Ich stehe in unserer Küche und koste den Hühnerfond. Er ist kräftig geworden und duftet. In der jüdischen Küche heißt es, dass man mit einer ordentlichen Hühnersuppe sogar Tote wieder lebendig machen kann. Das wird mir, fürchte ich, doch nicht gelingen. Und trotzdem sind sie irgendwie bei uns, die gutgläubige Cordula von den Hildegard-Schwestern und der Wissenschaftler Schilling, der nicht genug kriegen konnte. Es war Knobloch, der Sam Miller gestoppt hat. Schuss in die Schulter. Inzwischen wissen wir auch, dass er Mediziner ist, spezialisiert auf Biogenetik. Sieht so aus, als hätte er für den „Sanoartis“-Konzern spioniert. Den drittgrößten Pharmakonzern der Welt. Natürlich will man ihm dort nie einen Auftrag gegeben haben. Selbstverständlich hat man ihn dort nie für illegale Informationen bezahlt. Sam Miller sei ein ehemaliger Mitarbeiter, man habe den Medizingenetiker aus disziplinären Gründen entlassen müssen, hat ein Konzernsprecher mitgeteilt. Details unterlägen der bei Forschungsprojekten üblichen Geheimhaltung. Knobloch und seine Leute sind noch am Ermitteln. Aber jedenfalls dürfte „Sanoartis“ ausreichend Druckmittel gegen Sam Miller haben. Er leugnet, für sie spioniert zu haben, er gibt an, er habe die Ergebnisse in den USA an den Meistbietenden verkaufen wollen. Die beiden Morde hat er gestanden. Kann gut sein, dass „Sanoartis“ ihm einen besonders guten Rechtsanwalt zahlen wird - vorausgesetzt, er hält weiter dicht. Klar ist, was es mit dem Lavendelduft in der Sauna auf sich hatte: Der „liebe Mensch“ Sam Miller ist wütend geworden, als ihm Schwester Cordula Fragen gestellt hat. Aber sie war schon zu nah dran. Also hat er so getan, als wolle er sich für sein schlechtes Benehmen entschuldigen. Er hat sie in den stillgelegten Wellnessbereich gebeten, um den Hildegard-Aufguss zu testen, hat ihr gesagt, er möchte, natürlich in allen Ehren, ausprobieren, wie er in der heißen Sauna rieche. Cordula hat ihm einmal zu oft vertraut. Er schwört, dass er sie betäubt hat, dass sie nicht hat leiden müssen.
Die entbeinten Hühnerteile habe ich zur Seite gelegt. Es war Karl Simatschek, der die Hühner mitgebracht hat. Zwei stattliche steirische Exemplare, genau so, wie ich sie mir gewünscht habe. Keine blassen Zwerggrillvögel aus dem Supermarkt.
„Wir brauchen nächste Flasche Rotwein“, sagt Vesna hinter mir. „Ist gut, und wenn wir schon nicht jünger werden dadurch, wir werden zumindest lustig.“
Ich lächle. Fruchtiger junger Merlot aus dem Weinviertel. Wird auch hervorragend zu den Vulkanhühnern in Mole passen. Auf Schweine- und Lammfleisch kann ich momentan verzichten, die Bilder der Versuchstiere sind noch zu frisch. Irmi, unsere freundliche Pensionswirtin, tut mir leid. Ich gebe es zu. Aber besser, ihr Traum vom Menschenfreund Grünwald platzt jetzt als später. Dennoch: Es ist nicht schön, so desillusioniert zu werden. Oder schätze ich sie falsch ein? Nur weil sie ein so gutes Frühstück und so großartigen Topfenstrudel macht? Wie viel hat sie zumindest geahnt? Ihr Bruder, der Bauer Zulechner, tut, als hätte er von gar nichts gewusst. Die von der „Beauty Oasis“ hätten ihn gebeten, etwas im großen Schuppen unterstellen zu dürfen. Der sei ohnehin fast leer gewesen. Nur seltsam, dass er den Großteil seiner Tiere in den letzten Jahren weder tot noch lebendig verkauft hat. Grünwald hat ihm wohl deutlich mehr gezahlt als den miesen marktüblichen Kilopreis für Schlachtfleisch. Natalie Veith wertet mit zwei Kollegen von der Wiener Medizinuniversität im Detail aus, was die resveratrolartigen Substanzen bei den Tieren bewirkt haben. Angesichts der Daten, die auf dem Stick waren, meint sie aber, dass Grünwalds Forschertruppe wohl doch nicht gar so weit gekommen sei. Das mit dem Muskelwachstum habe nur teilweise funktioniert, das mit dem Aktivitätspegel besser, aber die ersten DNA-Sequenzierungen deuten offenbar darauf hin, dass es Nebenwirkungen gibt. Ich habe nicht alles verstanden, es geht um Musterverschiebungen bei Genen oder Genabschnitten. Zu einem patentierbaren Mittel für längeres Leben sei es eben noch ein weiter Weg, hat unsere neue Freundin gemeint.
Jetzt sitzt sie auf unserer Terrasse und hält ihr Gesicht in die Nachmittagssonne.
Ich gebe etwas Schweineschmalz in eine große Pfanne und röste vorsichtig zwei grob geschnittene Zwiebeln und verschiedene Chilischoten an. Echte mexikanische Mole ist ja eine Wissenschaft, ähnlich kompliziert wie Genetik, und besteht aus beinahe hundert Zutaten. Als ich in New York gelebt habe, kannte ich eine Mexikanerin, die darüber nur gelacht hat. „Als ob wir so viel Zeit hätten!“ Man nehme scharfe Chilis und brauche auch milde mit einem süßlichen, würzigen Geschmack. Nicht nötig, ewig lang nach den klassischen vier Sorten zu suchen. Knoblauch dazu, Sesamkörner dazu.
Peter Schilling musste letztlich wohl sterben, weil er sich mit uns getroffen hat. Sam Miller hat einen Teil unseres Gesprächs auf der Bank unter der Burg belauscht. Er war nicht sicher, wie viel Schwester Cordula dem Wissenschaftler erzählt hatte. Er hat ihr Zimmer durchsucht und den Spind in der „Beauty Oasis“. Da war ein Zettel mit der Telefonnummer von Schilling und Hinweisen auf ein Treffen. Er hat ihn dort liegen lassen und die Polizei hat den falschen Schluss gezogen, nämlich dass Cordula und Peter ein Verhältnis gehabt hätten. Wenn Schilling dem Spion Miller wirklich auf die Schliche gekommen ist: Warum hat er uns nichts davon erzählt? Wir werden es wohl nie erfahren. Nat jedenfalls würde ihm zutrauen, dass er Miller erpressen wollte. Aber was Schilling angeht, ist Nat nicht besonders objektiv.
Ich rühre die enthäuteten, entkernten Tomatenstücke ein und nehme die Hitze zurück. Endlich wieder einmal ein Gericht, für das ich Oskars großen Steinmörser verwenden kann. Eine Handvoll ungeröstete Erdnüsse, eine Handvoll Mandeln, Nelken, Anissamen, alles möglichst fein mahlen.
Die roten Flecken auf meinem Gesicht sind schon vor zwei Tagen verschwunden. Was passiert wäre, wenn ich keine Brille aufgehabt hätte ... ich darf gar nicht daran denken. Dass die Haut nach der Säureattacke jünger aussähe, kann ich übrigens nicht sagen. Allerdings muss ich zugeben, dass Grünwald und Co bei ihren Behandlungen etwas vorsichtiger sind, als Miller es war. Grünwald ist nach seiner Rettung noch richtig hysterisch geworden. Vor allem als ihm der Polizeiarzt eine Beruhigungsspritze verpassen wollte. Er hat Panik vor den unbekannten Langzeitwirkungen von Botox. Eigentlich bedauert ihn keiner von uns. Karl Simatschek hat erzählt, dass das Gesicht des falschen Professors gespenstisch aussehe: wie eine aufgeblasene Maske, die sprechen kann — auch wenn die Dosis in den Spritzen keinesfalls ausgereicht hätte, um ihn wirklich umzubringen. Es wird eine Zeit lang dauern, bis sich das legt und er wieder zum schönen Schönheitschirurgen wird. Zum Mann, dem die Reichen, die Prominenten und alle, die sein wollen wie sie, vertrauen. Zum Helden, der ihnen ein wenig Jugend zurückgibt. Wenn ihm überhaupt jemals wieder jemand vertraut. Grünwald streitet ab, etwas von den Menschenversuchen gewusst zu haben. Das sei wohl Schilling gewesen, wie tragisch, dass er ihm freie Hand gelassen habe. Ihm sei es bei den genetischen Forschungen nur um Fortschritt zum Besten der Menschheit gegangen. Um längeres Leben, darum, dass Menschen die Chance haben, so jung auszusehen, wie sie sich fühlen, um Gesundheit, Glück und natürlich darum, Mittel gegen Krebs und andere Krankheiten zu finden. Die gengedopten Sportler freilich sagen etwas anderes. Pech auch, dass er sie persönlich untersucht hat.
Gemörserte Nüsse und Gewürze dazugeben, weiterrühren. Oskar kommt und küsst mich hinter das Ohr. Oh, wie ich das mag. Und was ich immer noch für ein schlechtes Gewissen habe. Ich hätte auf ihn und Droch hören sollen. Andererseits wäre Sam dann wohl unbehelligt in die USA geflogen. Alles ist freilich noch immer nicht geklärt. Welche Aufgabe hatten die beiden Männer aus El Salvador in der „Beauty Oasis“ wirklich? Außer wenigen kryptischen Querverweisen auf dem Stick gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Grünwald, gemeinsam mit „El Centro“, tatsächlich in Richtung einer genetisch und psychopharmakologisch aufrüstbaren Kampftruppe geforscht hat. Allerdings ist El Salvador weit. Und die Annahme, dass es dem Boss von „El Centro“ auch um genmodifizierte Superguerilleros gehen könnte, zumindest plausibel. Offiziell heißt es: Die beiden Geschäftsleute von „El Centro“ seien legal in Österreich, der Konzern habe eine Minderheitsbeteiligung an einer der Grünwald-Firmen, man bedaure sehr, was im Umfeld der „Grünwald-Group“ geschehen sei, und überlege, sich zurückzuziehen. Zwei von Grünwalds Forschern sind vor Kurzem nach El Salvador geflogen. Gut möglich, dass sie ihren Partnern von „El Centro“ die Testergebnisse mitgebracht haben. Knobloch versucht ihre Spur aufzunehmen. Mit Amtshilfe ist in diesem Fall allerdings nicht zu rechnen. Und Dienstreisen nach El Salvador bekommt man bei der österreichischen Polizei auch nicht so ohne Weiteres. Selbst wenn es so aussieht, als wäre die Freundschaft zwischen dem Polizeichef und dem Schönheitschirurgen deutlich abgekühlt.
„Wo ist die Schokolade?“, fragt Oskar. Wir haben vor, morgen Nachmittag endlich wieder einmal für einige Tage ins Veneto zu fahren. Ausruhen, lesen, schwimmen, gut essen, vergessen. Ich deute auf die Tafeln mit der hundertprozentigen Vulkan-Couverture. „Kommt erst später hinein. Null Zucker.“
Er küsst mich noch einmal und geht zurück zu Vesna und Nat und Karl. Ich gieße die Sauce mit Hühnerfond auf, gebe noch einen Spritzer Limettensaft dazu und bröckle die Schokolade ein. Schwarz wie Lava. Induktion auf 80 Grad, 100 Watt. Das reicht. Deckel drauf.
Grünwalds illegale Wissenschaftler haben es offenbar geschafft, unterzutauchen. Ist zu hoffen, dass sie nicht an der Abwasch eines Chinalokals landen. Gencocktails ... Was mich interessieren würde: Wenn die Chinesen und der Russe eine Chance gehabt hätten, legal in Österreich zu leben, hätten sie sich dann trotzdem auf die zwielichtigen Genforschungen von Grünwald eingelassen? Vielleicht nicht. Vielleicht aber doch, Schilling war auf jeden Fall freiwillig dabei. Das Geld, der mögliche Ruhm, die verrückte Vorstellung, zu einer Art von modernem Gott zu werden. Zumindest waren das wohl Grünwalds Träume. Na gut, immerhin hat er es auf das Titelblatt des ,Magazin‘ geschafft. Den Kopf hoch erhoben, den Blick aus den allzu blauen Augen in die Ferne gerichtet, braun gebrannt, das Gesicht mit Botox und Ähnlichem nur in dem Maß verändert, wie es ihm offenbar gefallen hat. Die Nase eine Werbung für seine Firma, die weltweit gleich designte Knorpel vertreibt. Ich finde ja, er sieht schon so schaurig genug aus.
„Der gefallene Gott“, lautet die Schlagzeile. Donnerstagmittag ging die Story vorab über die Austria Presse Agentur an alle Medien: Unerlaubte Genforschung, Menschenversuche samt Doping, die Suche nach ewiger Jugend, nach längerem Leben mit allen Mitteln.
Natürlich haben wir auch Schwester Gabriela zu unserem heutigen Treffen eingeladen. Sobald ihr Karl Simatschek über seinen Studienfreund hat mitteilen lassen, dass der „liebe Mensch“ Sam Miller sei und dass Grünwald und seine Mannschaft endgültig aufgeflogen seien, hat sie den Rosenkranz in ihrer Tasche verstaut und ist zurück ins Kloster. Sie will in den nächsten Wochen überlegen, wie es mit den Hildegard-Schwestern weitergehen soll. Sie habe auf der Neurologie so eine Idee gehabt: Lavendel wirke doch gleichzeitig anregend und beruhigend. Vielleicht wäre es gut, wenn sie sich auf diese eine Blüte konzentrierten und einen neuen Anlauf zur Vermarktung starteten? Sie hat mir heute übrigens eine E-Mail geschickt: „Gott sieht doch alles. Und wenn nicht, helfen wir ihm.“
Ich rühre um, die Schokolade ist inzwischen geschmolzen. Die Sauce kommt in einen hohen Becher. Mein Stabmixer hat Kraft und püriert sie ganz fein. Die Pfanne wische ich nur mit einem Stück Küchenrolle aus, dann noch einmal etwas Schweineschmalz hinein. Ich brate die Hühnerteile rundum bei großer Hitze an, gieße die Mole darüber. Jetzt soll das Ganze bei 100 Grad und wenig Watt eine halbe Stunde köcheln. Was für ein Duft.
Sonntagnachmittag über den Dächern von Wien. Die letzten Sonnenstrahlen. Zeit für ein Glas Rotwein, einfach weil es schmeckt. Menschen mit freundlichem Gesicht, die sich mir zuwenden. Kann schon sein, dass es letztlich immer der Augenblick ist, der zählt. Und dass wir ohnehin ewig leben, eine unmessbare Anzahl von Augenblicken lang.