3. Kapitel
Noch am selben Tag machte sich ein Bote auf den Weg zum Count de Boisy. Außerdem schickte Ravencroft Reiter zu seinen Nachbarn, um ihnen Einladungen für die Taufe auszusprechen. Selbst seinen Rivalen Woodward wollte er wissen lassen, dass Ravencroft jetzt einen Erben hatte.
Es war zwar nur ein Mädchen, doch wenn kein Sohn folgte, würde seine Tochter nach geltendem Recht eines Tages den Titel und die Ländereien erben und ihn an ihren Gemahl und ihre Kinder weitergeben.
Ravencroft war sich darüber im Klaren, dass natürlich nur ein Sohn seinen Namen weiterführen konnte. Aber wenn es Gott so wollte, dass er nur Töchter bekam, dann sollte es so sein.
Der Baron zersprang beinahe vor Glück, als er seinen Schreiber die Einladungen ausstellen ließ. Ihm gefiel die Vorstellung, dass Woodward vor Zorn platzen würde, und er bedauerte es ein wenig, dass es dem Boten vorbehalten blieb, das Gesicht des Rivalen zu sehen.
Kurze Zeit später wusste die gesamte Baronie von der glücklichen Niederkunft. Die Tatsache, dass das Leben der Baronin dabei an einem seidenen Faden gehangen hatte, würde früher oder später gewiss in den Geschichten am Feuerloch auftauchen, aber erst einmal atmeten die Menschen auf. Wenn die junge Baronin es einmal geschafft hatte zu empfangen, konnte man gewiss weiteren glücklichen Niederkünften entgegensehen, und es war früher oder später mit einem männlichen Nachkommen zu rechnen.
Freudiges Gelächter zog durch die Gänge der Burg, und der Duft nach Gebratenem und Ale waberte von draußen durch die offenen Fensterläden. Einige Menschen tanzten zum Klang der Fidel um das Feuer inmitten des Hofes. Nur Henry Fellows hielt sich abseits und starrte mit glasigen Augen auf die ausgelassenen Leute. Er hatte sich ein paar Becher Ale genehmigt, doch er hatte keine Lust, sich den Feiernden anzuschließen, obwohl sein Herr ihm freigegeben hatte.
Seine Gedanken wanderten immer wieder zu der Baronin. Aimee war bei ihr geblieben, und es hieß, dass es ihr gutgehe. Trotzdem war Henry nach wie vor um sie besorgt. Oder war es vielleicht gar ein Anflug von Eifersucht? In letzter Zeit wurde das Gefühl in seiner Brust stärker, und er weigerte sich im Stillen, eine Erklärung dafür zu finden.
»Trinkst du auf das Wohl meines Kindes?«
Die Hand, die sich schwer auf seine Schulter legte, ließ Henry aufschrecken, und zwar so heftig, dass er beinahe den Krug fallen gelassen hätte.
»Mylord, Ihr seid hier?«
»Ich dachte mir, ich entfliehe den engen Kammern für eine Weile«, antwortete der Baron und setzte sich zu ihm, als seien sie irgendwo im Feldlager. »Mein Weib ist wohlauf, und mein Kind wird von der Hebamme gut bewacht. Es ist alles bestens. Obgleich ich mir, wenn ich ehrlich bin, einen Sohn gewünscht hätte.«
»Euer Weib ist jung«, gab Henry zurück. »Sie wird Euch gewiss als Nächstes einen gesunden Sohn schenken.«
»Das hoffe ich. Wenn nicht, wird eben meine Tochter die Geschicke der Baronie weiterführen. Mit dem richtigen Mann an ihrer Seite.«
»Möge Gott sie und Euch schützen.« Fellows prostete ihm zu, und Ravencroft nahm die Geste mit einem dankbaren Nicken an.
»Ohne die Schäferin hätten wir jetzt wohl keinen Grund zum Feiern«, sagte der Baron schließlich. »Was weißt du über diese Frau?«
Diese Frage verwunderte Fellows, denn Aimee war nur eine einfache Untertanin. Sicher, der Baron war dankbar für die Rettung seines Weibes, aber warum fragte er nach ihr?
»Nicht viel, Mylord«, antwortete er schließlich. »Nur dass sie ziemlich wehrhaft ist und dass sie sich an niemanden binden will. Sie ist eine gute Hebamme und versorgt die Schafe auf Eurem Lehen, doch sie bleibt die meiste Zeit für sich.«
»Was hat es mit ihren roten Strähnen auf sich? Du hast sicher bemerkt, dass ihr Haar seltsam aussieht.«
Fellows blickte in seinen Becher, trank einen Schluck und antwortete dann: »Einige Leute im Dorf behaupten, sie könnte damit das Schicksal für jene vorhersehen, die sie liebt.«
»Ist diese Prophezeiung je eingetroffen?«
Henry zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Es ist das, was die Leute reden. Wie gesagt, sie bleibt lieber für sich.«
Fellows blickte dem Baron direkt ins Gesicht. Seine Miene war nicht zu durchschauen, aber sein Interesse an der Schäferin war nicht zu übersehen. Steckte da etwa mehr dahinter?
»Warum begehrt Ihr so viel über dieses Weib zu wissen, Mylord?«, fragte Fellows schließlich.
»Ich überlege, sie zur Kinderfrau meiner Tochter zu machen«, antwortete Ravencroft, und noch immer blickte er ins Feuer, als könnte er darin seine Zukunft lesen.
»Darauf wird sie sich nie und nimmer einlassen!«, entgegnete der Wachmann.
»Warum nicht? Immerhin würde es ihr hier in der Burg bessergehen als auf ihrer Weide.«
»Wer soll dann die Schafe hüten? Außerdem brauchen die Frauen im Ort sie ebenfalls.«
»Meinst du, sie würde sich wirklich einem Befehl ihres Herrn widersetzen?«
Fellows konnte ihm darauf keine Antwort geben. Jedermann wusste, dass die Schäferin willensstark und unabhängig war. Das hatte sie ihm mit ihrer Antwort am Morgen wieder einmal gezeigt. Sie bat nur selten um Hilfe, und man munkelte, dass sie die Anträge einiger Burschen bereits ausgeschlagen hatte. Nein, solch ein Weib vermochte man nicht an einen Ort zu binden, an dem es nicht sein wollte.
»Ihr solltet sie fragen, Mylord. Aber macht Euch auf eine Antwort gefasst, die Euch womöglich nicht gefallen wird.«
Ravencroft hob verwundert die Augenbrauen. Die Worte seines Leibwächters klangen so, als könnte die Schäferin tatsächlich den Mut haben, sich ihm zu widersetzen. Das ließ die Neugier in ihm erst recht wachsen.
»Ich werde mein Glück versuchen«, sagte er, klopfte dem Hauptmann freundschaftlich auf die Schulter und zog sich in die Burg zurück.
Die Nacht drückte wie ein schwarzes Tier gegen die Burgfenster, hinter denen die Leute noch immer feierten. Die Fidelklänge drangen in ihre Ohren, doch Aimee hatte nicht vor, sich an den Feierlichkeiten zu beteiligen. In der Dienstbotenkammer lag sie auf einem Strohsack und starrte an die niedrige Balkendecke, von der ein paar staubige Spinnweben herabhingen. Der Geruch nach Ale, Gebratenem und den Binsenmatten, mit denen der Raum ausgelegt war, stieg ihr in die Nase.
Sie hatte das Angebot ausgeschlagen, in einem der Gemächer im oberen Teil der Burg zu übernachten, und sich stattdessen unter die neugierig und bewundernd dreinblickenden Dienstmägde begeben. Deren Wispern drang noch immer an ihr Ohr, während sie versuchte, ein wenig zur Ruhe zu kommen. So recht wollte ihr das allerdings nicht gelingen. Nicht, weil es ihr zu laut gewesen wäre. Ihr gesamter Körper pulsierte noch immer von dem, was sie vor einigen Stunden getan hatte. Unzählige Gedanken wehten wie vom Frühlingswind getrieben durch ihren Verstand. Wenn die Baronin nun gestorben wäre, was dann? Hätte ihr Gemahl mir dann die Hände abgehackt? Mich auf der Stelle getötet?
Da es müßig war, über Dinge nachzudenken, die nicht geschehen waren, dachte sie zurück an das Abendessen, das sie zusammen mit den Mägden eingenommen hatte.
»Wenn ich ein Kind bekomme, werde ich meinen Kerl zu ihr schicken«, hatte Sylvie bemerkt, während sie ihre Grütze in sich hineingeschaufelt hatte, und zwar so laut, dass die Schäferin es hören konnte.
Aimee hatte gelächelt, wenngleich nur verhalten, denn sie wollte nicht hochmütig erscheinen. Vielleicht hatte sie die Baronin tatsächlich dank ihres Könnens gerettet, aber sie wusste, dass Glück und Gottes Wille ebenfalls von Bedeutung gewesen waren.
Mit diesem Gedanken drehte sie sich auf die Seite.
Am liebsten wäre sie noch in der Nacht zu ihrem Rosenturm zurückgekehrt, doch der Baron hatte es ihr nicht gestattet. Offenbar verzichtete er lieber auf seinen Laufburschen.
Aimee hoffte nur, dass John nicht die Wölfe an die Herde herangelassen hatte. Die Hunde verstanden ihr Handwerk, aber wie sie am Morgen gesehen hatte, war eine menschliche Hand keineswegs entbehrlich.
Plötzlich öffnete sich die Kammertür. Dem Lichtschein folgte eine Person, die sich schließlich als Celeste herausstellte. Sie trat vorsichtig auf, als fürchtete sie, Aimee wecken zu können.
»Du brauchst nicht zu schleichen, ich bin wach«, sagte Aimee, während sie sich aufrichtete.
Celeste blieb einen Moment lang schweigend vor ihr stehen, dann sagte sie: »Aimee, komm, der Baron will dich sehen.«
»Der Baron?«, fragte die Schäferin verwundert zurück. »Geht es seiner Gemahlin nicht gut?«
»Ich weiß nicht, in welcher Angelegenheit er dich sprechen will«, gab die Kammerfrau zurück. »Aber du solltest jetzt besser mitkommen.«
Aimee nickte, dann ordnete sie hastig ihr Haar und folgte Celeste durch die dunklen Gänge, bis sie an der Tür von Ravencrofts Schafgemach angelangt waren.
Was kann er von mir wollen?, fragte sie sich, während Ce-leste zaghaft an der Tür pochte. Als die Stimme des Barons ertönte, öffnete sie und bedeutete Aimee einzutreten. Die Kammerfrau selbst blieb zurück und schloss hinter ihr die Tür.
Im Gemach waren mittlerweile alle Spuren der Geburt entfernt worden, und in der Luft lag ein leichter Blütenduft. Bevor Aimee am Abend noch einmal nach der Baronin gesehen hatte, hatte sie ein paar Blumen gepflückt, damit die Wöchnerin von angenehmem Duft umgeben war und besser schlafen konnte.
Die schweren grünen Samtvorhänge des Bettes waren nun zur Hälfte zugezogen. Vor dem Bett befand sich eine prächtig geschnitzte Truhe, daneben lag ein Bärenfell. Im Kamin loderte ein Feuer, das die Frühlingskühle aus dem Raum vertrieb.
Unweit der Schlafstelle entdeckte Aimee eine kleine hölzerne Wiege, die ebenfalls mit prächtigen Schnitzereien verziert war. Der Baron hatte sie offenbar erst vor kurzem aufstellen lassen. Im Inneren der Wiege, auf seidenen Decken, ruhte der kleine Säugling, fest eingewickelt in weißes Leinen.
Angesichts dieser Pracht kam sich die Schäferin völlig fehl am Platze vor. Noch immer hatte sie das Blut der Baronin auf ihrem Kleid, und obwohl sie versucht hatte, es zu ordnen, hing ihr das Haar noch immer ein wenig wirr über die Schultern.
»Mylord«, sagte sie sanft und verneigte sich dann tief vor ihm.
George of Ravencroft betrachtete die Schäferin eine Weile. Seine Augen glitten über ihren üppigen Ausschnitt, ihren langen Hals hinauf bis hin zu ihrem Haar. Jetzt konnte er auch die seltsamen Strähnen genau betrachten. Es waren insgesamt drei, die das goldene Blond durchzogen, zwei zur linken und eine zur rechten Hälfte des Kopfes.
»Erhebe dich«, sagte er und streckte der jungen Frau die Hand entgegen.
Die Schäferin blickte zu ihm auf, sah sein Lächeln und wusste zunächst nicht, warum er ihr die Hand reichte. Dann begriff sie, dass sie diese ergreifen sollte. Als ihre Hand seine Finger berührte, spürte sie, dass sie warm waren. Warm und stark, wie es sich für einen Mann gehörte, dem es nicht an Kraft fehlte, ein Schwert zu führen.
»Ich hoffe, Eure Gemahlin befindet sich wohl?«
Der Baron warf einen Blick auf die Schlafende. »Das tut sie. Sieh selbst.« Damit führte er Aimee zu dem breiten Bett. Die Laken waren neu, der zarte Körper der Wöchnerin in ein feines Hemd gehüllt. Sie war noch immer recht blass, aber der Schlaf zauberte eine leichte Röte auf ihre Wangen. Ihr Haar war gekämmt und auf dem Kissen ausgebreitet worden wie ein Schleier.
Aimee erinnerte sie ein wenig an eine der Gestalten aus den Märchen, die ihre Mutter ihr früher erzählt hatte.
»Und dafür bin ich dir sehr dankbar«, sagte der Baron und stellte sich neben die Wiege. »Was meinst du, soll ich einen Astrologen herbeordern? Unser König hat einige von ihnen aus dem Heiligen Land mitgebracht.« Für einen kurzen Moment zog ein finsterer Schatten über sein Gesicht.
Aimee bemerkte ihn und fragte sich, was er zu bedeuten hatte. Sorgte er sich um die Zukunft seiner Tochter?
»Sterne sind trügerisch, Mylord«, entgegnete sie dann, während sie den Blick über das schlafende Kind schweifen ließ. Das Mädchen wirkte gesund. Es hatte Haare auf dem Kopf, die wie eine schwarze Haube aussahen. Ein kleiner Rabe, dachte die Schäferin, angelehnt an den Spitznamen, den die Leute im Dorf ihrem Baron gegeben hatten. Dank seines schwarzen Haars nannte man ihn hinter vorgehaltener Hand »the raven«.
»Einmal strahlen sie hell, dann wieder verstecken sie sich hinter Wolken. Gewiss beantworten sie keine Frage, die man ihnen stellt, sonderlich genau«, fügte sie hinzu, als sie den Baron ansah.
»Was schlägst du vor, um die Zukunft meines Kindes vorherzusagen?«, fragte er.
»Man muss einem Menschen aus der Hand lesen«, entgegnete Aimee freimütig und bedachte erst hinterher, dass sie diese Antwort in Schwierigkeiten bringen könnte. Immerhin hatte man ihre Mutter auch für eine Hexe gehalten. Seit einiger Zeit reisten heilige Männer durch die Lande, mit dem Ansinnen, die Zauberei auszumerzen. Es galt, vorsichtig zu sein, auch wenn der Baron dankbar für ihre Tat war. Daher fügte sie hinzu: »Später, wenn sie die Taufe erhalten hat und älter ist.«
»Was willst du da sehen?«
»Jeder Mensch hat Linien in der Handfläche. Es heißt, dass darin der Weg eines jeden vorgezeichnet ist. Man muss nur ihre Bedeutung herauslesen.«
»Darauf verstehst du dich?«
Aimee durchlief es siedend heiß. »Ein wenig.« Errötend senkte sie den Blick.
Just in dem Augenblick regte sich das kleine Mädchen, und Aimee legte einen Finger auf die Lippen, als der Baron anhob, etwas zu sagen. Er schwieg und führte sie durch eine kleine Tür in die Kammer nebenan.
Sie hatte deutlich geringere Ausmaße als das Schlafgemach und wurde wohl als Studierzimmer genutzt. Vor einem der Fenster stand ein Schreibpult, unberührtes Pergament lag darauf, ein silbernes Tintenfass stand neben einigen schneeweißen Gänsefedern, und auf dem Boden lagen einige dicke Folianten. Die Teppiche an den Wänden zeigten eine Jagdszene, in der ein Keiler zur Strecke gebracht wurde.
In der Mitte des Raumes angekommen, betrachtete George of Ravencroft Aimee erneut, und ein merkwürdiges Sehnen bemächtigte sich seines Körpers. Die Schäferin war auf irgendeine Weise anders als die Frauen, die er kannte. Sie strahlte Lebensfreude aus und Kraft. Mit einem Mal stellte er sich vor, wie sie nackt aussehen und wie sich ihre Miene vor Lust verziehen würde, wenn ein Mann ihr beiwohnte.
Aimee spürte, dass der Baron mit seiner Beherrschung kämpfte. »Ihr solltet Euch nach einer gesunden Amme umsehen«, sagte sie deshalb. »Sie wird Eurer Tochter Kraft geben. Eure Gemahlin wird sich noch schonen müssen.«
Ravencroft senkte den Blick auf ihren Busen und hob die Hände. Sie wusste, dass sie sich nicht wehren durfte, als er die Bänder ihres Mieders ergriff und sie zusammenband, jedoch nicht ohne mit den Fingerkuppen kurz und wie zufällig die weichen Rundungen zu berühren.
»Wie steht es mit dir?«, fragte er und sah ihr direkt in die Augen. »Du bist gesund und anscheinend von gutem Blut.«
Die Schäferin lachte kurz auf, ein Laut, der unwillkürlich aus ihrer Kehle drang, denn sie wusste sehr wohl, dass sie sich das nicht erlauben durfte. Trotzdem konnte sie nicht anders. Wie unbedarft die Männer doch in diesen Dingen waren!
»Nein, Mylord, tut mir leid«, sagte sie mit glänzenden Augen und versuchte, ihre Mundwinkel im Zaum zu halten. »Amme kann man nur sein, wenn man kurz zuvor selbst ein Kind geboren hat. Herr, Ihr tätet gut daran, Euch eine Frau zu suchen, die gerade niedergekommen ist.«
Der Baron lächelte breit. Dieses Weib gefiel ihm. Der Mann, der sie zur Gemahlin bekam, würde sich glücklich schätzen können – auch wenn er sich vor ihrer scharfen Zunge in Acht nehmen musste.
»Du bist sehr ungewöhnlich, Aimee«, sagte er und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. Wieder glitten seine Augen über ihren Körper, als wollten sie sich die Form jeder einzelnen Rundung merken »Wie viele Lenze zählst du?«
»Zwanzig.«
»Gibt es einen Burschen, der dir den Hof macht?«
Aimee zog verwundert die Augenbrauen hoch. Warum fragte er das? Es hatte den Baron nicht zu interessieren, ob sie verheiratet war oder nicht.
Spekulierte er etwa auf das Recht der ersten Nacht? Das würde sie ihm ganz gewiss nicht gewähren!
Doch so weit würde es ohnehin nicht kommen. Heirat war etwas für die anderen, aber nicht für sie. Sie war allein in ihrem Turm glücklich, es mangelte ihr an nichts, und sie hatte genügend zu tun. Das Schreien und Lachen der Kinder, die sie auf die Welt holte, entschädigten sie hinreichend für die Einsamkeit.
»Nein, Mylord«, beantwortete sie seine Frage und bemerkte, dass sein Blick auf ihrem Haar hängenblieb. Was würde nun kommen? Aimees Handflächen wurden feucht und kalt.
»Sag mir, Aimee, woher hat dein Haar die roten Strähnen?«, fragte er, wie sie bereits befürchtet hatte.
Unwillkürlich zuckte sie zusammen, denn sie mochte nur ungern auf ihr Haar und dessen seltsame Färbung angesprochen werden.
»Es ist eine Laune Gottes«, antwortete sie ausweichend, obwohl sie die Wahrheit genau kannte.
»Nur eine Laune?«, fragte der Baron. Wieder hatte er im Ohr, was Henry ihm berichtet hatte. »Man erzählt sich, die Farbe deiner Haare hängt damit zusammen, dass du die Zukunft vorhersagen kannst.«
Wieder zuckte Aimee zusammen. »Meine Haare können die Zukunft nicht vorhersagen, Mylord«, entgegnete sie. »Die Strähnen haben nichts zu bedeuten.«
Der Baron musterte sie prüfend. Wieder fühlte er sich seltsam zu ihr hingezogen. Der Zauber ging von ihrem Gesicht aus, ihrem Lächeln, ihrem Körper, der Haut, der Art, wie sie scheu den Kopf hielt und wie sie sprach. Zuletzt war er bei seinem ersten Weib derart von einer Erscheinung fasziniert gewesen.
»Woher stammen diese Strähnen dann?«
Aimee blickte ihn prüfend an. Welches Interesse sollte ein Mann wie er an ihren Geschichten haben?
Da er sie aber abwartend ansah, sah sie sich genötigt zu antworten. »Es war Gottes Fügung. Hier, diese Strähne«, sagte sie, und ohne einen Spiegel vor sich zu haben, zog sie mit sicherem Griff jene hervor, die sich auf ihrer rechten Kopfhälfte befand. »Die hier war die erste. Ich habe sie bekommen, als meine kleine Schwester starb. Sie ertrank im See.«
Der Baron schwieg darauf, und Aimee wusste nicht genau, wie sie seinen Gesichtsausdruck deuten sollte.
»Ich möchte Euch nicht langweilen, Mylord«, wandte sie daher ein.
»Nein, Aimee, das tust du nicht. Erzähl weiter.« Er streckte eine Hand aus und strich ihr eine ins Gesicht gefallene Locke von der Wange.
Die Schäferin schreckte aufgrund der Berührung kurz zurück, fuhr dann aber fort. »Als ich am Abend nach dem Begräbnis ins Wasser schaute, sah ich, dass eine meiner Locken die Farbe der Abendsonne angenommen hatte. Ich hielt es zunächst nur für einen Streich, den mir das Licht spielte. Doch auch Tage später – bis heute – blieb sie rot.«
»Und die zweite?«, wollte der Baron nun wissen und begann, sie langsam zu umrunden. Zuweilen streifte seine Schulter wie zufällig ihr Haar, und ihr Geruch strömte ihm entgegen.
Aimee roch nach Milch und Wolle, nach dem Gras der Wiesen, nach dem Fell von Hunden, nach dem Talg junger Lämmer. Berührt vom Zauber ihres Anblicks, durchzog ihn ein Schauer, so heftig, dass er beinahe ihre Antwort überhört hätte.
»Die zweite Strähne bekam ich, nachdem ein tollwütiger Wolf meinen Vater angefallen hatte. Er überlebte den Angriff zwar, wusste jedoch, dass ihm ein langsamer, qualvoller Tod bevorstand, daher stach er sich sein Jagdmesser durchs Herz. Am Abend danach hatte sich eine weitere meiner Locken rot gefärbt.«
Nun sah Ravencroft sie wieder an, und Aimee konnte ihm die Frage nach der dritten Strähne von den Augen ablesen.
»Die letzte Strähne, Mylord, färbte sich, als meine Mutter tot am Fuße einer Klippe aufgefunden wurde. Sie hat den Schmerz über den Verlust ihres Gemahls und ihres Kindes nicht verwunden.«
Der Baron verfiel in Nachdenklichkeit. Drei gewaltsame Tode, ging es ihm durch den Sinn. Wollte Gott Aimee mit den Strähnen zeichnen?
Er fand keine Antwort.
»Die Leute im Dorf glauben, dass du mit deinen Strähnen Todesfälle vorhersagen kannst«, merkte er schließlich an, eingedenk des Gesprächs mit Fellows. »So hat es mir jedenfalls einer meiner Getreuen berichtet.«
Aimee lächelte bitter. »Die Leute erzählen viel, wenn der Tag lang ist und sie sich gewisse Dinge nicht erklären können. Einige Frauen glauben wirklich, dass mein Haar den Tod meiner Familie vorhergesehen hätte, aber dem ist nicht so. Die Wahrheit ist vielmehr, dass mich Gott nach ihrem Tod gezeichnet hat.«
Wieder schwiegen sie einen Moment lang.
»Du bist etwas ganz Besonderes, Aimee«, sagte Ravencroft schließlich und trat an das offene Fenster. »Deshalb möchte ich dich bitten, Patin meiner Tochter zu werden. Und auch ihre Kinderfrau.« Er wandte sich um und blickte in Aimees überraschtes Gesicht.
»Patin?«, rutschte es ihr heraus. »Aber ist das denn möglich? Ich bin nicht von edler Geburt!«
»Als Patin musst du reinen Herzens sein und dem Bösen abschwören. Das tust du doch, oder?«
»Selbstverständlich, Mylord.«
»Nun, dann sehe ich keinen Grund, warum ich dich nicht zur Patin meines Kindes machen sollte. Außerdem werden genug Edle anwesend sein. Ich glaube nicht, dass es meiner Tochter schaden wird, eine Frau aus dem Volk als Patin zu haben. So wird sie immer wissen, dass das Volk unverzichtbar für ihre Herrschaft ist. Egal, ob sie eines Tages diese Baronie beherrschen wird oder eine andere.«
Angesichts seiner Worte und der Wärme, die darin mitschwang, begann Aimees Herz zu rasen.
Was ist bloß mit mir?, fragte sie sich. Er bittet mich doch nur, Pate zu stehen …
Die Schäferin zögerte noch immer. Es war sehr ungewöhnlich, dass ein hoher Herr eine einfache Frau wie sie in der Nähe seines Kindes wissen wollte. Aber sie wusste, dass sie nicht ablehnen konnte. »Wenn Ihr es wünscht, so werde ich die Patenschaft übernehmen«, sagte sie daher.
George of Ravencroft nickte zufrieden. »Dann bleib bis zur Taufe in der Burg und sei mein Gast.«
Jetzt lächelte Aimee wieder. »Habt Dank, Mylord«, sagte sie und neigte erneut den Kopf ein wenig zur Seite. »Doch meine Schafe warten. Meine Hunde sind zwar klug, aber sie können die Herde nicht alleine zusammenhalten. John mag seine Pflicht gut versehen, allerdings ist er kein Schäfer.«
»Dann nimm eines meiner Pferde. Am besten das, auf dem du hergeritten bist.«
Aimee hob abwehrend die Hände. »Mylord, das kann ich nicht …«
»Du kannst es«, entgegnete er schnell und griff nach ihrer Hand. »Es sei denn, die Schindmähre hat dir auf dem Weg hierher Schwierigkeiten gemacht.«
Die Schäferin schüttelte den Kopf. »Nein, Mylord, es ist das beste Pferd, das ich je gesehen habe.«
»Dann gehört es dir, und ich will keine Ablehnung hören!«
»Dann danke ich Euch für das Geschenk«, erwiderte sie und verneigte sich tief.
Der Baron ließ sie nun gehen. Sein Lächeln folgte ihr zur Tür und verharrte selbst dann noch auf seinem Gesicht, als er wieder neben dem Bett seiner Frau saß und seine Tochter in der Wiege betrachtete.