Vesna hat gute Vorarbeit geleistet. Sie weiß, wie man von unten an den Hang, in den die ,Beauty Oasis‘ hineingebaut ist, herankommt. Ein Feldweg, links und rechts Maisfelder. „Kukuruz“, wie man hier sagt. Oder „Woaz“. Die Stängel sind gut zwei Meter hoch, dicht an dicht stehen sie da, ein besseres Versteck gibt es kaum. Es ist beinahe Vollmond. Vesna hat ihr Auto einige hundert Meter entfernt unter einem großen Nussbaum geparkt. Meines steht bei der Bundesstraße. Wir gehen den Feldweg entlang, es ist so hell, dass wir auf eine Taschenlampe verzichten können. Hat zumindest Vesna gemeint. Sie bewegt sich so gut wie lautlos, ich höre mich keuchen, versuche meinen Atem zu kontrollieren. Sind wir hier überhaupt richtig? Ich sehe keine Hügel, schon gar nicht jenen der ,Oasis‘, nur diese Maisstängel und ganz weit entfernt, hoch oben, die beleuchtete Burg. Vesna bleibt stehen, lauscht. Nimmt mich am Arm. Ich reiße den Mund auf, nur keinen Ton. Dann schüttelt meine Freundin den Kopf und geht weiter. Das ist doch alles Unsinn. Wir sollten zu Chefinspektor Knobloch und ihm unser ohnehin ziemlich ungeordnetes Wissen anvertrauen. Was hat Vesna gehört? Ich kann nicht anders, ich wispere so leise wie möglich in ihr Ohr: „Was war?“
„Habe ich Rascheln gemerkt, war aber nur Tier. Bin ich sicher.“
Ich möchte gerne wissen, wie sie da sicher sein kann. „Wir drehen um“, flüstere ich weiter.
Vesna sieht mich an. Mondlicht in ihrem ausdrucksstarken Gesicht. „Du willst, dass Professor nicht Lügengeschichte erzählen kann. Du willst über Tod von Nonne wissen. Also wir müssen nachsehen. Wir kennen uns gut aus in Haus. Und: Was sollen sie tun, Wenn sie uns ertappen? Bestenfalls Hausverbot.“
Mir fielen noch ein paar andere, weit unangenehmere Möglichkeiten ein. Vor allem wenn Grünwald wirklich mit illegalen Operationen zu tun hat. Vor allem wenn der Mörder einer aus dem Haus ist. Aber Vesna ist schon weitergegangen und irgendwie fühle ich mich an ihrer Seite allemal sicherer, als wenn ich allein den Weg durch das unheimliche nächtliche Maisfeld zurückgehen muss. Dort vorne ist es außerdem zu Ende. Der Feldweg scheint in eine Art Wiese zu führen. Allein gleich wieder bessere Sicht zu haben, beruhigt mich. Vesna deutet nach links. Gar nicht weit von uns liegt das Hotel, verschmolzen mit dem Hügel.
„Zum Glück wir wollen in untere Etage, sonst man müsste viel klettern“, flüstert Vesna.
Ein Glück. Ja. Ich werde versuchen, unseren Ausflug auch so positiv zu sehen. Wir arbeiten uns durch das hohe Gras, nähern uns einer Gruppe von halbhohen Büschen. Leider ist der Mond inzwischen hinter einer großen Wolke verschwunden. Aber die Lichter der ,Beauty Oasis‘ sind von hier aus gut zu sehen. Ein Knacken. Mir bleibt beinahe das Herz stehen. Da ist jemand im Gebüsch. Die aus El Salvador! Sam! — Wie komme ich ausgerechnet auf den? Der Professor wird es nicht sein, der uns persönlich auflauert. Der kickboxende Engel? Jetzt erst bemerke ich, dass sich meine Hand in Vesnas Arm gekrallt hat. Sie lässt sich langsam zu Boden gleiten. Wenn ich Vesnas Arm nicht loslassen will, muss ich mit nach unten. Unwahrscheinlich, dass man uns nicht gesehen hat. Wie wollen wir uns wehren? Wie sollen wir fliehen? Es gibt nur diesen einen Feldweg zurück. Oder quer durchs Feld mit seinen übermannshohen Maisstängeln. Labyrinth. Das kann auch eine Chance sein. Wenn auch eine kleine. Inzwischen habe ich Vesnas Arm doch losgelassen. Sie kauert am Boden. Beobachtet. Ich neben ihr. Ich kann bloß die Umrisse der Büsche erkennen. Wäre es ein Vorteil, wenn der Mond wieder herauskäme? Dann wären auch wir besser zu sehen. Ich traue mich nicht, zu flüstern, deute Vesna bloß, dass wir zurück sollten zum Maisfeld. Vesna schüttelt wild den Kopf. Was will sie? Wir haben keine Waffe. Ich will auch keine Waffe. Okay, ich möchte wissen, was hinter dem Tod der Nonne steckt und welche Rolle Grünwald dabei spielt, aber es gibt eine Grenze. Zum Beispiel wenn es mir an den Kragen gehen könnte. Und Vesna. Worauf warten die in den Büschen? Ich versuche, lautlos auf allen vieren zurückzukriechen. Jedes Stück, das ich dem Mais näher bin, ist ein kleines bisschen Leben. Irgendetwas packt mich am linken Knöchel. Ich schreie auf, fahre herum. Aus dem Gebüsch springen vier Rehe und laufen erschrocken hangabwärts. Es ist Vesna, die mich festhält.
„Sind nur Rehe gewesen“, zischt sie.
„Hast du aber auch nicht gewusst“, zische ich zurück.
„Bin ich lieber vorsichtig. Aber durch Schrei von dir wissen wir, da ist keiner, der Wache steht. So gesehen war gar nicht schlecht.“ „Vielleicht will einer bloß warten, bis wir eine bessere Zielscheibe abgeben“, überlege ich. Aber ich gebe zu, ich bin ein wenig erleichtert. Im Finstern wirkt eben bald etwas bedrohlich. Doch das Feld ist nur ein Feld und die Büsche sind bloß Büsche, und wenn jemand außer uns hier unterwegs ist, dann sind es Rehe und Füchse. Selbst mein Herz scheint langsam auf Normalbetrieb zu schalten.
„Also komm“, sagt Vesna, wie ich trotz allem finde, viel zu laut. Jetzt geht es aufwärts und das hohe Gras bleibt an meinen Schuhen und den Jeans hängen. Dass Kletten dabei sind, merke ich, als ich versuche, ein Büschel Halme von meinem Oberschenkel zu streifen. Eklig. Die stacheligen Dinger haben sich in meiner Hose verfangen. Andererseits: Wenn ich keine größeren Probleme habe ... Vesna ist vor mir, sie klettert über eine kaum hüfthohe Begrenzungsmauer. In der untersten Etage der ,Beauty Oasis‘ brennt kein Licht. Ich keuche die letzten Schritte hangaufwärts, grätsche über die Mauer. Die ist nun wirklich auch für mich kein Hindernis. Wir stehen auf einer verwilderten Terrasse. Ganz klar, dass dieser Teil des Gebäudes nicht mehr in Betrieb ist. Irgendwo da drin muss der alte Wellnessbereich sein. Die Polizei wird auch auf der Terrasse Spuren genommen haben. Wäre naheliegend, dass der Täter von hier gekommen ist. Ich blicke die Gebäudefront entlang. Große Spiegelglasscheiben, daneben die Hausmauer mit Fenstern, weiter hinten Terrassentüren. Als Dach die nächste Geländestufe. Sehen kann man uns von den oberen Stockwerken aus kaum. Außer man klettert über die Begrenzungsmauern von Terrassen und Balkonen und geht die Hügelstufe nach vor bis zum Rand.
„Ist nur auf einer Türe Absperrband“, flüstert Vesna. „Habe ich heute schon mit Fernglas erkundet.“
„Wahrscheinlich ist alles gut verschlossen“, flüstere ich zurück.
Wir werden nicht einbrechen, okay?“
„Bin ja kein Gangster. Außerdem ist Scheibe einschlagen zu laut“, versucht mich Vesna zu beruhigen. Sie geht eng an der Fassade entlang und sucht nach einer Möglichkeit, ohne Gewalt und Lärm ins Innere des Gebäudes zu kommen. Aber alle Türen und Fenster sind zu. Der Mond kommt wieder hinter seiner Wolke hervor. Von der Wiese her geben wir eine wunderbare Zielscheibe ab, geht es mir durch den Kopf. Rehe, Mira. Dort sind nur Rehe, und die schießen nicht. Am liebsten würde ich ja ganz dicht bei Vesna bleiben, finde mich aber doch kindisch. Wenn ich schon hier bin, dann um tatsächlich ins Haus zu kommen. Vesna hantiert mit etwas Linealartigem an einer Terrassentür herum. Ist juristisch gesehen von einem Einbruchsversuch kaum zu unterscheiden. Ich drehe um. Ich werde nachsehen, was am rechten Rand der Terrasse ist, was an der aus dem Hügel ragenden Schmalseite des Stockwerks liegt. Das Mondlicht gibt mir neuen Mut. Zwei Fenster, Hausmauer, daneben Wiese. Zwei Meter lang aufgeschüttet und eben, danach Böschung, Übergang in den natürlich gewachsenen Hang. Oben, höchstens einige hundert Meter entfernt, das Kloster der Hildegard-Schwestern. Die Nonne könnte über den Hügel gekommen und dann über die seitliche Mauer geklettert sein und von dort ... — Aber warum hätte sie das tun sollen? Weil sie sich mit jemandem im alten, verlassenen Wellnessbereich treffen wollte, der ihr von innen eine Terrassentür geöffnet hat? Auf diese Möglichkeit wird die Polizei auch gekommen sein. Trotzdem klettere ich in einem Anfall von Übermut über die Seitenbegrenzung der Terrasse und stehe vor den beiden Fenstern. Am Rand der Mauer eine Feuerleiter, die zur nächsten Hangterrasse hinaufführt. Man kann also ausschließlich von unten über die Wiese, über die wir gekommen sind, über die Terrasse oder über den seitlichen Hang ins Haus gelangen. Ich schaue zur Burg hinüber und denke nach. Was hast du gemacht, Cordula? Was hast du erhofft? Wem bist du gefährlich geworden? Ich setze mich ins Gras. Ich sollte zurück zu Vesna. Aber seltsam, hier fühle ich mich sicher. Offenbar hat sie es ohnehin nicht geschafft, einen Weg nach drinnen zu finden. Besser so. Ich sehe über den Boden, werde müde. Ich sehe genauer hin. Da ist ein Fleck ohne Gras, es hat sich nur von rundherum darübergelegt. Ich stehe auf, gehe hin, wische mit meinem Turnschuh das Gras zur Seite. Eine Metallplatte. Wird etwas mit der Kanalisation zu tun haben. Könnte aber auch ... Hat Vesna nicht gemeint, dass es vielleicht unter dieser Etage noch einen Keller gibt? Eine Einkerbung in der Platte. Ich suche nach etwas, das ich als Hebel benutzen kann. Finde nichts. Trotzdem: Vielleicht bin ich es, die einen Weg ins Innere des Hauses entdeckt hat! - Und das willst du, Mira? In einen Schacht rutschen, nicht wissen, wo du rauskommst? Ich klettere zurück über die hüfthohe Mauer, bin auf der lang gestreckten Terrasse. Keine Vesna. Kann es sein, dass sie es tatsächlich nach drinnen geschafft hat und ohne mich ... Unwahrscheinlich. Was, wenn man uns doch gesehen hat? Wenn man Vesna überwältigt und weggeschleppt hat? Das Herzrasen kehrt zurück. Geduckt schleiche ich die Hausmauer entlang, spähe in jedes Fenster, jede Terrassentür.
Da ist die mit dem Absperrband, dahinter der Raum mit der Sauna. Ich habe Angst, etwas zu sehen, mit dem ich nicht umgehen kann. Ich gehe weiter, nächste Tür. Drinnen ist es dunkler als hier draußen, mehr als einige Umrisse von Tischen und Kästen kann ich nicht erkennen. Wo ist Vesna? Jetzt bin ich am Ende des Gebäudes angelangt, gleiche Seitenmauer wie auf der anderen Seite. Ist auch hier eine Falltür? Wer sagt, dass es drüben eine ist? Kann auch bloß ein Kanaldeckel sein. Ich spähe ums Eck. Vesna. Allein. Ich muss so geräuschvoll ausgeatmet haben, dass sie sich erschrocken umdreht. Sie kommt die paar Schritte zu mir herüber. „Mira, wo warst du?“
„Auf der anderen Seite. Ist hier auch ein Schachtdeckel oder so was?“
Vesna schüttelt erstaunt den Kopf. „Und sonst: Leider alles bummdicht zu.“
Ich klettere, nun schon sehr routiniert, über die Mauer zu ihr, suche nach einer Metallabdeckung im Gras. Doch hier scheint es keine zu geben. „Wir brauchen ein Werkzeug, mit dem wir den Deckel drüben heben können“, flüstere ich. „Vielleicht kann man durch den Schacht in den Keller.“
„Falls es Keller gibt“, relativiert Vesna.
He, jetzt wo ich einmal etwas entdeckt habe, wird sie skeptisch. Auf der Böschung liegen zwei kurze Stangen aus Baustahl. Mit so etwas könnte es funktionieren. Ich nehme eine und eile die Terrasseentlang. Da ist keiner außer uns, sonst hätten sie uns längst gefasst. Vesna kommt kaum hinter mir her. Jetzt bin einmal ich am Zug. Wieder über die Mauer, ich beuge mich hinunter, setze das Stück Armierungseisen an, probiere zwei-, dreimal, dann bewegt sich der Deckel. Ich schiebe meine Finger in den Spalt. Das Ding ist ganz schön schwer. Doch da ist Vesnas Hand neben meiner und gemeinsam stemmen wir den eisernen Deckel hoch, lassen ihn ins Gras kippen. Tatsächlich. Ein Schacht. Circa siebzig mal siebzig, darin eine schmale Eisenleiter. Was unten ist, sieht man nicht. Vesna nimmt eine Taschenlampe aus ihrer Jeanstasche. Sie leuchtet hinunter. Der Schacht ist rund drei Meter tief. Er endet in einer Art Schlammpfütze und es sieht so aus, als würde vom Boden ein schmaler Gang abzweigen. In einer Ecke bewegt sich etwas. Vesna leuchtet hin. Eine Kröte. Nichts Schlimmeres soll uns passieren.
„Ich mag keine Kröten“, zischt mir Vesna zu.
Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Meine mutige Vesna furchtet sich vor einer harmlosen Kröte. „Dann klettere ich zuerst hinunter.“
„Wir müssen aufpassen, wir verwischen keine Spuren.“
Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Auch wenn es nicht so wirkt, als wäre der Deckel vor Kurzem geöffnet worden. Unten steht Schlamm. Die letzten Tage hat es nicht geregnet. Wer immer hinuntergestiegen wäre, hätte Abdrücke hinterlassen. Ich sage es zu Vesna. „Handschuhe wir brauchen trotzdem“, flüstert sie.
Das, was wir da Vorhaben, ist Einbruch, dämmert mir. Oder zumindest unbefugtes Eindringen. Klingt schon besser. Ich weiß nicht, was mich treibt. Ist es die Euphorie, dass ich es war, die auf den Schacht gestoßen ist? Ist es der Umstand, dass ich mich heute Nacht schon mehrmals unnötig geängstigt habe? Ich ziehe die Handschuhe an, und bevor Vesna noch etwas sagen kann, klettere ich nach unten. Die Eisenstufen sind glitschig. Ich muss mich konzentrieren, damit ich nicht wegrutsche. Zudem hat Vesna die Taschenlampe wieder ausgemacht. An sich gut so. Vielleicht hat Professor Grünwald ja einen Nachtwächter. Nachtschwestern gibt es jedenfalls. Aber die sind in den oberen Stockwerken. Oder sollten zumindest dort sein. Jetzt bin ich bei der letzten Sprosse angekommen. Ich steige vorsichtig auf den Boden. Ich muss erst einmal sehen, wie tief der Schlamm ist, und dann will ich auch nicht auf die Kröte trampeln. Die feuchte Erde ist bloß ein, zwei Zentimeter hoch. Und sie ist fester, als es von oben gewirkt hat. Der Boden gibt nur ein klein wenig nach. Ich drehe mich um. Von da geht tatsächlich ein schmaler Gang aus Beton ab. Ich tapse hinein. Hier ist kaum noch etwas vom Mondlicht zu merken. Ich suche nach meinem Autoschlüssel. An dem hängt eine Minitaschenlampe. Ich hasse es, wenn es gar kein Licht gibt. Eine Eisentür. Ich höre Vesna die Leiter heruntersteigen.
„Siehst du, wo Kröte ist?“
„Ganz im Eck. Sie rührt sich nicht“, lüge ich, um Vesna zu beruhigen. „Da ist eine Tür.“
Vesna steht dicht hinter mir. „Dann mache sie auf.“
Fast hätte ich gelacht. Wenn das Leben immer so einfach wäre ... Aber meist gibt es Schlüssel und Schlösser und ... Ich drücke trotzdem auf die Klinke, sie geht nach unten. Ich drücke gegen die Tür. Nichts. Ich habe es ja vermutet. Schade. Bis hierhin sind wir gekommen, aber außer einer Kröte und einer Eisentür haben wir nichts entdeckt. - Oder ohnehin besser so?
„Du musst fest andrücken, Tür kann verschlammt sein. Schaut uns, da war schon lange keiner.“
Ich drücke wieder, nichts. „Und was hältst du von der Idee, dass zugesperrt ist?“
„Kann auch sein“, erwidert Vesna ungerührt. „Noch einmal. Fest rütteln. Aber vorsichtig und leise!“
„Also was jetzt?“, will ich, zunehmend gereizt, sagen. Stattdessen probiere ich es noch einmal. Ein Ruck, ein Spalt ist offen, ich drücke noch einmal, die Tür schwingt auf. Vesna leuchtet hinein. Schmaler Betongang wie in einem Bunker. Er endet offenbar nicht wieder an einer Tür, sondern in einem Quergang. Dummerweise sind unsere Schuhe voller Erde, wir werden Spuren hinterlassen, die mehr als leicht nachzuverfolgen sind. Der Lichtkegel der Taschenlampe senkt sich. Ich drehe mich erschrocken um und sehe Vesna, die dabei ist, ihre Turnschuhe auszuziehen. Hoffentlich gibt es keine Splitter am Boden. Dann ziehe auch ich die Schuhe aus. Vesna ist neben mir. „Vielleicht wir sollten Fotos machen“, flüstert sie.
„Kann ich schlecht im ,Magazin‘ veröffentlichen“, gebe ich zurück, „Die Chefreporterin, die in die ,Beauty Oasis‘ einsteigt, um so in die Nähe des Tatortes zu gelangen ...“ Erst in diesem Moment wird mir klar, dass wir eine Etage unter dem stillgelegten Wellnesszentrum sind und dass weder Vesna noch ich eine Ahnung haben, wie wir vom Keller hinaufkommen sollen. Geschweige denn, wie es danach weitergehen soll. Der Lift fährt jedenfalls nicht bis hier herunter und eine Treppe hat Vesna auf ihrer Erkundungstour auch nicht entdecken können. Andererseits: Ein Keller ohne Verbindung nach oben ist mehr als unwahrscheinlich. Wir biegen in einen etwas breiteren Betongang ein. Von hier gehen Metalltüren ab. Und im Licht der Taschenlampe sehen wir, dass es sogar eine Beleuchtung gibt. Darauf, sie einzuschalten, verzichten wir allerdings. Wir können nichts anderes tun, als überall nachzusehen, ob man von hier aus hinauf zum stillgelegten Wellnessbereich kommt. Ich sehe auf die Uhr. Es ist kurz vor eins. Vesna versucht die nächstgelegene Eisentür zu öffnen. Sie geht auf. Wir stehen in einem Raum mit einer undefinierbaren Maschine. Könnte eine Lüftungsanlage sein. Lautlos. Stillgelegt. — Wie lange schon? Die nächste Tür ist versperrt. Hinter der dritten Tür Paletten, leere Kartons, einige offenbar ausrangierte Schränke. Ich will schon weitergehen, als mich Vesna nach drinnen zieht. „Von da man sieht nicht hintere Wand. Wir müssen alles ableuchten, wenn wir Treppe finden wollen.“
Ich klettere pflichtschuldigst hinter ihr her, über Kartons und Kisten.
„Da geht es weiter“, raunt sie mir zu. Eine Tür, Vesna öffnet sie vorsichtig. Hier riecht es eigenartig. Gar nicht gut. Kläranlage, denke ich. Aber hat man die nicht außerhalb des Gebäudes? Wir lauschen. Nichts. Der Raum ist nicht groß und beinahe leer. Ich schnuppere, gehe auf ein Regal an der Wand zu. Verschlossene Behälter aus grauem Plastik. Vesna leuchtet, ich hebe einen der Deckel hoch und fahre zurück. Grausiger Gestank. Ich halte die Luft an, spüre Vesnas Kopf neben meinem. „Leichenteile“, flüstere ich. „Oder entsorgte Nasen, Wangen, abgesaugtes Fett.“
Vesna richtet den Strahl ihrer Taschenlampe auf das Innere des Behälters, sieht hinein. „Ist Unsinn“, flüstert sie zurück und es klingt ziemlich erleichtert. Ich halte die Luft an und wage jetzt auch einen näheren Blick. Stroh. Stroh mit etwas drinnen. „Ist Tiermist, von Schwein oder Maus oder so was“, flüstert Vesna. Ich drücke den Deckel wieder auf den Behälter. Völlig unsinnig, Vesna zu fragen, ob sie eine Ahnung hat, was das soll. Jetzt erst bemerke ich die Panzertür daneben. Tiermist zur Abschreckung? Zur Tarnung? Und was ist im Raum dahinter? Vesna geht hin und dreht am Rad. Wird ihr wohl kaum etwas nützen. Jemand, der da etwas versteckt, ist vorsichtig, sehr vorsichtig. Aber die Tür bewegt sich, geht einen Spalt weit auf. Vesna nimmt mich am Unterarm, dann schaltet sie die Taschenlampe ab. Stockdunkel ist es. Sie öffnet die Tür, zieht mich weiter, bleibt stehen. Ein leises Scharren. In meinem Nacken stellen sich die Haare auf. Wir sind hier nicht alleine. Ich höre Vesnas Atem. Das da macht sogar sie nervös. Wieder Taschenlampenlicht. Zuerst am Boden, dann rasch die Wand hinauf. Ich starre hin. Kann nicht begreifen, was ich hier sehe. Vesna schreit auf. Der Strahl der Taschenlampe zittert. Vesna mag nicht nur keine Kröten, sondern auch keine Mäuse. Und hier sitzen Dutzende von Mäusen in eigenartigen Behältern aus Kunststoff, die ähnlich aussehen wie diese Aufbewahrungsboxen von Ikea. In jeder Box ein Gittereinsatz, in dem Futterbehälter und Trinkflasche stecken. In der Mitte des Raumes ein langer Tisch aus Edelstahl, an einem Ende ein großes Waschbecken. Am anderen Ende Säcke, vermutlich mit Futter und Streu. Die Mäuse glupschen uns aus ihren runden Knopfaugen irritiert an. Barthaare zittern, Nasen wollen Witterung aufnehmen. Versuchstiere. Was wir hier sehen, sind offenbar Versuchstiere. Klar, dass der Professor die nicht herzeigen will. Sie würden den meisten seiner schönheitsbesessenen Gäste nicht besonders gefallen. Jetzt zieht Vesna tatsächlich ihre Kamera aus der Tasche. Nicht größer als eine Zigarettenschachtel, aber leistungsstark. Schafft es mit einem besonderen Programm, sogar im beinahe Dunkeln zu fotografieren. Als der Blitz des Gerätes aufleuchtet, piepsen einige der Mäuse.
„Man sollte sie freilassen“, zische ich Vesna zu.
„Bist du verrückt?“, antwortet sie viel zu laut und eindeutig angeekelt.
Näher betrachtet wäre das ohnehin keine besonders gute Idee. Die Eisenleiter den Schacht hinauf können die Mäuse wohl kaum nehmen. Das Scharren in den Boxen macht mir Gänsehaut. Ich habe nichts gegen Mäuse. Es ist dieses Geräusch von eingesperrten Kreaturen, die im gnädigsten Fall der baldige Tod erwartet. Vesna hat es noch eiliger als ich, den Raum wieder zu verlassen. Wir schließen die Panzertür, stehen wieder im Lagerraum, sehen eine weitere Tür, öffnen sie vorsichtig. Uns kann nichts mehr schrecken. Lichtkegel auf ein Waschbecken, dann auf einen Operationstisch in der Mitte des Raumes, Stahl, der im Schein der Taschenlampe gespenstisch glänzt. Darüber große Lampen. Einige Schränke mit Monitoren. Offenbar zur Überwachung, vielleicht auch während einer Narkose. Ein geheimer Operationssaal? Soll hier die von den beiden aus El Salvador geforderte „Operation“ über die Bühne gehen? Ich bin sicher, dass der Professor seine üblichen Gäste nicht hierherbringt. Daneben eine Operationseinrichtung in Miniformat. Alles ganz klein, beinahe wie ein Operationstisch in einem Puppenhaus. Der ist wohl für Mäuse, dämmert es mir. Jetzt bin ich es, die ganz schnell weg will, sonst fange ich noch an zu schreien. Wo sind wir da hineingeraten? Was, wenn Schwester Cordula etwas von diesem geheimen Versuchslabor erfahren hat? Wie geheim ist es wirklich? Chefinspektor Knobloch scheint von einem Labor zu wissen. Grünwald soll dort seine Schönheitsmittelchen testen. Kann es sein, dass er das hier im Keller tut? Wegen der Mäuse so verborgen wie möglich? Noch eine Tür und dahinter ein größerer Raum mit zwei Reihen von Tischen, darauf seltsame Schachteln, daneben mehrere Computer. Und überdimensionale Mikroskope. Zwei sehen eher wie Fernrohre aus. Kästen, die ein leises Geräusch erzeugen. Kühlschränke. Gefrierschränke. Ob hier Mäuseleichen drin sind? Nur Mäuseleichen? Waschbecken. Aktenschränke mit Rollläden. Wir müssen hier weg. Wir haben für heute Nacht genug gesehen. Morgen werde ich mit dem Gerichtsmediziner darüber reden. Er soll mir sagen, ob er dafür eine Erklärung hat. Vielleicht sieht bei Tageslicht betrachtet vieles anders aus. Vesna steht in der nächsten Tür. Hört das nie auf? Ein enger Raum, ein Aufzug. Hier endet die unterirdische Zimmerflucht. Aber wohin führt der Lift? Nicht einmal Vesna scheint er geheuer zu sein. Sie versucht ganz vorsichtig, die Tür zu öffnen. Die Aufzugskabine ist nicht da. Wenn wir den Liftknopf drücken ... Wir haben keine Ahnung, ob der Aufzug überwacht wird. Ich versuche mich krampfhaft an die Standorte der Aufzüge in den oberen Stockwerken zu erinnern. Nein, der Schacht passt mit keinem der allgemein zugänglichen Lifte zusammen. Glaube ich zumindest. Ganz abgesehen davon, dass keiner davon weiter fährt als ins Stockwerk minus drei. Und selbst bis dorthin ist der hinter dem Wellnessbereich heute Nachmittag nicht mehr gegangen. Wenn auch vielleicht auf Anordnung der Polizei.
„Gehört nicht zu normalen Lifts nach oben“, sagt auch Vesna. „Kommt wahrscheinlich irgendwo versteckt in Stockwerk minus drei an. Von dort man kann allgemeine Lifts nehmen oder Treppe.“
„Glaubst du, dass es auch eine Stiege nach oben gibt?“ Ich kann nicht fassen, dass ich es bin, die das flüstert.
„Wir können nur zurück durch die Zimmer und dann in Betongang weiterschauen. - Dieser Aufzug da ist seltsam. Ich glaube, er ist weiteres Zeichen, dass Labor soll geheim sein.“
„Grünwald hat Knobloch offenbar davon erzählt“, widerspreche Ich.
„Ja, ist auch seltsam. Vielleicht Professor will auch bloß Barriere gegen neugierige Gäste. Soll niemand wie wir bei Mäusen landen und fast Herzinfarkt kriegen.“
„Alles ist unversperrt“, überlege ich weiter. „Das könnte bedeuten, dass die Zugangsbarriere einen Stock höher liegt.“
„Wir müssen nachsehen, wo Lift ankommt“, sagt Vesna mit rauer Stimme.
„Das ist verrückt!“
Vesna sieht auf ihr Mobiltelefon. Im Licht der Taschenlampe wirkt die Aufzugstür wie ein Beamer in einem Science-Fiction-Film. „Kein Netz. Du bleibst da, und wenn du etwas Eigenartiges hörst oder gar nichts mehr, dann du rennst durch Räume zum Schacht, nach oben und rufst Polizei.“ Vesna nimmt mich am Arm und zieht mich zurück ins Labor. Das, was der Strahl ihrer Lampe trifft, blitzt auf. Mikroskope, Computer, Kühlschranktüren. Ihre Hand ist feucht. „Ich hole Lift. Wir verstecken uns da hinter Türe. Wenn jemand in Lift runterkommt, wir fliehen. Ansonsten ich fahre nach oben. Wenn du etwas hörst oder ich in fünf Minuten nicht bin da, du rennst und rufst Polizei.“
Ich fummle nach meiner Minitaschenlampe, sie ist nicht eben leistungsstark und ich weiß auch nicht, ob ich jemals die Batterie gewechselt habe. Lichtschein. Immerhin. Auch wenn er deutlich schwächer ist als der von Vesnas Lampe.
„Du willst meine?“, fragt sie.
Ich schüttle den Kopf. Vesnas Plan ist auch mit Licht gefährlich genug. Wir vergleichen unsere Uhren. Dann macht Vesna ein paar rasche Schritte, ist durch die Tür, beim Lift, drückt den Knopf, rennt zurück, steht wieder eng neben mir. Ich spüre ihren Atem. Der Lift braucht zehn Sekunden und ist da. Er kann tatsächlich nur ein Stockwerk weit gefahren sein. Ich will es Vesna zuflüstern, aber sie hält mir die Hand vor den Mund. Wir warten. Eine Minute.
Nur unser Herzschlag. Zwei. Ich hab das Gefühl, ich kann die Mäuse hören. Nichts. Vesna macht einen vorsichtigen Schritt nach vorne. „Nein!“, will ich schreien, aber ich kann nicht. Vesna ist beim Lift. Mit einem Ruck öffnet sie die Tür.
„Keiner da“, flüstert sie mit hörbarer Erleichterung. „Komm nach vorne. Lausche. Ich fahre.“ Und schon ist sie im Lift und ich höre, wie er nach oben gleitet. Ein rascher Blick auf die Uhr. Ein Uhr fünfundzwanzig. Wir sind erst eine knappe halbe Stunde hier unten. Ich lehne mich an den Türstock. Ein leises Surren. Es kommt von den Kühlschränken im Labor. Ist meine Taschenlampe noch schwächer geworden? Was, wenn sie ausfällt? Würde ich es hören, wenn oben jemand auf Vesna losgeht? Bin ich schnell genug, um Hilfe zu holen? Was, wenn sie Verstärkung kriegen und jemanden von draußen in den Schacht schicken? Das hätten wir uns früher überlegen müssen. Drei Minuten sind vergangen. Vesna, bitte komm! Der Operationssaal. Was geschieht dort? Geht es wirklich ausschließlich um Tierversuche? Um welche? Und ist das nicht schlimm genug? Was testet der Professor hier? Und: Wer arbeitet mit ihm? Das Labor wirkt nicht so, als wäre es bloß für eine Person gemacht. Vier, fünf, sechs Sessel mit Rollen zähle ich. Da war ein Geräusch. Ich fahre auf. Vielleicht hat Vesna die Lifttür geöffnet. Nein, das klingt anders. Da ist etwas einen Stock höher gegen die Lifttür gefallen. Weg. Ich muss weg. Ich schaffe es nicht, mich zu bewegen. Ich starre Richtung Lift, dann auf die Uhr. In dreißig Sekunden soll ich laut Vereinbarung losrennen. Wieder ein dumpfes Geräusch von oben. Weg! Schnell! Ich muss Vesna retten! Ich kann ihr nur helfen, wenn ich renne und Hilfe hole! Und jetzt laufe ich tatsächlich im schwachen Schein meiner Taschenlampe, stoße an einen der Labortische, strauchle, stöhne auf, weiter. Ein eigenartiges Gefühl, auf Socken zu laufen. Schutzlos. Durch den Operationsraum, was, wenn sie mich finden? Wenn sie mich hier festbinden? Narkotisieren? Vielleicht geht es um illegalen Organhandel. Ich reiße die Tür zum Lagerraum auf, Gestank, ich falle gegen einen der Behälter im Regal, versuche, wieder auf die Beine zu kommen. Irgendetwas ruft, jemand sagt etwas, es wird übertönt vom Blut in meinen Ohren, meinen Schritten, sind es nur meine Schritte? Mir scheint, ich höre Gepiepse. Die Mäuse sind im Tresorraum. Aber warum eigentlich im Tresorraum? Das sind nicht meine Schritte, es sind andere, sie sind hinter mir. Sie kommen näher, ich habe mich wieder aufgerappelt, renne, die nächste Tür, der nächste Raum. Ich hab nicht mehr daran gedacht, dass er mit Kisten und Schachteln voll ist, ich renne mitten in einen Berg von Kartons, falle, raus hier, eine Hand auf meiner Schulter, ich schüttle sie panisch ab. So schnell kriegt ihr mich nicht. Was habt ihr mit Vesna gemacht? Mein Schlüssel samt Taschenlampe ist mir aus der Hand gefallen. Ich trete um mich, versuche gleichzeitig, den Schlüssel zu fassen. Er l utscht unter die Kartons. Nur ein schwacher Lichtschein unter der Pappe, dafür gleißendes Licht von hinten.
„Stopp“, keucht etwas. „Bin doch ich.“ Der Lichtkegel wandert zu Boden.
Ich drehe mich um und sehe ungläubig in das Gesicht von Vesna. Ich hocke auf den Kartons und sage matt: „Warum hast du das nicht gleich gesagt?“
„Habe ich, du hast nicht gehört in Panik.“
„Du warst mehr als fünf Minuten weg. Und da waren Geräusche.“ „Das allerdings ist richtig“, erwidert Vesna. „War jemand oben. Wird warten. Wir müssen rauf. Könnte sonst noch wer gehört haben, war kurze Rauferei.“
Ich sehe sie gespannt an. „Was hast du mit ihm gemacht?“
„Mit ihr. Ist alte Nonne.“
„Schwester Gabriela?“, frage ich fassungslos.
„So hat sie gesagt, heißt sie.“
„Und du glaubst wirklich, die wird auf uns warten?“
„Habe sie angebunden. Zur Sicherheit. Sehr kräftig ist sie nicht.“ „Können wir die Turnschuhe holen?“, bitte ich.
„Du willst Spuren hinterlassen?“, fragt Vesna zurück.
Mein rechter Oberschenkel schmerzt, als wir erneut auf Socken durch die Räume eilen. Wir steigen in den Lift, fahren nach oben, als ob das ganz selbstverständlich wäre. Wir steigen aus und sind in einem kleinen Raum, der ursprünglich sicher nicht für einen Lift vorgesehen war. Erst jetzt sehe ich die Nonne. Vesna hat sie mit Klebeband an einen Stuhl gefesselt.
„Sie hat also die Wahrheit gesagt“, seufzt sie, als sie mich sieht, und ich habe Angst, dass sie gleich in Ohnmacht fällt.
„Mund ich habe ihr nicht zubinden müssen, ganz sicher sie will nicht, dass man sie rufen hört“, sagt Vesna geschäftig zu mir.
„Wo sind wir da?“, frage ich Schwester Gabriela.
„Zuerst soll mich Ihre seltsame Freundin losbinden. - Sie ist doch Ihre Freundin?“
Ich nicke.
Vesna geht zu ihr, die Nonne verzieht keine Miene, als das Klebeband gelöst wird.
„Was machen Sie hier?“, frage ich.
Die alte Nonne sieht uns für einen Moment an, als wüsste sie das auch nicht genau. „Ich könnte Sie Ähnliches fragen“, antwortet sie dann.
„Wir sind hier sicher? Oder kann es sein, dass da jemand kommt?“, will Vesna wissen. Offenbar hat sie den Eindruck, dass sich die Schwester in dieser Etage besser auskennt als wir. Und zu mir gewandt: „Im Nebenraum ist noch ein Labor, ist es kleiner. Ich nehme an, das ist es, was Inspektor gemeint hat. Türe hier herein ist mit beweglichem Regal verkleidet. Schwester hat großen Schreck gehabt, als ich in Laborraum gestanden bin.“
Schwester Gabriela nickt grimmig. „Kann man so sagen. Ich hatte keine Ahnung, dass es hinter dem Raum weitergeht.“
„Aber das offizielle Labor haben Sie gekannt“, rede ich weiter. Ich weiß nicht, wie lange wir uns hier noch aufhalten dürfen. Und ich weiß nicht, ob wir der Nonne trauen können. Was sollte sie hier mitten in der Nacht wollen, wenn nicht Spuren verwischen? Wenigstens ist sie uns körperlich unterlegen. Außer ... Vesna hatte sicher keine Zeit, sie nach Waffen zu durchsuchen.
„Es ist besser, wir gehen weg von hier“, flüstert die Nonne. „Ich weiß viel zu wenig, ich wollte nach etwas suchen, das die Polizei übersehen haben könnte. Ich habe bei Schwester Cordula den Namen einer ehemaligen Mitarbeiterin des Professors gefunden. Cordula hat immer wieder in diesem Labor gearbeitet. Deswegen wollte ich her. Ich glaube nicht, dass die Polizei hier Spuren genommen hat. Die Sauna ist auf der anderen Seite der Brandschutztür, ein ganzes Stück weg vom Labor.“
„Der stillgelegte Wellnessbereich ist versiegelt“, sage ich leise. „Waren Sie trotzdem drin?“ Wenn sie das Siegel aufgebrochen hat, dann ist es schon egal, dann könnten wir auch noch einen Blick reinwerfen. Andererseits: Dort waren die Spurentechniker sicher unterwegs. Und sie waren wahrscheinlich gründlich.
„Kommen Sie“, erwidert die Nonne. „Wir treffen uns im Kloster. Dort können wir reden.“
Und was, wenn das eine Falle ist?
„Wie sollen wir wissen, Sie laufen nicht davon?“, will Vesna wissen.
„Sie müssen es mir glauben“, sagt die Klosterschwester eindringlich und ich gebe zu, ich glaube ihr. Vesna wirft mir einen Blick zu, der bedeutet: Typisch du. Sie hat ja recht.
„Wir dürfen keine Spur hinterlassen“, befindet Vesna. „Du gehst mit Schwester über die Oase zum Kloster, jetzt ist niemand auf, der dich kennt, denke ich. Zuerst aber musst du Lift holen, nachdem ich hinuntergefahren bin. Ich schließe unten alle Türen und stelle Kartons zurecht und verwische Fußabdrücke in Schacht. Dann ich komme über Hang.“
„Du wirst die Eisenplatte nicht allein wieder drauflegen können" , gebe ich zu bedenken. „Wir zwei gehen gemeinsam.“
„Ich werde schaffen, und wenn nicht, wir machen es zusammen nach Gespräch. Wir sollten Schwester nicht alleine lassen.“ Sie sagt das so nachdrücklich, dass mir klar ist: Sie traut ihr tatsächlich nicht.
„Auf den Socken?“, frage ich und deute auf meine Füße.
„Was spielt das für große Rolle?“, erwidert Vesna. „Soll ohnehin keiner dich sehen.“
Irgendwie hat sie ja recht. Wenn ich auf Socken durch den Keller gekommen bin, werde ich wohl auch auf Socken ins Kloster gehen können. Ich seufze und nicke. Vesna fährt mit dem Lift nach unten. Ich hole ihn wieder herauf. Wortlos suche ich mit Schwester Gabriela nach irgendeiner Vorrichtung, die das Regal wieder an seinen Platz fahren lässt. Sie ist es, die den Knopf hinter einigen Medizinbüchem im Nachbarregal findet. Keiner würde auf die Idee kommen, dass es dahinter noch etwas gibt.
„Folgen Sie mir“, sagt Schwester Gabriela und es ist wohl trotz allem das Klügste, es zu tun. Dämmerlicht im Gang. Offenbar geht niemand davon aus, dass sich hier in der Nacht jemand aufhält. Die Nonne hat für ihr Alter und nach all der Aufregung einen erstaunlich energischen Schritt.
„Den Lift nach oben haben sie außer Betrieb gesetzt“, flüstere ich ihr von hinten ins Ohr.
„Das weiß ich, schließlich bin ich auch hergekommen. Es gibt eine Personalstiege.“
Also doch nicht bloß die Feuerleiter. Wir kommen der dicken Brandschutztür immer näher. Die Nonne wird wohl nicht in den alten Wellnessbereich ... Na jedenfalls die Kraft, mir etwas anzutun, hat sie nicht.
„Dort hinten ist die Stiege“, sagt Schwester Gabriela und deutet auf einen Seitengang. Die Brandschutztür ist jetzt nur noch einige Meter entfernt. Kann es sein, dass es erst gestern Nacht war, dass wir uns hier unten kennengelernt haben? Im Seitengang hält die Nonne plötzlich inne. „Ich will Ihnen doch noch etwas zeigen“, flüstert sie.
Alarm! Was soll sie mir zeigen wollen? Vielleicht hat sie ein Betäubungsmittel dabei. So wie vielleicht vor einigen Tagen, als sie die Schwester ...
„Kommen Sie schon“, zischt die Nonne. Sie hat die dicke Trenntür aufgedrückt und eilt den Gang entlang zur Milchglasscheibe. Quer über der Scheibe klebt ein polizeiliches Absperrband. Die Nonne lockert das Band vorsichtig und zieht die Tür einen Spalt weit auf. Was soll ich hier sehen? Langsam und misstrauisch komme ich trotzdem näher. Schwacher Lichtschein. Er kommt von draußen. Die versiegelte Terrassentür im alten Wellnessbereich, vor ihr sind wir vor gar nicht so langer Zeit gestanden. Im Freien.
„Riechen Sie!“, befiehlt die Nonne.
Ich schnuppere, meine, noch immer einen leichten Geruch nach gekochtem Fleisch zu erkennen. Etwas süßlich. Mit einem Hauch Kräuteraroma. Gleich wird mir übel. Das Kräuteraroma ... Quatsch, es ist die Nonne, die nach Lavendel riecht, auch in ihrem Büro hat es stark nach Lavendel gerochen. Offenbar nimmt sie den Duft hier, außerhalb ihrer üblichen Umgebung, erst richtig wahr. „Lavendel“, sage ich.
Die Nonne nickt befriedigt, schließt die Tür wieder, befestigt das Absperrband und eilt an mir vorbei Richtung Treppe. Ich werde ihr die Freude an dieser Entdeckung nehmen müssen. Oder wollte sie mich damit ohnehin nur ablenken?
Vesna ist bloß eine Viertelstunde nach uns zum Kloster gekommen. Sie hat es tatsächlich geschafft, die Platte über den Schacht zu legen.
Und sie hat meine Schuhe mitgebracht. Ich ziehe sie an und fühle mich gleich besser. Wir sitzen im Arbeitszimmer von Schwester Gabriela, es riecht noch immer nach Lavendel. Die Nonne hat Tee gekocht, einen dritten Sessel geholt, sie wirkt, als wäre sie immer um die Zeit wach. Jetzt schenkt sie ein.
„Ich denke, Sie können die Handschuhe ausziehen“, sagt sie dann.
Ich sehe irritiert auf meine Hände. Irgendwie scheine ich schon ziemlich durcheinander zu sein. Ich hab gar nicht bemerkt, dass ich noch immer Handschuhe trage. Handschuhe mit ziemlichen Schmutzspuren darauf. Ich ziehe sie ab, stopfe sie in meine Hosentasche.
„Eigentlich haben wir uns etwas Stärkeres verdient“, sagt die Nonne nach einem langen Blick auf mich und geht zu einem Kästchen, auf dem eine Statue der heiligen Hildegard steht. Sie öffnet die Tür und holt eine Flasche und drei Gläser heraus. „Kriecherlschnaps", sagt sie und schenkt in alle drei Gläser nicht zu knapp ein. Wir ich mir schon gedacht habe: Diese Frau kann kein allzu schlechter Mensch sein. Warm geht der Schnaps meine Kehle hinunter. Ich seufze zufrieden und lasse mich zurück in den Sessel sinken. Jetzt soll sie erzählen!
Auch Schwester Gabriela hat einen kräftigen Schluck genommen. „Wer fängt an?“, fragt sie dann und fügt hinzu: „Ich schlage vor, ich."
Vesna und ich nicken. Ich werde auf einmal so angenehm müde, meine Glieder entspannen sich, selbst der Oberschenkel, mit dem ich im Finstern in Panik gegen einen Tisch gerannt bin, tut kaum noch weh. - Ist da womöglich etwas im Schnaps? Ach was, und wenn, ist es etwas Gutes. Ich werfe Vesna einen Seitenblick zu. Sie wirkt wach, interessiert. Na also. Und sie hat auch vom Schnaps gekostet. Allerdings hat sie bloß einen winzig kleinen Schluck gemacht. Und die Nonne ... vielleicht ist sie immun ... Quatsch, Mira. Du bist müde, das ist kein Wunder. Und jetzt hörst du zu.
„Ich habe die Habseligkeiten von Schwester Cordula durchgesehen", erzählt die Nonne gerade. „Einen Teil hat die Polizei mitgenommen, das, was dageblieben ist, wird verteilt, Andenken werden an ihre Familie geschickt. Und als ich ihre Toilettenutensilien geordnet habe, ist mir ein Zettel mit dem Namen dieser ehemaligen Mitarbeiterin des Professors in die Hände gefallen. Samt Telefonnummer.“
„Der Polizei das ist entgangen?“, fragt Vesna, die Ungläubige. „Kein Wunder.“ Die Nonne lächelt fein. „Sie hatte ihn in ihre Schachtel mit Tampons gesteckt. Auch Nonnen sind Frauen. Offenbar schien ihr das ein sicherer Platz zu sein. Und: Die Schachtel war fast voll. Sehr lange dürfte der Zettel also nicht drin gewesen sein.“ „Was könnte sie von dieser ehemaligen Mitarbeiterin gewollt haben?“, frage ich träge.
„Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, diese Natalie Veith zu erreichen. Sie arbeitet jetzt an einem öffentlichen Institut. Dort hat man mir gesagt, dass sie einige Tage Urlaub genommen hat. Da sie ja früher in unserem Labor beschäftigt war, bin ich heute Nacht dorthin. Professor Grünwald will nicht, dass jemand hinein kann, der nicht berechtigt ist. Es gibt eine Türkarte, wie für die Hotelzimmertüren. Aber ich weiß, wo diese Karte liegt. Ich bin mir nicht sicher, was ich gehofft habe zu finden. Vielleicht wollte ich dem Geheimnis von Schwester Cordula auch nur räumlich näher kommen.“
„Und danach Sie waren bei Sauna drüben?“, hakt Vesna nach. „Oh nein, da war ich vorher.“ Sie sieht mich an. „Sie haben ihn heute auch bemerkt, nicht wahr? Den Lavendelduft.“
Ich lächle verzeihend. Sie ist eben doch nicht mehr die Jüngste. „Sie selbst riechen nach Lavendel. Hier riecht es nach Lavendel. Sie haben den Duft mitgenommen.“
Ich ernte einen gekränkten Blick. „Ich bin doch keine Idiotin. Mir hat Ihre Frage nach dem Hildegard-Aufguss keine Ruhe gelassen. Ich habe mich natürlich umgezogen, bevor ich hinübergegangen bin.“
Ich sehe sie verwirrt an. „Aber wie kann es sein, dass wir gestern nichts gerochen haben und heute schon? Der ganze Bereich ist versiegelt.“
„Ich kann mir nur vorstellen, dass es etwas mit der Temperatur zu tun hat. Die Lavendelsubstanz könnte weitgehend verdampft und erst später wieder kondensiert sein. Ich muss noch herausfinden, wann Lavendel stärker riecht. Abgesehen davon waren wir gestern verständlicherweise abgelenkt.“ Die Nonne schlägt ein Kreuz. Ich kann mich gerade noch zurückhalten, um es ihr nicht gleichzutun. Warum eigentlich nicht? Nur weil Vesna spotten könnte? Ich schlage auch ein Kreuz und sehe Schwester Gabriela an. „Was schließen Sie aus dem Lavendelduft?“
„Ich weiß nicht. Ich denke mir: Unser Hildegard-Aufguss und Sauna. Das passt. Schwester Cordula war für die Rezepturen verantwortlich. Sie war zuständig für unsere Produkte. Es hat ihr sehr viel Freude gemacht, sie hat eine Menge Zeit investiert, um die Mittel laufend noch zu verbessern. Die Hildegard-Produkte waren wohl ein Grund, warum sie bei uns geblieben ist. Sie hat davon geträumt, die Serie auszuweiten, sie im Größeren herstellen zu lassen. Sorgsam und mit Respekt vor unserer Ordenspatronin. Aber das Wissen der heiligen Hildegard ist nicht geschützt. Es gibt genug, die in ihrem Namen produzieren, Gute und weniger Gute. Jedenfalls: Im Großen wären wir der Konkurrenz nicht gewachsen gewesen.“
„Wenn sie ein besonders gutes Rezept für diesen Aufguss entwickelt hat und eine kommerzielle Firma es haben wollte ...“, beginne ich zu überlegen.
Die Nonne schüttelt den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man jemand für eine verbesserte Lavendelaufgussrezeptur umbringt. Ganz abgesehen davon: Warum war sie nackt und in der Sauna?"
Da ist allerdings etwas dran. Ich versuche mich zu erinnern, was mit Kurt Simatschek erzählt hat. „Der Gerichtsmediziner meint, es könnte sein, dass sie betäubt worden ist und erst dann in die Sauna gelegt wurde.“
„Warum du erzählst nicht gleich?“, mischt sich Vesna ein.
„Und noch etwas: Sie war keine Jungfrau mehr.“
Die Nonne lächelt. „Nicht alle unsere Schwestern sind unberührt. Manche hat der Ruf erst später ereilt. Cordula hat Biologie studiert. - Oder wollen Sie damit sagen, dass sie erst vor Kurzem ... Sex gehabt hat?“
Ich schüttle den Kopf. „Das weiß man noch nicht. Bei diesen Todesumständen ...“
Schwester Gabriela nickt. „Ich kann mir vorstellen, dass da manches schwierig zu analysieren ist.“
„Was ist eigentlich mit der Familie von Schwester Cordula?“
„Ihr Vater ist tief erschüttert, ihre Mutter ist voriges Jahr an Krebs gestorben. Sie hat einen älteren Bruder, den wir noch nicht erreicht haben. Er ist Ingenieur auf einer Ölplattform in der Nordsee. Ich glaube nicht, dass ihr Ableben mit der Familie zu tun hat. Es ist gut drei Wochen her, sagt ihr Vater, dass sie miteinander telefoniert haben. Damals habe sie wie immer gewirkt.“
Schwester Gabriela hat noch einmal Tee aufgebrüht und noch eine Runde Schnaps eingeschenkt. Als wir ihr vom Labor im Keller erzählen, wirkt sie überrascht. „Ich habe auch nie etwas von diesem Lift mitbekommen. Und ich dachte, mir entgeht so gut wie gar nichts in diesem Haus.“
Ich habe eine Idee: „War Schwester Cordula im offiziellen Labor beschäftigt?“
„Nein, das war sie nicht. Sie hat Kranke gepflegt. Das ist auch unser eigentlicher Auftrag der Welt gegenüber. Zumindest hat sich unsere Klostergemeinschaft so entwickelt. Aber ...“, sie denkt einige Sekunden nach, „... sie hat immer wieder darum gebeten, etwas im Zusammenhang mit unseren Hildegard-Rezepturen analysieren zu dürfen. Und das wurde ihr auch gestattet.“
„Wer leitet das Labor? Der Professor?“, fragt Vesna.
„Ich glaube nicht, dass der viel davon versteht“, lächelt die Nonne. „Soviel ich weiß, ist es ein jüngerer Mann. Schilling heißt er. Er prüft diese Cremes und Nahrungsergänzungsmittel, produziert werden sie außerhalb, in einer kleinen Fabrik. Grünwald hat einen sehr gut gehenden Internethandel. Ich persönlich glaube ja nicht, dass Menschen Nahrungsergänzungsmittel brauchen, wenn sie sich klug ernähren.“ „Und warum ist das Labor nicht in der Fabrik?“, überlege ich. „Vielleicht weil sie auch für die ,Beauty Oasis‘ zugekaufte Produkte testen wollen. Angeblich nehmen sie auch immer wieder Proben von Botulinumtoxin und diesen Peelingsäuren. Der Professor möchte die Erzeugerfirmen kontrollieren, zum Wohle seiner Gäste, wie er sagt.“
Das hat jetzt eindeutig ein wenig spöttisch geklungen. „Sie glauben es aber nicht, oder?“
„Kann schon sein, dass er es hin und wieder tut. Aber ich glaube, es geht eher um Geschäfte und Geldverdienen. - Ich frage mich, was er im geheimen Labor macht. Und ob er die Mäuse wirklich braucht, um seine Cremes zu testen.“
Vesna und ich nicken. Allerdings wird sich das heute nicht mehr klären lassen. Schwester Gabriela ist geradezu enttäuscht, als ich langsam aufstehe und meine, es sei jetzt Zeit, schlafen zu gehen.
Halb vier ist es inzwischen. „Verzeihen Sie“, sagt sie. „Ich war immer schon ein Nachtvogel. Vor drei gehe ich selten zu Bett.“
„Danke, dass Sie mit uns geredet haben. Und danke für den Schnaps“, sage ich höflich.
„Und entschuldigen Sie, dass ich Sie aus Gründen von Sicherheit gefesselt habe“, ergänzt Vesna.
Sieh an, langsam scheint auch sie davon überzeugt zu sein, dass die Nonne nicht auf der dunklen Seite der Macht steht.
Wir traben alle zusammen durch den Vorraum mit dem großen Hildegard-Bildnis und dem Spruch „Disce et servi“ und mir wird mit Entsetzen bewusst, dass Vesna und ich jetzt noch einmal den Hang hinunter müssen, quer über die Wiese, den Feldweg durchs Maisfeld entlang, bis wir zu Vesnas Auto kommen. Vesna seufzt. Auch sie ist müde. „Die Straße entlang es ist etwas kürzer. Wir gehen Richtung Ort und dann wir biegen ab. Ich glaube, ich weiß, wie es geht.“
„Du hast ja ein Zimmer in der ,Beauty Oasis‘, du kannst einfach rübergehen und dein Auto morgen holen“, murmle ich.
„Und Sie übernachten hier“, schlägt mir die Nonne vor. Ein verlockender Gedanke, gebe ich zu.
„Das Bett von Schwester Cordula ist schon abgezogen. — Ich gebe Ihnen neue Wäsche.“
Oh nein, danke. Das ist mir nun doch zu jenseitig. So viel Aberglauben darf ich schon haben, dass ich nicht im Bett der gerade erst Verstorbenen übernachten möchte. Dann lieber zurück über die Wiese.
Die alte Nonne deutet meinen Blick richtig und meint mit freundlichem Spott: „Dass sich die Menschen immer vor dem bereits Gewesenen fürchten, anstatt darauf zu achten, was sie erwartet ... Ich fahre Sie zu Ihren Autos, in Ordnung?“ Nach einem eher kurz gehaltenen höflichen Protest stimmen wir zu.
Es ist gegen vier, als ich die Abzweigung zu meinem Weingartenhäuschen finde. Sah nicht so aus, als hätte sich jemand dafür interessiert, wohin die Klosterfrau mitten in der Nacht fährt. An Rebzeilen vorbei schlängelt sich der Weg bergan. Das Wäldchen auf der linken Seite habe ich am späten Nachmittag gar nicht wahrgenommen. Halb versteckt ein Auto. Ich fahre noch langsamer. Weit und breit kein anderes Haus. Was macht der Wagen hier? Ich bin völlig allein, rund um mich Weinstöcke. Wenn uns doch jemand gefolgt ist ... Wenn er weiß, wo ich übernachte ... Wenn da jemand auf mich lauert ... Man würde mich nicht einmal schreien hören. Jetzt fahre ich im Schritttempo. Mit einem Mal bin ich hellwach. Wie gut kenne ich den Gerichtsmediziner? Mira, du spinnst, wenn du jetzt auch schon Simatschek verdächtigst. Es kann bald jemand davon erfahren haben, dass ich heute hier übernachten werde. Jetzt bin ich schon fast auf der Höhe des Weingartenhäuschens. Ich spähe zur Sitzgruppe vor dem Haus. Mir wird eisig kalt. Da sitzt einer. Da wartet jemand auf mich. Rückwärtsgang. Im Finstern die kurvige Straße bergab? Unmöglich. Ich versuche zu reversieren, streife eine Rebzeile, egal, ich habe gewendet. Der Schotter spritzt. Ich rase davon, schaue immer wieder in den Rückspiegel. Da kommt keiner. Aber ich habe mich nicht getäuscht. Da war einer. - Und wenn es doch der Gerichtsmediziner war, der auf mich gewartet hat? Vielleicht ist er bloß ein Nachtvogel, hatte gar keine böse Absicht, war vom Treffen mit seinen Eltern zurück, wollte mich noch besuchen, hat sich dann draußen hingesetzt ... Womöglich gibt es einen Reserveschlüssel für das Häuschen. Er hat sich eine Flasche Wein aufgemacht und ist vielleicht eingeschlafen. Könnte der Wagen bei dem Wäldchen nicht seiner gewesen sein? Ich habe keine Ahnung. Ich bin eine Idiotin. Wenn er aufgewacht ist und gerade noch gesehen hat, dass ich davonrase ... Ich lache hysterisch auf. So eine wie du, Mira, sollte sich um Ungefährliches wie etwa Kulturpolitik kümmern. Na gut, so ungefährlich ist die auch nicht. Intrigenabgründe, sieht man ja gerade wieder an den Salzburger Festspielen, aber immerhin selten mörderisch.
Ich zwinge mich, auf der „Route 66“ anzuhalten. Ich habe die Nummer von Karl Simatschek gespeichert. Ich werde ihn anrufen. Und dann umkehren. Ich höre es läuten. Dreimal, viermal, fünfmal. Dann eine verschlafene Stimme: ,,Is’ was passiert?“
„Sie ... du schläfst schon?“, frage ich einigermaßen irritiert.
„Es is’ bald halb fünf. Ja.“
„Daheim?“
„Warum?“, fragt er. „Ja, klar. — Da ist doch die Mira, oder?“ „Hm. Ja. Danke. Alles okay, sorry. Schlaf gut.“
Wobei „alles okay“ übertrieben ist, mächtig sogar. Da war einer vor dem Haus. Und es war nicht der Gerichtsmediziner Simatschek.
Ich sehe, dass der Himmel heller wird. Ich muss nachdenken. Dabei kann ich genauso gut Auto fahren. Ich nehme die Straße Richtung Ilz und biege wenig später auf die Autobahn Richtung Wien.