Auch rückständige Länder wie das unsrige werden dann und wann durch den Besuch eines Künstlers von Weltruf ausgezeichnet. Das Auftreten solcher Künstler ist jedesmal ein noch nie dagewesener Erfolg, und mit Recht. Denn die Eintrittskarten sind so unverschämt teuer, daß man schon deshalb in Ekstase geraten muß, um das enorme Geldopfer zu rechtfertigen.
DIALOG UNTER FACHLEUTEN
»Haben Sie Kly ... Klyt ... Klytämnes ... haben Sie Martha Graham gesehen?« »Ja.«
»Wie hat Sie Ihnen gefallen?« »Wem? Mir?«
»Ja. Wie hat Ihnen Martha Graham gefallen?«
»Das läßt sich nicht so einfach sagen.«
»Sagen Sie's kompliziert.«
»Es war eine sehr eindrucksvolle Darbietung.«
»Was meinen Sie? Was für eine Art von Darbietung?«
»Ich meine ... Sie wissen ja. Der Tanz, und alles das. Haben Sie sie gesehen?«
»Ob ich sie gesehen habe? Dreimal habe ich sie gesehen, lieber Herr.«
»Eben. Das finde ich auch. Sie ist einfach phantastisch.«
»Meine Schwester arbeitet bei ihrem Impresario als Sekretärin.«
»Wie recht Sie haben. Wenn man Freikarten bekommen kann, so soll man sie nehmen.«
»Ich hätte die Karten auch bezahlt.«
»Selbstredend. So etwas ist ja ein einmaliges Ereignis.«
»Gar so einmalig. In der letzten Zeit wimmelt es von Truppen dieser Art.«
»Richtig. Da gehen zwölf auf ein Dutzend.«
»Ihre Truppe ist allerdings wirklich etwas Außergewöhnliches.«
»Wem sagen Sie das. Sie ist grandios.«
»Sind Sie wirklich so begeistert von ihr?«
»Bin ich denn so begeistert? Um die Wahrheit zu sagen.«
»Jedenfalls ist sie eine Persönlichkeit.«
»Ja. Ein Original.«
»Schade, daß sie keine Ahnung vom Tanzen hat.«
»Jetzt haben Sie's genau getroffen. Sie ist überhaupt keine Tänzerin, sie ist einfach.«
»Ein Genie.«
»Einfach ein Genie.«
»Sie braucht, um zu tanzen, gar keinen Tanz mehr. Sie ist über die Impulsivität der Rhythmen längst hinaus.«
»Ein wahres Wunder. Was sie da alles ausdrückt. Nur durch die bloße Bewegung, wie?«
»Tja. Hm. Ihre bloßen Bewegungen habe ich nicht so recht verstanden.«
»Ich auch nicht. Das reinste Abrakadabra.«
»Nicht unbedingt.«
»Genügt es denn nicht, daß ihr schöpferischer Bewegungsakt bis in die innersten Wurzeln unserer Erlebnisbereitschaft vorstößt?« »Natürlich genügt das. Sie ist eben eine großartige Künstlerin.«
»Ich würde sie nicht gerade eine Künstlerin nennen.«
»Wenn man bedenkt, daß sie doch schon recht alt ist.«
»Eine Zauberin ist sie, lieber Herr. Eine Zauberin.«
»Jetzt nehmen Sie mir das Wort aus dem Mund. Sie ist großartig.«
»Haben Sie gespürt, wie unwiderstehlich ihre Transzendenz den Beschauer umfängt und einhüllt?«
»Man könnte geradezu sagen: einlullt.«
»Tatsächlich. Ungefähr in der Mitte des Programms bin ich eingeschlafen.«
»Sie auch? Merkwürdig. Wissen Sie, wie sie da eine halbe Stunde lang reglos diesen Agamon hypnotisiert - also diesen Römer - da fielen mir einfach die Augen zu. Selbst die größte Widerstandskraft geht einmal zu Ende. Finden Sie nicht?«
»Wie man's nimmt. Ich meinerseits bin aus ganz anderen Gründen eingeschlafen. Die Aufregung, die sich in mir angestaut hatte, war zuviel für mich.«
»Haben die Leute hinter Ihnen auch Bonbons gelutscht?«
»Nein.«
»Also woher die Aufregung?«
»Weil doch in allen Zeitungen stand, daß diese Frau etwas Außergewöhnliches ist, und wenn man sie sieht, so hat man ein Gefühl, als wäre man in einem . in einem .«
»In einem Heiligtum.«
»Danke. Ja. In einem Heiligtum.«
»Und das ist es eben. Wenn ich in einem Heiligtum sein will, dann gehe ich nicht ins Theater. Im Theater will ich im Theater sein und will keine Heiligtümer sehen, sondern das Leben. Besonders im Ballett.« »Sehr richtig. Dabei wird im Ballett mit Vorliebe gestorben.«
»Na ja. Aber diese Stille.«
»Phantastisch.«
»Es war kaum zum Aushalten.«
»Ich sage Ihnen: ich habe gelitten.«
»Offenbar geht's nicht anders.«
»Da kann man nichts machen.«
»Und die Symbole? Jede Bewegung, jedes Zucken, jede Sicherheitsnadel symbolisiert etwas.«
»Symbole sind etwas Beklemmendes.«
»Leider versteht man sie nicht immer.«
»Endlich wagt es jemand, das auszusprechen!«
»Einen Augenblick. Man versteht sie zwar nicht, aber das ist auch nicht ihre Aufgabe. Ihre Aufgabe ist, das intuitive Ego unserer synkopischen Struktur zu wecken.«
»Ja. Das ist ihre Aufgabe.«
»Zumindest nach Ansicht der Dummköpfe, die in den Zeitungen schreiben.«
»Diese Kretins.«
»Wo doch die Aufgabe der Symbole im Gegenteil darin besteht, uns von der figuralen Abhängigkeit zu befreien, nicht wahr?«
»Natürlich. Sonst wäre es ja sinnlos.«
»Was wäre sonst sinnlos?«
»Dieses Zeugs, von dem Sie vorhin gesprochen haben. Die Synkopen.«
»Was sind Synkopen?«
»Sie haben es ja schon gesagt.«
»Richtig. Jetzt erinnere ich mich. Aber wer versteht das schon?«
»Niemand. Ich gewiß nicht.« »Warum sagen Sie es dann nicht?«
»Weiß der Himmel. Manchmal bringe ich es einfach nicht über mich, das zu sagen, was ich mir denke.«
»Warum? Ich würde glatt zugeben, daß das alles für mich ein Buch mit sieben Siegeln ist.«
»Genau. Sieben Siegel.«
»Aber das ändert nichts daran, daß sie ein Genie ist.« »So viel steht fest.«