Es ist noch fast dunkel draußen, als ich den SMS-Signalton höre. Ich habe nicht tief geschlafen, von irgendwelchen gentechnisch veränderten Lachsen geträumt und von Horden von Nonnen, die betend einen Fluss hinaufziehen. Schon wieder Nonnen. Herr Psychiater, was bedeutet es, wenn man dauernd von Nonnen träumt? Oder ist es in meinem Fall ganz verständlich? Nein, ich habe heute Nacht keinen Sex gehabt. Ach so. Nein, eigentlich glaube ich nicht, dass ich ins Kloster will. Ich beschließe aufzuwachen und klappe die Augen auf. Seitenblick auf Oskar. Er scheint gut zu schlafen. Die SMS ist von Karl Simatschek. „Nur Vormittag in Fabrik, dann Zeit. Treffpunkt 13 Uhr auf Burg bei Kartenverkauf.“ Eindeutig Vesna, die sich wieder sein Mobiltelefon geschnappt hat. Ich sehe auf die Uhr. Kurz nach fünf. Ich rapple mich auf, tapse Richtung Toilette. Und was, wenn ich mich gar nicht mehr hinlege? Vesna ist offenbar schon Richtung Fabrik unterwegs. Ich könnte in der Früh zum Kloster. Ich will Schwester Gabriela noch so einiges fragen — vorausgesetzt, sie sitzt nicht schon in Untersuchungshaft. Vor allem, warum sie nicht gesagt hat, dass sie Medizinerin ist. Auch, was sie von genetischen Möglichkeiten zur Lebensverlängerung hält. Abgesehen davon ist es vielleicht besser, einer weiteren Diskussion mit Oskar aus dem Weg zu gehen. Natürlich meint er es nur gut ... Da ist es wieder, dieses „Gutmeinen“! Er liebt mich, er macht sich Sorgen. - Das tu ich selber auch. Und die Sorgen werden sich erst auflösen, wenn ich einige Punkte geklärt habe. Zum Beispiel: Wohin ist das Labor verschwunden? Wie kann es uns gelingen, zu den Forschungsunterlagen zu kommen? Wo sind die Forscher, die Grünwald angeblich unter Druck gesetzt hat? Ich werde Natalie Veith daran erinnern, dass sie Kontakt zu ihnen aufnehmen wollte. Sicher viel einfacher, sie redet mit ihren Kollegen, als ich versuche es.
Ich dusche rasch, trinke zwei Gläser kaltes Leitungswasser, suche so lautlos wie möglich Unterwäsche, Jeans, T-Shirts zusammen. Oskar scheint noch immer fest zu schlafen. Oder tut er bloß so? In einem Anfall von Zärtlichkeit will ich schon auf seine Bettseite, ihn wenigstens auf die Wange küssen, aber dann denke ich an die Auseinandersetzung von gestern Abend. Keine neue Diskussion. Ist für uns beide besser so.
Gismo schleicht verschlafen in die Küche, streckt sich. Ist mit einem Mal munter. So etwas würde ich auch gerne können. Ich gestehe ihr eine doppelte Portion Belohnungsfutter aus den teuren Säckchen zu, streichle sie. Noch einige Zeilen für Oskar. „Guten Morgen und bis bald, vertrau mir!“ Sieht irgendwie seltsam aus. Der Typ für ein aufgemaltes Herz ist er aber auch nicht. „Mira küsst dich“, kritzle ich dann noch dazu. Die Kräuter auf dem Balkon gießen. Eigenartig, irgendwie ist alles wie Abschiednehmen. Ich atme durch. Unsinn. Ich fahre noch einmal kurz ins Vulkanland, bereite die Story für nächste Woche vor und dann bin ich wieder zurück.
Ein paar Tage im Veneto wären schön. Keine Ahnung, ob Oskar weg kann, vielleicht nächstes Wochenende. Ausspannen, herrlich abendessen, schwimmen in Giannis großzügigem Pool. Mist. Es ist August. Da fährt Gianni selbst ans Meer und sperrt sein Hotel zu. Ein ausgiebiger Besuch bei meiner Freundin Eva im Weinviertel. Neue Weine verkosten, in ihrem Innenhof langsam müde werden. Wer braucht ein längeres Leben? Ein gutes zu haben, darum geht es. - Dann gehe ich endgültig zur Tür, streichle noch einmal Gismo, die offenbar schon alles aufgefressen hat, schubse sie zurück in die Wohnung und sperre von außen ab.
Es ist kurz nach sieben, als ich von der Bundesstraße Richtung Kloster einbiege. Im Radiowetterbericht haben sie erzählt, dass die Hitzeperiode andauern wird. Wunderbar. Mir kann es nicht heiß genug sein. In den Nachrichten kein Wort über die beiden Morde rund um die ,Beauty Oasis‘ . Was bedeutet, dass es nichts Neues gibt. Besser so. Vor dem Kloster scheint einiges los zu sein. Ich fahre näher hin, parke am Straßenrand, nehme den Fotoapparat aus der Tasche. Ganz klar, Polizeiaktion. Außer mir keine Journalisten. Das glaubt mir keiner, dass ich zufällig zur richtigen Zeit gekommen bin. Zwei Autos mit Blaulicht. Ein Polizist in Uniform sieht mich verwundert an. Er scheint zu überlegen, ob er mich vertreiben soll. - Razzia im Nonnenkloster? Einigermaßen seltsam. Die Eingangstür ist offen. Zwei Polizisten in Uniform kommen heraus. Dann Knobloch. Neben ihm Schwester Gabriela. Sie hat die Hände gefaltet, hält einen schwarzen Rosenkranz, den Blick gegen Himmel gerichtet murmelt sie halblaut Gebete. „Heilige Maria, Mutter Gottes ... “ Der Chefinspektor hält sie am Ellbogen fest, eher als ob er einen Sturz verhindern, als wie wenn er sie abführen wollte. Dahinter wieder zwei Polizisten. Scheint mächtig gefährlich zu sein, diese alte Nonne.
Ich renne hin, rufe: „Schwester Gabriela!“ Sie scheint mich gar nicht wahrzunehmen, sie betet weiter, sieht weiter hinauf zum Himmel. Ich bleibe einige Schritte von den Polizeiwagen entfernt stehen. Knobloch blickt mich verärgert an, sagt aber nichts. Einer der Polizisten öffnet die hintere Autotür, Knobloch schiebt die Nonne vorsichtig hinein, sie setzt sich, offenbar ohne zu registrieren, wo sie ist. Die Hände noch immer gefaltet. „... bitte für uns Sünder ...“ Die Polizisten steigen ein, Knobloch geht ums Auto herum, ich renne hin. Sehe, dass in der Tür zum Kloster zwei Nonnen stehen. Wie Statuen. Standbilder alt gewordener Dienerinnen Gottes.
„Was ist das?“, frage ich Knobloch halblaut. „Eine Festnahme?“
„Es wird ein Statement geben“, murmelt er. Es wirkt beinahe so, als wollte er die Gebete von Schwester Gabriela nicht stören.
„Davon gehe ich aus. Waltensdorfer wird sich freuen. Und sein Freund Grünwald auch.“
Knobloch runzelt die Stirn. „Sehen Sie nicht, in welchem Zustand sie ist?“
„... gebenedeit unter den Frauen und gebenedeit ist die ...“, murmelt die Nonne, die vor gar nicht so langer Zeit noch äußerst geistvoll am jenseitigen Konzept gezweifelt hat. Zumindest mir gegenüber.
„Weil Sie sie abgeholt haben. Das muss doch zu viel für sie sein!“, fauche ich den Chefinspektor an.
„Ihre eigenen Mitschwestern haben angerufen.“
„Sie hat gestanden?“, will ich wissen.
„Sie ist abgetaucht in eine andere Welt“, antwortet Knobloch.
„Sie können sie doch in diesem Zustand nicht in U-Haft flüstere ich.
„Nein“, flüstert Knobloch zurück und gibt den Befehl zum Abfahren. Die Autos starten, auf dem Wagen, in dem die Nonne sitzt, wird das Blaulicht ausgeschaltet. Kein Alarmzeichen mehr notwendig. Ich stehe mit offenem Mund da und merke viel zu spät, dass ich den Fotoapparat noch in der Hand halte.
Gerade bevor die Klostertür ins Schloss fällt, springe ich hin, öffne sie. Die beiden Nonnen sehen mich erschrocken an.
„Ich hab mit Schwester Gabriela gesprochen. Gestern. Und auch schon früher. Ich bin die, die dabei war, als sie Schwester Cordula in der Sauna gefunden hat. Was ist mit ihr geschehen?“
Die beiden schütteln den Kopf. Jenseits der sechzig sind sie jedenfalls. Jetzt ist ihnen nicht nur der Nachwuchs, sondern auch noch die Leiterin abhandengekommen.
„Wissen Sie, wohin die Polizei Schwester Gabriela bringt?“, insistiere ich.
Die Dünnere schüttelt wieder den Kopf, die mit mehr Blut in den Wangen sieht mich an und sagt: „Auf die Neurologie. Hat der Inspektor wenigstens gesagt.“
„Was ist mit ihr los?“
Jetzt schütteln wieder beide den Kopf. „Sie betet“, antwortet die Dünne.
Mein Blick fällt auf den Spruch neben der heiligen Hildegard. „Disce et servi“. „Das Motto des Klosters?“, frage ich und deute darauf.
Jetzt nicken beide und die Rotwangigere sagt: „Studiere und diene. Die heilige Hildegard war eine sehr gebildete Frau, sie hat ihr Leben lang studiert.“
Mir kommt eine Idee. Schwester Cordula war Biologin, Schwester Gabriela ist Medizinerin. „Sie haben auch studiert?“
„Schwester Ernestine ist Germanistin und ich habe wie Schwester Cordula Biologie studiert. Es ist Voraussetzung, um in unseren Orden aufgenommen zu werden.“
„Und warum pflegen Sie dann Kranke?“
„Das hat mit dem Dienen zu tun.“
Kann es sein, dass Schwester Gabriela nur deswegen nicht gesagt hat, dass sie Medizin studiert hat, weil ein abgeschlossenes Studium in ihrer Klostergemeinschaft ganz normal ist? Und weil offenbar alle, egal welche Ausbildung sie haben, als Krankenpflegerinnen arbeiten? Warum ist sie verrückt geworden? Was bedeutet es, verrückt zu sein? Vielleicht ist die Versenkung ins Gebet ein wunderbarer Schutz. Was hat Schwester Gabriela gesagt, als ich sie hingestreckt vor dem Kreuz gefunden habe? „Ich habe gebetet und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mich wehren darf.“ Und plötzlich habe ich den Eindruck, dass ich dem, was Schwester Gabriela gesagt hat, vertrauen kann. Der irdischen Gerechtigkeit, wie immer die im Detail aussehen mag, etwas nachzuhelfen, kann allerdings nicht schaden.
Ich treffe mich mit Karl Simatschek auf einer Parkbank vor dem Feldbacher Krankenhaus. Er ist einigermaßen irritiert, weil ich gar nichts gegen die Einweisung der alten Nonne habe. Und weil ich zufrieden nicke, als er erzählt, dass Waltensdorfer, diesmal gemeinsam mit Knobloch, eine Presseaussendung verfasst hat, in der die „Ingewahrsamnahme“ von Schwester Gabriela bestätigt wird und man allen dankt, die zur so raschen Klärung des Falles beigetragen haben.
„Ingewahrsamnahme, ein hübsches Wort“, sage ich.
„Ich habe noch lange nicht alle Untersuchungsergebnisse“, murmelt der Gerichtsmediziner.
„Und du erwartest noch etwas von Bedeutung?“
Er sieht mich an. „Würde ich so denken, würde ich nie etwas herausfinden. Ob etwas von Bedeutung ist, weiß ich erst, wenn ich alles, aber auch wirklich alles untersucht habe.“
„Geht mir genauso“, sage ich, küsse ihn auf die Wange und verabschiede mich. Ich weiß, was ich tun werde, um mir bis zum Treffen mit Vesna die Zeit zu vertreiben. Ich werde etwas für meine Fitness tun. Heute ist Samstag, da könnte „Elite Fitness“ auch tagsüber geöffnet haben. Zum Glück bekomme ich alle heiligen Zeiten einen Rappel und kaufe mir eine neue Sportausrüstung. Quasi ein Anlauf voll guten Willens, der aber dann immer durch irgendetwas gebremst wird. Eine dieser Ausrüstungen habe ich in einer kleinen Tasche im Kofferraum.
Besonders viel los ist nicht im Fitnesscenter. Ich kann mich frei zwischen allen möglichen Geräten entscheiden, das Fahrrad ist mir am wenigsten anstrengend erschienen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Schweiß rinnt mir von der Stirn, aber das soll ja gut sein. Jung und schön: Dafür muss man schon etwas tun. Auch wenn es in meiner Altersklasse realistischerweise eher noch um „gut erhalten“ und „in Form“ gehen kann. Quatsch: Wer sagt, dass Achtundvierzigjährige nicht schön sein können? Irgendwelche dummen Männchen, die sich lieber mit Zwanzigjährigen herumtreiben, weil die weniger widersprechen? Leider nicht nur, wie wir wissen. Ich trete noch einmal kräftig in die Pedale. Geht uns doch allen so, dass wir jung und schlank als schön ansehen. Fragt sich bloß, warum. Weil wir es gelernt haben? Aus der Werbung? Von denen, die das Sagen haben? Oder ist es so etwas wie ein Naturgesetz? Die Jungen und Fitten werden als schön empfunden, weil sie am besten zur Fortpflanzung geeignet sind? Wer sagt das? Ein wenig Fett macht widerstandsfähig. Ich schnaufe und stelle den Fahrradcomputer auf die leichteste Stufe. Ha, so geht das wunderbar. Und sieht aus, als ob ich schnell wäre. Ich sehe mich um. Zwei jüngere Männer stemmen Gewichte und unterhalten sich dabei auch noch leise. Sind sie vielleicht vom Polizeikommando Feldbach? Es wird genug andere geben, die hierher trainieren kommen. Tatsächlich ist das Fitnesscenter, soweit ich das sagen kann, ausgesprochen gut ausgestattet. Alles ist sauber, großzügig. Ich steige vom Rad, wische mir den Schweiß von der Stirn und gehe hinüber zur Theke. Die junge Frau, die mich eingewiesen und mir ein „Schnupperticket“ verkauft hat, steht dahinter und telefoniert. „Personal Trainer“ gebe es bei ihnen nur nach Voranmeldung, hat sie mir gesagt. Und am Samstagvormittag sei überhaupt nur sie da. Schade, ich hatte die Idee gehabt, mir ein paar Fitnesstipps zu holen und gleichzeitig ein wenig darüber zu plaudern, was bei der „Elite“ sonst so los sei. Neben der Theke steht ein großer Schrank mit Glasfront, darin all die Anti-Aging-Cremes und -Pillen, mit denen Professor Grünwald die Menschheit beglückt. Nicht weit von mir entfernt sitzen zwei Frauen in meinem Alter auf Barhockern, vor sich etwas, das aussieht wie Aperol Sprizz. Wahrscheinlich ist es aber nur irgendein alkoholfreier isotonischer Fruchtmix, überlege ich. Passt irgendwie besser ins Fitnessstudio als dieses modische Tussigetränk. Mir ist die Variante Prosecco-Soda-Eis-Campari viel lieber. „Grande Sprizz“ nennt das mein Freund Gianni. Man trinkt es im Veneto schon viel länger als den Aperol-Verschnitt.
„Der Professor hat gemeint, ich soll mir, wenn ich schon da bin, auch gleich die Hüften modellieren lassen.“
„Dann kannst du das Fitnesscenter aber eine Zeit lang vergessen. Mit diesen Kompressionshosen ...“
„Tja, das ist schon wahr. Außerdem finde ich, dass meine Hüften ganz in Ordnung sind.“
Die etwas Ältere wirft einen Seitenblick auf den angesprochenen Körperteil ihrer Freundin und sagt nichts. Sie scheint sie wirklich zu mögen. Die Angestellte des Fitnesscenters telefoniert noch immer. Ich winke. Ich hätte auch gerne einen Drink. Irgendeinen.
„Sie müssen rufen. Susi kriegt gar nichts mit, wenn sie telefoniert“, sagt die Frau, die ihre Hüften doch behalten will, zu mir. „Was möchten Sie denn?“
„Was haben Sie?“
Ich deute auf ihr Glas.
„Na Aperol Sprizz.“
Also doch. „Ich würde auch einen nehmen.“ Ist zur Gesprächsfortsetzung wahrscheinlich gar nicht schlecht. Ich werde das süßliche Gesöff schon überleben.
„Drei Aperol Sprizz“, ruft ihre Freundin in Düsenjägerlautstärke. Die junge Frau hinter der Theke lässt beinahe den Hörer fallen. Wenig später prosten wir drei einander zu und ich erfahre, dass sich die Freundinnen mindestens zweimal im Jahr bei Professor Grünwald einquartieren. „So eine nette Gegend“, sind sie sich einig. Das kann ich bestätigen. Lange dauert es nicht und ich weiß, dass die eine Lehrerin ist und die andere einen Friseursalon betreibt. Bald gelingt es mir, ganz zufällig auf die beiden Mordfälle zu sprechen zu kommen.
„Schwester Cordula, das war ja ganz eine Nette. Ich habe sie sogar als Betreuerin gehabt nach ... beim letzten Mal. Aber wissen Sie, ein wenig naiv war sie schon“, sagt die Lehrerin.
„Naiv würde ich das nicht nennen, eher ein wenig abgehoben. Wahrscheinlich wird man so im Kloster“, ergänzt die Friseurin.
„Aber dass sie sich einen Liebhaber nimmt ... und dann auch noch den Dr. Schilling
„Was war an dem denn Besonderes?“, frage ich und nehme noch einen Schluck. Gar nicht so übel.
„Also bitte. Es wissen doch alle, dass er immer wieder Techtelmechtel hatte, es gibt eben genug Frauen, die auf so etwas ansprechen“, meint die Lehrerin mit den Hüften.
„Ihr ist das natürlich nicht aufgefallen. — Wenn, dann hätte sie schon besser zu Sam gepasst. Aber der ist immer etwas distanziert, leider. Ein Bild von einem Mann. Und diese Hände ...“
„Warum hätte sie besser zu Sam gepasst?“, will ich wissen.
„Oh, er hat sich um ihre Hildegard-Produkte gekümmert. Und er ist ein sanfter Mann. Wenn auch eben sehr zurückhaltend. Die Friseurin schüttelt bedauernd den Kopf.
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, unterbricht ihre Freundin. „Als ich eine Nacht nicht schlafen konnte und die Nachtschwester nicht gekommen ist, bin ich los und habe sie gesucht. Es war ganz seltsam. Als ich Richtung Schwesternzimmer gegangen bin, ist mir Sam entgegengekommen, richtig außer Atem.“
„Die geistlichen Schwestern sind aber in der Nacht nicht da“, weiß ihre Freundin.
„Sage ich ja nicht. Nur dass ich ihn offenbar fast bei etwas ertappt hätte ...“ Die beiden sehen einander an und lachen.
Na super, und für so ein Getratsche opfere ich meine Zeit. Ich sehe auf das gerahmte Foto vis-à-vis. Es zeigt einige durchtrainierte Leute, strahlend, sie haben Medaillen um den Hals und halten sie in die Kamera. Über dem Bild ein Bord mit einer Reihe von Pokalen. Das sollte mich vielleicht mehr interessieren. Andererseits: Sieht eher so aus, als würde das Doping in diesem Fitnesscenter aus Aperol Sprizz am Vormittag bestehen. Wenn ich Sam wäre, ich würde mich bei diesen beiden aufgemotzten Oldtimern auch distanziert geben. - He, Mira. Die sind nicht viel älter als du. Mir hat Sam aber wenigstens eine Sondermassage zukommen lassen. Was hat er damals gesagt? Dass er sich mit diesen Hildegard-Produkten nicht auskenne. Seltsam. Schwester Gabriela und auch die beiden da tun so, als hätte er zur ermordeten Nonne einen recht guten Kontakt gehabt und sie, wo es nur ging, unterstützt. Andererseits: Ich habe ihn mehr oder weniger gleich nach ihrem Tod nach dem Hildegard-Lavendelaufguss gefragt. Vielleicht verständlich, dass er nicht in zu engen Zusammenhang mit ihr gebracht werden wollte. Vor allem bei den vielen Menschen rundum, die Zeit genug haben, jedes Gerücht genüsslich zu verbreiten.
„Trainieren die auch hier?“, frage ich und deute auf das Foto.
„Ich glaube, ich habe sie schon gesehen. Aber so oft sind wir auch wieder nicht da“, erklärt die Friseurin.
Ich habe ohnehin immer mehr den Eindruck, die beiden sind in erster Linie hier, um Aperol Sprizz zu trinken und zu tratschen. Etwas, das ich ja grundsätzlich verstehen kann.
Die junge Mitarbeiterin von „Elite Fitness“ mischt sich ein. „Klar, die kommen fast jeden Tag. Sind aus unserer Gegend, ein richtiges Triathletenteam, auch die Frau, die dabeisteht. Sie sind im letzten Jahr richtig spitze geworden, sogar international. Schlimm ist nur, dass der eine, der da rechts, der Harald, jetzt Krebs hat. Da denkt man, wenn einer so fit ist und so viel trainiert, dann kann so etwas gar nicht passieren. Aber ist eben doch alles Veranlagung.“
Ich horche auf. Wer das Team denn sponsere. Die ,Beauty Oasis‘ ? Nein, erwidert die junge Frau. „Beauty&Young“ natürlich. „Und soviel ich weiß, nehmen sie auch diese Kapseln mit dem Rotweinstoff. Soll super wirken, vor allem gegen Fett.“
„Na ich weiß nicht“, widerspricht die Lehrerin mit den Hüften. „Ich nehme die jetzt schon seit einem Jahr und merke gar nichts.“ „Da muss man eben auch viel trainieren“, erklärt die Fitnessfachkraft.
„Dann brauche ich aber keine Pillen und werde trotzdem schlank“, erwidert die Grünwald-Jüngerin. Wo sie recht hat, hat sie recht.
Der Sache mit den so erfolgreichen Triathleten sollte man jedenfalls nachgehen. Was hat die Genetikerin erzählt? Der Weltklasseradfahrer soll ja auch eine Art von Gen-Krebs gehabt haben. Man weiß eben noch nicht so genau, was passiert, wenn man Zellen genetisch zu mehr Leistung stimuliert. Bloß: Wie findet man heraus, ob das jemand bei den Triathleten auf dem Foto versucht hat? Wie macht man das, wenn selbst Dopingjäger keine Chance haben? Ich sehe auf die Uhr. Höchste Zeit, mich zur Burg aufzumachen. Ich hoffe, da kann man mit dem Auto hin. Mein Bedarf an Training ist für heute gedeckt.
Immer kann man sich das mit der Fitness nicht aussuchen. Ich fahre die Straße durch das idyllische, direkt auf den Vulkankegel gebaute Dorf hinauf, passiere das erste Parkplatzschild, komme zum zweiten Parkplatz. Die Burg liegt immer noch ein ganz schönes Stück über mir. War damals wohl von Vorteil, so weit oben, aber heute ... Ich bin kein Feind, ich will auch gar nichts erobern, ich will bloß in Ruhe mit Vesna reden. Dennoch. Mir bleibt nichts anderes übrig. Ich parke und mache mich an den Aufstieg. Augustsonne. An sich mag ich die. Eine Gruppe älterer Touristen ist dabei, mich einzuholen. Nebenher reden sie auch noch laut, keiner keucht. Sie scheinen aus Bayern zu kommen. Ich gebe Gas. So ist es nicht, dass ich gar keinen sportlichen Ehrgeiz habe. Kurz vor eins bin ich auch tatsächlich oben, gehe durch den Burgbogen. Sehe mich um. Der Kartenverkauf scheint dort vorne zu sein. Er ist gerade von einem Pulk Senioren umlagert. Wie die wohl alle heraufgekommen sind? Vesna sitzt etwas abseits auf einer Steinbank. Ich setze mich neben sie. Bin für einige Momente nur froh, dass ich sie wiedersehe. Ich habe mich da gestern in etwas hineingesteigert. Oskar allerdings auch.
„Du bist zu Fuß gekommen?“, fragt Vesna erstaunt.
„Wie sonst?“
„Gibt es Lift.“
„Das glaube ich einfach nicht.“
Sie grinst und deutet auf ein Schild. „Zur Liftstation“.
„Ein bisschen Bewegung schadet nicht“, bewahre ich Haltung.
„Hast aber ganz schön geschwitzt“, erwidert Vesna und sieht mich an.
Na und? „Ich war heute auch schon im Fitnessstudio. Zwei Frauen aus der ,Beauty Oasis' haben erzählt, dass Schilling für seine ,Techtelmechtel' bekannt war. Und ich habe herausgefunden, dass es eine Triathletengruppe gibt, die seit einiger Zeit sehr erfolgreich ist. Sie wird von ,Beauty&Young‘ gesponsert. Die Resveratrol-Pillen scheinen nicht unter Doping zu fallen.“
Vesna nickt. „Ich habe in Fitnesscenter auch etwas gehört: Schilling hat sich sehr für Sportler engagiert, hat immer wieder Tests gemacht mit ihnen, aber auch mit Stammkunden von Schönheitsklinik.“
Das würde ganz gut zu dem passen, was mir die Genetikerin erzählt hat. Vesna wird zunehmend aufgeregt, als ich die Zusammenhänge zwischen lebensverlängernden Mitteln, genetisch angehobenem Aktivitätspotenzial, Muskelwachstum, Gendoping und Menschenversuchen rekapituliere.
„Ich habe in Fabrik auch etwas gehört. Packerinnen haben erzählt, dass Fahrer sehr sauer sind. Haben Zusatzschichten in der Früh gehabt und das nur, weil sie von ,Beauty Oasis' Kisten zu einem Hof müssen führen.“
„Haben sie erzählt, was drin war?“
„Habe ich mich nur mit einem unterhalten, ist besser so. Ist ein netter Mann, kommt aus Kroatien, ich habe da keine Vorurteile, nur weil ich bin aus Bosnien.“
„Und?“
„Na gut. War Futter für Tiere auf dem Hof und Möbel, die keiner mehr hat gebraucht. Und etwas in einem ganz verschlossenen Container, aber das hat andere Firma hingeliefert.“
„Wo ist der Hof?“
Vesna grinst. „Ist gar nicht weit. Habe schon zwei und zwei zusammengezählt und habe angesehen, was dort ist in der Gegend. Tante hat Zimmer, gleich in der Nähe. Ist sehr ordentliche Fremdenpension, wie es aussieht. Habe zwei Zimmer für uns reserviert.“ „Was für eine Tante?“
„Was weiß ich, Tante von wem. Kroatischer Fahrer hat nur von ,Tante' geredet.“
„Weiß Karl Simatschek davon?“, will ich wissen.
„Von Tante?“
„Von der Lieferung.“
„Du bist verrückt? Er ist sehr netter Mann, aber er ist bei Polizei, zumindest mehr oder weniger.“