20. Kapitel
Begleitet von St. James und einigen anderen Soldaten, sprengte Ravencroft in Richtung Rosenturm. Dabei passierte er einige Felder, auf denen die Bauern nun wieder ihrem Tagwerk nachgingen, doch er würdigte sie keines Blickes und reagierte auch nicht auf die Grüße der Männer, die ihn erkannten.
Seit dem Geständnis des Verräters waren zwei Stunden vergangen, zwei Stunden voller Zweifel und Sorge um Aimee.
Schlimme Gedanken kamen in ihm auf, Gedanken an das, was Woodward mit Aimee anstellen würde, sobald er ihrer habhaft wurde. Doch er drängte sie beiseite.
Wahrscheinlich wird sie auf der Weide sein und mir lachend entgegengelaufen kommen, versuchte Ravencroft sich zu beruhigen, während er sein Pferd weiter vorantrieb.
»Mylord, seht!«, rief St. James plötzlich. Er zügelte sein Pferd und deutete zur Seite. Auch der Baron brachte sein Pferd nun zum Stehen.
Eine Gestalt kam auf sie zugerannt. Im ersten Moment konnte Ravencroft nur erkennen, dass es sich um einen Burschen handelte, der vor lauter Eile beinahe sich selbst überholt hätte.
Erst als er ihm entgegenritt, erkannte er, dass es sich um John, den Hütejungen, handelte, der im nächsten Moment stolperte und vor seinem Pferd auf die Knie fiel. Die Hufe des Tiers wirbelten knapp vor dem Kopf des Burschen auf, so dass er vor Angst beinahe starr wurde.
»Was ist los?«, fragte Ravencroft, während ihn ein ungutes Gefühl beschlich.
»Mylord«, keuchte John vollkommen außer Atem und krümmte sich zwischendurch, als würde er so besser Luft bekommen. Eingeschüchtert knüllte er seine Mütze zwischen den Händen. »Ich fürchte … ich habe … schlechte Nachrichten für Euch … Aimee …«
Ravencroft verspürte einen Stich in seinem Herzen, und die Angst umfing ihn wie eine eiserne Kralle.
»Sprich«, sagte er knapp, denn mehr Worte kamen ihm nicht über die Zunge.
»Kurz nachdem Aimee mich abgelöst hat, ist sie von ein paar Männern entführt worden.«
Diese Worte ließen Ravencrofts Herz stocken.
»Wann ist das genau passiert?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht vor einer halben Stunde, aber es könnte auch länger her sein. Ich bin sofort losgelaufen.«
Ravencroft versuchte anhand der Entfernung zum Turm und der Geschwindigkeit eines rennenden Jungen abzuschätzen, wie lange der Vorfall zurückliegen könnte. Die Sorge, die seinen Magen zusammenkrampfen ließ, erschwerte ihm das Denken, aber nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass seither gewiss mehr als eine Stunde vergangen war.
»Kannst du uns zeigen, wo sie hingeritten sind?«, fragte er, worauf der Hütejunge nickte.
»Sie sind gen Westen.«
In Richtung der Baronie Woodward, ergänzte Ravencrofts Verstand. Aber vielleicht war es noch nicht zu spät.
»Steig auf mein Pferd, bis zur Weide nehmen wir dich mit!«, sagte der Baron und reichte ihm die Hand.
John ergriff sie und ließ sich hinter seinen Herrn auf die Kruppe ziehen.
»Halt dich fest!«, rief Ravencroft ihm zu, dann bedeutete er seinen Männern, dass sie weiterreiten würden.
Mit jeder Meile, die sie zurücklegten, wuchs Aimees Angst vor dem, was sie in Woodward erwartete. Natürlich auch vor dem, was unterwegs alles passieren könnte.
Obwohl der Anführer seinen Leuten ausdrücklich gesagt hatte, dass sie die Schäferin nicht anrühren sollten, machten die Männer ihr eindeutige Angebote.
»Was der Henker von dir übrig lassen wird, weiß niemand, meine Schöne. Doch wenn du jetzt absteigst, die Beine breit machst und jeden von uns einmal zu dir lässt, werden wir ein gutes Wort für dich einlegen.«
Ein dreckiges Lachen folgte, doch es verstummte sofort, nachdem die Schäferin sich wortlos umgesehen hatte. Ihr Blick ließ jedem von ihnen das Lachen im Halse stecken bleiben.
»Red bloß nicht weiter, sonst verflucht sie dich noch«, murmelte ein Rotschopf.
Der Anführer winkte ab, aber in seinen Augen konnte Aimee erkennen, dass er Angst vor ihr hatte. Offenbar hielt man sie für eine Zauberin. Was das für sie bedeuten würde, wenn sie in Woodward ankam, wusste sie, und die Erkenntnis ließ ihr Herz so angstvoll rasen wie nie zuvor.
Die Nacht brach über Ravencroft herein, und der Wind, den sie mit sich brachte, fegte das Stroh vom Hof und den Staub vom Blutgerüst. Verlassen stand es da, ein schauriges Mahnmal der Vorgänge, die sich auf der Burg zugetragen hatten. Nur ein paar Krähen hatten sich darauf niedergelassen, um es als Schlafstätte zu nutzen.
Hufgetrappel verscheuchte allerdings nur wenig später die Stille – und die Krähen, die sich krächzend über den Burghof erhoben. Ravencroft kehrte heim. Allerdings ohne eine Spur von Aimee gefunden zu haben.
Erschöpfung stand auf seinem Gesicht, und Zorn funkelte in seinen Augen. Es gab viele Möglichkeiten für die Identität der Entführer, aber angesichts des Vorfalls auf der Burg wollte ihm nur ein Schuldiger einfallen.
Woodward!
Ihm war auch klar, was das bedeutete.
»Saint James«, wandte er sich an seinen neuen Vertrauten. Er würde den Mann bei nächster Gelegenheit zum Hauptmann machen.
»Ja, Mylord?«
»Suche alle kampffähigen Männer zusammen, die willens sind, gegen Woodward zu ziehen, und sag meinen Leuten, dass sie sich bereithalten sollen.«
»Aber Mylord, glaubt Ihr wirklich, dass es klug ist, gegen Woodward zu ziehen?«
Ravencroft atmete tief durch. »Klug ist es gewiss nicht, aber ich habe keine andere Wahl. Ich kann Aimee nicht in den Händen meines Feindes lassen. Das bin ich ihr schuldig.«
St. James blickte seinen Herrn verwundert an und erkannte dann in den Augen des Barons den wahren Beweggrund. Es war derselbe, der Aimee an seinem Lager hatte wachen lassen und der sie veranlasst hatte, für ihn zu beten.
»Ich werde den Männern Bescheid geben, Mylord«, sagte er schließlich und sprang aus dem Sattel.
Ravencroft tat es ihm nach, doch statt zu den Mannschaftsquartieren zu laufen, rannte er zur Burg.
Während er einsehen musste, dass sie Aimee nicht mehr finden konnten, rief er sich noch mal alle Details ins Gedächtnis und zählte zwei und zwei zusammen. Auf einmal wusste er, was hier gespielt wurde, und seine Wut auf Nicole stiegt ins Unermessliche. Bis vor ein paar Augenblicken hatte er sich nicht vorstellen können, dass er je noch wütender auf sie werden könnte, als er es schon war. Doch jetzt war er es.
Mit jedem seiner Schritte, die über den Steinfußboden hallten, wurde ihm klarer, was hier gerade vor sich ging. Aimee war tatsächlich ein Teil des Komplotts – allerdings sollte sie der Köder für ihn sein, ihn ins Verderben locken, ohne dass sie es wollte.
An den Gemächern seiner Gemahlin angelangt, stieß er die Tür so unvermittelt auf, dass Celeste, die ihrer Herrin gerade das Haar ausbürstete, die silberne Bürste erschrocken fallen ließ.
Sämtliche Damen wirbelten herum und sahen die wutschnaubende Gestalt des Barons im Türgeviert stehen. Sein Gesicht war bleich und sein Blick so finster, dass man glauben konnte, er wolle seiner Gemahlin ans Leben.
»Raus hier!«, fuhr er die Kammerfrau und die anderen Mädchen an.
Sofort zogen sie die Köpfe ein und schlichen dann an ihm vorbei.
Die Baronin blieb, wo sie war. Sie erwartete keine Gnade von ihrem Gemahl, vielmehr hatte sie begonnen, mit dem Leben in dieser Burg abzuschließen.
»Sprich, Weib!«, fuhr er sie an. »Welches finstere Komplott hast du mit Woodward ausgeheckt?«
»Ich verstehe nicht, was Ihr meint«, entgegnete sie und betrachtete weiterhin ihr Spiegelbild.
Ihre Gleichgültigkeit war für den Baron wie ein Funke, der trockenes Heu entflammte. Er stürzte auf Nicole zu und packte sie am Arm.
»Du weißt es und wirst es mir auf der Stelle sagen, wenn du nicht in dieselbe Zelle willst, in der der Verräter gesessen hat!«
Daraufhin zeigte Nicole immerhin einen leichten Anflug von Entsetzen. Allerdings nicht wegen der Drohung, sondern wegen der Tatsache, dass George of Ravencroft seinen Dolch bei sich trug und wirkte, als wollte er ihn jeden Augenblick gegen sie führen.
»Mein Vater wird Euch bestrafen lassen, wenn Ihr mir etwas antut!«, fauchte sie.
Ravencroft lachte spöttisch auf. »Keine Sorge, ich werde die Hand nicht gegen dich erheben, Mylady. Vielmehr interessiert es mich, was dein Vater dazu sagen wird, dass du mich betrogen hast!«
»Fellows ist ein besserer Liebhaber, als Ihr es je sein werdet«, entschlüpfte es ihr zornig, doch das rührte den Baron nicht mehr.
»Auch er wird seine Strafe bekommen, sobald ich seiner habhaft werde. Aber zuvor wirst du mir sagen, was Woodward mit Aimee vorhat.«
Nicole lächelte ihren Gemahl eisig an. »Ihr sorgt Euch also um Eure kleine Hure?«
Ravencroft musste sich ungemein beherrschen, angesichts dieser Worte nicht doch die Waffe zu ziehen.
»Du weißt also Bescheid! Woodward hat es getan, um mich aus der Burg zu locken, nicht wahr? Er will, dass ich gegen ihn ziehe, damit er die Gelegenheit erhält, mich zu vernichten.«
Während er sprach, konnte er in Nicoles Augen die Bestätigung sehen.
»Nun denn, du kannst dich freuen, ich werde tatsächlich gegen ihn ziehen. Allerdings anders, als er es erwartet. Und sollte ich Henry Fellows noch einmal wiedersehen, werde ich ihn mein Schwert schmecken lassen!«
Bei diesen Worten zuckte die Baronin zusammen. Ravencroft empfand darüber allerdings keine Freude.
»Ich werde Aimee befreien, und wenn ich zurückkehre, werde ich dich fortschicken. Dein Vater hat gewiss Verständnis dafür und wird dich in ein Kloster schicken.«
»Das könnt Ihr nicht tun«, entgegnete sie. »Immerhin habe ich Euch eine Tochter geschenkt. Die Ehe ist rechtsgültig.«
»Das mag sein, aber als mein Weib solltest du mich nicht an meine Feinde verraten!«
Darauf wusste Nicole nichts mehr zu erwidern. Jede Erklärung ihrerseits würde für ihn keine Bedeutung haben.
»Dafür wollte ich dir ein gutes Leben an meiner Seite schenken«, fuhr er fort. »Doch du hast mir nach dem Leben getrachtet. Das werde ich dir nie verzeihen. Sobald ich Aimee zurückhabe, wirst du deine Strafe erhalten!«
Damit stieß er Nicole heftig zurück, so dass sie gegen eine Truhe an der Wand prallte. Den Fluch, den sie ihm daraufhin hasserfüllt hinterherschickte, beachtete er nicht mehr, als er aus der Tür stürzte.