Ich steige aus dem Aufzug, sehe ins Büro des Chefredakteurs. Niemand da. Die Sekretärin nicht. Er auch nicht. Ich hätte eigentlich auch gleich unten beim Empfang fragen können. Kurzer Blick ins Zimmer von Droch. Es ist wie immer offen, aber selbst Droch ist schon weg. Schade. Es wäre schön gewesen, mit ihm über alles zu reden. — Wäre es das wirklich? Gemeinsam mit Oskar hat er mir klarzumachen versucht, dass ich mich aus diesem Fall raushalten soll. Und das war, bevor der Chef des Labors ermordet worden ist.
Im Großraumbüro sitzen nur noch zwei Sommerpraktikantinnen, die begeistert an irgendeinem Artikel schreiben. Ich winke ihnen zu, schiebe die Blätter meines Philodendrons zur Seite und werfe routinemäßig meinen Bürolaptop an. Zufrieden stelle ich fest, dass nicht viel Post gekommen ist. Ganz obenauf liegen eine DVD und ein handbeschriebener Zettel. „Liebe Mira, habe dir alle noch nicht gelöschten Fotos draufgespielt, sollte es um irgendwelche Details gehen, ich kann noch vergrößern. Schönes Wochenende, Regina."
Ich schiebe die DVD ein und sehe, während sie lädt, meine E-Mails durch. Mein mobiles Modem hat die Notizen, die ich mir vor dem GRA-Gebäude gemacht habe, brav übermittelt. Ich kopiere und speichere sie. Kurz überlege ich, sie irgendwo, irgendwie zu verstecken. Kompletter Unsinn, wer sollte sie hier suchen? Ganz abgesehen davon, dass alles, was ich über mögliche Methoden zur Lebensverlängerung erfahren habe, für Experten so etwas wie Grundwissen darstellt. Aufregend nur für mich. Und darüber hinaus vielleicht in Verbindung mit dem, was rund um die ,Beauty Oasis‘ vorgeht.
Sieh an, der ,Magazin‘-Geschäftsführer hat mir eine Mail geschickt. Kommt äußerst selten vor.
„Liebe Frau Valensky, mit Zufriedenheit habe ich den heutigen Agenturmeldungen entnommen, dass ich ein gewisses redaktionelles Gespür haben dürfte. Mit meiner Vermutung, dass es sich beim Tod der Nonne um eine Beziehungstat gehandelt hat, habe ich also ins Schwarze getroffen. Ich bin auf die Fortsetzung der Story über Sex und Rache im Nonnenkloster schon sehr gespannt und habe den Chefredakteur angewiesen, Sie entsprechend zu unterstützen, mfg G. J.“
An sich hat der Geschäftsführer mit dem Inhalt des ,Magazin‘ nichts zu schaffen. Aufgeblasener Idiot. Er wird sich noch wundern. Soll ich ihm gleich ... Dann fällt mir etwas Besseres ein. Ich weiß, dass sich Klaus über die Formulierung „angewiesen“ ziemlich ärgern wird. Ich sollte ihn daran erinnern, mit wem er es zu tun hat. Steht dem Geldzähler einfach nicht zu, dem Chefredakteur etwas zu befehlen. Ich schreibe zuckersüß zurück und schicke Klaus das Ganze cc:
„Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für Ihre aufmunternde E-Mail. Selbstverständlich werde ich alles tun, um Ihren Erwartungen gerecht zu werden, mfg M. V.“ Klingt irgendwie ironisch. Soll es auch.
Anruf bei Oskar. Ja, ich sei wieder in Wien, noch im ,Magazin‘. Ich könne nichts dafür, wenn mich der Bezirkschefinspektor ins Vulkanland beordere und dann der Laborchef tot aufgefunden werde. Ja, es sei wahr, dass als Täterin eine alte Nonne vermutet wird.
„Wir können darüber beim Essen reden“, flöte ich, als er mich fragt, was ich jetzt vorhabe. „Wenn du einkaufst, kann ich etwas kochen. Eine Stunde ungefähr brauche ich noch in der Redaktion.“
„Und was soll ich einkaufen?“, lautet seine Antwort. Oskar ist ein erwachsener, erfolgreicher, entschlussfreudiger Mann. Er liebt gutes Essen und kann sogar selbst kochen. Und trotzdem fragt er mich jedes Mal, was er einkaufen soll. Ich habe jetzt wirklich keinen Kopf dafür und sage das Klassische: „Was dir unterkommt.“
Stille in der Leitung.
„Biolachs und Rotwein“, sage ich dann. Lachs gilt seit Neuestem nicht in erster Linie als fett, sondern als gesund. Zumindest wenn er nicht zu viele Antibiotika enthält. Und solange die US-Behörden den Lachs mit dem veränderten Gen zwecks Wachstumsbeschleunigung noch nicht zugelassen haben. Was Rotwein angeht, soll der ja sogar lebensverlängernd wirken. Jedenfalls schmeckt er besser als Grünwalds Pillen, da bin ich mir sicher.
„Warum?“
„Weil ich etwas ausprobieren möchte.“ Keine Ahnung, was das sein könnte, aber darüber kann ich mir später Gedanken machen. „Hab dich lieb“, füge ich noch versöhnlich hinzu.
„Ich dich auch, Mira.“ Es klingt eher wie ein Ächzen.
Und jetzt endlich sehe ich mir an, was auf der DVD meiner Fotografin ist.
Beinahe verwunschen wirkt der große in den Hügel hineingebaute Gebäudekomplex in der Dämmerung. Keinerlei Lichter, so als wäre für alle ein langer Schönheitsschlaf angesagt. Auf dem fünften Bild sieht man am äußersten Rand zwei Lkw. Ich vergrößere das Foto. Die Aufschrift der Lkw ist trotzdem nicht zu entziffern. Auch bei hoher Pixelzahl ist irgendwann einmal Schluss. Jetzt habe ich nur noch einzelne Punkte auf dem Bildschirm. Ich zoome kleiner. Keine Chance. Auf den nächsten vierzehn Fotos sehe ich Menschen in Stecknadelkopfgröße, einige Pkw, darunter ein weißer BMW. Es könnte der Wagen des Salvadorianers sein. Allerdings: Weiße große BMW sind im Umfeld der Schönheitsklinik nicht eben selten. Wer drin sitzt, lässt sich wohl nicht einmal mit den Methoden unserer Fotoredaktion herausfinden. Nächstes Bild. Ein Lkw, der aussieht wie jene, die viele Bilder davor auf die ,Beauty Oasis‘ zugefahren sind. Jetzt fährt er von dort weg. Inzwischen gibt es auch schon deutlich mehr Licht. Ich zoome langsam und vorsichtig heran und endlich kann ich in verwischten Buchstaben lesen: „Beauty&Young“. Eigentlich naheliegend, dass sie die eigenen Lkw zum Abtransport des Geheimlabors verwendet haben. Klar können sie aber auch mit dem Lkw ganz zeitig in der Früh ihre Cremes geliefert haben. Ich klicke auf das nächste Foto. Kein Lkw. Noch vier Bilder. Nichts. Wo ist der zweite Lkw geblieben? Es folgen einige Detailaufnahmen. Maisstängel mit Tautropfen, dahinter, angedeutet, das Gebäude. Zoom auf die Terrasse mit dem polizeilichen Absperrband. Ist nicht ganz scharf geworden, deswegen hat sie mir das Bild wohl auch nicht in die engere Auswahl zur Veröffentlichung gestellt. Dann das Kloster im Gegenlicht der Frühsonne, so als hätte Gott es eben erschaffen, um dem eitlen Treiben in der Schönheitsklinik ein Ende zu setzen. Warum sie mir dieses Foto nicht gezeigt hat, verstehe ich nicht. Oder doch: Ich wollte ja beide Gebäude auf einem Bild. Ich speichere das Foto auf meiner Festplatte. Es könnte eine sehr gute Illustration zu meiner nächsten Story werden. Wie hat der Geschäftsführer in seiner Mail gemeint? ,Sex und Rache im Nonnenkloster'. Mal sehen. Nein, ich sollte gleich ganz genau hinsehen: Auch da ist ein Lkw drauf, einer, der von der Schönheitsklinik weg Richtung Bundesstraße fährt. Wieder zoome ich näher. „Beauty&Young“-Lkw Nummer zwei. Eigentlich ziemlich unwahrscheinlich, dass sie gleich mit zwei Lkw Cremes und Pillen geliefert haben. Wieder einmal schaue ich auf mein Telefon. Könnte ja sein, dass Vesna über diesen Transport schon mehr weiß. Keine Nachricht. Hat irgendjemand festgestellt, dass sie zu viel erfahren hat?
Zehn vor sieben. Es ist einfach nicht normal, dass sie sich bis jetzt nicht gemeldet hat. Ich rufe Karl Simatschek an.
„Im Fitnesscenter? Da will ich schon lange einmal hin“, sagt er, nachdem ich ihm das Nötigste erklärt habe.
„Du kennst es?“
„Es gilt als das beste weit und breit. Grünwald hat dem Bezirkspolizeikommando einen Sonderpreis gemacht. Die trainieren alle dort. Zumindest die, die so etwas mögen.“
„Und wie ist das mit dir?“
„Ich laufe lieber. Aber es ist kein Problem für mich, an eine Gastkarte zu kommen. Vielleicht wollte deine Freundin ja auch dorthin, um Kraft zu tanken.“
„Wäre ihr schon zuzutrauen. Aber sie hätte mich angerufen.“ Meine Stimme klingt zu unruhig, ich muss mich zusammenreißen. „Was ist eigentlich los?“ Das kommt jetzt einigermaßen scharf. „Na ja, sie hat offenbar als Packerin angeheuert. Es könnte gut sein, dass das verschwundene Labor in der Fabrikshalle untergebracht wurde. Mehr weiß ich aber auch nicht.“
„Und du bist in Panik, weil sie sich bisher nicht gemeldet hat?“ „In Panik ist zu viel gesagt. Aber so sicher bin ich mir eben doch nicht, dass es die Nonne war“, murmle ich. „Und selbst wenn: Es muss einen Grund geben, warum niemand vom Kellerlabor wissen durfte.“ Kann allerdings sein, dass ich den inzwischen kenne.
„Ich sollte es dir nicht sagen, aber ... es sieht nicht danach aus, als ob das Labor bei ,Beauty&Young‘ wesentlich vergrößert worden wäre. So einseitig sind unsere Ermittlungen wieder nicht, dass wir da nicht nachsähen. Natürlich können wir ohne genaue Tests nicht sagen, ob das eine oder andere technische Gerät auch schon letzte Woche da war. Das Labor ist eng, aber nicht überfüllt. Und wir haben auch sonst wo in der Halle keine Kisten mit Geräten gefunden.“
„Ihr habt einen Hausdurchsuchungsbefehl bekommen?“, frage ich erstaunt.
„Nein. Grünwald und sein Geschäftsführer hatten nichts dagegen, dass wir uns umsehen.“
Wohin haben die beiden Lkw das Labormaterial gebracht? Wohin die Mäuse? Oder hat man die einfach laufen lassen?
„Bist du noch da?“, fragt der Gerichtsmediziner besorgt.
„Ja. Danke. Und lass dir im Fitnesscenter nichts geben!“
„Was soll ich mir nicht geben lassen?“
„Na irgend so ein Aufputschmittel“, antworte ich lahm. Zum Glück fragt er nicht weiter.
Ich stehe in unserer Küche und bastle an einem exotischen Rezept: Lachsfilet, in Rotwein poeliert. Als Vorspeise hatten wir kalte Köstlichkeiten aus dem Delikatessenladen, Oskars Spezialität. Ich könnte nicht sagen, dass mein Appetit groß gewesen wäre. Vesna hat sich noch immer nicht gemeldet. Karl auch nicht. Ich habe Begeisterung für das geheuchelt, was mich üblicherweise wirklich entzückt: zarter Rohschinken vom Reh, ausgesuchte Kapernbeeren, knuspriges Ciabatta, Entenleberterrine, Ziegenkäsebällchen in frischen Kräutern. Oskar wollte natürlich erfahren, was ich im Vulkanland gemacht habe. Ich habe freundlich abgeblockt, habe erzählt, dass ich beim stockschwulen Gerichtsmediziner übernachtet habe, von der seltsamen Pressekonferenz des steirischen Polizeichefs bei Grünwald berichtet und davon, dass die alte Nonne kurz vor der Verhaftung zu stehen scheint. Kein Grund zur Besorgnis also. Es gab Augenblicke, da habe ich selbst daran geglaubt.
Das Nudelwasser kocht. Ich habe dicke italienische Pappardelle gefunden, die kommen, nur in ein wenig Butter und Olivenöl geschwenkt, unter den Fisch. Zwei große Pastateller habe ich in den Mikrowellenherd gestellt. Ist sich gerade ausgegangen. Eine Minute, und sie sind heiß - oder zersprungen. Ich werde es riskieren. Nichts Schlimmeres als kaputte Teller soll heute noch passieren.
In eine Pfanne mit hohem Rand habe ich drei Finger hoch Rotwein gegossen. „Rotwein haben wir wirklich genug zu Hause“, hat Oskar gesagt, als ich ihn gefragt habe, welchen er mitgebracht hat. Ich habe also im Weinschrank gekramt und einen fruchtigen Zweigelt gefunden. Dazu ein großzügiges Stück Butter, einen guten Schuss Olivenöl, etwas Salz, einen Chili im Ganzen — zum Glück habe ich immer welche tiefgefroren. Ich überlege, ob ich noch mit ein wenig Kardamom würzen soll, aber der warme Wein riecht so gut, dass ich es sein lasse. Kann man zur Not auch am Tisch noch tun.
Lachs hat Oskar so viel eingekauft, als würden wir Gäste erwarten. Vesna. Sie mag Lachs. Bitte, melde dich! Ich werde nicht sauer sein, nur weil es keinen wichtigen Grund gegeben hat, dass du so lange nichts von dir hast hören lassen. Ehrlich. Ich werde dir auch Lachs nach genau diesem Rezept zubereiten — vorausgesetzt, das Experiment glückt. Aber bitte: Schick mir endlich eine Nachricht, damit ich weiß, dass es dir gut geht!
Ich ziehe dem Fisch die Haut ab, zupfe die paar Gräten, die fast immer noch drin sind, heraus, schneide das Filet in vier rund fünf Zentimeter breite Stücke. Der Wein kocht auf, ich programmiere die Induktionsplatte auf 90 Grad, 100 Watt. Zum Poelieren ist Induktion perfekt. Die Flüssigkeit wird nicht mehr kochen, nur leicht perlen. Ich lege die Fischstücke ein, beschwere sie mit einem Metalldeckel, ihre Zeit, zu schwimmen, ist vorbei. Dann decke ich die Pfanne zu. Zwei Minuten dürften reichen. Dann ist der Lachs innen noch fast roh und außen zart gar gezogen. Und, wenn mir gelingt, was ich vorhabe, von einer interessant rötlichen Farbe. Pappardelle ins Kochwasser, eine Stielpfanne mit etwas Butter, Olivenöl und Salz anwärmen.
Vier Minuten. Ich könnte zu Oskar hinüber und einen Schluck Wein nehmen. Ausnahmsweise gibt es zum Trinken nicht den gleichen Wein, wie den, der im Gericht ist. Das wäre in diesem Fall zu viel vom Gleichen. Ich habe mich für einen reifen Riesling entschieden. Aber wenn ich zu Oskar gehe ... er könnte mich etwas fragen, das ich ihm nicht beantworten möchte. Weil ich nicht will, dass er sich Sorgen macht. Sorgen mache ich mir selber genug. Er wirft mir einen Blick zu. Ich winke so fröhlich wie möglich. „Gleich fertig!“, rufe ich.
Die Rotweinflasche ist noch zu einem Drittel voll. Oskar blättert in der Zeitung. Ich nehme die Flasche und mache einige schnelle Schlucke. Er hat es nicht gemerkt. Es hat gutgetan. Zumindest für den Moment. Wein zur Beruhigung. Direkt aus der Flasche. Das sollte dir nicht zur Gewohnheit werden, Mira. Eine Minute Mikrowelle. Start. Die Pappardelle sind unterdessen fertig. Ich fische sie mit einem Siebschöpfer und einer Gabel heraus und gebe sie in die Stielpfanne. Kurz schwenken. Die Mikrowelle läutet. Die Teller sind ganz geblieben. Und sind sauheiß. Ich schnappe sie mit zwei Topflappen und stelle sie auf den Anrichteplatz. Ein gutes Zeichen. Ich nehme es als gutes Zeichen. Auch Vesna ist noch ganz. Ich würde im Moment alles als gutes Zeichen nehmen. Ich verteile die Nudeln auf die Teller, decke den Fisch ab, hebe den Lachs vorsichtig heraus. Lilarosa. - Gibt es diese Farbe überhaupt? Wenn nicht, habe ich sie hiermit erfunden. Ich setze jeweils ein Stück auf die Pappardelle, begieße es mit etwas Rotweinfond. Fleur de Sel darüber. Deckel auf die beiden übrigen Lachsfilets. Sie schmecken auch kalt gut. Kann ich mir zumindest vorstellen. Servieren. Ich schreie auf. Ich habe unterschätzt, wie heiß die Teller noch sind. Brandblase. Kein Problem. Nichts Schlimmeres als eine Brandblase soll heute noch passieren. Ich nehme zwei Topflappen und trage die Teller zum Tisch.
„Das riecht ja wirklich gut“, sagt Oskar. Wirkt, als wäre er überrascht. Für einige Momente vergesse ich meine Anspannung. Ich steche mit Messer und Gabel in den Fisch. Innen glasig lachsrosa. Außen zart gegart lilarosa. Ich koste und sehe Oskar zu, wie er einen Bissen in den Mund steckt.
„Das ist dir gelungen“, sagt er geradezu beeindruckt.
Das Telefon. Es läutet. Ich habe es in der Küchenzeile liegen lassen. Ich stürze hin. „Ja?“
Es ist Vesna. Sie ruft von Karls Telefon aus an.
„Kann dir jetzt nicht alles sagen, jedenfalls es geht mir gut. Habe mein Mobiltelefon lieber kaputt gemacht, war zu kritisch, ob sie was nachsehen auf Telefon. Alles löschen war keine Zeit. Bin nicht auf Idee gekommen, sie nehmen mich ohne viel fragen gleich einen Tag zur Probearbeit. Aber habe Chance nützen müssen. Telefon war alt, Fran sagt immer, ich brauche neues.“
„Wo bist du jetzt?“ Das gute Zeichen. Es hat gestimmt. Danke. Danke.
„Bin ich auf Weg zwischen ,Oasis‘ und deinem Gerichtsmediziner. Ich glaube nicht, ich sollte in Schönheitsklinik bleiben. Wenn jemand sieht mich dort und dann als Packerin, man kann auf Ideen kommen. Habe ich übrigens deinen Lateinamerikaner gesehen in Fabrik, aber du auch, oder? Sonst nicht viel. Ich mache Schluss. Kann ich morgen wahrscheinlich noch einmal arbeiten, werde ich tun."
„Ja, den El-Salvador-Typen hab ich gesehen. Warst du im Fitnesscenter? Es könnte sein, dass da so etwas wie Menschenversuche ...“ Ich werfe einen erschrockenen Seitenblick auf Oskar. Er starrt mich an. Ich habe nicht aufgepasst. Ich war so erleichtert. Verdammt. „Ich meine, mit so neuen idiotischen Geräten und so.“
„Was soll das heißen? Was ist los, Mira?“ Jetzt ist Vesna alarmiert.
„Gar nichts, ich bin zu Hause“, flöte ich. „Haben sie die Nonne schon verhaftet?“
„Was soll das? Oh, Oskar. Ich glaube, ich verstehe. Ich melde mich später, wenn es geht. Werde schnell auschecken in ,Oasis‘. Du mache es gut.“
Ich lasse das Telefon sinken und drehe mich lächelnd zu Oskar hin.
„Was die immer wissen will ..."
Oskar lächelt nicht. Der Lachs ist so gut wie unberührt.
„Für wie dumm hältst du mich? Zuerst bist du nervös, als wenn jeden Moment etwas Fürchterliches passieren könnte. Dann springst du auf, redest mit Vesna über Menschenversuche, El-Salvador-Typen.“
„Die sagen alle, dass die Nonne die Täterin war“, versuche ich abzuwiegeln. „Der Gerichtsmediziner hat Vesna sein Telefon geborgt. Sie fährt zu ihm, dann kannst du ihn anrufen. Er wird dir das alles bestätigen. Der Forschungschef war betäubt, bevor er erstochen wurde. Es war eine Art religiöser Ritualmord.“
Oskar sieht mich wütend an. „Ist dir klar, worauf du dich da einlässt? Die Lateinamerikaner, die könnten Profikiller sein. Legen falsche Spuren. Religiöser Ritualmord, dass ich nicht lache! Die Leute von der ARENA-Partei arbeiten mit dem rechten Flügel des amerikanischen Geheimdienstes zusammen, den gibt es unter Obama immer noch, die hoffen auf andere Zeiten, die unterstützen die Rechten gern beim Aufbau einer Guerillaarmee.“
„Oskar, das ist pure Fanta..."
Er packt mich am Arm. Es tut weh. „Mira, das kann schon sein. Aber: Wenn sie etwas mit dem zu tun haben, was in der Schönheitsklinik abläuft, dann sind das nicht irgendwelche Zufallsmörder. Dagegen waren die russischen Geschäftsleute, hinter denen du damals her warst, liebe Onkels. Da könnte es um monströse Projekte gehen, um das ganz große Geld, um Auseinandersetzungen, in denen du einfach nicht wichtig bist. Wenn du fragst, bist du tot. ,Ausschalten' nennt man das dann. Und niemand wird lange ermitteln, wenn eine Journalistin mit dem Auto verunglückt oder von einem Berg gefallen ist. Auch dein lieber Gerichtsmediziner nicht. Und selbst wenn ich mein Leben lang dafür kämpfen werde, dass dein Tod aufgeklärt wird: Ich werde zum lästigen Anwalt mit einer fixen Idee, gelte als armer Trottel, der den Tod seiner Frau nicht verkraften kann und sich seither in abstrusen Verschwörungstheorien ergeht. — Ist dir das klar?“ Er brüllt es.
„Und? Was wirst du tun? Mich wieder einmal verlassen, wenn ich nicht mache, was du willst?“ Ich schreie auch. Als Vesna angerufen hat, habe ich gedacht, für heute sei das Schlimmste vorbei. Sieht so aus, als hätte ich mich getäuscht.
„Nein“, antwortet Oskar, aber es klingt gar nicht gut. Ich nehme noch einen Bissen vom Lachs. Fantastisch. Wirklich. Ist mir gelungen. Warum isst der Idiot nicht? Er starrt mich an. Ich esse weiter. Springe auf. Idee. In meiner Tasche sind die Pressekonferenzunterlagen. Ich gebe sie ihm wortlos. Er liest.
„Du kannst auch mit Chefinspektor Knobloch telefonieren. Er wird dir mehr oder weniger das gleiche sagen. Die Lateinamerikaner haben mit den Morden nichts zu tun. Kann sein, dass die Polizei ein falsches Motiv vermutet. Ich glaube nicht, dass die Nonne getötet hat, weil Schwester Cordula ein Verhältnis hatte. Es könnte um etwas ganz anderes gehen: genetische Versuche zur Lebensverlängerung. Etwas, das gegen den Plan Gottes ist. Kein Mensch soll mitentscheiden dürfen, wann es mit ihm zu Ende geht. Es steht uns nicht zu, die Telomere wachsen zu lassen, und auf den Krebs als Rache Gottes wollte sich die Nonne dabei doch nicht verlassen. Und es steht uns nicht zu, am Bauplan der DNA herumzubasteln.“
Oskar schüttelt den Kopf. „Könntest du mir bitte sagen, wovon du sprichst?“
„Von Alternsforschung und Genetik.“
Den Lachs haben wir nicht aufgegessen. Die Flasche Riesling aber leer getrunken. Als es gegen Mitternacht war, hatte ich den Eindruck, Oskar halbwegs überzeugt zu haben. Und ich habe ihm klargemacht, dass er morgen ja mitfahren könne ins Steirische Vulkanland. Es sei sehr nett dort. Guter Wein, gutes Essen, beruhigende Hügellandschaft. Man müsse sich ja nicht gleich schönheitsoperieren lassen. Er hat etwas gemurmelt wie, ich wüsste ja genau, dass morgen drei Anwälte von der Partnerkanzlei aus Frankfurt kämen. — Übers Wochenende? - Ja, übers Wochenende. Er habe ein Arbeitswochenende vor sich. — Ich auch. Er schläft weit auf seiner Seite des Bettes und ich auf meiner.