl Eva sich die Hände gegen die Ohren presste.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange das so ging. Irgendwann sah sie durch das Laubwerk die Umrisse von einem halben Dutzend Reitern vorbeisprengen, hinter ihnen die bepackten Maultiere der Händler. Die hatten die Köpfe hochgeworfen, das Weiß blitzte aus ihren Augen. Damit war der Spuk vorbei. Eva ließ die Hände sinken. Alles war still, nicht einmal die Vögel zwitscherten mehr in den Zweigen. Neben ihr kauerte Niklas und hatte seinen Kopf in den Armen vergraben.
Eva wurde klar, dass sie an dem Schauplatz des Verbrechens vorbeimussten, ohne zu wissen, was sie erwartete.
Vorsichtig löste sie Niklas aus seiner Erstarrung.
«Wir müssen weiter», sagte sie. «Es hilft alles nichts.»
Was sie dann sahen, war noch entsetzlicher als erwartet. Vier Körper krümmten sich reglos am Boden, zwei dicht beieinander, einer am Wegrand, der vierte halb auf der Böschung hinunter zum Fluss. Der Sand rundum war dunkel gefärbt von Blut, mittendrin lag ein abgetrennter Arm, ein Stückchen weiter eine Hand, zwei der Leichen fehlten die Schuhe, der dritten am Wegrand gar die Füße. Dazu lag ein schwerer, süßlicher Geruch in der Luft.
«Schau nicht hin», flüsterte sie und hielt ihrem Bruder die Hand vors Gesicht. «Lauf nur immer vorwärts, ich führ dich.»
Im selben Augenblick flatterten zwei Rabenvögel dicht vor ihnen auf, und sie stieß einen Schrei aus. Dem Mann zu ihren Füßen waren die Augen ausgestochen worden! Seine Augenhöhlen, sein ganzes Gesicht waren nur mehr ein schwarzroter Brei. Da fiel ihr Blick auf seinen Rockschoß: Ein winziger Lederzipfel ragte aus den Stofffalten heraus.
«Weiter! Komm!» Sie schob Niklas vorwärts, bis der Weg um einen Felsen bog und das grausige Schlachtfeld außer Sichtweite war.
«Wart hier. Ich bin gleich zurück.»
Niklas nickte nur. Noch immer hielt er die Augen fest zusammengepresst, sein Gesicht war kreideweiß.
Es kostete sie größte Überwindung, zu dem verstümmelten Leichnam zurückzukehren, aber was sie vermutet hatte, bestätigte sich: Die Meuchelmörder hatten in der Eile eine Geldkatze übersehen. In ihren Ohren begann es zu rauschen, als sie mit einem raschen Schnitt ihres Messers den prallen Beutel auftrennte und sich eine wahre Flut von Geldstücken in ihre Schürze ergoss. Mit zitternden Fingern füllte sie die Münzen in ihre eigene Geldkatze, einige Heller fielen auf die blutgetränkte Erde, doch um nichts auf der Welt hätte sie sie angerührt. Schwankend erhob sie sich, kam gerade noch bis zu dem Felsen an der Biegung, als ihre Beine nachgaben und sie sich in heftigen Krämpfen erbrechen musste. Was hab ich nur getan?, dachte sie immer wieder, bin ich des Teufels? – bis sie sich endlich einen Ruck gab und tief Luft holte. Sie mussten schleunigst verschwinden, vielleicht kehrten die Wegelagerer ja zurück.
Niklas stand so da, wie sie ihn verlassen hatte – reglos, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Sie nahm ihn bei der Hand.
«Mach die Augen wieder auf, Igelchen. Es ist vorbei.»
Stumm marschierten sie weiter, bis sie an eine Weggabelung gelangten. Der Hauptweg schob sich weiter durchs Tal, linker Hand schlängelte sich ein schmaler Pfad längs eines Bachlaufs den Hügel hinauf. Ganz oben erhob sich eine Kirchturmspitze über den Bergkamm in den immer noch wolkenlosen Himmel.
Eva blieb stehen.
«Gehen wir in die Kirche. Wir sollten Gott danken, dass er uns vor diesen Mördern beschützt hat.»
Während sie die Treppen zum Portal der Dorfkirche hinaufstiegen, wurde ihr nach und nach leichter ums Herz. Vielstimmiger Gesang schallte ihnen entgegen, dann eine kräftige Männerstimme. Hier würde sie sicherlich Trost finden, wie schon in der kleinen Kapelle von Calmunz, vielleicht sogar den Beistand eines Beichtvaters. Denn was sie getan hatte, war ein übles, schändliches Unrecht, davon war sie überzeugt, auch wenn sie es, wie schon im Löwenwirtshaus, nicht um ihretwillen getan hatte – und der Mann ohnehin schon tot war.
Das Kirchenschiff war gut gefüllt. Auf der rechten, der «guten» Seite standen die Männer, auf der linken die Frauen mit ihren Kindern. Einige hatten sich ihren Schemel von zu Hause mitgebracht, denn die Bänke vor dem Altar waren hier wie überall für die Vornehmen und Reichen bestimmt. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, kaum einer hörte richtig zu, Hunde kläfften und rauften sich, Säuglinge quäkten.
Eva gesellte sich, mit Niklas an der Hand, zu einer Gruppe alter Weiber, die sie argwöhnisch angafften. Die Schmucklosigkeit des Gotteshauses und sein bilderloser Altar verrieten ihr sofort, dass der Pfarrer hier nach dem neuen Glauben lehrte. Keine einzige Darstellung des Gnadenstuhls, keine geschnitzte Mutter Gottes war zu entdecken. Die Fresken der Heiligen waren mit weißer Tünche zugeschmiert, nur hier und da schimmerten noch bunte Flecken hindurch. Selbst aus den Glasfenstern hatte man einige Bildnisse herausgeschnitten. Eva spürte so etwas wie Enttäuschung, erst recht, als ihr Blick auf die schlichte Holzkanzel fiel.
Dort breitete eben der Pfarrer die Arme über seine Gemeinde aus und donnerte die Worte heraus, als müsse er gegen den Lärm einer Heeresattacke ankämpfen. Er war alt, sein gelbweißer Bart hing ihm lang und wirr über den sackartigen Talar, der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen auf der hohen Stirn.
«Wehe dem, der sich in Sicherheit wiegt, der sich von Schuld und Sünde frei fühlt: Verderbt seid ihr alle, ein jeder von euch» – die Stimme bebte jetzt vernehmlich –, «und verdammt obendrein, sofern ihr nicht fest im Glauben steht und bereut. Tut Buße, tut schmerzhafte Buße, denn sie ist die reinigende Kraft des Heiligen Geistes, um die Sünden wegzuwaschen, um Erlösung zu erlangen. Wappnet euch also gegen die Versuchung, jeden Tag, jede Stunde, denn Satan ist allgegenwärtig! Aber nicht nur Satan, auch der Antichrist ist über uns gekommen! Der Antichrist höchstselbst!»
Gleich einem Veitstänzer zuckte er jetzt an Armen und Beinen, die Augäpfel rollten hin und her. Plötzlich herrschte im Kirchenschiff Totenstille. Auch Niklas, mit offenem Mund, erstarrte.
«Aus dem Sündenbabel Roms streckt der papistische Antichrist seine eklen Fühler in alle Welt. So öffnet endlich die Augen, ihr armseligen Schafe Gottes, und erkennet: Ein kosmischer Kampf tobt zwischen Gott, Teufel und diesem Antichristen. In jedem Winkel der Welt offenbart sich uns heute dieser Kampf, in all seinen grausigen Geschehnissen: in China, wo ein Erdbeben das halbe Land verschlang, im Hispanischen mit seinem tagelangen Blutregen, in Afrika mit einer Sonne, die sich schwarz verfärbte und die Milch der Mütter zu Blut werden ließ. Nicht zu vergessen die Abertausenden von Missgeburten allüberall – kam nicht neulich erst im Nachbardorf ein Monstergeschöpf zur Welt, ganz ohne Arme und Beine, dafür mit einem Maul bis zwischen die Augen?»
Er raufte sich das spärliche Haupthaar, um sogleich wieder die Fäuste zu schütteln und weiterzugeifern:
«Ich sage euch: Das Weltende ist nahe! Das Weltende ist näher denn je, und dann wird über eure Sünden gerichtet werden! Über eure und die eurer Nachbarn, eurer Brüder und Kinder. Denn die Verderbten sind mitten unter uns. Die Satansanbeter sind unter uns und die Unholde, die Huren und die Hurenböcke, die Diebe und die Mörder …»
Niklas schluchzte plötzlich laut auf und rannte hinaus. Unter den missbilligenden Blicken der Umstehenden folgte Eva ihm, so rasch sie konnte. Auch sie hatte längst genug von den niederschmetternden Worten des Predigers. Draußen auf dem Kirchhof holte sie ihren Bruder ein.
«Er hat dir Angst gemacht, der Pfarrer, nicht wahr?» Sie wischte ihm zärtlich die Tränen aus dem Gesicht. «Jetzt hör auf zu weinen. Nur weil Sonntag ist, müssen wir nicht in den Gottesdienst. Wandern wir lieber weiter.»
«Ich will nicht mehr!» Niklas stampfte mit dem Fuß auf. «Ich will nicht mehr betteln und hungern müssen und nachts frieren. Ich will nicht mehr von früh bis spät marschieren und immer Angst haben. Ich …»
«Das musst du auch nicht», unterbrach sie ihn. «Von hier kann es nicht mehr weit bis zur Donau sein. Dort quartieren wir uns auf einem der Lastkähne ein und fahren bis vor die Tore von Straubing.»
«Uns nimmt eh keiner mit! Wir sind doch nur Bettler, Haderlumpen, dreckige Vaganten!»
«O nein!» Sie schwang ihre gefüllte Geldkatze hin und her. «Damit können wir auf jedem Schiff aufsitzen. Die Schiffsmeister werden sich um uns reißen. Und wir suchen uns das schnellste und bequemste aller Boote aus.»