Ich weiß nicht mehr genau, wie ich heimgekommen bin. Jedenfalls hatte der Frühverkehr auf der Wiener Südosttangente schon eingesetzt. Ich habe den Wagen in der Tiefgarage geparkt, bin mit dem Lift nach oben gefahren. Wie beruhigend, dieser Lift führt genau dorthin, wo er hinführen soll. Keine Geheimzimmer, keine gesperrten Stockwerke. Gismo hat mich maunzend empfangen. Ich bin mir ganz sicher, dass Oskar sie ausführlich gefüttert hat. Na gut, das war gestern Abend, meine Alte, ich versteh dich ja. Ich streichle ihr buschiges Fell, der orangerote Streifen auf ihrer Brust leuchtet. Fünfzehn Jahre ist Gismo jetzt schon. Merkt man ihr nicht an, das sagen alle, die sie sehen. Die Nonne ist gegen achtzig. Ich öffne eines der besonders feinen Belohnungsbeutelchen und drücke den Inhalt in den Fressnapf. Gismo schnurrt, ihr Schwanz ist steil nach oben gerichtet, die Schwanzspitze vibriert. Wirkt, als könnte sie damit leben, wenn jemand zeitig in der Früh heimkommt und sie nicht so lange wie sonst auf ihr Frühstück warten muss. Ich bin völlig überdreht, schenke mir einen großen Jameson ein, gebe den wichtigen Tropfen Wasser dazu, öffne die Schiebetür und setze mich mit dem Whiskey auf die Terrasse. Morgensonne. Wieder wird es ein warmer Tag werden. Ich mag diese Tage im August. Wer hat vor dem Weingartenhaus auf mich gewartet? Wie kann es sein, dass ein Platz innerhalb von Stunden von einem freundlichen Ort, den man gar nicht verlassen möchte, zu einem bedrohlichen wird? In diesen Stunden ist viel geschehen. Die Mäuse in den seltsamen durchsichtigen Kunststoffbehältern. Das offenbar geheime Labor. Der Operationssaal im Keller. Passt gut mit dem zusammen, was die Lateinamerikaner gesagt haben: Die Operation müsse durchgeführt werden. Vielleicht hätte Schwester Cordula assistieren sollen. Nein, das ist wenig wahrscheinlich. Eine Hand auf meiner Schulter. Ich schreie auf.
„Mira, was ist?“, murmelt Oskar verschlafen. „Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich bin mit zwei Schulfreunden versackt, es war ein Zufall, ich wollte dich nicht mehr wecken. Aber deswegen hättest du doch nicht mitten in der Nacht heimfahren ...“ Er scheint sich an etwas zu erinnern. Er stockt. „Du hast etwas geschrieben von einer toten Nonne in der Schönheitsklinik.“ „Hast du gestern keine Nachrichten gehört?“, murmle ich, mit einem Mal unglaublich müde.
„Ich war den ganzen Tag am Gericht. Und beim Hinausgehen habe ich Michael getroffen, er ist Anwalt in Bozen, wir haben uns ewig nicht gesehen, er hatte sich mit einem anderen Schulfreund, mit Herwig, verabredet, und ich bin mit. — Was ist mit der Nonne?“ „Da gibt es mehrere. Aber jetzt bin ich da“, sage ich und fühle mich endlich wieder restlos geborgen.
„Ich bring dich ins Bett“, murmelt Oskar an meinem Ohr. Und Oskar, der Gute, der Starke, hakt sich bei mir ein und trägt mich mehr ins Schlafzimmer, als dass er mich führt. Ich fühle undeutlich, dass ich ausgezogen werde, ich kichere. Die Nonne war keine Jungfrau, sondern Biologin. Dann spüre ich eine weiche Decke über mir und tauche ab.
Ich höre weit entfernt einen Klingelton, kann ihn zuerst nicht zuordnen. Ich habe geschlafen, traumlos. Zum Glück. — Oder nein, ich war doch gerade in einem kilometertiefen Schacht. War da nicht auch eine Nonne? Sie ist den Schacht hinaufgeschwebt und hat mir zugeraunt, dass ich bloß glauben müsse, glauben, dann könne auch ich schweben, dann käme auch ich nach oben. Klingelton. Doch, es ist der Klingelton meines Telefons. Aber warum so weit weg? Ich klappe die Augen auf. Das war schon wieder ein Traum, in dem Nonnen vorgekommen sind. Sollte nicht zur Gewohnheit werden. Das Telefon liegt üblicherweise neben dem Bett. Da ist es nicht. Oskar ist auch nicht da. Kein Wunder, ich bin heimgekommen, als es längst hell war. Wo ist das Telefon? Jetzt hat es aufgehört zu klingeln. Ich rapple mich auf, spüre einen stechenden Schmerz am linken Oberschenkel, da bin ich gestern irgendwo dagegengerannt, ich durchsuche meine Jeans. Wo ist eigentlich meine Jacke? Gestern Nacht hab ich sie nicht angehabt. Gismo kommt und findet, es sei wieder einmal Zeit zum Fressen. „Such’s Telefon, such’s“, sage ich zu ihr, als ob sie ein Hund wäre. Sie starrt mich verständnislos an. Festnetz. Ich werde vom Festnetzapparat aus mein Mobiltelefon anwählen. Ist sowieso inzwischen seine Hauptfunktion. Ich tapse hin, da läutet es wieder. Ich hab doch noch gar nicht ... Ich renne ins Vorzimmer. Der Ton kommt aus der obersten Lade unseres Kästchens. Ich mache sie auf, da liegt mein Telefon. Hierhin habe ich es sicher nicht ... Unwichtig, endlich schauen, wer dran ist: Vesna! Wie spät ist es? Ich muss es laut gesagt haben.
„Ich versuche seit Stunden bei dir und du fragst, wie spät ist es?“ Sie klingt eindeutig genervt.
„Ich bin zurückgefahren in der Nacht.“
„Ich weiß, du bist zu Weingartenhaus gefahren. Aber du kannst dir Gefühl vorstellen, wenn du überhaupt nicht bist zu erreichen. Habe schon überlegt, auf Polizeikommando anrufen.“
„Anzurufen“, bessere ich sie automatisch aus.
„Jetzt es geht nicht um deutsche Grammatik“, faucht sie. „Wir müssen überlegen, was wir mit Wissen von gestern Nacht machen. Du hast schon mit Chefredakteur geredet? Wir treffen uns in Viertelstunde bei Gasthaus von gestern.“
„Ich bin daheim, in Wien“, versuche ich ihr klarzumachen. Soll ich ihr von meiner panikartigen Flucht erzählen?
Vesna schweigt. Scheint nachzudenken. Oder ist sie sauer?
„Ich bin zu diesem Weingartenhäuschen gefahren und hab ein halb verstecktes Auto gesehen. Und vor dem Haus ist jemand gesessen und hat auf mich gewartet. - Was hättest du getan?“
„Hätte ihn gefragt, was er will.“
„Na sicher“, grolle ich. Vesna hat eine nette Art, mich munter zu machen. „Nach allem, was in den letzten Tagen geschehen ist.“
„War wahrscheinlich dein Gerichtsmediziner.“
„Nein, der war im Bett und hat geschlafen“, erwidere ich. Peinlich, peinlich, dem muss ich wohl auch noch so einiges erklären.
Vesna schweigt wieder, nachdenklich sagt sie dann: „Ich werde nachsehen. Ich brauche Adresse. Ich kann ja auch mieten wollen. Soviel wir wissen, uns bringt hier keiner in Verbindung miteinander.“
„Ich hab noch meine Tasche im Haus“, murmle ich. Redaktion ... Vesna hat natürlich recht, ich muss möglichst schnell mit meinem Chefredakteur reden. Morgen ist Redaktionsschluss. Ich weiß nicht einmal, ob es unsere Fotografin zur ,Beauty Oasis‘ geschafft hat. Ich gebe Vesna die Adresse des Häuschens und den Namen der Winzer, denen es gehört. Den Schüssel habe ich in meiner Handtasche.
„Werde niemand von Kontakt zu dir etwas sagen“, meint Vesna. „Und ich werde Anti-Aging-Kosmetik von Professor einkaufen. Kann mir nicht schaden, hoffe ich. Vielleicht ich habe Chance und kann ihn fragen, ob die auch gut getestet wird. Bin gespannt, ob er von Labor erzählt. Von legalem zumindest. Und ich werde herumhören. Gibt es nicht, ein Labor in Keller und keine Gerüchte darüber. Dafür hier arbeiten zu viele Menschen.“
Auf dem Display meines Telefons sehe ich, dass nicht nur Vesna versucht hat mich zu erreichen. Auch Karl Simatschek, auch meine Fotografin, auch der Chefredakteur hatten den Wunsch, mit mir zu sprechen. Oskar muss das Telefon in die Lade gelegt haben. Ich mag so etwas nicht. Ich möchte selbst entscheiden, ob ich mit jemandem rede. Sei nicht unfair, Mira. Er wollte, dass du zu einigen Stunden Schlaf kommst. Jetzt erst sehe ich auf die Uhr. Es ist kurz nach zwei. Fünf Stunden habe ich also geschlafen. Das ist nicht viel. Andererseits aber doch zu lang.
Der Erste, den ich zurückrufe, ist mein Chefredakteur. Anders als mit seinem Vorgänger verstehe ich mich mit Klaus ziemlich gut. Und ich habe ihm einiges zu erzählen. - Aber was, wie viel davon kann ich schreiben? Ich hab Schwester Gabriela versprochen, dass sie die Story vorher lesen darf. Und ich hab Karl Simatschek versprochen, keine seiner Informationen zu verwenden, solange ich sie nicht offiziell über das Bezirkspolizeikommando bekommen habe. Es läutet einige Male, dann ist die Sekretärin dran. Unser Chefredakteur habe einen Außentermin, in circa zwei Stunden sei er wieder zurück.
„Hat es Sinn, ihn am Mobiltelefon anzurufen?“, frage ich.
„Nein. Es ist eine wichtige Verlagssitzung, er hat es ausgeschaltet.“
Wichtige Verlagssitzung. Was soll da schon wieder ausgeschnapst werden? Riecht nach Sparprogramm, so etwas ist ja inzwischen überall modern. Ich lasse mir einen Termin für halb sechs geben. Ich muss ohnehin in die Redaktion, Post durchsehen, Anwesenheit zeigen. Die Konkurrenz schläft auch bei uns nicht. Außerdem ist es besser, ich bespreche die überraschenden Entwicklungen in meiner Story über plastische Chirurgie mit Klaus persönlich.
Die Fotografin erreiche ich sofort. Ja, sie habe Fotos von der ,Beauty Oasis' gemacht. Allerdings erst heute früh, in der Morgendämmerung. Einige der Bilder dürften sehr gut geworden sein. Sie sei jetzt wieder in der Werkstatt. Es sei noch nicht klar, ob die ihr Auto so weit hinkriegen, dass sie damit zurück nach Wien fahren kann. „Hast du den Leihwagen noch?“, will ich wissen.
„Habe ich, für alle Fälle.“
„Zweihundert Meter von der Schönheitsklinik ist ein dreistöckiges altes Gebäude. Es ist das Kloster der Hildegard-Schwestern. Ich hätte gern Fotos davon. Und wenn es geht, auch Bilder, auf denen das alte Kloster und die ,Beauty Oasis' zusammen zu sehen sind.“ Die Fotografin verspricht, gleich loszufahren. Am Abend müsse sie jedenfalls in Wien sein. Sie dürfe beim Konzert von Pink fotografieren, das werde sie sich sicher nicht entgehen lassen. „Wir sehen uns morgen Vormittag in der Redaktion, passt das?“
Hoffentlich vergisst sie über dem Popstar nicht auf die Bilder, die mit dem Tod einer lang nicht so spektakulären Nonne zu tun haben.
Ich gehe auf unsere Terrasse und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Sonne bringt mir Energie, behaupte ich immer. Ich hoffe, dass das auch heute stimmt.
Oskar spreche ich wieder einmal auf seine Mobilbox, zum Glück halte ich mich zurück und beschwere mich nicht über das verräumte Telefon. Er hat es ja bloß gut gemeint. „Gut gemeint“, oh du liebe Güte, wie ich diesen Ausdruck hasse. Damit wird versucht, fast alles zu entschuldigen. Aber ich muss zugeben, dass mir ein paar Stunden Schlaf gutgetan haben. Den Gerichtsmediziner Simatschek erreiche ich auch nicht, ist mir ohnehin lieber, ich muss erst überlegen, wie ich meinen nächtlichen Anruf erkläre. Immerhin ist er Teil des Polizeiapparates, ich sollte aufpassen, wie viel ich ihm erzähle. Wobei: Früher oder später müssen wir den Ermittlern jedenfalls vom Geheimlabor berichten. Aber besser, ich stimme das alles gut mit Vesna ab. Und besser, dass dann die nächste Ausgabe des ,Magazin‘ schon in Druck ist. Die meisten Polizeistellen halten nicht restlos dicht, irgendwelche befreundeten Journalisten erfahren oft einiges, was eigentlich nicht öffentlich ist. Das wird im Steirischen Vulkanland nicht anders sein.
Ich setze mich an meinen Laptop und google den Namen der ehemaligen Mitarbeiterin von Professor Grünwald, den die Nonne Gabriela auf einem Zettel bei ihrer toten Mitschwester gefunden hat. Natalie Veith. Zum Glück habe ich meinen Computer nicht mit ins Weingartenhäuschen genommen.
„Univ. Doz. Dr. Natalie Veith, Leiterin des Instituts ,Genetic Research Austria' (GRA), Studium der Molekularbiologie und Genetik in Wien, Berlin und Boston. Assistenzprofessorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Mitarbeit am Human Genom Project (HGP), Gastprofessur an der Karl-Albrecht-Universität Kiel.“ Ich scrolle nach unten, da ist ihr Foto: schmales Gesicht, glatt zurückgekämmte rote Haare, grüne Augen, bestenfalls vierzig. Seit einiger Zeit überkommt mich bisweilen ein eigenartiges Gefühl, wenn ich auf Menschen treffe, die deutlich jünger sind als ich und schon einen beeindruckenden Lebenslauf vorweisen können. Ich sollte mich daran gewöhnen. Ich werde mich daran gewöhnen müssen, es wird mir mit zunehmendem Alter immer häufiger passieren. Was ich mich fragen sollte, ist: Was hat eine offenbar sehr erfolgreiche Genetikerin im Labor von Professor Grünwald verloren gehabt? Und warum scheint die Tätigkeit bei Grünwald nicht in ihrer offiziellen Biografie auf der Homepage des GRA auf? Na gut, dafür gibt es vielleicht eine einfache Erklärung. Anti-Aging-Cremes zu testen mag zwar lukrativ sein, aber sicher nicht besonders gut für das Renommee einer Wissenschaftlerin. Dankenswerterweise scheint das Österreichische Genforschungsinstitut kein Geheimbund zu sein. Ich finde zu Dr. Veith sowohl eine Telefonnummer als auch eine E-Mail-Adresse. Ich überlege: In einer Mail kann ich vielleicht besser erklären, warum ich so schnell wie möglich mit ihr sprechen möchte. Da ist die Gefahr auch geringer, dass mich irgendeine Mitarbeiterin abblockt. Andererseits ist es klüger, wenn nicht allzu viel von dem, was ich weiß, schriftlich festgehalten ist. Ich kenne die Frau mit den grünen Augen nicht, hab keine Ahnung, in welcher Verbindung sie jetzt mit Professor Grünwald steht.
Ich lese etwas über die Entschlüsselung von Altersgenen, die Buchstaben verrinnen vor meinen Augen. Fünf Stunden Schlaf nach so einer Nacht sind eben doch nicht besonders viel. Das Institut ist in der Nähe des Praters. Nur ein paar U-Bahn-Stationen von mir entfernt. So wird es am besten sein: Ich fahre einfach hin und läute. Und wenn man mich nicht reinlässt, dann bin ich eben etwas früher als gedacht in der Redaktion. Ohnehin gut. Und besser, als noch einmal einzuschlafen und völlig zerschlagen aufzuwachen.
Ich weiß nicht, wie ich mir ein Genforschungsinstitut vorgestellt habe, auf alle Fälle geheimnisvoller als das GRA. Es ist in einem der relativ neuen hellen Bürogebäude rund um den Prater untergebracht, zusammen mit einer Erdölfirma, einem Versicherungsmaklerbüro und einer Einrichtung, die sich „Panafrikanische Handelsgesellschaft“ nennt. Im großzügigen Foyer ein Portier, der mich nicht daran hindert, an ihm vorbei zu den Aufzügen zu gehen. „Genetic Research Austria, 5. Stock“. Ich gleite hinauf, und ohne allzu lange darüber nachzudenken, was ich der Sekretärin erzählen werde, drücke ich die Klingel. Keine Reaktion. Ich sehe nach oben. Kamera. Hätte ich mir denken können. Vielleicht kann da überhaupt nur jemand rein, den sie kennen, den sie überprüft haben. Genetik ... Genmanipulation ... Grünwald manipuliert Nasen und Brüste. Ein Summen lässt mich zusammenzucken. Mira, reiß dich zusammen, die sehen das. Ich bewege mich langsam nach drinnen, erwarte irgendeine Sekretärin, eine Assistentin, aber da ist niemand. Schmaler Gang. Die erste Tür nach links steht offen. Ich spähe hinein. Hinter einem Schreibtisch eine ältere Frau.
„Wo finde ich Frau Dr. Veith?“, frage ich. Keine Ahnung, wie man die Genetikerin richtig anspricht. Mit „Universitätsdozentin“? Mit „Institutsleiterin“?
„Haben Sie einen Termin?“, fragt die Frau.
Oje, doch eine Sekretärin. „Leider nein, ich habe sie nicht erreicht. Ich bräuchte nur ein paar Auskünfte ... ich bin vom ,Magazin' ...“ Wäre wohl besser gewesen, ich hätte mir vorher zurechtgelegt, was ich sagen werde. Mein Hirn ist noch immer ziemlich umnebelt. Und der Oberschenkel schmerzt. Hoffentlich glauben die hier nicht, ich will irgendeine Story gegen Gentechnik schreiben. Ich setze gerade an, etwas Positives über Genforschung zu sagen, als mir die Sekretärin zuvorkommt.
„Kein Wunder, sie war für ein paar Tage verreist. Sie ist erst vor einer Stunde gekommen, ich weiß nicht, ob sie Zeit hat, da gibt es immer eine Menge aufzuarbeiten.“ Sie greift zum Telefon, drückt eine Taste. „Da ist eine Journalistin, Nat. Hast du kurz Zeit, mit ihr zu reden? Oder soll ich mir anhören, was sie möchte?“ Die Sekretärin nickt und legt wieder auf. „Vorletzte Tür im Gang, auf der linken Seite.“
Sieht so aus, als würden die Leute im Institut angenehm formlos miteinander umgehen. Und auch kein großes Trara rund um überraschende Besucherinnen machen. Ich bedanke mich und eile, bevor es sich jemand anders überlegen könnte, zur besagten Bürotür. Auch sie steht halb offen. Ein Labor habe ich auf meinem Weg nicht gesehen, nur Schreibtische und einige Menschen, denen ihr Computer wichtiger zu sein schien als ich.
Natalie Yeith, offenbar „Nat“ genannt, sitzt ebenfalls hinter ihrem Schreibtisch. Sie allerdings blickt mich aufmerksam an. Ich hätte die Frau vor mir kaum mit dem Bild auf der Homepage in Verbindung gebracht. Diese Genetikerin hat kurze rote Locken, die ziemlich wirr vom Kopf abstehen. Hinter ihr eine Glasfront, durch die man über einige Häuser hinweg auf das Riesenrad, eine Monsterschaukel und Praterbäume sieht.
„Mira Valensky vom ,Magazin'“, sage ich lächelnd und strecke ihr die Hand hin.
„Natalie Veith.“ Die Wissenschaftlerin ist aufgestanden, kommt auf mich zu, schüttelt mir die Hand.
„Ihre Sekretärin war so freundlich
Sie sieht mich etwas amüsiert an. „Das war Professor Fischer. Medizinerin, spezialisiert auf biomedizinische Prozesse.“
Na super, fängt ja schon gut an. „Oh, sorry.“
„Ist ihr mit Sicherheit egal. Sie liebt das Büro am Anfang des Ganges. Und ich fürchte, sie liebt es, bisweilen Menschen in Verlegenheit zu bringen. Dummerweise sind Wissenschaftler nicht so ohne Weiteres an ihrem Äußeren zu erkennen. Im Büro tragen wir nicht einmal einen weißen Mantel. — Was kann ich für Sie tun? Ich sollte heute noch einiges erledigen ...“ Sie deutet auf einen kleinen runden Holztisch mit drei Chromstahlsesseln. Wir setzen uns.
„Ich schreibe an einer Story über Professor Grünwald, den Schönheitschirurgen.“
Der Blick der Wissenschaftlerin wird deutlich distanzierter. „Und da sind Sie dahintergekommen, dass ich einige Monate für ihn gearbeitet habe.“
Jedenfalls redet die Genetikerin nicht lange herum. „Ja, ich wollte Sie um eine Einschätzung seiner Person bitten. Und dessen, was er in seinem Labor macht.“ Ich denke, es ist besser, nicht gleich mit der ermordeten Nonne zu beginnen.
„Okay, wenn Sie wollen, kriegen Sie ein offizielles Statement. Möchten Sie das nicht aufnehmen?“
Die Lady ist tougher, als ich dachte. Und sie will mich offenbar schnell wieder loswerden. Einigermaßen irritiert ziehe ich mein Aufnahmegerät heraus. „Ich dachte zuerst einmal an ein Gespräch, da muss ich nicht mitschneiden.“
„Drehen Sie das Gerät auf und Sie können Wort für Wort veröffentlichen, was ich Ihnen sage.“ Professionelle Unfreundlichkeit pur.
Eigentlich eigenartig, dass sie dermaßen feindselig auf den Namen Grünwald reagiert. Kann schon sein, dass da zwei Welten aufeinanderprallen, Wissenschaft und Schönheitschirurgie, aber ... Ich schalte ein. Sie hat es registriert und konzentriert sich. Sie diktiert druckreif: „Dr. Grünwald ist mit Sicherheit ein anerkannter Schönheitschirurg. Ich trete für die Freiheit jedes Menschen ein, über sich selbst entscheiden zu können. Also kann ich auch nichts gegen ästhetische Korrekturen haben, solange sie von mündigen Personen bei vollem Wissen um das Risiko bei einem Eingriff in die körperliche Integrität gewünscht werden. Wofür ich mich als Wissenschaftlerin einsetze, ist die möglichst objektive und nicht an einzelne Spezialisten gebundene Aufklärung der Bevölkerung über mögliche Neben- und Langzeitwirkungen solcher nicht durch Krankheit indizierter Operationen.“ Dr. Veith sieht mich an. „Ach so“, sagt sie dann. „Das Labor.“ Sie denkt kurz nach, diktiert weiter: „Es stimmt, dass ich von November 2005 bis März 2006 im damals neu gegründeten Labor von Dr. Grünwald mitgearbeitet habe. Es handelte sich bei mir um eine berufliche Übergangsphase, die für meine Biografie als Wissenschaftlerin unwesentlich ist. Damals hat er in seinem Labor vor allem sogenannte Anti-Aging-Produkte getestet. Meine Aufgabe war es, die biomedizinischen Auswirkungen zu klären. Während dieser Zeit lief die Ausschreibung der Stelle als Leiterin des Genetic Research Austria. Als man mir die Institutsleitung anbot, habe ich natürlich mit großer Freude angenommen. Was mich und meine Kollegen beschäftigt, ist das Genom, sind genetische Programme und die Möglichkeit, Wege zu finden, durch die genaue Kenntnis von Genen und ihren Wirkungsweisen Krankheiten zu bekämpfen oder zu verhindern.“
Dr. Veith steht auf. Ich bleibe sitzen. So leicht werde ich es ihr nicht machen. „Sie forschen momentan vor allem an Altersgenen? Das passt mit Professor Grünwalds Anti-Aging-Produkten doch ganz gut zusammen, oder? Jugendkult aus verschiedenen Perspektiven.“
Von Freundlichkeit ist jetzt keine Spur mehr. „Stellen Sie das Aufnahmegerät ab. Das, was ich Ihnen jetzt sage, ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Es wäre besser, ich würde es gar nicht sagen, jedenfalls: Sollte ich etwas davon lesen, verklage ich Sie. Okay?“
Ich nicke brav, schalte das Gerät für sie sichtbar ab und verstaue es tief in meiner Tasche.
„Sie nennen Grünwald , Professor', nicht wahr? Alle tun das, ich weiß“, beginnt die Genetikerin.
„Ich wollte nicht schon wieder einen Fehler machen wie bei Ihrer Medizinerin.“
„Die ordentliche Universitätsprofessorin ist. Wissen Sie, woher Grünwald seinen Titel hat?“
Ich schüttle beschämt den Kopf. Hätte ich eigentlich recherchieren können.
„Sie werden es auch im Internet sehr schwer finden. Er ist Honorarprofessor an der ,Hugo-Grotius-Universität‘!“
Na gut, ein Honorarprofessor ist etwas anderes als ein ordentlicher Professor, aber den Titel darf er genauso tragen, wenn ihm danach ist. Und in Österreich scheint eben vielen danach zu sein. Hätte mir gar nicht gedacht, dass es die Wissenschaftlerin mit solchen Spitzfindigkeiten hat.
„Wissen Sie, wo diese Universität steht?“, blitzt mich die Frau an. Jetzt erst bemerke ich, dass sie, wie auf dem offiziellen Foto der Institutshomepage, grüne Augen hat. „In Kaliningrad. Dort brauchen sie Geld und zeigen sich gerne erkenntlich, wenn man sie unterstützt.“
„Das heißt, er hat sich seinen Titel gekauft?“
Natalie Veith sieht mich spöttisch an. „Wirkt doch gleich viel vertrauenerweckender auf potenzielle Kunden: ,Professor Grünwald'. Kann schon sein, dass er dort drei, vier Vorlesungen über Schönheitschirurgie gehalten hat, aber: Natürlich hat er den Titel gekauft.“
„Den Doktortitel hat er aber schon, oder?“
„Tja, den hat er. Wenn auch nicht in Plastischer Chirurgie, sondern in Dermatologie. Leider kann sich bei uns jeder mit einem medizinischen Abschluss ,Schönheitschirurg' oder ,Spezialist für Ästhetische Medizin' nennen.“
„Und warum haben Sie für ihn gearbeitet?“ Ihr Verhältnis zu ihm muss einmal besser gewesen sein, überlege ich. Diese Frau sieht nicht so aus, als würde sie etwas gegen ihren Willen tun.
Sie zuckt mit den Schultern. „Wie gesagt, es war ein Übergangsjob. Ich bin nicht gerne arbeitslos. Ich habe beim großen Programm zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms mitgearbeitet. Das Genom gilt seit 2003 als decodiert, wegen der Nacharbeiten hatte ich noch Werkverträge bis 2005. Aussicht auf eine Professur in Wien gab es zu dieser Zeit keine, in Boston hat man mir leider eine ziemlich gute US-Amerikanerin vorgezogen, ob ich den Job am neuen GRA kriegen würde, war unklar.“
„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist Pr..., ist Grünwald nicht in der Lage, selbst zu forschen.“
„Na für seine Cremes reicht es, dass er Dermatologe ist.“
„Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass Ihnen die Analyse von Kosmetika genügt hat. Was ist mit diesen Nahrungsergänzungsmitteln, die er auch verkauft?“
Dr. Veith lacht. „Nichts Böses, aber auch nichts besonders Wirksames, was da drin ist. Ein paar Vitamine und Spurenelemente. Es ist übrigens nach neueren Forschungen mehr oder weniger egal, ob man so etwas zu sich nimmt oder nicht.“ Sie sieht auf die Uhr. „Tut mir leid. Ich muss dringend ins Labor. — Das mit seinem Professortitel können Sie natürlich nachrecherchieren, mit einer anderen Quelle belegen und schreiben. Wenn Sie sich trauen. Ich nehme an, Grünwald ist ein guter Anzeigenkunde beim ,Magazin'.“
Jetzt habe ich nur noch eine Möglichkeit. „Kennen Sie Schwester Cordula?“
Die Wissenschaftlerin sieht mich irritiert an. „Wer soll das sein?“ „Eine Schwester, die in der ,Beauty Oasis' arbeitet.“ Eigentlich gearbeitet hat.
„Wenn sie schon seit der Eröffnung 2005 mit dabei war, werde ich sie sicher gesehen haben. — Warum?“
„Sie war eine von den geistlichen Schwestern, eine Schwester vom Hildegard-Orden.“
„Ja, da hat es einige gegeben. — Warum ,war‘?“
„Weil sie vorgestern tot in der stillgelegten Sauna der ,Oasis' gefunden wurde. Ermordet.“
„Und was bitte sollte ich mit ihr zu tun haben?“
„Eine Mitschwester hat einen Zettel mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse bei Cordulas Sachen gefunden.“
Die Wissenschaftlerin schüttelt den Kopf. „Was soll das? Hinter welcher Geschichte sind Sie da eigentlich her?“ Sie setzt sich wieder.
Ich seufze. „Das weiß ich leider selbst nicht so genau. Ich sollte eine Reportage über Schönheitsoperationen und alles drum herum schreiben und habe deswegen in der ,Beauty Oasis' recherchiert. Und dann habe ich durch einen absurden Zufall die Tote gefunden. Das heißt, eigentlich bin ich auf eine alte Nonne gestoßen, die Cordula gefunden hatte. — Übrigens bin ich alles andere als ein Fan von Schönheitsoperationen. Und ein Fan von Grünwald war ich auch schon vor dem Tod dieser Nonne nicht.“
„Wie hat man sie ...“
„Sie wurde in die Sauna gesperrt, man hat ein Brett vor die Tür genagelt. Dann hat man die Sauna auf neunzig Grad gedreht. Sie dürfte drei Tage drin gewesen sein.“
„Wie kann es sein, dass sie so lange niemand entdeckt hat?“
„Das Stockwerk minus drei wurde mit dem Umbau vom Hotel zur Schönheitsklinik mehr oder weniger stillgelegt. Dort, wo der alte Wellnesstrakt ist, kommt offenbar oft wochenlang niemand hin.“
„Da war das also. Aber in diesem Stock ist doch auch immer noch das Labor, oder?“
„Ja, allerdings genau am anderen Ende.“
Die Wissenschaftlerin nickt. „Stimmt. Ich erinnere mich. Da war eine massive Brandschutztür. Ich wollte mich damals einmal dahinter umsehen. Die Tür war versperrt.“
Seltsam, warum war sie in den letzten Tagen offen?
„Gibt es irgendeine Idee, was die Nonne von mir wollte? Warum war die Polizei noch nicht bei mir?“
„Weil die Leiterin des Klosters offenbar nur mir von dem Zettel erzählt hat. Auch sie hat keine Ahnung, warum Schwester Cordula Ihren Namen notiert hat. Wir wissen bloß, dass sie bisweilen in dem Labor arbeiten durfte. Sie war zuständig für die Herstellung der klostereigenen Hildegard-Produkte.“
„Mein Personengedächtnis ist leider ziemlich schlecht ... Aber ich glaube, ich erinnere mich jetzt. Sie war noch ziemlich jung für eine Nonne. Sie hatte studiert. Ich habe ihr erlaubt, unser Hochleistungsmikroskop zu benutzen.“
„Sie war achtunddreißig, als sie starb.“ Ich sehe Natalie Veith an. „Und was wollen Sie von mir? Dass ich behaupte, Grünwald sei es gewesen? Weil jemand wie ihm alles zuzutrauen sei? Dass ich Schmutzwäsche von vor fünf Jahren auspacke? Dass ich selbst gestehe?“
Ich schüttle den Kopf. „Ich möchte dem Tod der Nonne auf die Spur kommen. Und ich möchte herausfinden, was sich hinter der Hochglanzfassade der ,Beauty Oasis' abspielt.“
„Grünwald hat einen Haufen guter, teurer Anwälte. Er hat Freunde in den höchsten Kreisen, wie man so schön sagt. Er weiß über viele angeblich wichtige Menschen Dinge, die sie nicht gerne an der Öffentlichkeit hätten.“
„Klingt nach einer Kreuzung aus Mr. Hyde und Frankenstein“, antworte ich ein wenig spöttisch. „Mir ist Grünwald mit dem gekauften Professortitel und seinem Protzgehabe samt teurer Golduhr und Maserati eher aufgeblasen als gefährlich vorgekommen. Zumindest solange keine Säuren oder Skalpelle in seiner Nähe sind.“ „Unterschätzen Sie ihn nicht.“ Das sagt die Wissenschaftlerin ernst. Ich würde zu gerne wissen, was hinter ihrem kurzen Gastspiel in der ,Beauty Oasis‘ steckt. Übergangsjobs hätte sie mit ihrem Lebenslauf sicher bessere gefunden. — Oder ist der Markt für Genetikerinnen kleiner, als ich glaube? Ich muss mich entscheiden. Erzähle ich Natalie Veith vom geheimen Labor des Dr. Grünwald? Was kann geschehen, wenn ich es tue? Dass sie es der Polizei steckt? Der müssen wir sowieso davon erzählen. Wer sagt mir, dass die Wissenschaftlerin das Geheimlabor nicht ohnehin gut kennt? Es gäbe noch eine Möglichkeit. Ich könnte bluffen. „Nur etwas noch“, sage ich langsam. „Das geheime Labor im Keller. Das haben doch Sie aufgebaut. Da ging es doch um etwas ganz anderes als um Cremes, oder?“
Sie starrt mich an.
„Es gibt Beweise. Und es gibt deutliche Hinweise darauf, dass der Tod der Nonne damit zu tun hat.“
„Mit Ihnen werde ich sicher nicht darüber reden. Wenn die Polizei mir Fragen stellt, ist das etwas anderes.“
„Glauben Sie wirklich, dass ein Provinzpolizeikommissariat intensiv nachforschen wird, wenn es um einen der Vorzeigebetriebe der Gegend geht? Was haben Sie gerade über Grünwald und seine exzellenten Verbindungen gesagt? Man wird zum Schluss kommen, dass die tote Nonne ein Verhältnis hatte und sich heimlich mit ihrem Liebhaber getroffen hat. Als sie ankündigte, das Kloster zu verlassen und ihre Liebe zu leben, war ihm das zu viel. Er hat sie betäubt und die Sauna zugenagelt.“
„Sie haben einen blühende Fantasie“, murmelt die Wissenschaftlerin und sieht mich forschend an. „Was treibt Sie dazu, die Wahrheit herausfinden zu wollen? Eine Exklusivstory?“
Ich erinnere mich an vorgestern Nacht. An die Hitze. An den Geruch. An die halb geöffnete Tür der Sauna. „Ich habe den nackten gegarten Frauenkörper am Boden gesehen, das Gesicht ganz nah an der Türritze am Boden.“
Eine Zeit lang sagen wir beide nichts.
„Kommen Sie mit, ich muss einige Ergebnisse überprüfen.“ Die Stimme der Genetikerin klingt rau. Ich trabe hinter ihr her in den Gang, wir gehen durch die Tür neben ihrer, sind in einer Art Bibliothek, von dort geht es weiter in einen kleinen Raum, in dem weiße Mäntel hängen. Es gibt sie also doch noch.
„Ziehen Sie einen an. Beugt Verfälschungen unserer Ergebnisse vor, ist aber auch eine Art Uniform.“
Wir stehen im Labor. Ich sehe mich interessiert um. Schon Grünwalds Geheimräume sind mir gestern Nacht im spärlichen Schein von Vesnas Taschenlampe ganz anders vorgekommen als herkömmliche Forschungssäle mit Bunsenbrennern und Eprouvetten. Dieses Labor hier wirkt noch viel futuristischer. Strahlendes Weiß, an beiden Wänden eine Reihe von Schreibtischen mit Computern, daneben seltsame Kästen. Die habe ich gestern auch schon gesehen. An einem Platz ein junger Asiate, er steht und sieht in ein überdimensionales Mikroskop, wirkt irgendwie wie ein Fernrohr, nur dass es nicht auf die Sterne, sondern auf eine Schale aus Metall gerichtet ist. Vier weitere Menschen sind im Raum, nur eine Frau mit blonden Haaren dreht sich kurz nach uns um.
„Im Kellerlabor von Grünwald sieht es ähnlich aus“, flüstere ich. „Kann es sein, dass es auch dort um Genforschung geht?“
Natalie Veith deutet, dass ich ihr folgen soll. Ihr Schreibtisch scheint der ganz am Ende des Saales zu sein. Unter einer anderen Art von Fernrohr steht eine Schale mit geleeartiger brauner Substanz. Dr. Veith sieht durch das Rohr, ruft auf dem Computer eine Seite auf, gibt ein paar Daten ein. „Labors sehen heute fast immer so aus“, sagt sie dann. „Wollen Sie einmal durchschauen?“ Sie macht mir den Platz vor dem Fernglas frei. Ich wollte schon immer Gelee in Vergrößerung betrachten. Ich sehe durch und bin verblüfft. Da bewegen sich seltsame wurmartige, aber durchaus hübsche Wesen, sie scheinen Punkte und Beistriche mit Fransen in sich aufzunehmen. Zwei von ihnen leuchten auch noch irgendwie eigenartig.
„C. elegans, ein Nematode, zu Deutsch Fadenwurm. Er ist eines unserer Lieblingsversuchstiere. Das Gelee dient als Nährboden für Bakterien, Nahrung für unsere Würmer.“
„Die Würmer leuchten oder täusche ich mich?“
„Wir verändern Wurmlinien genetisch, die bilden dann in bestimmten Organen oder Zellen fluoreszierende Proteine. So können wir ihre Reaktionen besser beobachten. Ich hab jetzt Blaulicht im Mikroskop, deswegen das hellgrüne Leuchten. Bei grünem Licht leuchten die Proteine strahlend rot. Der C. elegans hat üblicherweise eine zweiwöchige Lebensdauer. Wir haben es geschafft, dass unsere Würmer viermal so lang leben.“
„Genmanipulation?“, frage ich, als ob ich mich damit auskennen würde.
„Dahingehend wird auch geforscht. Aber bei uns geht es mehr um Genstimulation.“
„Haben Sie das auch bei Grünwald gemacht? - Aber warum geheim? Ist das nicht legal?“
„Natürlich ist das legal. Doch wenn man hofft, damit sehr viel Geld zu verdienen, dann macht man es lieber so versteckt wie möglich, vor allem wenn man keinen milliardenschweren Pharmakonzern hinter sich hat.“
„Kann es sein, dass die Nonne hinter diese Forschungen gekommen ist und deshalb sterben musste?“ Es hört sich melodramatisch an und scheint so gar nicht in diese weiße Forschungswelt zu passen.
„Ich weiß nicht, wo Grünwalds Labor mit seinen Ergebnissen steht. An Methoden zur Lebensverlängerung forschen sehr viele, verständlicherweise. Er soll einige sehr gute Wissenschaftler eingekauft haben“, flüstert die Genetikerin. „Schwester Cordula war Biologin, soweit ich mich erinnere.“
„Sie glauben, dass sie mitgearbeitet hat?“
„Ich habe seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zu dem Labor. Ich weiß es nicht.“ Die Wissenschaftlerin zieht sich Handschuhe über und öffnet die Tür eines seltsamen kleinen Kastens auf ihrem Schreibtisch, sie nimmt eine weitere Schale heraus. „Petrischale“, erklärt sie. „Kennen Sie sicher noch vom Schulunterricht.“
Leider, so spannend und praktisch orientiert war unser Unterricht nicht. Auch keinerlei kleine leuchtende Würmer mit hübschen Namen.
„Da drin sind Bakterien, die wir mit Substanzen quasi genetisch aufbereitet haben. Wir forschen zurzeit vor allem an Resveratrol und damit vergleichbaren Stoffen. Sie haben sicher davon gehört. Das ist der Stoff im Rotwein, der das ,French Paradoxon' auslöst: Obwohl die Franzosen sehr viel und auch fett essen, ist ihre Rate an Herz-Kreislauf-Erkrankungen relativ niedrig — und das steigert natürlich ihre mittlere Lebenserwartung. Es hat damit zu tun, dass sie gerne Rotwein trinken. Und der enthält Resveratrol. Dieses Resveratrol hängt sich sozusagen an bestimmte Proteine, die Sirtuine genannt werden, und kann dadurch ihre Aktivität verändern. Sirtuine entfernen normalerweise Essigsäurereste, also Azetylgruppen, von unterschiedlichen Proteinen. Ganz wichtig sind in diesem Zusammenhang die Histone, sie binden an das Erbgut, und je nachdem, wie Abschnitte der DNA mit viel oder wenig azetylierten Histonen dekoriert sind, werden sie verwendet oder sind stillgelegt. Kurz: Dadurch kann man die entsprechenden Gene ein- oder ausschalten. Man kann ganze Genprogramme gestalten. Auch so komplexe Programme, wie sie für die Ernährung oder die Fortpflanzung notwendig sind, werden auf die Art gesteuert, aber auch Krebs und das Altern.“ Ich versuche angestrengt, dem zu folgen, was mir die Wissenschaftlerin da erzählt, und es in meine Sprache zu übersetzen. Alles hab ich nicht kapiert, eines aber wohl doch: „Über dieses Resveratrol lassen sich tatsächlich Genprogramme steuern? Und die haben dann Einfluss auf den Alterungsprozess?“
„So einfach ist das nicht. Aber jedenfalls kann durch die Bindung des Resveratrols an Sirtuine die Zellalterung entschleunigt werden. Es täuscht dem Körper eine Kalorienrestriktion vor, die Zellen nehmen dann gewissermaßen alle Kraft zusammen, um zu überleben, alle körperlichen Ressourcen werden sehr effizient eingesetzt. Darüber hinaus wird ständig altes Biomaterial abgebaut und sofort rezykliert, sodass die Biomasse jung bleibt — dadurch sind die Zellen strukturell verjüngt und funktionieren auch besser. Im Hirn kommt die Kalorienreduktion übrigens so an, dass der Trieb, Futtersuche zu betreiben, maximal angeregt wird. In Tierversuchen sehen wir, dass gerade die ausgehungertsten Tierchen wie die Wilden herumflitzen, sie entwickeln eine erstaunliche Energie.“
Natalie Veith stellt ihre Schale neben die mit den spannenden Würmern unter das große Mikroskop, öffnet eine Lade, nimmt aus einer kleinen Schachtel ein dünnes Metallteil und gibt vorsichtig etwas von der einen in die andere Schale. „Ich siedle unsere Würmer um, isoliere einige“, murmelt sie. Ich sehe konzentriert hin. Den C. elegans kann ich mit freiem Auge nicht entdecken, aber das Plättchen, das kenne ich: Es sieht exakt gleich aus wie jenes, das ich seit vorgestern in der Handtasche habe.
„Wo haben Sie eigentlich Urlaub gemacht?“, frage ich dann.