[ 12. ]

Das Steirische Vulkanland ist schön. Es ist Sommer. Zwei Touristinnen aus Wien sind eben erst angekommen. Gute Freundinnen, aber sie nehmen doch lieber zwei Einzelzimmer. Es stimmt schon, selbst in dieser Gegend gibt es zentralere Plätze. Eine Viertelstunde braucht man von hier überallhin. Zur Burg, zum Schokoparadies, zur ,Oasis‘ , nach Feldbach. Früher hat man gemeint, dass sich an so einem Ort die Füchse Gute Nacht sagen. Heute gibt es Menschen, die die Abgeschiedenheit zu würdigen wissen. Drüben, gerade so weit entfernt, dass man die Schweine nicht riecht, ist der Bauernhof. Schon lange in Familienbesitz. Vor einer Generation hat es so ausgesehen, als könne man von der Landwirtschaft nicht mehr leben. Man hat nach Zusatzeinnahmen gesucht. Da ist das Haus mit den „Fremdenzimmern“, wie es hier noch immer heißt, entstanden. Aber: Als Gäste sollen sie sich fühlen, die Fremden. Eigentlich sind es inzwischen ja schon zwei Häuser. Vor vier Jahren hat die Tante einen neuen Trakt drangebaut. Richtig schick, mit einigen kleinen Appartements drin. „Weinlodge“ steht drauf. Und es ist ihr sogar gelungen, vier davon auf Dauer zu vermieten. Frühstück macht sie für alle Gäste, egal wie lange sie bleiben. Eine Nacht oder einen Monat oder mehr als ein Jahr. Das Frühstück allein ist Grund genug, herzukommen. Aber auch am Nachmittag fühlt man sich hier wohl. Man sitzt unter dem alten Kastanienbaum am großen, rund um den Stamm gezimmerten Tisch, schaut über die Felder auf der einen Seite, über die Hügel auf der anderen Seite, in den Wald hinter dem Bauernhof. Weiter unten auf einer großen Wiese gibt es sogar ein Schwimmbad samt Abdeckung. Wasser von Mai bis September warm.

Ich seufze und habe im Kopf den Werbeprospekt fast fertig. Schon wahr, dass der Wein vom Bruder der Tante nicht annähernd so gut ist wie der von den Winzern mit dem Weingartenhäuschen, aber was soll's. Er ist trinkbar. Und der Topfenstrudel, den uns die Tante als Willkommensgruß offeriert hat, ist ausgezeichnet. Ich werde schwimmen, in der Sonne liegen. Ich werde Oskar per MMS ein Foto schicken, damit er endgültig beruhigt ist. Vielleicht kann er morgen oder übermorgen nachkommen.

„Du weißt, warum wir sind da?“, zischt mir Vesna ins Ohr.

Ich sehe sie irritiert an. Zwei Mordfälle. Dubiose Lateinamerikaner mit einem offenbar noch dubioseren Boss. Ein verschwundenes Labor samt verschwundenem geheimem Operationssaal. Forschungen zur genetischen Lebensverlängerung. Aber der angebliche Forschungschef ist tot. Warum hätten Grünwald oder seine Geschäftspartner ihn eliminieren lassen sollen? Vielleicht weil die Sache mit der Genforschung gar nicht so wichtig war? Oder war es Schilling, der dabei gar nicht so wichtig gewesen ist? Alles verrückt. War wohl doch die Nonne, die Cordula und ihren Lover ins Jenseits befördert und sich dann ins Gebet geflüchtet hat. Näher, mein Gott auch zu mir ... Vesna rüttelt mich. „Aufwachen, Mira. Hier in Einöde gibt es Geheimnis!“

„Einöde? Hier ist es zauberhaft.“

„Sagt ausgerechnet Stadtmensch. Gut, eigentlich natürlich. Stadtmensch weiß nicht, wann ihm Einöde begegnet. Ich kenne sie. Gibt es auch in Bosnien.“

„Wir sollten es langsam angehen. Damit sie keinen Verdacht schöpft, die Tante. - Weißt du eigentlich schon, warum sie bloß ,Tante' genannt wird?“

„Woher ich soll wissen. Der Bauernhof gehört Zulechner. Seine Tante sie kann nicht sein, dann wäre er fast Kind. Ich glaube, er ist Bruder. Als ich gefragt habe, es hat geheißen: ,Schöne Zimmer gibt es bei der Tante.'“

Älter als vierzig ist die „Tante“ tatsächlich nicht. Ein wenig füllig, aber hübsch. Keine Ahnung, ob sie Familie hat. Jedenfalls macht sie hervorragenden Strudel. Ich habe in den letzten Tagen genug Aufregung gehabt. Kann schon sein, dass es hier ein wenig einschichtig ist, aber dafür ausreichend weit weg von Plätzen, an denen jemand ermordet wurde. „Vor morgen unternehmen wir nichts“, sage ich zu Vesna. „Wir machen Abendspaziergang“, erwidert sie.

„Bewegung habe ich heute schon mehr als genug gehabt“, widerspreche ich.

Die Tante kommt aus dem Haus und bringt uns einen Teller mit Schinken. „Selbst gemacht. Aus den Schweindln von meinem Bruder“, sagt sie. „Als Vorgeschmack auf das Frühstück.“

Sieht köstlich aus.

„Ihr Bruder hat nur Schweine?“, will Vesna wissen.

„Nein, auch Ziegen und Schafe und ein paar Kühe. Es ist noch ein richtiger Bauernhof. Den Wein haben Sie ja schon gekostet.“ „Und warum Sie heißen ,Tante'?“, fragt Vesna.

Meine Güte, so etwas fragt man doch nicht!

Die Tante lächelt. „Ich war Kindergartentante, wie man das bei uns nennt. Ich hab schon mit nicht einmal dreißig für alle nur ,Tante Irmi‘ geheißen. Als ich dann meine Weinlodge dazugebaut habe, hab ich meinen Job im Kindergarten aufgegeben. Aber das mit der ,Tante' ist geblieben.“

„Und eigene Kinder?“ Meine Güte. Gleich fragt Vesna noch nach einem Mann. Oder einem Geliebten. Und ob sie vielleicht eines der Techtelmechtel des Dr. Schilling war.

„Leider nein. Ich lebe allein. Wenngleich sich das ...“ Sie lächelt und wird ein wenig rot.

Oh wie hübsch, eine ländliche Liebesaffäre mit der Chance auf ein Happy End. Oder jedenfalls darauf, eine glückliche offizielle Beziehung zu werden.

Ich koste vom geselchten Schinken. Saftig und würzig.

„Kaum man macht dir Idylle, du bist schon hineingefallen“, grollt Vesna, als Tante Irmi wieder weg ist.

„Ich kann eben das Leben genießen, egal wie lang es dauern wird.“ „Ich mache Handyfoto von dir mit Nussbaum und Schinken und Wein und wir schicken es Oskar.“

Ich nicke gutmütig und gebe ihr mein Telefon. Ein paar liebe Worte dazu, ein Lagebericht, kein Wort davon gelogen oder auch nur beschönigend. Gesendet.

„So, und jetzt wir müssen überlegen“, sagt Vesna.

„Sollten wir nicht Karl bitten herzukommen? Er kennt sich aus. Und er ist wirklich okay.“

„Jetzt sei nicht verrückt. Ich sage dir: In verschlossenen Container sind Mäuse geliefert worden - vielleicht auch geheimer Operationstisch.Und Sachen von Labor sind auch in Bauernhof gelagert. Und: Ich kann mir gut denken, dass hier auch Forschungsberichte sind. Einschicht ist gut. Hier sucht keiner.“

Ich seufze. „Wir sollten die Polizei verständigen, wenn wir das glauben.“

„Die haben ihre Nonne.“

Ein Patent auf längeres Leben. Zumindest Forschungen in der Hoffnung, beim Rennen um das ultimative Mittel die Nase vorn zu haben. Das glaubt uns keiner. Da hat Vesna schon recht. Neben dem Neubauteil hält ein weißer BMW Zwei uns hinlänglich bekannte Lateinamerikaner steigen aus. Jetzt plötzlich weiß ich, warum es bei mir geklingelt hat, als ich „Weinlodge“ gelesen habe. Droch hat recherchiert. Die beiden aus El Salvador. Seit einigen Wochen wohnen sie hier. Hat er mir erzählt. Damals beim Abendessen in Wien. Wie lang ist das her? Wir beugen uns über den Schinken. Die beiden sehen nicht in unsere Richtung. Sie verschwinden im Neubau. Und wir schauen, dass wir auf unsere Zimmer im rustikalen Teil der Pension kommen.

Das Idiotische ist: Jetzt würde ich ja wirklich gerne herausfinden, was da alles bei der Tante oder auf dem Bauernhof versteckt ist. Nur: Jetzt darf ich mich nicht aus dem Zimmer rühren. Der eine der Typen aus El Salvador hat mich zumindest im Büro des Geschäftsführers von „Beauty&Young“ gesehen. Wäre nicht eben gut, wenn er bemerkte, dass ich jetzt hier auftauche. „Nicht gut“, Mira? Es könnte lebensgefährlich sein. Zumindest wenn auch nur ein Teil von dem stimmt, was wir uns zusammenreimen. Aber Vesna allein losziehen zu lassen ... Wobei ich immer noch nicht ganz begreife, warum der Boss von „El Centro“ sich ausgerechnet an Grünwalds Lebensverlängerungsträumen beteiligt. Laut Natalie Veith liefern sich weltweit Pharmariesen und Forschungseinrichtungen ein Wettrennen um Substanzen für ein längeres Leben. Alte Verbindungen? In der Biografie des Schönheitschirurgen steht, dass er in Südamerika und Asien Erfahrung gesammelt hat. Oder wäscht da einfach eine Hand die andere? Grünwald operiert Guerillamänner um, „El Centro“ finanziert dafür sein Labor. Wäre schon fein, wenn wir die Mäuse oder Teile des Labors fänden. Aber: Was wir wirklich brauchen, sind die Forschungsunterlagen. Oder zumindest so viel davon, dass die Genetikerin erkennen kann, woran Grünwalds Truppe momentan arbeitet. Vielleicht geht es ja auch bloß um die ultimative Verjüngungscreme und der „El-Centro“-Boss ist so eitel, sie selber als Allererster haben zu wollen. So was soll ja in den seltsamsten Politikerkreisen vorkommen, sieht man sich beispielsweise Berlusconi an ...

Schilling war sicher eine Zentralfigur im Labor. Von wem außer der alten Nonne könnte er ermordet worden sein? Er hat noch am Nachmittag mit uns geredet. Aber da war nichts wirklich Brisantes dabei. Vesna und ich haben es hunderte Male durchgekaut. Was ist, wenn jemand annehmen musste, dass er auspacken würde? Wie viel Verfängliches hätte er erzählen können? Oder war es doch eine simple Beziehungstat? Wir sollten trotz allem auch an die Genetikerin denken. Sie war mit Peter Schilling zusammen. Sie hat kein überprüfbares Alibi. Aber warum sollte sie ...? Rache? Unsinn. Oder ist sie doch nicht so gut und hat ihrerseits ihm Forschungsergebnisse geklaut, um sie zu verkaufen? Unwahrscheinlich. Momentan bräuchten wir jedenfalls keine Genetikexperten, sondern jemanden, der sich auf einem Bauernhof auskennt. Vielleicht hätte der eine Idee, wo man eine DVD, einen USB-Stick oder eine Mappe verstecken kann. Na super. Wo kann man einen USB-Stick verstecken? Einfach überall.

Es klopft. Ich fahre zusammen. Das gute Gefühl, hier in der Abgeschiedenheit sicher zu sein, hat nur kurz gedauert. „Bin ich“, flüstert Vesna. Kann sie das nicht gleich sagen? Ich öffne, lasse sie herein, sperre hinter ihr zu.

„Die beiden aus El Salvador, sie sind wieder weg. Ich habe kurz mit Tante geredet, habe ich gesagt: ,So attraktive Männer!' Und sie hat gesagt, dass sie da Zimmer haben, vielleicht noch ein paar Wochen. Machen Geschäfte mit ,Beauty Oasis'. Scheinen ganz offen zu reden darüber.“

„Vielleicht ist ja auch alles legal“, antworte ich.

„Vielleicht. Aber warum hat mir Lkw-Fahrer aus Kroatien dann gesagt, dass sie in aller Früh Sachen von Schönheitsfarm zu Bauer gebracht haben?“

„Und wenn die beiden aus El Salvador nur so getan haben, als wären sie weggefahren? Wenn sie beobachten, was wir tun?“

„Ist unwahrscheinlich.“

Kommt mir ja auch so vor. Aber vieles, was heute zumindest möglich erscheint, ist mir gestern noch mehr als unwahrscheinlich vorgekommen. Ich erinnere mich an etwas, das ich die letzten Tage ganz gut verdrängt habe. „Was ist eigentlich mit deiner Waffe? Warum hast du nie gesagt, dass du eine Pistole hast?“

„Weil ich weiß, was du von solchen Dingern haltest. Sie gehört außerdem nicht mir, sondern Valentin.“

„Du hast also keinen Waffenschein?“

„Bist du von Behörde oder so?“

„Vesna: Eine Waffe zu haben und damit nicht umgehen zu können, ist doppelt gefährlich.“

„Kann ich damit umgehen. Du erinnerst dich an diese Mechaniker-Bodyguards von Autohändler Tobler? Ich habe mit ihnen Training gemacht.“

Na super. Woran ich mich vor allem noch erinnere, ist, dass mir einer von ihnen beinahe die Schulter ausgerenkt hätte. „Und wo ist die Waffe jetzt?“

„Habe sie immer mit. Ist idiotisch, man lasst sie liegen. - Ich mache Spaziergang. Ich liebe Bauernhof. Wenn du willst, du kannst mich begleiten.“

Harmlos, alles muss ganz harmlos aussehen. Trotzdem versuchen wir, der freundlichen Tante nicht in die Arme zu laufen. Zwei Touristinnen aus Wien gehen spazieren. Vesna pflückt sogar ein paar Blumen. Wie nett. Die Sonne verzieht sich hinter den Hügel. Ich sage es zu Vesna. „Das klingt, als wenn du willst sagen, sie hat Angst. Dabei sie geht nur unter“, spottet sie. Der Hof ist weitläufiger als gedacht. Warum sollten wir den Bruder der Tante nicht besuchen? Warum nicht nachsehen, ob man hier Wein kaufen kann oder wie die Schweine aussehen, aus denen der saftige Schinken gemacht wird?

Bei dem gemauerten Schuppen neben dem Bauernhaus steht ein roter Traktor. Jeder der Reifen ist so groß wie ich. Wenn so einer über dich drüberfährt ...

„Wir gehen lieber hinten herum“, sagt Vesna und zieht mich um die Ecke des Schuppens.

Hier riecht es streng nach Schweinestall. So weit bin ich vom Landleben nicht entfernt, um das nicht zu erkennen. Da drüben ein Silo, also klar, dass da auch der Stall ist. Danach noch ein Schuppen. Wir gehen einfach über die Wiese, Vesna pflückt noch ein paar Blumen. Mich macht das nervös. Keiner hält uns auf. Keiner ruft. Keiner schießt.

Den Schweinen geht es gut, sie dürfen, wenn sie wollen, auch ins Freie. „Freilaufstall“ nennt man so etwas, erinnere ich mich an eine Reportage über naturnahe Lebensmittelproduktion. Die meisten toben draußen herum, es wirkt, als spielten sie Abfangen. Sie scheinen gar nicht genug davon zu bekommen, gäbe es eine Schweinesportliga, sie wären ganz vorne mit dabei. Kräftige Tiere mit den kräftigsten Hinterbeinen, die ich je gesehen habe, sie wirken beinahe wie prall gefüllte Würste. Aus dem Schuppen blökt es. Wir kommen näher. Meine Güte, wie niedlich! Sieben, acht kleine Schafe. Daneben zwei große. Und ein Widder. An der Vorderfront ist nur ein Lattengerüst. So bekommen sie genug Luft und Licht.

„Schade, dass wir kein Brot mithaben“, sage ich zu Vesna und kraule ein Lamm an der Nase.

Daneben noch ein Gehege mit Schafen. Zwei kommen neugierig näher. Sie sind frisch geschoren. Eine seltsame Sorte. Sehr muskulös. Wer immer die Schafe geschoren hat, er scheint nicht sehr geschickt gewesen zu sein. Beide haben Schnittwunden, die offenbar sogar genäht worden sind. Trotzdem scheinen sie fröhlich zu sein, sie springen, sie blöken, sie rennen herum.

Vesna starrt die Schafe an. Ich fürchte, wir haben den gleichen Gedanken. „Die haben ziemliche Muskeln“, sage ich langsam, „und sie sind ausgesprochen aktiv. Vielleicht war es gar nicht der Schäfer, der sie bei der Schur verletzt hat.“ Vesna sieht sich um, macht dann rasch einige Fotos. Weiter, schnell. Das enttäuschte Blöken der Schafe klingt hinter uns drein. Ist zu hoffen, dass sie auch sonst bei jeder kleinen Abwechslung losschreien, sonst haben wir den Bauern und womöglich seine Forscherfreunde am Hals. Wir lehnen uns an ein altes Gebäude. Dahinter beginnt der Wald. Sieht so aus, als wären hier früher Wagen, vielleicht auch Geräte untergebracht gewesen. Groß genug wäre es dafür. Die hohen hölzernen Türflügel hängen etwas schief in den Angeln. Sie werden von einem dicken Kettenschloss zusammengehalten. Es wirkt neu. Man kann ins Innere spähen, aber der Spalt ist zu schmal, man vermag selbst mit der Taschenlampe nichts zu erkennen.

„Wir müssen schnell machen“, flüstert Vesna. „Ewig wir bleiben nicht unentdeckt.“

„Wir können gar nichts tun“, widerspreche ich ebenso leise. „Keine Chance bei diesem Schloss. Außerdem: Wer sagt uns, dass da wirklich etwas drin ist?“

„Du siehst die Spuren?“ Vesna deutet auf Vertiefungen im Gras. „Hast du den großen roten Traktor bemerkt?“, frage ich zurück. „Ich glaube, das war Lkw. Und außerdem: Wer hängt großes neues Schloss an Bruchbude? Zumindest neugierige Kids sollen heraußen gehalten werden. Sonst da kommen nur Hase und Fuchs gute Nacht sagen, aber bei Kids weiß man nie.“

Sie geht um die große Scheune herum. An der Rückseite steht eine alte Badewanne, in der sich etwas Regenwasser gesammelt hat. „Kann man auch als Tränke nehmen“, sagt Vesna. Ich sehe mich irritiert um. Nicht dass da womöglich auch noch Stiere unterwegs sind. Als Steak finde ich sie ja großartig, aber als frei laufendes Fleisch ... Wie war das mit dem „essbaren Tiergarten“? Mhm, dort gibt es vor allem Schokolade. Wie friedlich. Dort sollten wir sein. Einige Holzplanken unter der Wanne. Vesna zieht die Wanne zur Seite. Wozu soll das gut sein?

„Früher war vor Schuppen ein Loch, das hat bis drinnen gereicht. Ich weiß nicht, was man da hat gelagert, ich kenne es von Haus von Großmutter. Schuppen war lange nicht so groß, aber sie war sehr stolz darauf.“

Vesna hebt eine der Planken an. Tatsächlich. Da ist ein Loch darunter. Vesna leuchtet mit der Taschenlampe hinein. Vielleicht zwei Meter tief. Ich kann gar nicht so schnell schauen und sie hat eine zweite Planke entfernt. Sie setzt sich an den Rand der Öffnung, lässt sich nach unten gleiten. Ich sehe, wie sie unten ankommt, steht, sich umsieht. Super, und wie kommt sie aus dem Loch wieder raus? „Gib mir Planke“, flüstert sie.

Dabei ist Flüstern wirklich total unnötig. Dass uns jemand hört, ist hier am Rand der Zivilisation äußerst unwahrscheinlich. Selbst die Hauptgebäude des Bauernhofs sind weit weg. Außer: Man sucht nach uns. Oder verfolgt uns. Stopp. Jetzt nicht solche Gedanken. Konzentrieren. Ich schiebe die Planke nach unten, starre ins Loch. Vesna legt sie schräg an die nackte Wand, die das Kellerloch zum Schuppen hin begrenzt, balanciert nach oben, zieht sich hoch und ist im Schuppen. Sehen kann ich sie jetzt nicht mehr. Ich will ihr nach, zu ihr. Ich starre abwechselnd in das Loch und zurück zum Bauernhof. Ich sehe, wie etwas im Schuppen aufblitzt. Beinahe hätte ich mich auf den Boden geworfen. Aber eine Pistole macht ein Geräusch. Selbst eine mit Schalldämpfer. Ich glaube nicht, dass auf Vesnas Pistole ein Schalldämpfer passt. Dazu ist sie zu klein. Außerdem liegt ihre Tasche im Gras. Und daneben der Blumenstrauß. Sollte ich nachsehen, ob die Pistole in der Tasche ist? Für alle Fälle? Wenn es keine andere Chance mehr gibt, uns zu verteidigen? Quatsch. Du kannst nicht schießen. Du bist überhaupt für solche Aktionen denkbar ungeeignet. Oskar hat recht. Ab jetzt werde ich tun, was Oskar sagt. Ich starre nach unten. Ich traue mich nicht zu rufen. Ich gehe auf alle viere, versuche, wenigstens Vesnas Beine zu sehen, irgendetwas, das mich beruhigt. Plötzlich ein Stoß. Beinahe wäre ich in das Loch gefallen. Ich werfe mich zur Seite. Die Tasche. Ich muss Vesnas Tasche kriegen. Vesna ... Vielleicht glauben sie, dass ich hier allein bin. Besser. Ich weiß von nichts, war einfach nur neugierig, habe Blumen gepflückt. Ich werde möglichst laut reden, damit Vesna gewarnt wird. „Was ist?“, sage ich. „Ich habe nur ...“

„Muuhuu“, macht es und ein Kalb starrt mich an. Wie gefährlich ist so ein Vieh? Jedenfalls nicht so gefährlich wie lateinamerikanische Sympathisanten einer rechtsgerichteten Guerillabewegung. Ich stehe langsam auf. Das Kalb glotzt mich an. Im Innern des Schuppens rumpelt es. Vesna. Sie ist wieder in der Vertiefung. „Was ist los?“, fragt sie leise.

„Nur ein Kalb“, antworte ich.

„Du musst mich hochziehen ein Stück.“ Vesna hat irgendetwas in der Hand. Sie legt die Planke in meine Richtung, verkeilt sie an der entgegengesetzten Wand. Die Planke reicht nur bis einen Meter unter die Kante. Vesna versucht, nach oben zu balancieren, strauchelt, fängt sich wieder. Sie hebt einen Gegenstand über den Kopf. Ich lege mich auf den Bauch, greife danach. Ein Laptop. Ich lege ihn neben mich. Gehe auf die Knie, packe Vesnas Hand. Sie zieht sich herauf, ist neben mir. Das Kalb steht noch immer da und glotzt.

„Hast du noch nie gesehen, was?“, sage ich zu ihm. Mutige Mira. Die, die mit der Kuh spricht. Okay, mit der kleinen Kuh.

„Ist Container da drinnen, war früher für Käse aus Molkerei, jetzt er ist voll mit Plastikbehältern mit Mäusen. Beim Eingang weiße Schutzkleider in Schutzhüllen, so wie für Spurensicherer. Offenbar ist wichtig, die Mäuse bleiben sauber. Und Kisten sind auch drinnen in Schuppen“, flüstert Vesna. „Ich habe fotografiert. Wir nehmen lieber Weg durch den Wald. Beginnt gleich hier und gibt Deckung.“

Dass hinter dem Schuppen der Wald beginnt, ist richtig. Dass da ein Weg geht, ist falsch. Wir kämpfen uns durch Büsche, über Baumwurzeln, durchs hüfthohe Gras. Inzwischen ist es dunkel geworden. Ich habe den Laptop in meine Tasche gesteckt, ich weiß schon, warum ich große Handtaschen so mag. Allerdings habe ich ihn jetzt auch zu schleppen. Den Blumenstrauß haben wir dem Kalb geschenkt. Es hat noch einmal „Muuuhuu“ gemacht und dann begonnen, daran zu kauen. Irgendetwas sticht durch meine Jeans. Brombeerranken. Ich kann ihnen in der Dunkelheit nicht rechtzeitig ausweichen. „Ein Weg!“, höhne ich. Vesna ist ein kleines Stück vor mir, aber auch sie kommt nicht eben schnell voran. „Wir werden uns verirren“, ächze ich. Andererseits: Ich habe auch keine Lust, wieder zurück zum Hof zu gehen, zu den muskulösen und ach so aktiven Schweinen und Schafen. Wer weiß, wie viele Muskeln der Bauer hat?

Vesna wartet, bis ich ihr nachgekommen bin. Oder will sie bloß verschnaufen? „Wir müssen nur Hang hinauf und dann rechts bleiben. Wald ist zu klein zum Verirren“, sagt sie. Kein Wald ist so klein, als dass ich mich nicht darin verirren könnte. Hoch über unseren Köpfen fliegt etwas auf. Gewaltiges Vieh. Wir hören Flügelrauschen. Sonst nichts.

„Eine Eule“, vermutet Vesna. Frau Försterin persönlich. Welche Tiere sind eigentlich noch in diesem Wald unterwegs? Wildschweine. Sicher. Wenn sie Junge haben, greifen sie an.

„Wann kriegen Wildschweine Junge?“, frage ich Vesna.

„Nicht gerade jetzt“, antwortet sie.

„Aber wenn sie schon welche haben: Sie müssen sie verteidigen“, versuche ich ihr zu erklären. Mira und Vesna im Dschungel des Vulkanlands. Meine Freundin zieht mich weiter. Eine kleine Lichtung. Jetzt kommen wir besser vorwärts. Bald könnten wir es geschafft haben. Ich gehe tapfer hinter Vesna durchs hohe Gras. Verwaschenes Mondlicht. Da fliegt wieder etwas auf. Dichter Schwarm. Insekten. Gelsen. Nein, nicht auch das noch. Ich schlage um mich, die Bestien haben sicher schon lange kein Opfer mehr gehabt. Sie stechen mich durch die Jeans, in die Wange, hinter das rechte Ohr.

„Geh schneller, dann du hast Viecher gleich vorbei“, keucht Vesna. Auch sie schlägt um sich. Wieder hinein ins Dickicht. Ein Teil der Blutsauger dürfte satt sein. Die Gelsen werden weniger. Aber warum hört der Wald nicht auf? Wir müssten längst bei der Wiese am Swimmingpool der Tante sein.

Inzwischen versuche ich gar nicht mehr, irgendwelche kleinere Büsche zu umgehen, ich trample einfach drüber. Weiter. Vesna ist schon wieder ein schönes Stück vor mir. Sie bleibt stehen und deutet nach vorne. Haben wir es endlich geschafft? Oder lauern dort die Wildschweine? Hat es nicht auch geheißen, dass bisweilen von Ungarn her Wölfe in die Steiermark überwechseln? Dann müssten sie allerdings auch durch ein Stück Burgenland. Oder hat sich das, was ich da mitbekommen habe, auf Slowenien und Kärnten bezogen? Nein, dort gibt es Bären. Und Politiker, die einem einen Bären aufbinden. Ich stolpere über Gestrüpp, strauchle, es gelingt mir gerade noch, nicht zu fallen. Keine Lust, in kratzige Äste und Dornen zu greifen. Meine Beine werden schlimm genug aussehen. Kann es sein, dass es heller wird? Wieder eine Lichtung? Ich hetze die paar Meter zu Vesna. Waldrand. Dahinter Wiese. Wir sind zu weit nach Westen gegangen. Das Quartier bei der Tante liegt gute fünfhundert Meter entfernt schräg unter uns. Aber das ist wirklich kein Problem. Wir haben den Laptop. Keiner hat uns verfolgt. Wir brauchen nur noch durch die vom Halbmond beschienene Wiese und können uns dann von oben her durch einige Rebzeilen unseren Zimmern nähern. Der Vorteil dieses Umwegs: Wir sehen, welche Autos auf dem kleinen Parkplatz stehen. Und kaum jemand wird annehmen, dass wir durch den Weingarten kommen.

„Ich hoffe, Laptop hat noch Akku genug. Kabel ich habe keines gefunden“, sagt Vesna, als wir vor der letzten Etappe stehen bleiben. „Falls nicht, Fran wird schon passendes Ladegerät haben.“

Ich nicke. Fran, Vesnas Sohn, kann viel mehr als ein passendes Kabel finden. Er ist ein Genie in Computerdingen, lernt gerade für den Master in „Computational Logic“.

Wir sehen die Scheinwerfer eines Autos über die Hügelkuppe leuchten. Da fährt jemand auf den Bauernhof oder auf das Haus der Tante zu. Es ist ja auch noch nicht besonders spät, gerade einmal halb zehn. Ist wohl ein Gast. Trotzdem besser, vorsichtig zu sein. Wir bleiben bei den dicht belaubten hohen Rebstöcken stehen, sie schützen uns beinahe so gut wie eine Wand. Das Auto hält tatsächlich auf dem Parkplatz der Tante. Wir schleichen etwas näher. Schwarzes großes Auto. Allrad-Mercedes. Ein Mann steigt aus. Im Eingang zum Wohnhaus der Tante wird es hell. Der Mann geht Richtung Tür, heraus kommt die Tante, sie eilt beschwingt die paar Meter auf ihn zu, küsst ihn auf den Mund. Oh, sieh an. Er schiebt sie ein wenig von sich. Sein Blick schweift vom Gästehaus zum Parkplatz und die Wiese hinunter zum Pool. Dass oberhalb des Hauses jemand sein könnte, auf die Idee kommt er nicht. Die Tante zieht ihn in unsere Richtung. Wir drücken uns noch enger an die Reben, ducken uns. Was, wenn die beiden eine romantische Weingartenwanderung Vorhaben? Aber dann sehe ich, dass hinter dem Haus ein Tisch mit zwei Sesseln steht. Die beiden setzen sich. Die Tante zündet ein Windlicht an. Jetzt können wir auch eine Flasche Wein auf dem Tisch ausmachen. Zwei hohe Gläser. Und wir können erkennen, wer der Besucher ist. Grünwald. Wir nicken einander mit offenem Mund zu. Weiter nach unten können wir nicht mehr, spätestens wenn wir aus der Rebzeile kommen, würden sie uns sehen. Was also bleibt uns übrig, als zu lauschen?

„Ich bin froh, dass du es noch geschafft hast, zu kommen“, sagt die Tante.

„Du weißt, wenn es irgendwie geht ... Ich will ja zu dir“, erwidert Grünwald.

Der Schönheitschirurg und das Mädchen vom Land. Das schon reife Mädchen vom Land. Mit Bauernhof-Bruder und Fremdenzimmern. Die perfekte Zuflucht mit Familienanschluss.

„Es ist eben gerade jetzt wegen der Männer ...“, redet unsere Fremdenpensionstante weiter.

Grünwald nimmt ihre Hand und sagt beruhigend: „Es wird alles gut gehen. Sie sollen sie nur nicht finden, sonst bekommen meine Leute Probleme. Du weißt ja, dass die beiden Chinesen geflohen sind. Asyl bekommen sie bei uns nicht, und wenn man sie zurückschickt, sind sie tot. Und der Russe ... ich weiß nicht, aber gefährlich wäre es auch für ihn.“

„Natürlich“, nickt die Tante eifrig. „Ich will ihnen ja auch helfen. Die beiden anderen hab ich nach Graz gebracht. Ich habe gewartet, bis sie abgeflogen sind. In Madrid haben sie fünf Stunden Zeit, bis ihr Flug nach San Salvador geht. Ich finde es wirklich schlimm, dass die nicht einfach bei uns arbeiten können. Wem tun sie denn etwas?“

Grünwald nickt und schenkt ein. Sie trinken. Seltsam, die beiden Salvadorianer haben ein eigenes Auto gehabt. Und sie waren gegen Abend noch da.

„Wenn wir unsere Forschungen abgeschlossen und veröffentlicht haben, dann ist es viel leichter für mich, ihnen Papiere zu besorgen“, murmelt Grünwald und streichelt den Oberarm der Frau.

„Und dann ... und wann können es alle wissen? Das von uns?“

Grünwald lacht zärtlich. „Spätestens dann. Wahrscheinlich schon früher. Du musst noch ein wenig Geduld haben, Irmi. Die Damen, die zu mir kommen ... sie brauchen einfach das romantische Gefühl, dass ich allein bin und ganz für sie da bin. Nicht weil sie etwas von mir wollten, sondern weil sie dann den Eindruck haben, ich kann mich voll und ganz auf sie konzentrieren.“

„Fast wie ein Priester“, flüstert die Tante. Ist schon nicht zu fassen, was Frauen bereit sind zu glauben. Vor allem wenn sie in ein gewisses Alter kommen. In dem wir es ja eigentlich schon besser wissen müssten. Ich sehe Vesna an, sie verdreht die Augen. Wir verstehen einander. Tante Irmi redet weiter. „Aber weißt du, manchmal denk ich mir schon: Da sind so viele schöne und reiche und auch bekannte Frauen dabei. Vielleicht findest du eine Interessantere ..."

Grünwald lacht leise, streichelt ihre Wange und küsst sie dann. „Du bist meine Frau, mein Jackpot. Du bist schön, so wie du bist. Nie möchte ich, dass du da irgendwie nachhilfst. Du hast das nicht nötig. Am allerliebsten bist du mir ohne jede Schminke. Nackt. Ehrlich und rein. Glaubst du, dass ich das von irgendeiner, die ich durch meinen Beruf kennenlerne, sagen kann?“

Auf mich wirkt das beinahe, als würde er es wirklich so meinen. Die weiche, die verborgene Seite des Schönheitschirurgen. Ich sehe wieder zu Vesna. Aber die kann offenbar gar nicht mehr aufhören mit dem Augenverdrehen.

„Du bist so lieb“, flüstert die Tante. Das wäre mir jetzt zu Grünwald dann doch nicht eingefallen.

Nach einer halben Stunde weiterem Geturtel ist klar: Die Forscher sind bei der Tante untergebracht. Sie hält sie für Verfolgte. Sind sie vielleicht zum Teil auch. Zwei von ihnen, wohl mit Pass, sind nach Mittelamerika verschickt worden. Schade, dass Grünwald und seine Irmi kein Wort über die Morde verloren haben. Hätte vielleicht nicht so gut zur gefühlstriefenden Stimmung gepasst. Endlich sind sie ins Haus gegangen. Die Tante beschwingt, Grünwald nach einem vorsichtigen Blick rundum. Mir ist das rechte Bein eingeschlafen. Außerdem juckt es mich an den unmöglichsten Stellen. Verdammte Gelsen. Ich humple die Rebzeile hinunter, Vesna schaut, ob die Luft rein ist, winkt dann. Wir gehen eilig ums Haus herum, verschwinden im Eingang zum Gästetrakt. Hier ist auch in der Nacht nicht zugesperrt. Ein sicherer Ort. Weit weg von allem Bösen. Oder doch nur ein Ort, der so wirkt, als könnte hier nichts Böses sein? Ich denke an die Schafe und Schweine. Der Schinken, den ich am Nachmittag gegessen habe: War der von einem genetisch aufbereiteten Schwein? Wer weiß, was das für Auswirkungen hat? Na ja, wenn ich dann herumrennen könnte wie die und mir ein paar Muskeln wachsen würden, wäre das nicht weiter störend.

Vesna geht mit auf mein Zimmer, wir müssen sehen, ob wir gute Beute gemacht haben. Ich klappe den Laptop auf, starte ihn. Ein neues Modell, hochwertige Marke. Etwas Saft scheint er jedenfalls noch zu haben. Windows 7 fährt hoch. Auf dem Bildschirm das Icon des Internet Explorers, sonst nichts. Ich greife hin, will den Startbutton ... Aber Vesna schubst mich weg. Nur weil ihr Sohn was von Computern versteht ... Okay, ich muss zugeben, sie ist mir inzwischen auf diesem Gebiet um einiges überlegen. Hat eben einen guten Lehrmeister. Aber sie kann auch nichts anderes machen, als ich getan hätte. Sie forscht nach Dokumenten. Da sind keine. Da ist kein einziges. Auch kein Bild. Sie startet das große Suchprogramm und gibt „.docx“ ein. Der Laptop arbeitet. Der Akku soll, wenn die Anzeige stimmt, noch für zwei Stunden reichen.

„Jetzt wir wissen wenigstens, wo Forscher sind“, murmelt Vesna. „Und warum sie da sind untergebracht. Wie kann man sein so naiv.“

„Ich glaube, Grünwald mag die Tante wirklich.“

Vesna sieht mich an. „Du bist romantisch. Und: Schon möglich, er mag sie auch. Sie ist sicher zwanzig Jahre jünger und ganz hübsch und eine, die nicht viel fragt. Das mögen viele. Jedenfalls er nützt sie aus.“

„Er wird ihr das Haus gebaut haben. Oder sie dabei unterstützt haben“, werfe ich ein.

„Und? Was macht das für Unterschied?“

Der Laptop ist mit seiner Suche fertig. Kein Ergebnis. Wir probieren es dann noch mit anderen Dateiendungen. Aber es sieht so aus, als hätte Grünwald alles löschen lassen, bevor das Labor geräumt wurde. Oder hat das zur Routine gehört? Anderswo speichern. Auf der Festplatte löschen. So kann keiner zu viele Daten sammeln und alles bleibt in einer Hand. Und vor Spionen aller Art ist man auch geschützt. Mist. Pech für uns.

„Fran hat Möglichkeit, er kann gelöschte Datei wiederherstellen“, tröstet mich Vesna. Klingt allerdings so, als würde sie sich damit auch selbst trösten wollen.

„Immer geht das nicht“, werfe ich ein.

„Da du hast leider recht. Aber: Wir haben Fotos von Labormäusen und Kisten mit Laborsachen. Und wir haben Grünwald an Ort belauscht, wir hätten nie gedacht.“

Die Bilder, die Vesna im Schuppen gemacht hat, sind sehr gut geworden. Ich spiele sie auf meinen Laptop und speichere sie dann auch noch auf einem USB-Stick. Sie an meine Redaktionsadresse zu verschicken, traue ich mich nicht. Mäuse mit Knopfaugen und langen Barthaaren starren aus Kunststoffbehältern.

„Fahren wir“, sage ich dann.

„Wir übernachten hier“, erwidert Vesna. „Du kannst dich erinnern? Du wolltest unbedingt hervorragendes Tantenfrühstück.“

„Und wenn Grünwald und die aus El Salvador auch am Frühstückstisch sitzen?“

„Ist mehr als unwahrscheinlich. Bis jetzt sind Lateinamerikaner noch nicht zurück.“

Es ist Vesna gelungen, mich zu überzeugen. Die Vorstellung, schon wieder mitten in der Nacht nach Wien zu fahren, hat mich ohnehin nicht begeistert. Selbst wenn wir ein Auto dagelassen hätten. — Mein Auto. Es steht noch immer auf dem Parkplatz beim Vulkanfelsen. Angeblich besteht ja keine große Gefahr, dass er Lava speit. Besonders gut geschlafen habe ich nicht. Im Morgengrauen höre ich vom Bauernhof her einen Hahn krähen, irgendwo muht eine Kuh. Oder ist es unser gestriges Kalb? War der große Operationstisch im Kellerlabor für die Schweine und die Schafe oder reicht es, ihnen Proben zu entnehmen? Werden sie irgendwann einmal auf die herkömmliche Art geschlachtet und wird ihr Fleisch analysiert? Und macht die Tante aus den Teilen, die die Wissenschaft nicht braucht, Würste und Schinken? Ich sollte an etwas anderes denken. An Topfenstrudel zum Beispiel. — Ob sie auch Experimente an Kühen durchführen? Und was ist mit den Versuchen, die sie vielleicht an Menschen machen? Forscher aus China und aus Russland. Ob wir sie zu Gesicht bekommen? Natalie Veith hat auch von einem Italiener geredet. Können wir herausfinden, wie sie heißen? Es dauert, bis ich wieder wegdämmere.

Ich fahre hoch. Klopfen. Wer? Was?

„Mira!“, ruft Vesna vor der Tür. Sie sollte wirklich leiser sein. Ich öffne. „Es ist acht vorbei“, sagt Vesna mit vorwurfsvollem Blick.

„Warum hast du keine SMS geschickt?“, frage ich verschlafen, tappe zur Tür und lasse sie rein.

„Sieh auf Telefon. Sind gleich paar SMS darauf. Hast sie nicht gehört. Dass du da so gut kannst schlafen ...“

„Erst nachdem die Sonne aufgegangen ist“, murmle ich.

Vesna berichtet, dass noch immer kein weißer BMW auf dem Parkplatz stehe. Und dass Grünwald um zwei in der Nacht wieder gefahren sei.

„Du hast die ganze Zeit den Parkplatz beobachtet?“, sage ich mit leisem Schuldgefühl. Während ich mich im Bett herumgewälzt habe, füge ich im Geist hinzu und suche nach einem frischen T-Shirt.

„Mein Zimmer, es liegt gut, nahe zu Parkplatz. Ich habe gelesen und etwas gelauscht. Bin ich gewöhnt, so etwas.“

„Du meinst wirklich, wir sollen frühstücken gehen?“, frage ich dann. Mein Magen knurrt. Aber um zu überleben, bin ich bereit, das zu ignorieren. Wie war das mit der Kalorienrestriktion? Soll aktiv machen. Mich macht Hunger immer müde.

„Wenn wir normalen Touristeneindruck machen wollen, wir frühstücken. Wir lassen Sachen da, nehmen kleine Tasche, reden von Ausflug. Und am Abend wir sind zurück.“

Ich nicke. Ich bin ohnehin noch zu verschlafen, um zu widersprechen. Bauernfrühstück ... Moment mal, der Schinken ... die Schweine ...

„Also los, unter die Dusche! Aufwachen!“, treibt mich Vesna an.

Das Frühstück gibt es in einem hellen Zimmer mit geöffneten Glastüren ins Freie. Glücklicherweise hat man von hier einen guten Blick auf den Parkplatz und den Eingang zur Weinlodge. Die Tante kommt und lächelt uns freundlich an. Sie sieht jung aus und strahlend, Grünwald scheint ihr gutzutun. Oder die Illusion, die ihr dieser Schönheitschirurg macht. Eigentlich ziemlich mies, dass wir ihr die womöglich nehmen müssen. Wie viel weiß sie? Wer bin ich, so ins Leben anderer Menschen einzugreifen?

Ein Korb mit frischem Bauernbrot steht auf dem Tisch, daneben ein großes Stück Butter, Käse, Aufstrich, Schinken, frische Paradeiser, Marmelade.

„Hätten Sie vielleicht gern eine Eierspeis?“, fragt die Tante. Ich nicke begeistert. Und denke: Genversuche mit Hühnern werden sie wohl kaum machen. „Wenn Sie Weckerln wollen, die habe ich auch. Muss sie nur schnell aufbacken.“ Sieh an, die Aufbackkultur hat sich selbst hier durchgesetzt. Nein, danke. Das Brot riecht hinreißend.

Wir sind die einzigen Gäste im Frühstücksraum und ich vergesse beinahe, warum wir hier sind und was wir gestern entdeckt haben. Frisches Schwarzbrot mit Bauernbutter. Köstliche Rühreier mit Schnittlauch darüber. Ich lächle Vesna an. „Das ist noch so, wie man es sich vorstellt!“

Vesna kaut an ihrem Butterbrot herum und sieht mich amüsiert an. „Von Schinken du isst aber lieber nicht.“

Hm. Irgendwie bin ich im zeitweiligen Ausblenden unschöner Randerscheinungen des Lebens ganz gut. Warum auch nicht? Ganz abgesehen davon: Vielleicht sind die Schweine ihres Bruders einfach nur fröhlich und kräftig?

Die Tante scheint Vesna gehört zu haben, sie kommt zu uns und meint zu mir: „Schmeckt Ihnen der Schinken nicht?“

Ich sehe sie ertappt an und murmle dann: „Ich bin Vegetarierin.“

Tante Irmi schaut überrascht drein. „Komisch, waren Sie gestern noch nicht, oder?“

Oje. Ich Idiotin. „Bin ich immer nur bis nach dem Mittagessen“, versuche ich mich zu retten. Vesna verschluckt sich beinahe.

Zum Glück wird die Tante durch zwei neue Gäste abgelenkt. Chinesen. Einer dürfte über fünfzig sein, der andere noch keine vierzig. Kommen Grünwalds Forscher tatsächlich jeden Tag zu den Mahlzeiten? Okay, essen müssen sie auch. Die Tante scheint sie jedenfalls gut zu kennen, weiß, was sie mögen. Ich stelle fest, dass auf ihrem Tisch kein Schinken steht. Vielleicht sind sie ja wirklich Vegetarier. Ich nehme mir noch Brot und beobachte die beiden unauffällig. Sie wirken ernst, aber nicht gehetzt. Sie reden leise aufeinander ein. Dass sie nicht total entspannt sind, ist kein Wunder. Nach zwei Morden, einem eilig verfrachteten Geheimlabor und dem Gefühl, dass ihnen die Polizei vielleicht doch auf den Fersen ist. Es dauert keine zehn Minuten, und ein dritter Mann kommt. Mitte vierzig, schlank. Er winkt den beiden Chinesen zu, setzt sich dann aber an einen anderen Tisch und bestellt auf Englisch „das Übliche“. Sein Akzent ist eindeutig russisch.

Sind die nächsten vier Gäste auch Wissenschaftler? Sie sind jedenfalls aus Österreich, wohl aus der Salzburger Gegend. Sie sind vom Frühstück begeistert und unterhalten sich laut über die Walkingstrecke, die sie heute schon hinter sich haben.

Die beiden Chinesen sehen auf die Uhr, bedanken sich ausgesprochen höflich bei Tante Irmi, ihr „Danke“ klingt wie „Tante“, sie stehen auf.

„Wir sollten auch ...“, sage ich.

Vesna lächelt. „Vielleicht. Aber ich habe köstliche selbst gemachte Marmelade noch nicht probiert.“

Ich werfe ihr einen überraschten Blick zu. Seit wann ist sie es, die sich durch gutes Essen ablenken lässt?

Der Russe, der bloß viel Kaffee getrunken und dazu ein Stück Topfenstrudel gegessen hat, steht auch auf. Kann es sein, dass sie, obwohl Sonntag ist, jetzt zu dritt zur Arbeit fahren? Fällt das nicht auf? Wem? Den Salzburgern sicher nicht. Sie können ja auch einen Ausflug machen. Zu gerne würde ich wissen, wohin sie wollen. Aber Vesna kaut noch an ihrem Marmeladebrot und verdreht, diesmal genussvoll, die Augen. „Ist einfach fantastisch!“, ruft sie der Tante zu.

Wir beobachten, wie zwei Autos vom Parkplatz wegfahren. Ein roter Golf und einer der ununterscheidbaren Mittelklassewagen in Silber.

„Oh, jetzt hätte ich fast Zeit übersehen!“, ruft Vesna und springt auf. „Haben heute noch viel vor.“ Schon ist sie bei der Tür. Ich wickle das angebissene Käsebrot in eine Serviette, danke, hetze hinter ihr drein. Die Tasche mit dem Laptop. Beinahe hätte ich sie vergessen. Ich eile zurück, packe sie.

Vesna sitzt schon hinter dem Steuer. „Müssen schnell sein, wenn wir sie einholen wollen“, murmelt sie konzentriert. „Ich denke, wir fahren Richtung ,Oasis‘. Ist heute Sonntag, Fabrik ist zu.“