DIE HEILSAMEN SCHILDCHEN

 

Vor ein paar Tagen saßen Jossele und ich im Cafe und beklagten den moralischen Niedergang unseres armen, jungen Staates. Die Kaffeehäuser waren voll von Nichtstuern, denen es offenbar sehr gut ging, ohne daß man gewußt hätte, wovon sie eigentlich lebten. Schon seit drei Tagen saßen wir vormittag und nachmittag in diesem Kaffeehaus, um das Rätsel zu lösen, aber es gelang uns nicht. Und zwei so begabte junge Menschen wie wir, die zu kühnsten Taten bereit waren, mußten für ein niedriges Gehalt arbeiten, um mit knapper Not das Leben zu fristen! Warum, fragten wir uns, warum? Dann standen wir auf, zahlten und gingen in ein anderes Kaffeehaus.

Plötzlich sah Jossele ein kleines, braunes Paket auf einem Sessel liegen. Ein sichtlich herrenloses Paket, das wahrscheinlich schon seit längerer Zeit dort lag.

»Wir sollten es dem Kellner übergeben«, sagte ich.

»Natürlich«, antwortete Jossele. »Aber das muß ja nicht gleich sein.«

Wir fochten einen längeren Kampf mit unserem Gewissen aus und siegten. Die von Jossele vorgeschlagene Kompromißlösung ging dahin, daß wir das Paket öffnen sollten, bevor wir es dem Kellner übergäben.

»Wer weiß«, sagte Jossele, »vielleicht sind gefälschte Dollarnoten drin, und wir kommen in Schwierigkeiten, wenn wir uns davon nichts wissen machen.«

Diesem zwingenden Argument beugte ich mich. Wir rissen das Paket auf. Es enthielt etwa 10000 kleine, gummierte Schildchen, wie man sie als Etiketten auf Medizinflaschen verwendet:

 

Ol. Rizini

RIZINUSÖL

Vor Gebrauch schütteln!

 

Als Jossele die Schilder sah, wurde er vor Aufregung ganz blaß. Seine Stimme zitterte:

»Mein Gott . uns ist ein Vermögen in den Schoß gefallen . wir sind reich!«

Der übermäßige Koffeingenuß schien seine Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigt zu haben. Ich versuchte auf ihn einzusprechen, aber er hörte mich nicht, sondern rannte - indem er mich an der Hand hinter sich herzog - aus dem Kaffeehaus und in die nächste Metallwarenhandlung, wo er zwei große Schachteln mit Stecknadeln erstand. Und dann ging's los. Jossele trat an einen Herrn mittleren Alters heran, der friedlich des Weges kam, und steckte ihm ein Schildchen an den Rockaufschlag.

»Macht wieviel?« fragte der Herr.

»Nach Belieben«, antwortete Jossele und bekam 10 Aguroth. Das nächste Opfer war eine Dame mit zwei kleinen Mädchen. Kaum hatte Jossele die Dame mit dem Rizinusschild besteckt, heulten die beiden kleinen Mädchen im Chor: »Mami, wir auch!« 25 Aguroth.

Ein vornehmer Stutzer gab uns ein halbes Pfund und ließ das Schildchen hochnäsig in der Tasche verschwinden. Im Durchschnitt beliefen sich die Spenden auf 10 Aguroth. Ein junger Existentialist wehrte sich mit der Begründung, daß er nicht religiös sei. Ein übellauniger Herr erklärte, er dachte nicht daran, uns Faschisten auch noch Geld zu geben. Nach einiger Zeit teilten wir unsere Vorräte und arbeiteten getrennt. Bald darauf war es bereits soweit, daß Passanten stumm auf ihren Rockaufschlag deuteten, wenn wir an sie herantraten; sie hatten der von uns geforderten Wohltätigkeit bereits Genüge getan.

Gegen Mittag gingen uns die Stecknadeln aus, so daß wir neue kaufen mußten. Am Abend gab es in ganz Tel Aviv keinen Menschen ohne Rizinus am Rockaufschlag. Wir hatten unsere gesamten Vorräte angebracht. Und jeder von uns hatte mehrere tausend Pfund vereinnahmt.

Sobald die neuen Rizinus-Schildchen fertiggedruckt sind, fahren wir nach Haifa. Anschließend nach Jerusalem.