23. Kapitel
Der Ritt durch seine eigenen Ländereien wurde für Woodward zu einem Ritt der Schande. Ravencroft nahm zwar nicht den Weg durch die Dörfer, doch es war für den Gefangenen schon schlimm genug, sich inmitten seiner Männer zu befinden. Zorn und Angst wechselten sich in seinem Herzen ab.
Auf halbem Wege, kurz nachdem sie die Grenze zu Ravencroft passiert hatten, machte der Reitertross halt.
Ein neuer Morgen kroch gerade am Himmel empor, und der Atem der Pferde und ihrer Reiter gefror zu kleinen Wolken, die aufstiegen, um sich mit den Nebelschwaden in den Baumkronen zu vereinen.
»Das werdet Ihr noch bereuen!«, drohte Woodward. »Ich werde jedenfalls nicht eher ruhen, bis ich Euer Geschlecht vollständig vernichtet habe!«
»An Eurer Stelle würde ich mich freuen, dass ich Euch ungeschoren wieder freilasse!«, entgegnete Ravencroft, der nun vom Pferd stieg.
»Meinetwegen hättet Ihr mich töten können. So hättet Ihr wenigstens die Gewähr gehabt, dass ich euch nicht verfolgen werde!«
»Damit könnt Ihr mir keine Angst einjagen«, entgegnete Ravencroft unerschrocken und winkte zwei Soldaten herbei. Zusammen zogen sie den Gefangenen vom Sattel. »Aber wenn ich es mir genau überlege, sollte ich Euch nicht so einfach ziehen lassen.«
Woodward zuckte zusammen. Er rechnete fest damit, dass Ravencroft ihm die Nase oder zumindest ein Ohr abschneiden würde, um eine Trophäe mit nach Hause nehmen zu können.
»Setzt ihn rücklings auf das schlechteste Pferd, das wir bei uns haben!«, rief Ravencroft seinen Leuten zu.
Die Männer johlten zustimmend, und wenig später brachten einige von ihnen einen bemerkenswert hässlichen Klepper herbei. Er war grau, hatte einen riesigen Kopf und eine hängende Unterlippe. Die Mähne war schütter, die Beine waren von verfilzen Fellbüscheln umgeben, und das Fell wirkte wie ein von Motten zerfressener Binsenteppich. Wahrscheinlich gehörte dieses Tier einem der Zivilisten, der mit ihnen geritten war.
»Der Mann, dem dieses Tier gehört, wird eines meiner Rösser erhalten!«, verkündete Ravencroft unter dem Jubel seiner Männer. Dann bedeutete er St. James und einigen anderen, den Baron auf die Mähre zu hieven.
»Wenn Ihr Glück habt, Woodward, wird Euch das Tier zur Burg zurückbringen. Aber wetten würde ich darauf nicht. Es kann genauso gut sein, dass es auch wieder zu meiner Burg läuft. In diesem Falle könnt Ihr Euch entweder von ihm herunterfallen lassen oder versuchen, es durch gutes Zureden dazu zu bewegen, einen anderen Weg einzuschlagen. Vielleicht ist dieser Klepper aber auch schon zu blind, um irgendeinen Weg zu finden. Dann solltet Ihr beten!«
Woodward wollte noch etwas sagen, doch da schlug Ravencroft dem Pferd schon auf die Kruppe. Mit einem protestierenden Wiehern setzte es sich in Bewegung und lief den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Das spöttische Gelächter der Soldaten hallte hinter Woodward her. Dieser stieß noch ein paar Flüche und Drohungen aus, aber die gingen in dem restlichen Lärm unter. Als er sich ein gutes Stück von dem Trupp entfernt hatte, kehrte Ravencroft zu seinem Pferd zurück.
Er wusste, dass die Fehde weitergehen würde, aber nun hatte Woodward am eigenen Leib erfahren, dass ein Ravencroft nicht so einfach zu töten war. Und dass er ihn empfindlich strafen würde, sollte er noch einmal auf seinem Lehen erscheinen.
»Hältst du mich jetzt für einen schlimmen Menschen?«, flüsterte Ravencroft Aimee zu, als er hinter ihr in den Sattel stieg.
Die Hebamme, der vom Lachen ebenfalls Tränen in den Augen standen, schüttelte den Kopf.
»Nein, ich halte Euch für einen sehr gnädigen Mann, denn hätte unser Schicksal in Woodwards Händen gelegen, wären wir beide gewiss schon tot.«
Damit legte sie den Kopf in den Nacken, und Ravencroft küsste sie sanft, bevor er seinen Männern den Befehl gab weiterzureiten. Wenn es zu keinen Zwischenfällen mehr kam, würden sie nach einem weiteren Tagesritt die Burg erreichen.
Nicole of Ravencroft konnte nicht sagen, was sie überkam, als sie aus dem Fenster in die Nacht hinausblickte. Es war, als dränge sich ein Schatten in ihre Seele, eine Finsternis, die schwärzer war als der Himmel.
Für einen kurzen Moment hatte sie gemeint, eine Stimme zu vernehmen. Henrys Stimme, die sehnsuchtsvoll nach ihr rief.
Natürlich konnte er es nicht sein, und das machte Nicoles Gemüt nur noch finsterer. Was war, wenn dieses ungute Gefühl, das sie übermannte, ein Omen war? Wenn es seinen Tod ankündigte?
Sie war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie das Klopfen an ihrer Tür erst bei der dritten Wiederholung bemerkte.
»Komm herein«, sagte sie und richtete den Blick wieder auf das Fenstergeviert, hinter dem die ersten Sterne in dem dunklen Blau aufblitzten.
»Mylady, man hat Euren Gemahl und seine Leute an der Grenze gesichtet«, berichtete Celeste, nachdem sie geknickst hatte. »Gewiss werden sie bald hier sein.«
Nicole stockte der Atem. Ihre Ahnung war also nicht von ungefähr gekommen.
»Wer will ihn gesehen haben?«, fragte sie, ohne sich ihrer Kammerfrau zuzuwenden.
»John, der Hütejunge. Er wollte Euch Bescheid geben, damit Ihr Euch nicht mehr zu sorgen braucht.«
Ein trauriges Lächeln trat auf Nicoles Miene. Ihr Gemahl war der Letzte, um den sie sich Sorgen gemacht hatte. Ihre Furcht hatte Henry gegolten, doch da der Baron zurückkehrte, war das Schicksal ihres Geliebten wohl entschieden.
»Hat der Junge denn auch gesehen, ob der Baron irgendwelche Gefangenen bei sich hatte?«, fragte sie, denn sie war sicher, dass Ravencroft seinen Hauptmann, wenn er ihn denn lebend zu fassen bekommen hatte, vor Gericht stellen würde.
»Nein, Mylady, das hat er nicht erwähnt.«
Nicole schloss kurz die Augen. Offenbar hatte sie diese Empfindung vorhin nicht umsonst gehabt.
»Danke, Celeste, du kannst gehen«, sagte sie schließlich.
»Soll ich Euch nicht ein wenig Gesellschaft leisten?«, fragte die Kammerfrau, denn trotz allem, was geschehen war, war sie noch immer besorgt um Nicole.
»Das ist nicht nötig, Celeste. Geh zu Bett.«
Die Kammerfrau knickste und verließ dann den Raum. Nicole sah ihr nicht hinterher, sondern richtete ihren Blick wieder aus dem Fenster. Angst schnürte ihr die Kehle zusammen und ließ ihre Hände zittern. Ich hätte es bei dem bewenden lassen sollen, was ich hatte, ging es ihr durch den Sinn, doch sie war sich darüber im Klaren, dass diese Einsicht zu spät kam.
Der Schrei einer Eule rief sie ans Fenster und brachte ihr plötzlich einen Gedanken.
Es gibt einen Ausweg, ging es ihr durch den Sinn, während der Nachtwind nach ihrem Haar griff und es durcheinanderwirbelte. Ein eisiges Lächeln zog über ihr Gesicht, als sie die Hände auf dem Fenstersims abstützte und dann stumm in die Nacht hinausschickte: Du wirst mich nicht strafen, George of Ravencroft!
Im Morgengrauen des folgenden Tages kehrte der Baron mit Aimee und seinen Männern zurück. Der Kampf gegen Woodward hatte sie zwar einiges gekostet, ihm aber auch den größten Schatz eingebracht, den er besaß.
Obwohl die Schäferin im Nachhinein glücklich war, dass Ravencroft ihre Befreiung gewagt hatte, marterten sie zahlreiche Gedanken. Was würde nun aus ihr werden? Konnte sie den Witwen der Gefallenen noch in die Augen blicken? Immerhin hatte der Baron ihretwegen das Leben seiner Männer riskiert. Und sein eigenes!
Nun würde es nicht mehr zu verheimlichen sein, dass sie Ravencrofts Geliebte war. Doch wollte sie es denn überhaupt verheimlichen? Immerhin liebte sie diesen Mann von ganzem Herzen. Auch wenn sie aus verschiedenen Welten kamen, fühlte sie genügend Mut in sich, um den Anfeindungen und Widerständen zu trotzen.
Als der Zug zum Burgtor hereinritt, trat ihnen der Haushofmeister mit ernster Miene entgegen. Ravencroft erzitterte ahnungsvoll. War etwas geschehen?
Er hob Aimee von seinem Pferd und stieg dann selbst aus dem Sattel.
»Was ist?«, fragte er, worauf der Haushofmeister den Kopf noch weiter senkte.
»Eure Gemahlin«, presste er hervor. »Sie hat sich das Leben genommen.«
Der Baron starrte den Mann erschrocken an. »Wie ist das passiert?«
»Sie hat sich im Morgengrauen vom Bergfried geworfen.«
Ein entsetzter Ausdruck trat auf Ravencrofts Gesicht. Er hätte nicht damit gerechnet, dass sich seine Gemahlin auf diese Weise ihrer Strafe entziehen würde.
»Was ist mit meiner Tochter?«, fragte er, denn plötzlich kam ihm ein erschreckender Gedanke.
»Die kleine Baroness ist wohlauf. Celeste und die Amme kümmern sich um sie.«
Erleichtert schloss der Baron die Augen. Immerhin dieser Schrecken würde ihm erspart bleiben.
»Bringt mich zu ihr«, sagte er schließlich und wandte sich nach Aimee um.
Die schüttelte den Kopf. Nein, auf diesem Gang konnte sie ihn nicht begleiten.
Ravencroft verstand das. Er folgte dem Haushofmeister, der ihn in die Burgkapelle führte, wo Nicole aufgebahrt auf einer Steinplatte lag.
Ihr Hals stand in einem seltsamen Winkel zum Rest des Körpers ab, doch ihr Gesicht wirkte friedlich.
Obwohl in Ravencrofts Herzen noch immer der Zorn auf seine Gemahlin tobte, sank er vor ihr auf die Knie und sprach ein leises Gebet. Gleichzeitig fragte er sich, ob alles anders gelaufen wäre, wenn er nicht darauf bestanden hätte, noch einmal zu heiraten und einen Erben zu bekommen. Nicole wäre von ihrem Vater ins Kloster geschickt worden, Henry hätte ihn nicht verraten …
Doch auch Aimee hätte er dann nicht kennengelernt.
Das Schicksal, das wusste er, ging seltsame Wege. Vielleicht war der Weg zu Aimee ja der einzig richtige für ihn.