14. Kapitel
Spätsommer 1287
Knapp drei Wochen gingen ins Land, dann war endlich der Tag der Jagd gekommen. Der Morgen war klar und von Vogelgezwitscher erfüllt. Am Horizont schob sich die Sonne aus ihrem Wolkenbett, und es dauerte nicht lange, bis das Gebell von Wolfshunden über den Burghof hallte. Angestachelt vom Hunger, der in ihnen wütete, und der Gewissheit, dass sie endlich wieder zur Jagd aufbrechen würden, zerrten sie an ihren Ketten, und der Jagdmeister und seine Gehilfen hatten alle Mühe, die Tiere zu bändigen.
Aimee war schon seit Stunden auf den Beinen. Sie freute sich auf den Ritt, gleichzeitig überkam sie aber auch die Sorge. Wölfe konnten gefährlich sein, auch für Männer, die auf ihren Rössern saßen. Für den Anlass erschien es ihr passend, auf ih-re Gewänder, die sie in der Burg trug, zu verzichten und das Schäferkleid anzulegen. Damit konnte sie sich bestens bewegen und saß sicher im Sattel.
Nachdem sie sich angekleidet hatte, trat sie ans Fenster der Kemenate und beobachtete das Treiben auf dem Hof.
Der Jagdmeister des Barons hielt seine Gehilfen gerade dazu an, den Hunden ihre nietenbewehrten Schutzhalsbänder anzulegen, damit die Wölfe sie nicht ins Genick beißen konnten. Pferde wurden aus dem Stall geführt und gesattelt, Armbrüste und Bögen herangeschleppt.
Von der eigentlichen Jagdgesellschaft war noch nichts zu sehen, doch die Bediensteten und Stalljungen wimmelten schon zahlreich über das Pflaster.
Aimee dachte wieder an den Gerichtstag.
Am vergangenen Freitag hatte er hier auf dem Hof stattgefunden. Die Bauern hatten dabei Gelegenheit, ihre Streitigkeiten vor ihren Lehnsherrn zu bringen.
Die Schäferin war zuvor noch nie bei solch einem Ereignis zugegen gewesen, denn gottlob hatte es nie etwas gegeben, das zwischen ihr und den Menschen im Dorf geschlichtet werden musste.
Umso erstaunter war sie, worüber sich die Menschen zerkriegten oder sorgten. Der Baron hatte die Aufgabe, Streit zu schlichten, was gewiss nicht immer leicht war. Zwar konnten zum Schluss nicht alle Parteien zufrieden von dannen ziehen, doch Aimee hatte gespürt, dass Ravencroft um Gerechtigkeit bemüht war. Ihre Gefühle für ihn waren noch stärker geworden.
Ob die Baronin auch nur ahnte, was in ihr vorging, wusste sie nicht. Nicole of Ravencroft war seit einiger Zeit ständig in Gedanken versunken. Manchmal bemerkte Aimee ein abwesendes Lächeln, und in ihren Augen blitzte etwas auf, wofür sie keine Erklärung fand. Dann versank die Baronin wieder in Schwermut und schloss sich tagelang in ihrer Kemenate ein.
George of Ravencroft hingegen schien von neuem Leben erfüllt zu sein. Er verschlang Aimee mit den Augen, und es schien ihm rein gar nichts auszumachen, dass die anderen Burgbewohner seine Leidenschaft bemerkten.
Einmal hörte sie, wie die Soldaten darüber witzelten, dass der Baron vom Feuer der Liebe erfasst worden sei. Sie stellten glücklicherweise keine Vermutungen an, wem das Feuer galt, aber Aimee bildete sich ein, dass die Blicke, mit denen die Männer sie bedachten, immer anzüglicher wurden. Dem Baron gegenüber erwähnte sie das Gerede in der Burg mit keiner Silbe.
Seit ihrem Zusammentreffen im Garten herrschte eine beinahe unerträgliche Spannung zwischen ihnen, so als lauerte jeder von ihnen darauf, dass der andere den Anfang machte.
Doch keiner wagte es voranzuschreiten.
Die Gründe des Barons kannte Aimee nicht, ihr blieb nur zu vermuten, dass er seinen Hunger noch weiter schüren wollte.
Sie selbst wagte es nicht, den ersten Schritt zu tun, weil sie nach wie vor glaubte, dass es ihr nicht zustand. Wenn er sie hernahm und sie sich ihm ergab, war die Schuld, die sie auf sich lud, vielleicht nicht ganz so groß, als wenn sie ihn ermunterte.
Nun stand erst einmal die Jagd bevor, demnach würde er auch heute nicht die Gelegenheit haben, ihr wirklich nahe zu kommen – selbst wenn sie ihn begleitete. Aber vielleicht würde er heute Abend seine Beute fordern …
Bevor Aimee sich zu den Männern auf dem Hof begab, wollte sie noch einmal nach der Baronin und ihrer Tochter sehen.
Sie verließ ihre Kemenate und strebte den Gemächern der Baronin zu.
Nicole of Ravencroft stand ebenfalls am Fenster. Über ihrem Nachtgewand trug sie lediglich einen Umhang. Von Celeste und den anderen Frauen war noch nichts zu sehen.
»Guten Morgen, Mylady, verzeiht, wenn ich störe …«
Die Baronin wandte sich um, und in ihren Augen lag der Ausdruck eines Menschen, der gerade noch tief in Gedanken versunken gewesen war.
»Guten Morgen, Aimee, ist es nicht reichlich früh, dass du zu mir kommst?«
»Ich konnte wegen des Hundegebells nicht mehr schlafen«, entgegnete die Schäferin und senkte den Blick.
Die Baronin sollte eigentlich wissen, dass sie Ravencroft begleiten würde und nur deshalb so früh auf den Beinen war.
Nicole sah Aimee noch einen Moment erstaunt an, dann schien ihr ein Licht aufzugehen: »Ach ja, du begleitest den Baron zur Jagd. Das hätte ich beinahe vergessen.«
Noch einmal warf sie einen Blick in den Hof, von dem mittlerweile die Stimmen der Soldaten hinaufdrangen. Dann wandte sie sich um. Der Blick, mit dem sie Aimee bedachte, war irgendwie seltsam.
»Ich nehme an, du hast noch nicht mit ihm das Lager geteilt.«
Aimees Wangen begannen zu glühen, doch sie wich den Augen ihrer Herrin nicht aus. »Nein, Mylady, das habe ich nicht.«
»Ich weiß nicht, ob das klug war. Vielleicht hätte er dich dafür reich belohnt.«
Der Ton, den Nicole anschlug, gefiel Aimee überhaupt nicht, denn es sprach keine Eifersucht aus ihren Worten. Vielmehr schien es ihrer Herrin ganz und gar nicht zu passen, dass sie sich noch immer zierte.
»Mylady, wenn Euer Gemahl gewollt hätte, dass ich ihm zu Willen bin, hätte er mich einfach genommen. Aber er tat es nicht. Offenbar liegt ihm noch einiges an der Ehe mit Euch!«
Nicole stieß einen Spottlaut aus. »Meinem Gemahl soll etwas an mir liegen? Dass ich nicht lache. Du warst schon oftmals dabei, wenn wir uns begegnet sind. Meinst du, seine Kälte wird weniger, wenn wir allein sind? Davon abgesehen bleibt er nicht mehr bei mir. Und bevor du mir jetzt vorwerfen kannst, dass ich mir genau das gewünscht habe, gebe ich gleich zu, dass dem so ist. Ich wünsche mir sogar, ihn nie wieder sehen zu müssen!«
Aimee schwieg dazu. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass Nicole ihren Gatten mehr und mehr verabscheute.
Mitleid überkam die junge Schäferin plötzlich. Was nützten einer Frau ein Adelstitel und Reichtum, wenn sie einen Mann heiraten musste, den sie nicht liebte?
Sie selbst konnte an George of Ravencroft nichts finden, das ihn zu einem schlechten Mann gemacht hätte. Der Gerichtstag hatte ihr vielmehr bewiesen, dass ihm an Gerechtigkeit gelegen war und er auch bei rationalen Entscheidungen sein Herz nicht ausklammerte.
»Was starrst du mich so an?«, fuhr Nicole die Schäferin an. »Überrascht es dich, dass ich so denke?«
Du dienst mir doch schon eine Weile. Du hast mich entbunden! Ist es nach dieser Geburt ein Wunder, dass ich so denke?, fügte sie in Gedanken hinzu.
Auf einmal verloren ihre Züge wieder ein wenig an Härte. Offenbar hatte sie eingesehen, dass nicht Aimee schuld an ihrer Lage war.
»Nun gut, vielleicht sollte ich das alles meinem Vater erzählen. Er hätte sicher kein Verständnis dafür, aber er hat auf der Heirat mit Ravencroft bestanden. Ich will doch nur ein bisschen Glück, Aimee, verstehst du das?«
Die Schäferin nickte. »Ich verstehe es, Mylady. Und es betrübt mich, Euch so unglücklich zu sehen.«
»Falls du fragen willst, was du tun kannst, kann ich dir nur sagen, dass es nichts gibt, was in deiner Macht steht. Ich erwarte von dir nur eines, und zwar dass du mir gehorchst und dich um mein Kind kümmerst.«
Aimee nickte und fragte sich, was diese seltsame Ansprache sollte.
»Du kannst nun gehen, mein Kind. Geh hinaus zu den anderen und vergnüge dich bei der Jagd«, sagte die Baronin schließlich. »Das Leben hat nicht viele schöne Momente zu bieten, du solltest daher alle nutzen, die du geboten bekommst. Man kann nie wissen, wann einem genommen wird, was einen glücklich macht.« Damit wandte sie sich wieder dem Fenster zu.
Aimee betrachtete die Baronin noch einen Moment lang verwundert, dann knickste sie und verließ das Gemach.
Draußen überkam sie eine seltsame Beunruhigung. Es war wie damals, als sie geahnt hatte, dass ihr Vater sterben würde.
Ich sollte den Baron warnen, ging es ihr unvermittelt durch den Sinn. Natürlich habe ich keine Beweise, aber zu wissen, dass etwas im Hintergrund vorgeht, hilft ihm vielleicht, Schlimmeres zu verhindern.
Nachdem sie noch einmal nach der Baroness und der Amme gesehen hatte, strebte sie dem Hof zu.
Dabei traf sie auf Ravencroft und seine Begleiter. Der Baron trug nun ein ledernes Wams, das mit zahlreichen metallenen Nieten verziert war, ähnlich wie die Halsbänder der Hunde. Sein langes schwarzes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden.
Als er die Schäferin erblickte, leuchteten seine Augen auf. »Du bist also schon wach, Aimee«, sagte er lächelnd, während er sich seine Handschuhe überzog.
Sollte ich es jetzt tun?, fragte sie sich, doch angesichts der Umstehenden entschied sie sich, vorerst nichts zu sagen. Das konnte sie nachholen, wenn sie ungestörter waren.
»Schon seit einer Weile, Mylord, mich hat es nicht mehr im Bett gehalten«, entgegnete sie und hielt den Blick gesenkt. Die Erinnerung an den Kuss im Garten ließ einen Schauer über ihren Körper laufen und ihren Schoß vor Sehnsucht brennen.
»Hast du nach meiner Tochter gesehen?«
»Ja, das habe ich. Und auch Eurer Gemahlin geht es gut.«
Ravencroft erwiderte kurz angebunden: »Gut, dann können wir uns ja zum Aufbruch rüsten. Was meinst du, wo sind um diese Zeit die meisten Wölfe anzutreffen?«
»Schwer zu sagen, Mylord, sie wandern durch den gesamten Wald, sind mal hier und mal da. Wenn Lammzeit ist, kann man häufig welche hinter meiner Weide beobachten.«
»Nun denn, meine Herren, damit kennen wir unser Ziel.«
»Ob Ihr allerdings Glück haben werdet, kann ich Euch nicht versprechen«, fügte Aimee hinzu. »Ich weiß auch nicht, ob die Plage davon besser wird. Trotz Eurer Jagd werden genug Wölfe bleiben, damit ihre Art nicht zugrunde geht.«
Der Baron lachte auf. »Für so schlecht hältst du also meine Jagdkünste?«
Aimee errötete. »Nein, Mylord, das wollte ich nicht behaupten. Aber ich kenne die Wölfe und weiß, dass sie sehr gerissen sind. Außerdem haben sie ein besseres Gehör als jeder Mensch, sie werden das Trampeln der Pferde schon Meilen im Voraus vernehmen.«
Ravencroft lächelte sie einen Moment lang an und dachte bei sich, was für ein kluges Weib Aimee doch war. Dann wandte er sich zu seinen Begleitern um.
»Habt ihr das vernommen? Zweifelt jetzt noch jemand dar-an, dass es gut ist, diese Frau mitzunehmen?«
Die Männer murmelten vor sich hin, einige lachten, aber keiner äußerte Widerspruch.
»Also gut, dann komm mit. Bevor wir losreiten, müssen wir uns stärken. Es ist ja nicht so, dass wir nach der Jagd Sauen hätten, die wir auf den Spieß stecken könnten.«
Mit diesen Worten reichte er ihr seinen Arm.
Aimee fand das sehr kühn und zögerte zunächst.
Ravencroft blitzte sie an und sagte: »Was ist? Ich beiße nicht! Gewähre mir den Gefallen, mich zu begleiten.«
Da sie ihn nicht verärgern wollte, nickte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm.
Zusammen mit der Jagdgesellschaft betrat sie die große Halle, wo die Mägde bereits das Morgenmahl vorbereitet hatten.
Die Mädchen blickten ein wenig erstaunt drein, als sie Aimee am Arm des Barons erkannten, und ihre Gespräche verstummten augenblicklich.
Die Schäferin versuchte, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Gelassen nahm sie von den Speisen, die in Hülle und Fülle bereitstanden, obwohl sich ihr Magen wie zugeschnürt anfühlte. Währenddessen wanderte ihr Blick zu Henry Fellows hinüber, der sich seit ihrer Begegnung im Stall ebenfalls verändert hatte. Er wirkte ähnlich zerstreut und in sich gekehrt wie die Baronin, und das nun schon seit vielen Tagen.
Weshalb nur?, fragte sie sich. Hatte das etwas mit der Unbekannten im schwarzen Mantel zu tun?
Ihr Nachdenken wurde von den Rufen Ravencrofts unterbrochen, der die Teilnehmer der Jagd zum Aufbruch gemahnte.
Alle gemeinsam verließen sie die Halle und traten auf den Burghof, wo sich schon einige Bedienstete eingefunden hatten, um dem Spektakel beizuwohnen.
Die Jagdgehilfen hielten Spieße und Armbrüste bereit, die sie an die Jäger verteilten. Als die Hunde die Männer sahen, wurden sie noch wilder. Aimee verspürte keinerlei Angst, sondern näherte sich den tobenden Tieren, um sie aus der Nähe zu betrachten.
Aus der Ferne hatte man nicht ermessen können, wie groß die Hunde wirklich waren. Doch nun sah die Schäferin, dass die mächtigsten von ihnen, wenn sie sich auf die Hinterläufe stellten, sogar den Baron und Henry Fellows überragten. Ihr langer Pelz und die großen braunen Augen verliehen ihnen trotzdem etwas Gutmütiges, jedenfalls empfand Aimee das so.
»Du solltest vorsichtig mit ihnen sein, sie sind keine Hütehunde«, erklang die Stimme des Barons hinter ihr.
Aimee drehte sich um und sah, dass er sich in der Zwischenzeit einen Gurt mit einem langen Hirschfänger um die Hüften gelegt hatte. In dem kunstvoll verzierten Knauf fingen sich die Strahlen der Morgensonne.
»Ein Hund ist ein Hund« antwortete sie, »und ich denke, die Wolfshunde hier sind abgerichtet, nur einem Wolf gefährlich zu werden.«
»Dennoch sind sie hungrig. Der Jagdmeister hat sie schmal gehalten, damit ihr Geruchssinn besser wird.«
»Trotz allem glaube ich nicht, dass sie blutrünstiger sind als meine Hütehunde. Auch sie stellen Wölfen nach, sind zu Menschen allerdings ganz sanft. Nicht einmal John haben sie gebissen!«
Der Baron lachte. »Der wird ihnen auch keinen Grund dazu gegeben haben. Aber ich denke mal, so ergeben, wie dir deine Hunde sind, werden sie einen Menschen, der dir ans Leben will, auf der Stelle zerfleischen.«
»Gebt Ihr jetzt also zu, dass sie gute Wächter sind und ich Euren Dolch eigentlich nicht benötige?«
»Nein, meinen Dolch benötigst du auch weiterhin«, entgegnete er. »Hast du ihn denn dabei? Ich kann keine Waffe an dir sehen.«
Aimee lächelte. »Ich trage ihn ständig bei mir, unter meinen Kleidern.«
»Wäre es vermessen von mir zu fordern, mir das zu beweisen?«
Seine Augen flammten auf, halb begehrlich, halb belustigt, und er wirkte wie ein Mann, der nicht nur darauf aus war, Wölfe zu erlegen.
»Eines Tages werde ich es Euch gewiss beweisen, Mylord«, entgegnete Aimee. »Aber jetzt solltet Ihr Euch auf die Jagd konzentrieren. Ich will nicht, dass Euch etwas geschieht.«
»Was sollte mir schon geschehen?«, fragte er lachend.
»Ich kann es Euch nicht genau sagen, aber es gibt da ein paar Dinge …« Aimee stockte. Sollte sie ihm wirklich all die Merkwürdigkeiten aufzählen?
Als der Baron merkte, dass sie es erst meinte, zog er die Augenbrauen zusammen. »Sprich schon«, forderte er sie auf. »Egal, was es ist, du brauchst keine Scheu vor mir zu haben.«
Die Schäferin zögerte noch einen Moment lang und ließ den Blick über die Jagdgesellschaft schweifen. Henry war nicht in der Nähe, und auch sonst schien ein jeder mit sich selbst beschäftigt zu sein.
»Mich überkam heute ein ungutes Gefühl. Es war beinahe wie damals, als mein Vater starb. Ich fürchte, Ihr seid in Gefahr, Mylord.«
Ravencroft runzelte die Stirn. Er erinnerte sich noch gut an ihre Prophezeiung und zweifelte nicht an ihrem Gefühl.
»Jede Jagd ist ein Risiko, dessen bin ich mir bewusst«, entgegnete er.
»Es ist nicht die Jagd«, platzte es aus Aimee heraus, dann zögerte sie. »Ich glaube …«
Der Baron legte ihr sanft die Hände auf die Schultern.
»Ich glaube, es braut sich irgendeine Gefahr zusammen. Eine Gefahr, die …«
Bevor sie weitersprechen konnte, kam einer der Knappen herbei, um seinem Herrn eine besonders prachtvolle und schwere Armbrust zu bringen.
»Der Bolzen, den ich damit abfeuere, durchschlägt selbst eine Tür von einer Handbreit Dicke«, erklärte er Aimee, während er liebevoll über die Waffe strich. »Mein Vater hat sie einst anfertigen lassen, aber leider kam er nicht mehr dazu, sie zu benutzen. Eine Krankheit fesselte ihn ans Bett, und es war an mir, sie einzuweihen.«
Beinahe glaubte Aimee, so etwas wie Verletzlichkeit in seinen Zügen zu erkennen. Er musste seinen Vater sehr geliebt haben, und wahrscheinlich hatte ihm sein Leiden sehr zugesetzt.
Eine Welle der Zärtlichkeit überkam sie. »Ich bin sicher, dass sie Euch Glück bringen wird.«
Ravencroft lächelte. »Ich denke eher, dass du mir Glück bringen wirst. Und was deine Befürchtungen angeht, so kann ich dir versichern, dass niemand, der noch bei Verstand ist, die Hand gegen mich erheben würde. Der Bolzen meiner Waffe würde ihn schneller treffen, als er sein Schwert ziehen kann.« Damit strich er ihr zärtlich über die Wange. »Und jetzt auf dein Pferd, Aimee, wir brechen auf.«
Auf den Befehl des Barons hin wurden die Hörner geblasen, und die Männer begaben sich zu ihren Pferden. Jemand ließ die Hunde von der Kette, und sie liefen, ohne sich um die Menschen oder die Pferde zu kümmern, zum Tor.
Ich habe recht, dachte Aimee und blickte verstohlen zum Baron hinüber, der Henry und seinen Männern noch einige Anweisungen gab. Die Hunde wissen, was sie zu tun haben – und sie wissen zu unterscheiden.
Erst nach einer Weile bemerkte die Schäferin, dass sie sich an der Gestalt des Barons festgestarrt hatte. Im selben Moment sah Ravencroft auf, und ihre Blicke trafen sich.
»Nun denn, Aimee, komm an meine Seite, wir reiten los.«
Die Schäferin schwang sich auf ihren Rappen und lenkte ihn zwischen die Männer.
Als sie zur Burg zurückblickte, bemerkte sie eine weiße Gestalt an einem der Fenster. Wollte die Baronin ihrem Gatten vor der Jagd doch noch zuwinken?
Nein, den Anschein machte es nicht. Vielmehr schien es, als warte sie auf etwas. Worauf, das wusste sie wohl nur selbst.
Mit großem Getöse setzte sich der Trupp in Bewegung. Voran liefen die Hunde, denen die Reiter folgten. Die Morgennebel, die schwer über dem Land hingen, teilten sich unter der Berührung der vielen großen und kleinen Leiber und gaben die Sicht auf das Land frei. Das Sonnenlicht, das immer weiter an Kraft gewann, glitzerte in den Tautropfen, die sich auf dem Blattwerk und in den Spinnweben befanden, die sich überall zwischen Blättern und Ästen spannten.
Der Boden erzitterte unter den Hufschlägen, und das Gebell der Hunde echote durch den stillen Morgen. Als gelte die Jagd ihnen, stoben ein paar Vögel aus dem Gebüsch und erhoben sich zwitschernd und kreischend in die Lüfte.
Aimee waren die Eindrücke der Natur nur allzu wohlbekannt, aber inmitten all dieser Reiter fühlte sie sich, als würde sie in ein vollkommen unbekanntes Land aufbrechen.
Ravencroft hatte sie geheißen, dicht bei ihm zu bleiben, doch die Schäferin hatte Mühe, mit ihm mitzuhalten. Sein Pferd preschte mit großen Galoppsprüngen voran, und obwohl der Rappe ebenfalls imstande war, ein gutes Tempo zu gehen, war ihm der Apfelschimmel des Barons überlegen.
Nachdem sie ein ganzes Stück querfeldein geritten waren, erreichten sie den Grünen See und den Turm.
»Ich muss zugeben, dass du wirklich an einem schönen Ort auf meinen Ländereien wohnst«, bemerkte der Baron lächelnd, während er sein Pferd zügelte. »Ich würde nur zu gern wissen, wer diesen Turm einst erbaute.«
»Sicher die Herren, die dieses Land vor Euch besessen haben«, entgegnete Aimee. »Wenn nicht Ihr, wer sollte es dann wissen?«
»Meine Familie kam schon vor sehr langer Zeit hierher. Es heißt, dass die Ravencrofts damals zusammen mit den Woodwards gegen den alten Herrn gezogen sind. Dieser muss nicht besonders gut zu seinen Untertanen gewesen sein, denn die Menschen haben ihn komplett aus ihrer Erinnerung gelöscht. Keine Geschichte erinnert mehr an ihn und auch kein Lied.«
»Gewiss war er es nicht, sonst hätte man sich von ihm erzählt«, entgegnete sie schließlich. »Aber ich bin sicher, dass man von Euch auch noch nach vielen Jahrhunderten sprechen wird, denn Güte ist etwas, das die Menschen nicht vergessen.«
Der Baron lächelte darauf und trieb sein Pferd nun wieder schneller an.
Die Hunde hatten mittlerweile den Waldrand erreicht. Nicht mehr lange, und sie würden ins Wolfsland kommen.
Zuvor bedeutete Ravencroft seinen Männern, noch einmal innezuhalten. Durch einen schrillen Pfiff brachte der Jagdmeister die Hunde wieder zur Räson.
Aimee blickte in den Wald hinein. Es war kein einziger Wolf zu sehen, dennoch war die Anwesenheit der wilden Tiere zu spüren. Wahrscheinlich fragten sie sich, wem die Reiter- und Hundehorde galt.
Auf einmal stellte sich das ungute Gefühl wieder ein, das sie bereits Stunden zuvor gehabt hatte. Die Schäferin wusste, dass Ravencroft während der gesamten Zeit ein Auge auf sie haben würde, doch das machte ihn verletzlich. Sie wusste, wie schnell so ein Wolf zuschlagen konnte. Ein Moment der Unachtsamkeit würde genügen, um den Wolf das Pferd des Barons angreifen zu lassen.
Deshalb sagte sie: »Vielleicht sollte ich doch besser mitkommen.«
Der Baron schüttelte den Kopf. »Nein, du bleibst hier. Es ist einfach zu gefährlich, und ich will nicht, dass dich ein umherfliegender Bolzen verletzt.«
Was ist mit Euch?, fragte sie sich im Stillen, aber sie wollte ihn nicht verärgern.
»Bitte gebt auf Euch acht«, sagte sie nur, während sie ihr Pferd zügelte.
»Das werde ich. Ich will mir doch meine Belohnung nicht entgehen lassen.«
Ravencroft zwinkerte ihr zu, dann wandte er sich an seine Männer.
»Wohlan, reiten wir los! Wenn wir zurück sind, wird uns Aimee einen angemessenen Empfang am Turm bereiten.«
Damit nickte er ihr zu und trieb sein Pferd an.
Aimee blickte ihm nach, während die anderen Reiter an ihr vorüberzogen. Nachdem die Männer verschwunden waren, blieb sie noch eine Weile am Waldrand stehen. Sie vernahm nach wie vor das Hundegebell, doch die Geräusche entfernten sich schon bald.
Geist des Waldes, dachte Aimee, als sie ihr Pferd wendete, lass ihn heil wiederkehren.