8. Kapitel

Nachdem der Hauptmann seine Waffen zurückgebracht und sich umgezogen hatte, kehrte er in sein Quartier zurück. Zahlreiche Gedanken trieben ihn um. Wieder und wieder war es Nicole, die sich in seinen Kopf drängte.

Es war dieser Tage nicht ganz einfach für Henry, in ihre Nähe zu gelangen. Sehr oft zog sie sich in ihre Gemächer zurück und ließ sich nur noch selten an der Seite ihres Gatten sehen. Der Leibwächter hatte nicht die Möglichkeit, nach einer passenden Gelegenheit zu suchen, denn seit dem Eklat auf der Tauffeier hielt der Baron seine Männer zur Bereitschaft an. Tag für Tag übten sie das Kämpfen, Tag für Tag wurde der Drill härter.

Eigentlich machte es Henry nichts aus, aber der Kampf mit der Schäferin war schlimmer gewesen, als er es sich selbst eingestehen wollte. Die Stellen, an denen ihn Aimees Stock getroffen hatte, pochten immer noch schmerzhaft. Noch nie hatte er eine Frau so kämpfen gesehen. Ja, mittlerweile war er sich sicher, dass es nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Vielleicht hatte sie ihn ja verhext …

Als er den Bogengang entlangschritt, hörte er plötzlich eine Stimme. Er wandte sich um und entdeckte neben einer der Säulen Nicole. Sie war allein und hatte sich einen dunklen Mantel über das Kleid geworfen. Offenbar war sie auf dem Weg in den Garten.

»Endlich treffe ich dich allein«, wisperte sie und warf einen kurzen Blick auf den Hof. Der Baron kam genau in diesem Augenblick aus der Pforte und strebte dem Burgtor zu.

Wohin mag er gehen?, fragte sich Nicole, doch sie war froh darüber, dass er die Burg verließ und sie somit nicht bei ihrem Gespräch mit Henry überraschen konnte.

Kaum war ihr Gemahl außer Sicht, wirbelte sie herum und fiel Henry um den Hals. Ihre Lippen fanden sich zu einem leidenschaftlichen Kuss.

Als die Baronin ihren Griff ein wenig lockerte, löste er seine Lippen von ihr und sagte: »Mylady, wenn uns jemand beobachtet …«

»Wer sollte das tun? Ich habe Celeste losgeschickt, um den Mägden Anweisungen für das abendliche Mahl zu geben, und Aimee ist auf der Suche nach den Kräutern, schätze ich.«

Henry blickte sie fragend an, doch bevor er etwas sagen konnte, legte Nicole ihm den Finger auf die Lippen.

»Wie steht es mit dir? Hast du dich nun schon entschieden, wem du lieber dienen willst?«

Henry presste die Lippen zusammen. Wenn er ehrlich war, waren die vergangenen drei Monate die Hölle für ihn gewesen.

Seit dem Kuss war seine Sehnsucht nach Nicole beständig gewachsen. Es machte ihn fast wahnsinnig zu sehen, wie willig sie war – und dass sein Gewissen ihn immer wieder davon abhielt zu nehmen, was sie ihm anbot.

Doch auch diesmal schaffte er es zu widerstehen.

»Ich sollte jetzt besser gehen«, sagte er, aber Nicole stellte sich ihm in den Weg.

»Sie wird mir einen Trank brauen, der mich unfruchtbar macht. Wenn du mich willst, kannst du mich nehmen.«

Henry schloss die Augen. Wildes Begehren erfasste seine Lenden. Obwohl er dagegen ankämpfte, konnte er es nicht verbergen.

In Nicoles Augen lag ein zufriedenes Funkeln, als sie es bemerkte. Ich werde dich schon dazu kriegen, meine Wünsche zu erfüllen, ging es ihr durch den Sinn, während sie sich ihm sanft entzog und ihn mitsamt seinem brennenden Verlangen zurückließ.

 

 

Noch am selben Nachmittag ging Aimee auf die Wiese hinter der Burg und sammelte die Kräuter für den Sud der Baronin. Nach dem Kampf mit Henry hatte sie nach dem Kind und der Amme gesehen. Die kleine Baroness war, wie sich herausgestellt hatte, mit einem Milchzahn geboren worden, der die Brüste der Amme malträtierte. Aimee hatte der Frau versprochen, ihr eine Kräuterpackung zuzubereiten, und war insgeheim froh, dass sie unverhofft an eine Ausrede fürs Pflanzensammeln gekommen war.

Da sie einige der Zutaten nicht auf der Wiese fand, beschloss sie, in ein nahe gelegenes Waldstück zu gehen. Es grenzte an den Burggraben, war verwildert und über eine kleine Brücke zu erreichen. Während die junge Frau über die Planken schritt, versuchte sie sich das Rezept ihrer Mutter in Erinnerung zu rufen. Bislang hatte sie den Trank für Unfruchtbarkeit nur einige wenige Male herstellen müssen, denn meist kamen die Frauen zu ihr, weil sie keine Kinder empfangen konnten. Aber nach einer Weile fielen ihr die Mischverhältnisse wieder ein. Alles, was sie jetzt noch brauchte, war etwas Minze und Salbei, dann hatte sie die Zutaten für beide Arzneien zusammen.

Sie schritt durch das Unterholz, bis sie eine kleine Lichtung erreichte. Plötzlich hörte sie ein Knacken hinter sich. Aimee wirbelte herum, konnte jedoch niemanden sehen. Zögernd setzte sie ihren Weg fort. Nach einer Weile entdeckte sie die Minze. Sie hockte sich hin, um die Blätter abzupflücken und in ihrem Stoffsäckchen zu verstauen.

Als sie sich wieder aufrichtete, schoss unvermutet eine Hand aus dem Gebüsch und packte sie. Aimee schrie auf und wollte sich dem Angreifer widersetzen, doch da legte sich ein Arm, der wie aus Stein gemeißelt schien, über ihre Brust und zog sie nach hinten. Gleichzeitig drückte sich etwas Kühles an ihre Kehle.

Ein Dolch!, schrie es durch Aimees Verstand, und sie versteifte sich augenblicklich.

War es einer von Woodwards Leuten, der ihr aufgelauert hatte? Oder erlaubte sich Henry aus Rache für seine Niederlage einen Scherz?

»Wer seid Ihr?«, fragte sie und spürte ihren Pulsschlag hart in den Schläfen pochen.

Der Angreifer antwortete nicht. Die freie Hand, mit der er sie gepackt hatte, berührte ihre Kehle und tastete nach ihrem Puls. Aimees Herz raste. Doch selbst in ihrer Angst spürte sie, wie die rauhen Hände, die sie umfassten, plötzlich weich wurden und der Angreifer seinen Griff lockerte.

Sie schloss die Augen, atmete zitternd ein und fragte dann erneut: »Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?«

Einen Moment noch labte sich der unbekannte Angreifer an ihrer Angst, dann spürte sie, wie sein Gesicht sich ihrem Haar näherte und ein warmer Atem leise in ihr Ohr flüsterte: »Siehst du, Aimee, auch das kann dir dort draußen geschehen.«

Es war George of Ravencroft. Die Schäferin atmete erleichtert auf.

»In so einem Fall wirst du keine Zeit haben, nach deinem Hirtenstab zu greifen«, fuhr der Baron fort, ohne seinen Griff endgültig zu lösen.

»Ich habe meine Hunde«, antwortete sie und wagte nun, seine Arme mit ihren Händen zu umfassen. »Sie würden jedem, der sich mir auf diese Weise nähert, an die Kehle springen.«

»Schlimmstenfalls sind sie tot, wenn der Angreifer hinter dir steht. Und dann …«

Sie spürte, wie sich seine Lippen ihrem Hals näherten, spürte seinen Atemhauch auf ihrer Schulter und erschauerte.

»Ich habe so viel Grauen auf dem Kreuzzug gesehen. So viel Grausamkeit, besonders gegen Frauen. Ich bezweifle, dass dich der Angreifer gleich töten wird, Aimee«, flüsterte er. Sein Atem wurde heftiger, sein Brustkorb drängte sich fest an ihren Rücken. »Zunächst wird er dich nehmen, wieder und wieder.« Er zog die Klinge zurück und steckte sie ein.

Aimee hätte sich jetzt leicht von ihm befreien können, doch das wollte sie nicht.

Seine Hand kehrte an ihren Hals zurück und streichelte über die zarte Haut. »Wenn du Glück hast, wird er dich töten. Doch wenn nicht, wirst du in nicht mal einem Jahr seinem Bastard ins Gesicht blicken, der dich auf ewig daran erinnern wird, was er mit dir gemacht hat.«

Mit diesen Worten ließ er von ihr ab, trat vor sie und reichte ihr den Dolch.

Aimee wagte noch immer nicht, sich zu rühren.

»Verzeih, dass ich dir einen Schrecken eingejagt habe«, sagte Ravencroft, nahm ihre Hand und schloss die Finger um den Messergriff. »Mir wäre wohler zumute, wenn du das hier in Zukunft bei dir tragen würdest.«

»Aber, Mylord, das kann ich nicht annehmen.«

»Du kannst es. Oder willst du mich etwa beleidigen?«

Nein, das wollte Aimee nicht. Sie nahm die Waffe und barg sie an ihrem Körper.

»Vielen Dank, Mylord.«

Der Baron nickte. »Deine Sicherheit ist mir teuer, besonders in diesen Zeiten. Was treibt dich eigentlich aus der Burg hierher? Im Gebüsch können Räuber lauern.«

»Aber doch nicht in der Nähe der Burg, wo man Euch nachsagt, das Schwert wie kein anderer zu führen.«

»Das schmeichelt mir«, entgegnete er. »Trotzdem hast du meine Frage noch nicht beantwortet. Was machst du hier draußen?«

»Ich sammle Kräuter für die Amme. Eure Tochter beißt ihr beim Trinken in die Brust. Wie Ihr vielleicht wisst, ist sie mit einem Zahn zur Welt gekommen.«

»Das ist nur bei Kindern der Fall , die von Gott auserwählt wurden, nicht wahr?«

»So ist es«, entgegnete Aimee. »Bislang habe ich nur ein Kind auf die Welt geholt, das bereits einen Zahn hatte. Eure Tochter. Sie wird gewiss eine große Herrscherin. Aber bis dahin wird sie der Amme noch einiges an Ärger bereiten. Ich habe Kräuter gesammelt, um ihr eine Tinktur zu bereiten.«

Dass sie ihm Nicoles Wunsch verschweigen musste, war der Schäferin unangenehm. Der Baron sorgte sich um seine Gemahlin, und sie hinterging ihn mit den Pflanzen und einem Sud, der seinen Samen in seinem Eheweib tötete.

»Ich muss fort«, wisperte sie, obwohl ihr Herz etwas ganz anderes wollte. »Und Ihr müsst auch zurück, sonst fragt man sich, wo Ihr geblieben sein könntet.«

»Um mich macht man sich gewiss keine Sorgen, nicht einmal mein Weib tut das«, entgegnete er kühl. »Seit sie das Kind geboren hat, ist sie noch abweisender geworden.«

Aimee sagte nichts dazu. Wenn er wüsste, dass sie vorhat, mich in sein Bett zu drängen, dachte sie. Und erst der Trank …

»Sag, weißt du nicht, wie man die Liebe seiner Gemahlin entflammen kann?«, fragte Ravencroft plötzlich und griff nach ihrer linken Hand. »Wenn du dich schon mit Kräutern auskennst.«

Aimee schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mylord, Liebestränke sind nicht mein Handwerk. Ich heile die Menschen nur, ich beeinflusse sie nicht. Außerdem bin ich der Meinung, dass Liebe, hervorgerufen durch einen Zauber, keinen Bestand hat. Sie muss im Herzen wachsen und gedeihen wie ein Samenkorn.«

»Wieder einmal erstaunst du mich mit deiner Klugheit, Aimee«, entgegnete der Baron und schien auf eine Reaktion ihrerseits zu warten.

Doch die Schäferin konnte in diesem Augenblick nur mit ihren Gefühlen ringen. Er sollte nicht bemerken, wie sehr seine Gegenwart sie verwirrte.

»Dann wollen wir die Amme mal nicht länger warten lassen«, sagte Ravencroft daraufhin.

Hörte sie aus seinen Worten Enttäuschung heraus? Aimee blickte ihn an und entdeckte darin das gleiche Feuer wie in der Nacht der Tauffeier, als sie ihm im Bogengang gegenübergestanden hatte.

Aber anstatt sich ihr wieder zu nähern, wandte er sich um und sprach den ganzen Weg bis zur Burg kein einziges Wort mehr.

 

Abends setzte sich Aimee zu den anderen Mägden an das Herdfeuer in der Küche, die das Reich von Macy war, der Köchin. Der Raum wirkte mit seinen aus großen Feldsteinen erbauten Mauern ein wenig grob, doch der Anblick milderte sich, sobald am Abend die Kerzen flackerten und zusammen mit dem Feuer in der Esse gemütliches Licht verbreiteten.

Der Geruch von Grütze und Hammelfleisch, das zum Abendessen gereicht wurde, hing noch immer in der Luft. Dem kleinen Kessel, der über dem Feuer hing, entströmte der Geruch von angewärmtem Ale.

Obwohl es tagsüber ziemlich warm war, zog gegen Abend die Kälte in die Mauern der Burg. Aus diesem Grund bereitete die Köchin etwas Ale zu, das sie mit verschiedenen Gewürzen versetzte.

Eigentlich hatte die Schäferin an diesem Tag genug erlebt, aber sie wollte nicht allein in ihrer Kemenate sein, wo ihr alles wieder in den Sinn kommen würde. Ihr Rücken und ihre Füße schmerzten, und in Gedanken war sie bei ihrer Schafherde. John hatte sich während ihrer Abwesenheit gut um die Tiere gekümmert, und dennoch, die Angst, dass die Wölfe über die Herde herfielen und er nichts dagegen würde ausrichten können, blieb.

»Hier, Mädchen, trink das. Du siehst aus, als könntest du es brauchen.« Macy reichte ihr einen Becher warmes Ale.

Aimee bedankte sich und wärmte eine Weile die Hände an dem Gefäß, bevor sie einen Schluck davon nahm. Es war gut und würde ihr sicher einen tiefen Schlaf bescheren.

Die Gespräche der Mägde drehten sich natürlich um Männer. Die junge Schäferin versuchte abzuschätzen, welche der Mädchen bereits mit einem Galan im Heu verschwunden waren. Elly vielleicht und Jenny, doch auch die stille Sylvie hatte sich gemausert. Bislang hatte keine von ihnen ihre Dienste in Anspruch genommen, aber Aimee war sicher, dass sie früher oder später zu ihr kommen würden.

Gleich nach ihrer Rückkehr in die Burg hatte sie sich darangemacht, die beiden Arzneien herzustellen. In der Küche hatte man sie verwundert angeschaut, als sie sich einen Kessel erbat, aber da jedermann mit der geschundenen Amme mitfühlen konnte, ließ man sie gewähren. Gegen Abend hatte sie die beiden Tiegel gefüllt. Den mit der Tinktur brachte sie der Amme, den mit dem Trank der Baronin. Diese hatte sich den ganzen Tag über in ihr abgedunkeltes Gemach zurückgezogen, weil sie angeblich Kopfschmerzen hatte.

Die Schäferin erkannte jedoch auf den ersten Blick, dass dem nicht so war. Sie wollte lediglich nicht von ihrem Gemahl behelligt werden.

»Nehmt jeden Morgen vor der ersten Mahlzeit einen guten Schluck davon«, hatte sie Nicole geraten. »Das Mittel wird Eurem Gaumen nicht schmeicheln, aber es wird helfen.«

»Wie lange werde ich warten müssen, bis eine Wirkung einsetzt?«

»Drei Tage, Mylady, dann solltet Ihr nicht mehr empfangen können.«

Die Baronin hatte sich bedankt und sie daraufhin entlassen. Und obwohl es eigentlich keinen Anlass dazu gab, fühlte sich Aimee nun, als hätte sie ihr Leben soeben in die Hände eines Feindes gegeben.

»Aimee«, sagte plötzlich eine Männerstimme.

Das Gespräch verstummte abrupt, und alle Köpfe wandten sich zur Tür. Dort stand der Baron. Sein dunkles Gewand war eins mit der im Gang herrschenden Schwärze, nur die Fibel, die den Mantel über seinen Schultern zusammenhielt, und der Griff des Dolches, den er an der Seite trug, glänzten im Feuerschein.

Die Schäferin wusste sogleich, weshalb er hier war. Und die Mägde schienen es auch zu erahnen. Knicksend zogen sie sich zurück, während sich Aimee erhob und sich ebenfalls verneigte.

»Ich habe dich schon gesucht. Komm mit.«

Die Mägde raunten leise. Aimee war froh, dass sie ihr Gesicht von dem Feuer abwenden musste, denn so konnte niemand sehen, dass ihre Wangen wie Schmiedekohle glühten.

Was mögen sie wohl denken?, fragte sie sich. Oder weiß Celeste gar von der Bitte ihrer Herrin? Sie suchte den Blick der Kammerfrau, konnte allerdings nichts Verräterisches darin entdecken.

»Ist etwas mit Eurer Gemahlin?«, sagte Aimee, während die Blicke der Mägde ihr aus dem Raum folgten.

»Nein, meine Gemahlin ist wohlauf«, antwortete Ravencroft. »Jedenfalls hat sie nichts, was sie in letzter Zeit nicht immer hätte. Ich möchte dir vielmehr etwas zeigen.«

Er ging voran durch die Burg und führte sie den Wehrturm hinauf. Aimee stützte sich an den rauhen Steinen ab, während sie ihre Schritte vorsichtig auf die ausgetretenen Stufen setzte. In ihrem Turm gab es nur eine Holztreppe, und die erschien ihr wesentlich sicherer als die Stufen, die sich momentan unter ihren Füßen befanden. Der Baron ging dicht hinter ihr, aber viel größer wurde ihre Sicherheit dadurch nicht. Wenn sie den Halt verlor, würde sie ihn wahrscheinlich mit sich reißen. Also konzentrierte sie sich darauf, bloß nicht fehl zu treten.

Schließlich wehte ihr eine scharfe Brise entgegen, die ihr Haar aufwirbelte und auch an ihrem Kleid zerrte. Erschrocken blieb sie stehen, fing sich dann aber wieder und trat hinaus auf die Plattform des Turms, die von einer steinernen Wehrbrust umgeben war.

Von hier aus blickten sie hinab auf die Felder, auf denen sich das erste Grün zeigte, und auf die Wiesen und Wälder.

»Irgendwo dort hinten müssten der See und dein Turm liegen«, sagte Ravencroft und deutete in die wolkenverhangene Nacht.

»Ich sehe sie von hier aus leider nicht«, entgegnete Aimee leise, während sie den Hals reckte.

»Bei Tage wäre das durchaus möglich, in klaren Nächten auch. Nur leider ziehen im Moment Wolken auf, und Dunst hängt über den Wiesen.«

Die Schäferin war wie verzaubert von diesem Anblick. Ihr Turm war zwar ebenfalls recht groß, aber er konnte es mit diesem Bergfried nicht aufnehmen.

»So muss ein Adler die Welt sehen, wenn er über sie hinwegfliegt«, bemerkte Aimee, während sie näher an die Brüstung trat.

Der Baron folgte ihr, und schließlich umfingen seine Arme vorsichtig ihren Körper.

»Gib acht, dass du nicht hinunterfällst«, sagte er, wobei sein Atem kurz ihren Nacken streifte.

Augenblicklich versteifte sich ihr Körper. Das ist es also, ging es ihr durch den Sinn. Er ist nicht gekommen, um mir die Schönheit der Nacht zu zeigen. Gleichzeitig durchzog sie ein Wonneschauer. Daran musste das Ale schuld sein.

»Ich glaube nicht, dass ich derart unsicher auf den Beinen bin, dass ich fallen könnte«, erwiderte sie, aber ihre Stimme klang nicht so abweisend, wie sie es eigentlich sollte.

»Das habe ich auch nicht angenommen. Aber man kann nie wissen, aus welcher Richtung der Wind kommt. Ich möchte auf keinen Fall, dass dir etwas zustößt.«

Deutlich spürte Aimee das Begehren des Mannes vor ihr, und sie war vollkommen allein mit ihm. Niemand würde es wagen, hier hinaufzusteigen. Und wenn sie vor Lust aufschrien, würde man es für den Ruf von Nachtvögeln halten.

Trotzdem regte sich noch immer Widerwille in Aimee. Sie durfte das nicht tun! Wie sonst sollte sie die Augen schließen und an ihre Familie denken, die solch ein Verhalten gewiss nicht geduldet hätte?

»Ich denke, wir sollten wieder nach drinnen gehen«, sagte sie schließlich erzitternd. Ihre Wangen glühten, und in ihrem Herzen lieferten sich Lust und Vernunft einen heftigen Kampf. »Der Nachtwind ist kühl, und Ihr wollt Euch doch sicher nicht erkälten.«

Ravencroft betrachtete sie lächelnd und schien zu durchschauen, dass nicht allein der Wind sie erbeben ließ. Schließlich lenkte er ein.

»Gut, wie du willst.« Er reichte ihr die Hand und führte sie wieder nach unten. Aimee fragte sich, ob er sie zu ihrem Gemach begleiten würde. Angesichts des Widerstreits in ihrem Herzen wäre ihr das lieber gewesen.

Rasch wurde ihr allerdings klar, dass nicht ihr Gemach das Ziel des Barons war. Er führte sie in einen Seitenflügel, den Aimee bisher nicht betreten hatte, von dem sie aber wusste, dass hier die Gemächer des Barons lagen. Wachposten waren über den Gang verteilt, allerdings blickten sie alle stur geradeaus, als würden sie die Frau an der Seite des Barons nicht bemerken.

Aimee war sicher, dass sie in ihren Mannschaftsquartieren trotzdem davon sprechen würden. Vielleicht stellten sie dort ja Vermutungen an, die sogar zutrafen.

»Dies ist mein Privatgemach«, verkündete Ravencroft, als sie vor einer Tür haltmachten. Nachdem er sie aufgestoßen hatte, öffnete sich vor Aimee ein Raum mit rotbrauner Holzvertäfelung, in dem sich außer einem Bett und einer Kommode noch ein Tisch und zwei Stühle befanden. Irgendwie konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Raum für diesen Augenblick vorbereitet worden war.

Unruhe überkam sie. Ihr Herz begann zu flattern wie ein Vogel, der seinem Käfig entrinnen wollte. Noch schlimmer wurde es, als der Baron hinzufügte: »Außer mir und meinem Kammerdiener kommt sonst niemand hierher.«

Aimee entging die unterschwellige Bedeutung dieser Worte nicht. Sie verfluchte das gewürzte Ale, das ihre Sinne benebelte und ihre Glieder schwächte.

Erneut warnte sie ihr Gewissen. Gib dich ihm nicht hin, wer weiß, ob er dich danach noch will …

»Aimee, was ist dir?«, fragte Ravencroft sanft, als er ihr Zögern bemerkte, und berührte ihre Hand. Offenbar hatte er ihr die Gedanken von den Augen abgelesen.

Die Schäferin blickte sich ruckartig um und sah ihm in die Augen, die das Feuer wie zwei gewölbte Spiegel wiedergaben. Sein Körper war warm und duftete so gut, dass ihre Zweifel den Widerstreit in ihrem Inneren zu verlieren drohten.

»Nichts«, sagte sie so leise, dass sich ihre Lippen kaum bewegten.

Ravencroft schloss die Tür hinter ihr und trat an den Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem ein Krug und zwei Becher standen.

»Hast du mir den Überfall von heute Nachmittag verziehen?«, fragte er, während er eine blutrote Flüssigkeit in die Becher goss.

Wein, dachte Aimee. Wenn ich den trinke, bin ich rettungslos verloren. »Gewiss, Mylord«, antwortete sie. »Ihr hattet nur mein Wohl im Sinn.«

Den Dolch, den der Baron ihr gegeben hatte, hatte sie unter ihrer Schlafstelle versteckt. Hier in der Burg brauchte sie ihn gewiss nicht.

»Ja, das hatte ich in der Tat«, entgegnete er lächelnd. »Wäre es vermessen, dafür eine kleine Gegenleistung zu erwarten?«

Die junge Frau blickte ihn an, ohne etwas erwidern zu können. Sie befand sich in seinen Privatgemächern. Welche Gegenleistung würde er hier wohl verlangen?

Ihr Blick wanderte zur Tür, und sie versuchte abzuschätzen, welche Chancen sie hatte, ihrem Herrn zu entfliehen. Gleichzeitig verspürte sie ein erregtes Flattern in ihrer Magengrube, welches ihr die Glieder schwächte.

Ravencroft fuhr fort: »In der Nacht nach der Geburt meiner Tochter hast du behauptet, die Zukunft voraussagen zu können.«

Aimee blickte überrascht auf. »Ja, das habe ich, Mylord. Und so meinte ich es auch.«

»Nun gut, dann sollte es dir nicht schwerfallen, mir aus der Hand zu lesen, oder?«

Die Schäferin musterte ihn erstaunt. Offenbar hatte er doch mehr Ehre im Leib, als sie gedacht hatte. Im Nachhinein schalt sie sich, dass sie ihn für lüstern und rücksichtslos gehalten hatte.

Ob Ravencroft ihre Verwunderung deuten konnte, wusste sie nicht. Er ließ sich jedenfalls auf den Stuhl vor dem Tisch nieder und deutete auf den Platz ihm gegenüber.

»Setz dich und zeig mir deine Kunst.«

Nach anfänglichem Zögern ließ sie sich auf den Stuhl gleiten. Die Hand des Barons lag unmittelbar vor ihr. Sie war groß und stark, und man konnte ihr ansehen, dass dieser Mann es gewohnt war, mit dem Schwert umzugehen.

Sie rückte den Kerzenhalter, der neben ihnen stand, näher heran, und dabei sah sie, dass Ravencroft eine Narbe in der linken Handfläche trug.

»Verzeiht meine Neugierde, Mylord, doch woher habt Ihr diese Narbe?«

»Aus einem Kampf gegen den Baron of Woodward. Einer seiner Leute wollte mir in den Rücken fallen, und ich habe die Klinge mit meiner Hand abgehalten.«

»Woodward scheint wirklich nicht viel Ehre in sich zu tragen.«

»Du sagst es! Und ich bin mir darüber im Klaren, dass es früher oder später wieder zu einem Kampf kommen wird. Daher wäre es nützlich zu wissen, was das Schicksal mir vorgegeben hat.«

Aimee betrachtete seine Handflächen sorgsam und fuhr die Linien mit dem Zeigefinger nach.

Die linke Hand kam wegen der Narbe nicht mehr in Frage, denn die Linien waren dadurch verzerrt. Aber in der rechten Hand konnte sie alles gut erkennen. Beinahe zu gut, denn die Linien entsprachen einer Konstellation, von der ihre Mutter gelegentlich gesprochen hatte. Nur bei Menschen, die das Schicksal auf ungewöhnlich schlimme Weise prüfen wollte, zeigte sich ein solches Bild.

Ravencroft bemerkte ihr Erschrecken. »Was ist? Siehst du etwas Unheilvolles?«

Aimee wagte zunächst nicht zu sprechen. Aber wenn er schon um ihre Hilfe ersuchte, war sie wohl gezwungen, es ihm zu sagen. Zumindest die Dinge, die er vielleicht abwenden konnte.

»Ihr werdet eine dunkle Zeit erleben, und zwar schon recht bald«, antwortete sie schließlich. »Eure Lebenslinie ist in der Mitte recht dünn, es könnte sein, dass Euer Leben in Gefahr ist. Außerdem werdet Ihr Euch gegen einige schwere Schicksalsschläge behaupten müssen.«

Die Schäferin konnte nicht verhindern, dass ihre Hände zu zittern begannen.

Ravencroft schwieg ebenfalls. Offenbar gab er einiges auf solche Vorhersagen.

»Sagen die Linien auch, wovor ich mich in Acht nehmen muss?«

Aimee schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Selbst die Sterne wüssten Euch nicht zu nennen, wer Euer Leben bedroht. Immerhin kennt Ihr Euren größten Feind, und nach dem Aufruhr auf der Tauffeier ist es gut möglich, dass er Euch von neuem bedroht.«

Der Baron nickte, doch Sorgen wollte er sich darüber noch nicht machen. Er kannte Woodward und wusste, dass er eine Weile brauchen würde, bis ihm eine neue List einfiel.

»Was siehst du noch?«, fragte er daher, denn gewiss gab es auch Linien, die ihm Glück versprachen. Immerhin hatte er ein Weib und eine Tochter. »Es gibt sicher noch mehr Linien als die Lebenslinie, nicht wahr?«

Die junge Frau nickte und fuhr mit dem Finger die zweite Linie nach. »Die Herzlinie gibt Auskunft über Euer Glück in der Liebe.«

Ihr entging nicht, dass sich sein Körper bei dieser Ankündigung straffte.

»Und was liest du dort?«, flüsterte er rauh und warf ihr erneut einen durchdringenden Blick zu.

Aimee errötete nun, denn das, was sie dort sah, war ähnlich beunruhigend wie der Verlauf der Lebenslinie. Doch wenigstens war das Leben des Barons von dieser Seite nicht bedroht.

»Eure Herzlinie teilt sich«, sagte sie schließlich. »Der oberste Teil ist gewunden, das heißt, dass Ihr einige Wirren in der Liebe hinnehmen musstet.«

Ravencroft nickte bedächtig.

»Der zweite Teil, der ein Stück weit neben dem oberen beginnt, läuft gradlinig, was darauf schließen lässt, dass …«

Der Baron blickte sie unvermittelt an. »Was, Aimee? Sprich!«

»Es lässt darauf schließen, dass eine Liebe, die Ihr neu gefunden habt, anhalten wird bis an Euer Lebensende, Mylord.«

Ravencroft hätte behaupten können, dass damit gewiss sein Eheweib gemeint war, aber sein Herz wusste es besser.

Unvermittelt griff er nach Aimees Hand.

»Aimee«, raunte er. »Du weißt nicht, wie sehr ich dich begehre. Schon vom ersten Augenblick an, als ich dich sah.«

»Mylord, ich …« Weiter kam sie nicht, denn ihre Worte verloren sich im heftigen Pochen ihres Herzens.

»Ich weiß, du bist viel zu unschuldig, als dass du mir bewusst Avancen machen würdest«, fuhr er fort. »Aber ich spüre, dass du mir nicht abgeneigt bist. Ich spüre auch, dass du die Frau sein könntest, die ich ein Leben lang liebe.«

Die junge Schäferin wusste, dass es jetzt besser sein würde zu gehen.

Sie wollte ihm sagen, dass er ein Eheweib hatte und sie nicht wollte, dass er sie, wenn er ihrer überdrüssig war, fallenließ. Sie wollte ihm sagen, dass sie keine Hure sei. Stattdessen spürte sie ihren Widerstand dahinschmelzen. Bis zum Bett waren es nur wenige Schritte …

Die Stimme der Baronin hallte wieder durch ihren Kopf, die Forderung, dem Sehnen ihres Gemahls nachzugeben.

Ravencroft erhob sich und zog Aimees Körper an seine Brust. Schon im Wald hatte sie gespürt, wie viel Kraft unter seiner weichen Haut steckte.

Tausende Worte verbargen sich hinter den Augen des Barons. Doch anstatt sie auszusprechen, umfasste er mit einer Hand Aimees Nacken und zog sie so dicht an sich, dass sein Mund ihre Lippen berühren konnte.

Die Schäferin schloss die Augen und ergab sich der sinnlichen Berührung. Ihr Verstand versuchte ihr zuzurufen, dass sie eine Sünde beging, dass sie das nicht tun dürfe, aber das Feuer, das Ravencroft in ihr entfachte, verbrannte alle Einwände.

Seine Lippen teilten die ihren, und als sie seine Zunge spürte, rieselte ein sanfter Lustschauer durch ihren Leib.

Da beendete ein lautes Hämmern den süßen Rausch.

»Mylord, verzeiht, ist Aimee bei Euch?«, drang eine Frauenstimme durch die Tür.

Es war Celeste. Wahrscheinlich hatte die Kammerfrau in der Küche nach ihr gesucht, und dort hatte man ihr gesagt, dass der Baron mit ihr fortgegangen war.

Aimee blickte Ravencroft an. Das leidenschaftliche Feuer in seinen Augen war noch nicht erloschen. Er hätte die Kammerfrau jetzt fortschicken können, doch in Celestes Stimme lag eine gewisse Dringlichkeit.

»Ja, sie ist hier«, antwortete er schließlich.

»Die Amme verlangt nach ihr, es geht um Eure Tochter.«

Der Baron musterte Aimee bedauernd, dann nickte er ihr zu.

»Geh schon, kümmere dich um mein Kind.« Gern hätte er hinzugefügt, dass es andere Gelegenheiten geben würde, um das, was er vorgehabt hatte, in aller Ruhe nachzuholen. Doch er schwieg.

Aimee sah ihn noch kurz an, dann wandte sie sich der Tür zu.

Als sie das Gemach verließ, hielt Celeste den Blick gesenkt und wandte sich um. Sie sagte kein Wort, aber die Schäferin konnte ihre Gedanken beinahe spüren. Schweigend schloss sie sich ihr an und folgte ihr hinab zu den Gemächern der Baronin.

Als Ravencroft den Saum von Aimees Kleid in der Tür verschwinden sah, stützte er sich auf den Tisch und atmete tief durch. Das Verlangen brannte wie Feuer in seinen Eingeweiden, seine Härte drängte gegen seinen Hosenbeutel, und ihm wollte kein sündloser Weg einfallen, um sich Linderung zu verschaffen. Er starrte noch einen Moment auf die Tür, dann schoss ihm ein Gedanke durch den Sinn. Warum hatte er ein Weib, wenn es nicht bereit war, das Lager mit ihm zu teilen? Immerhin hatte mit der Heirat ein neuer Abschnitt für sein Leben begonnen. Sie sollte die gerade Linie sein, die in seiner Handfläche zu lesen war.

Doch sogleich mischte sich eine zweite Stimme in seine Gedanken und sagte ihm, dass Aimee vielleicht die Auserwählte war, die ihm die Herzlinie prophezeite.

Mit einer energischen Bewegung wischte er alle Gedanken beiseite. Sein Weib gehörte in sein Bett! Mittlerweile wartete er nun schon beinahe ein Jahr. Während sie sein Kind unter dem Herzen getragen hatte, hatte er sich ihr nicht nähern wollen, weil es hieß, dadurch könne die Frucht abgehen. Seit der schweren Geburt war er allerdings auch nicht wieder zu ihr gegangen, weil er fürchtete, ihr Schmerzen zu bereiten.

Allmählich nahm jedoch das Verlangen in seinen Lenden überhand, und er stand kurz davor, den unchristlichen Weg zu wählen, sich Befreiung zu verschaffen.

Er musste sein Weib aufsuchen! Er wollte wenigstens ihren Leib bei sich spüren, wollte ein wenig Wärme, nachdem Aimee fort und er wieder zur Besinnung gekommen war. Vielleicht würde er Nicole sogar dazu bringen, sich ihm hinzugeben. Also erhob er sich und verließ sein Gemach.

Der Gang erschien ihm so einsam wie noch nie, trotz der Wachen, die in den Nischen standen. Instinktiv versuchte er zu hören, ob seine Tochter schrie.

Kurz überkam ihn die Angst, dass Mary ein Fieber befallen haben könnte, doch er beruhigte sich sogleich wieder. Solange Aimee bei ihr war, da war er sicher, würde seiner Tochter nichts geschehen.

Schließlich erreichte er die Gemächer seiner Gattin. Aus dem Raum nebenan erklangen Stimmen. Er hörte Aimee leise auf die Amme einreden, die nur ab und zu etwas erwiderte.

Als er die Tür öffnete, fand er seine Gemahlin vor dem Fenster vor. Sehnsuchtsvoll blickte sie in die Nacht hinaus, auf den Mond, der zwischen den Zinnen der Burg umherwanderte.

Sie musste ihn gehört haben, aber sie wandte sich ihm nicht zu.

»Nicole«, sagte er leise.

Beim tiefen Klang seiner Stimme wandte sie sich abrupt um. »Was wollt Ihr hier?«, fuhr sie ihn an, als hätte sie einen Fremden vor sich.

»Ich wollte dich sehen«, antwortete er. »Ich wollte dir nahe sein.«

»Mir nahe sein?«, entgegnete Nicole, und als sie ihm in die Augen sah, bemerkte sie, was er damit wirklich meinte.

»Du bist mein Weib. Und ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir wieder das Lager miteinander teilen.« Während Ravencroft sprach, rann ein begehrliches Zittern durch seine Glieder.

Die Miene der Baronin verfinsterte sich plötzlich, wie er es noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. »Ich habe Eurem Kind das Leben geschenkt. Genügt das nicht?«

»Ich wollte nicht nur das Kind von dir. Ich möchte deine Liebe.«

Nicole setzte ein spöttisches Lächeln auf. »Liebe? Gibt es so etwas überhaupt für Menschen wie uns? Vielleicht, wenn wir uns jemanden suchen, mit dem wir nicht verheiratet sind. Ich habe meine Pflicht als Ehefrau getan. Ihr könntet mich nicht mehr verstoßen, selbst wenn Ihr wolltet.«

Ravencroft fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. All die Aufmerksamkeiten, die er ihr zuteilwerden ließ, alle Liebe und Zuwendungen, mit denen er sie bedacht hatte, waren offenbar fruchtlos gewesen.

Er war sich darüber im Klaren, dass in ihren Kreisen die wenigsten Ehefrauen Liebe für ihre Gatten empfanden. Aber er hatte gehofft, die ihre trotz allem zu entzünden.

Das Weib, das hier vor ihm stand, tat dies ganz offensichtlich nicht. Diese Erkenntnis kühlte seine Lust ab wie ein Eimer eiskaltes Wasser.

Nicole schien das allerdings nicht zu bemerken, und als er ein paar Schritte auf sie zuging, geriet sie in Panik.

»Weicht von mir!«, kreischte sie, als sei er ein Dämon. »Ich werde nie wieder das Lager mit Euch teilen! Nie wieder werde ich eines Eurer Kinder empfangen. Und nie wieder werde ich deswegen an der Schwelle des Todes stehen!«

Ravencroft konnte nicht verstehen, warum all dieser Hass in ihr kochte. Nicht nur, dass sie ihn nicht liebte, sie schien ihn regelrecht zu verabscheuen.

Er ging zu ihr, wollte sie in seine Arme ziehen und sie beruhigen, doch Nicole schlug nach ihm. Nachdem sie ihn ein paar Mal getroffen hatte und schließlich ihre Fingernägel in seine Wange grub, riss sein Geduldsfaden, und er packte sie bei den Handgelenken. Seiner Kraft hatte sie nichts entgegenzusetzen.

»Was ist dir, Weib, bist du toll?«, fuhr er sie an und drückte sie dann aufs Bett, worauf Nicole zu schreien begann wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

 

»Nimm sie nach dem Füttern noch ein Weilchen auf den Arm«, riet Aimee, während sie die kleine Baroness in ihre Wiege zurücklegte.

Das Mädchen hatte sich prächtig entwickelt. Mittlerweile sah sie ihren Betrachter schon an, und hin und wieder schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, das nicht zufällig wirkte. Der dunkle Flaum auf ihrem Kopf war dichter geworden. Man konnte noch nicht ganz sagen, nach wem sie mehr schlagen würde, doch sie würde gewiss eine Schönheit werden.

»Manchmal passiert es, dass sich Luft im Bauch des Kindes sammelt, besonders wenn es zwischen dem Trinken atmet«, fuhr sie fort. »Wenn man es dann hinlegt, drückt die Luft gegen die Milch, und es bekommt Schmerzen.«

Die Amme, die den Namen Elsa trug, wurde rot. »Das habe ich nicht gewusst. Bei meinem eigenen Kind war es bisher nicht so.«

»Dein Kind schluckt vielleicht nicht so viel Luft zwischendurch.«

Aimee lächelte der Amme aufmunternd zu. Gemäß ihrer Weisung hatte der Baron eine kräftige Frau angestellt, die erst vor kurzem geboren hatte. Allerdings war sie noch nicht besonders erfahren im Umgang mit Säuglingen. Es war ihr erstes Kind, mit dem sich die Baroness die Muttermilch teilte. Während die Amme hier oben war, nahmen die Mägde das Kleine in ihre Obhut. Jetzt war es allerdings an der Zeit, dass sie zu ihrem eigenen Kind, einem Sohn, zurückkehrte.

Aimee bedeutete ihr mit einem Nicken, dass die Wache für sie vorüber war, und ließ sich dann selbst auf den Schemel neben der Wiege nieder.

»Sollte ich nicht besser die Wache übernehmen?«, fragte die Kammerfrau, die Aimee die ganze Zeit über beäugt hatte.

»Nein, das ist nicht nötig. Leg dich schlafen, Celeste, morgen …«

Der Schrei aus dem Nebenzimmer ließ die Frauen zusammenfahren. Es war eindeutig die Stimme der Baronin, und es klang, als wollte ihr jemand ans Leben.

Celeste und Aimee stürmten aus dem Raum.

Noch immer schrie die Baronin. Hatte sie sich etwas angetan? Dass sich ihr ein fremder Mann genähert hatte, war unwahrscheinlich, denn die Gänge waren streng bewacht.

Als die beiden die Tür aufrissen, erblickten sie George of Ravencroft, der sein Weib gerade aufs Bett drückte. Was er vorgehabt hatte, war eindeutig. Sein Wams stand offen, und auf seiner Wange hatte er einen blutigen Kratzer. Offenbar hatte sich Nicole dagegen gewehrt, dass er seine ehelichen Pflichten einfordern wollte.

Die Kammerfrau und die Schäferin blieben wie erstarrt stehen. Als der Baron die beiden erblickte, ließ er seine Frau augenblicklich los, und der panische Ausdruck auf Nicoles Gesicht verschwand. Niemand sprach ein Wort. Ravencroft strich sich mit einer unwirschen Geste die Haare zurück, und die Baronin richtete hastig ihr Kleid.

Ravencroft hätte nun fragen können, was sie hier zu suchen hatten. Gleichfalls hätte er losdonnern können, dass sie verschwinden sollten. Aber er sagte kein Wort.

Schließlich räusperte sich Celeste. »Verzeiht die Störung, Mylord, wir dachten …«

»Schon gut«, entgegnete der Baron und blickte dann zu seiner Gemahlin hinüber.

Die wandte ihr Gesicht ab.

Celeste wich mit einem Knicks zurück. Aimee blieb stehen, wo sie war. Ihr Kopf war voller Gedanken.

Es war das Recht des Barons, seinem Weib beizuwohnen. Und es war die Pflicht des Weibes, den Leib des Gatten zu empfangen.

Doch in diesem Augenblick, nach allem, was sie erlebt und was die Baronin ihr erzählt hatte, erschien es ihr nicht richtig. George of Ravencroft war dabei gewesen, als das Kind geboren wurde. Warum verlangte er sein eheliches Recht schon so früh?

Der Baron schien ihre Gedanken lesen zu können, und nachdem sich ihre Blicke einen Moment lang getroffen hatten, wandte er sich ab. Scham wütete plötzlich in seinem Verstand. Bin ich denn ein Tier, das sein Weib zwingen muss?

Eigentlich hätte er Aimee fortschicken und dann nehmen können, was ihm rechtmäßig zustand.

Aber er tat es nicht.

Nicole verbarg sich hinter dem Vorhang des Himmelbettes.

Noch immer konnte Aimee den Blick nicht von der Szene lassen. Schuldgefühle überkamen sie, ohne dass sie wusste, was sie hätte tun können, um dies hier zu verhindern.

Schließlich vernahm sie einen Zischlaut von der Seite, der sie aus ihrer Lähmung aufschreckte. Celeste war immer noch da, und jetzt mahnte sie Aimee, sich zurückzuziehen. Was in diesem Raum vor sich ging, hatte sie nicht zu interessieren. Sanft drückte sie die schwere Tür ins Schloss.

Zusammen mit der Kammerfrau machte sie sich wieder auf den Weg zur Kinderstube der kleinen Baroness. Das Kind war, unbeeindruckt von den Ereignissen nebenan, seelenruhig eingeschlafen.

Aimee begab sich augenblicklich wieder zur Wiege.

»Willst du denn nicht ruhen?«, fragte Celeste erneut.

Die Schäferin schüttelte den Kopf. Sie wollte die Kinderstube nicht verlassen und dabei womöglich dem Baron über den Weg laufen. Sie würde es nicht über sich bringen, ihn anzusehen.

»Nein, Celeste, ich bleibe hier und wache über das Kind. Dir eine gute Nacht.«

Die Kammerfrau neigte den Kopf und zog sich zurück.

Aimee betrachtete noch einmal das friedliche Kindergesicht, dann richtete sie ihren Blick aus dem Fenster.

Was soll ich tun?, fragte sie die Sterne, die am Himmel glitzerten, und den Wind, der um die Burg raunte und die Vorhänge ein wenig blähte.

Eine Antwort erhielt sie allerdings nicht.

 

Nicole sah dem Baron mit flammendem Blick hinterher, als er ihr Gemach verließ. Doch nur so lange, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.

Dann flammte ein Lächeln auf ihrem Gesicht auf. Sie konnte nicht glauben, dass es gewirkt hatte. All die Wochen und Monate hatte sie sich gefragt, was sie tun müsste, um ihren Gatten aus ihrem Bett fernzuhalten. Schwäche hatte sie vorgetäuscht und Unwohlsein. Wie sie jetzt sehen konnte, reichte es bereits, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Jeder andere hätte sie gewiss nach Strich und Faden verprügelt. In gewissem Sinne hätte sie das auch von ihm erwartet, aber offenbar war er noch schwächer, als sie vermutet hatte.

Mochte er auch in den Kreuzzug geritten sein, die Zeit in den Kerkern der Mamelucken hatte ihm offenbar einen großen Teil seiner Durchsetzungskraft genommen.

Vielleicht kann ich das zu meinem Vorteil nutzen!, dachte sie, und während sie unruhig auf und ab ging, wirbelten die Gedanken wie von einem Sturm gepeitscht durch ihren Kopf.

Ich bin noch jung, zu jung, um mein Leben an der Seite dieses Mannes zu vergeuden. Ich könnte als Herrin über diese Baronie herrschen, allein und mit einem Mann in meinem Bett, den ich begehre. Bislang mag sich Henry noch zieren, aber ich spüre, dass er mich will. Was, wenn ich nun den Grund seiner Zurückhaltung beseitige?

Nicole war sich natürlich darüber im Klaren, dass der Leibwächter seinen Herrn nicht so ohne weiteres verraten würde. Aber wenn er nun erführe, dass ihr Gemahl versucht hatte, ihr Gewalt anzutun?

Unsicherheit überkam sie plötzlich. Was, wenn Henry nicht mitspielte? Wenn er sich trotz allem nicht einspannen ließ in ihren Plan? Wen sollte sie sich dann als Verbündeten suchen?

Der Baron of Woodward kam ihr wieder in den Sinn. Obwohl sie damals einen erschrockene Miene aufgesetzt hatte, hatte sie der Auftritt amüsiert. Schon damals hatte sie sich gefragt, ob die Feindschaft zwischen ihm und Ravencroft eines Tages nützlich sein könnte. Sie hatte an einen Feldzug gedacht, den die beiden gegeneinander führen könnten. Vielleicht war dieser Gedanke gar nicht einmal so abwegig.

Während ihr Blick einen triumphierenden Ausdruck annahm, erhob sie sich, von Hoffnung erfüllt, von ihrem Schlaflager.

Nebenan begann ihre Tochter zu schreien, offenbar hatte der Tumult das Mädchen aus dem Schlaf gerissen.

Allerdings verspürte Nicole kein Bedürfnis, ins Nachbarzimmer zu gehen. Sie wusste, dass die Amme und Aimee da waren, um die Kleine zu trösten.

Ruhelos schritt sie vor dem Fenster auf und ab. Alles in ihr drängte danach, zu Henry zu eilen, aber ihre Vernunft sagte ihr, dass es besser war, ihre Gemächer nicht zu verlassen. Immerhin hatte sie die Rolle einer Frau zu spielen, die gerade einer Schändung entkommen war.

Nachdem sie noch eine Weile unruhig umhergewandert war, ließ sie sich auf einem Stuhl nieder und blickte über den Hof zu den Unterkünften der Soldaten. Der Gedanke an Henrys warmen Körper ließ den Zorn ein wenig abebben und ihren Widerwillen verschwinden.

Wenn mein Plan Früchte trägt und alles vorbei ist, versprach sie ihm stumm, wirst du der Mann an meiner Seite sein. Ob nun mit dem Segen der Kirche oder ohne.