Was uns im Kino am besten gefällt, ist der hohe erzieherische Wert der Filme, die man zu sehen bekommt. Immer wird der Verbrecher gefangen und seiner gerechten Strafe zugeführt, niemals macht sich ein Verbrechen bezahlt. Selbst der Durchschnitts-Zuschauer, ob er will oder nicht, muß sich auf diese Weise darüber klarwerden, daß es keinen Sinn hat, zu stehlen, zu rauben oder zu morden. Zum Schluß erwischt ihn ja doch der lange Arm der Zensur.
LIEBE DEINEN MÖRDER
Wir Intellektuelle bevorzugen natürlich die hochklassigen Filme, in denen Schauspielkunst und witzige Dialoge vorherrschen. Aber dann und wann verspüren auch wir ein gewisses Bedürfnis nach Entspannung, und dann sehen wir uns einen Kriminalfilm oder etwas dergleichen an. So geschah es auch mir, als ich neulich an einem Kino vorbeikam und folgendes angekündigt sah:
MASSAKER IN DER HÖLLE. NUR FÜR ERWACHSENE.
EASTMAN-COLOR.
Wenn ich EASTMAN-COLOR lese, ist es um mich geschehen. Ich kaufte eine Karte und trat ein.
Es begann sehr verheißungsvoll. Eine behaarte Hand näherte sich langsam der Kehle einer Frau - umschloß sie - ein erstickter Schrei klang auf - die Brille der Dame fiel zu Boden - wurde von plumpen Schuhsohlen zertreten - nein, zerrieben - eigentlich überflüssig, finde ich - wenn er sie schon umgebracht hat, warum muß er dann noch ihre Brille hinmachen - - jetzt stapfen die schweren Schuhe hinaus - die Türe öffnet sich - und in der geöffneten Tür erscheint der Vorspann.
Aufblenden.
Wir sind im Polizeihauptquartier. Inspektor Robitschek, der hartgesottene Chef der Kriminalpolizei, dem dennoch eine gewisse menschliche Wärme nicht abgeht, hält seiner Mannschaft eine Standpauke: »Das ist jetzt der 119. Mord, der im Laufe eines Jahres in Paris begangen wurde. Und die Ermordeten sind immer Hausbesitzer. Ich werde verrückt. Gerard, was sagen Sie dazu?«
»Chef«, sagt Gerard, ein junger, gutaussehender Kriminalbeamter in Zivil und mit einigem Privatvermögen. »Der Mörder ist kein Mensch, sondern ein Teufel.«
Schnitt.
Dunkle Nacht. Eine dunkle Seitengasse. Die dunklen weiblichen Gestalten, die hier auf und ab gehen, tragen dunkle enganliegende Kleider. Solchen Gegenden bleibt man besser fern, sonst wird man in dunkle Affären verwickelt.
Die Kamera fährt langsam zum fünften Stock eines trostlosen Mietshauses hinauf und weiter durch ein offenes Wohnungsfenster. In der Wohnung sitzt - zitternd vor Kälte, weil sie nur ganz leicht bekleidet ist - die zweite Preisträgerin der Schönheitskonkurrenz um den Titel der Miss Cöte d'Azur. Ein untersetzter Mann mit Brille schreit sie an:
»Entweder Sie zahlen morgen früh«, schreit er, »oder ich werfe Sie hinaus!«
Kein Zweifel, es ist der Hausbesitzer. Die Dinge beginnen Gestalt anzunehmen. Es handelt sich um Mord Nr. 119.
»Monsieur Boulanger«, beschwört ihn bebend Miss Cöte d'Azur II. »Warten Sie doch wenigstens bis morgen mittag ... Mein Vater ist krank ... Schnupfen ... vielleicht eine fiebrige Erkältung.«
Boulanger entdeckt die Reize der jungen Dame. In seinen Augen glimmt es unmißverständlich auf. Er kommt näher, schleimig, widerwärtig, speichelnd.
»Hahaha«, lacht er, und zur Sicherheit nochmals: »Hehehe. Wenn Sie nett zu mir sind, Valerie, dann läßt sich vielleicht etwas machen.«
Jetzt wird es delikat. Er beginnt sie zu entkleiden. (Man erinnert sich, daß sie schon vom Start weg sehr wenig anhatte.) Sie versucht sich ihm zu entwinden. Die Männer im Publikum ballen in ohnmächtiger Wut ihre Fäuste. Valerie weicht zurück, bis sie aus Gründen der hinter ihr angebrachten Wand nicht weiterkann. Die Vergewaltigung, das sieht wohl jeder, ist nur noch eine Frage von Sekunden.
Aber da - gerade in diesem Augenblick - wird das Fenster aufgestoßen und ein Mann in schwarzem Regenmantel springt ins Zimmer. Ein Mann? Ein Koloß. Ein bärtiger Riese. In seinen Augen mischt sich unergründliches Leid mit unerbittlicher Entschlossenheit.
Boulanger hat allen Geschmack an dem kleinen Abenteuer verloren. Er befindet sich in einer recht unangenehmen Lage, um so mehr, als er verheiratet ist.
»Wer sind Sie?« fragt er. »Was wollen Sie?«
Leise und dennoch mit unheimlicher Schärfe antwortete der Riese:
»Ich bin Ihr Mörder, Boulanger.«
»Das will mir gar nicht gefallen«, stammelt Boulanger. »Was habe ich Ihnen getan?«
»Sie haben mir gar nichts getan, Boulanger«, lautet die Antwort des raunenden Riesen. »Andere besorgten das für Sie.«
Rückblendung.
Weit in der Vergangenheit. Eine arme Familie ist im Begriff, auf die Straße gesetzt zu werden. Des Vaters Brust hebt und senkt sich in stummer Verzweiflung, der Mutter lautes Schluchzen dringt herzzerreißend durch den Raum. Ein kleines Kind mit einem kleinen Wagen steht verloren in der leeren Zimmerecke. Plötzlich nimmt der kräftig gebaute Junge einen Anlauf und springt den grausamen Hausherrn an, dem daraufhin die Brillengläser zu Boden fallen. Das wohlgeformte Kind zertrampelt sie.
Von alledem sieht Boulanger natürlich nichts, weil er sich ja auf der Leinwand befindet und nicht im Zuschauerraum.
Er hat also keine Ahnung, aus welchen tieferen psychologischen Ursachen die Hände des Riesen sich jetzt um seine Kehle schließen und ihn in den seligen Herrn Boulanger verwandeln. Seine Brillengläser fallen zu Boden. Schon sind sie zertrampelt. Bravo. Wir alle stehen auf der Seite des Mörders. Ein Blutsauger weniger. Am liebsten würden wir dem bärtigen Riesen anerkennend auf die Schulter klopfen und sagen: »Gut gemacht, Gustl, alter Junge!« Jedoch ... Jedoch: was ist mit Valerie? Valerie scheint eine alberne Ziege zu sein. Man kennt diesen Typ. Statt ihrem Retter zu danken, stürzt sie aus dem Zimmer und die Stiegen hinauf, wobei sei kleine hysterische Schreie ausstößt. Schweratmend folgt ihr der Koloß. Was will er von ihr? Unser Gerechtigkeitssinn sträubt sich. Bei aller Anerkennung seines menschlichen Vorgehens dem Hausherrn gegenüber - dieses Mädchen trägt ja nicht einmal eine Brille. Er brauchte sich also nicht mit ihr abzugeben.
Valerie erreicht das Zimmer ihres kranken Vaters und schlüpft durch die Tür, die sie von innen versperrt.
»Ich habe ihn gesehen«, keucht sie. »Den Mörder ... das Monstrum ... Boulanger ... tot ... endlich ... entsetzlich ... Telephon ... Polizei.«
So sind die Weiber. Noch vor wenigen Augenblicken hat dieser Mann sie vor dem Schlimmsten bewahrt - und jetzt liefert sie ihn dem Auge des Gesetzes aus.
Der knochige Finger des Vaters zittert in Großaufnahme, als er die Wählscheibe dreht. Von draußen pumpert der verratene Mörder an die Türe. Er hört zum Glück jedes Wort, das drinnen gesprochen wird. Spute dich, Freund, sonst ist es aus mit dir ...
»Hallo«, röhrt der sieche Vater in die Muschel. »Polizei? Kommen Sie rasch! Der Mörder! Meine Tochter hat den Mörder gesehen.«
Im Hauptquartier lauscht angespannt Inspektor Robitschek.
Der Vater setzt die Life-Übertragung fort:
»Er wird die Türe eintreten ... Es ist keine Zeit zu verlieren ... Gott helfe uns allen ... Schluß der Durchsage.«
Der niederträchtige Denunziant legt den Hörer auf. Inspektor Robitschek ruft nach Gerard. Ein überfülltes Polizeiauto saust mit heulenden Sirenen an den Tatort.
36 Polizisten und 4 Detektive gegen einen einzigen, einsamen Mörder - ist das fair? Warum kämpfen sie's nicht Mann gegen Mann aus, und der Sieger zieht den ganzen Einsatz?
In rücksichtslosem Tempo nimmt das Polizeiauto seinen Weg durch die engen Gassen. Plötzlich - Peng. Die Türe hat nachgegeben. Langsam, mit unheil drohenden Schritten kommt der Riese auf Valerie zu. Offenbar will er die peinliche Geschichte jetzt zum Abschluß bringen.
Das kann man verstehen. Wir alle sind rechtschaffene, gesetzestreue Bürger, aber unter den gegebenen Umständen würden wir ebenso handeln.
Der Vater, dieser unsympathische Spaßverderber, versucht abermals zugunsten seiner Tochter zu intervenieren. Es muß ihm vollkommen entfallen sein, daß Boulanger ihn auf die Straße setzen wollte. Sinnloser Haß gegen den bärtigen Riesen trübt seinen Blick.
Der Riese hebt einen Sessel hoch und läßt ihn auf den Kopf des Verräters niedersausen. Recht so. Ein wohlverdientes, ein passendes Ende. Und nun zu Miss Cöte d'Azur II. Wo steckt sie denn? Dort in der Ecke.
Die Pranke des Riesen nähert sich ihrer Kehle ... zwanzig Zentimeter ... acht ... sechs ... vier ... zwei ... Machen wir einen raschen Überschlag. Einerseits ist das Mädchen unschuldig, denn nicht sie, sondern ihr seliger Herr Papa hat die Polizei verständigt. Anderseits: an wen soll sich Gustl in seinem gerechten Zorn jetzt halten? Wo die Polizei immer näher kommt? Was würden Sie an seiner Stelle tun? Eben. Die Tochter muß sterben. Das verlangt die ausgleichende Gerechtigkeit. So ist das Leben.
Ein Zentimeter ...
Plötzlich Scheinwerfer - Sirenengeheul - Trillersignale -: die Polizei hat das Haus umstellt. Tausende von Polizisten wirbeln durcheinander. Mit kühnem Sprung setzt der Riese zum Fenster hinaus und aufs Dach, just als Gerard ins Zimmer platzt. Valerie, die hysterische Ziege, sinkt ihm in die Arme. Inspektor Robitschek entsichert den Revolver und schickt sich an, das Dach zu erklettern. Die gesamte Polizeitruppe Frankreichs folgt ihm, mit Maschinengewehren und leichter Feldartillerie ausgerüstet. Unten biegen die ersten Panzerwagen um die Ecke.
Sollten wir bisher noch gezögert haben - jetzt schwenken unsere Sympathien eindeutig zu Gustl. Ein rascher Blick auf die Armbanduhr: noch eine halbe Stunde bis zum Ende der Vorstellung. Ausgezeichnet. Denn man weiß, daß die Gerechtigkeit immer erst in den letzten Minuten triumphiert.
Mühsam schiebt sich Gustl über die Dachschindeln. Robitschek und seine Legionen schließen den Ring und bringen ihre Flammenwerfer in Stellung. Was haben diese erbärmlichen Bürokraten gegen den armen Gustl? Gewiß, er hat gemordet, niemand bestreitet das. Aber warum? Doch nur, weil seine Eltern von Boulangers Großpapa auf die Straße gesetzt wurden. Das ist ein zwingender, für jedes menschlich fühlende Herz verständlicher Grund. Wer unserm Gustl ein Haar krümmt, soll sich vorsehen!
Inzwischen hat Gerard, der geschniegelte Geck, Valerie von allen Seiten umzingelt. Ein feiner Herr! Hat nichts Besseres zu tun, als seiner Lüsternheit zu frönen, während es ringsumher von Kommandos, Dschungelattacken und Froschmännern wimmelt.
Aber, hoho, noch ist nicht aller Tage Abend. Im Fensterrahmen erscheinen die Umrisse eines vertrauten Gesichts.
Gustl ist wieder da. Er hat die gesamte Interpol abgeschüttelt und ist zurückgekehrt, um seine Rechnung mit der verräterischen Ersatz-Schönheitskönigin zu begleichen. Gerard springt zur Seite - seine Hand zuckt nach der Revolvertasche - aber da hat sich Gustl schon auf ihn gestürzt. Der Kampf beginnt. Alle Griffe sind erlaubt. Zeig's ihm, Gustl. Nur keine Hemmungen. Du kämpfst für eine gerechte Sache.
So. Das war's. Gerard segelt durch die Luft und zum Fenster hinaus. Adieu, Freundchen. Einen schönen Gruß an die Kollegen.
Und jetzt wollen wir noch rasch die Sache mit Valerie in Ordnung bringen, damit Gustl endlich ausspannen kann.
Wir nähern uns - das heißt - Gustl nähert sich dem Mädchen. Bis auf drei Zentimeter . bis auf einen Zentimeter . In unserem Unterbewußtsein regt sich das unerfreuliche Gefühl, daß es auch diesmal nicht klappen wird.
Natürlich nicht. An der Spitze einer senegalesischen Kavalleriebrigade erstürmt Inspektor Robitschek das Zimmer. Der arme Gustl kommt nicht zur Ruhe. Mit einem Panthersatz erreicht er die Treppe, stürzt hinunter, bricht eine entgegenkommende Wohnungstür auf - ein verschrecktes altes Ehepaar stellt sich ihm in den Weg - der Greis will ihn am Mantel festhalten - laß das doch, Opapa, das ist nicht deine Sache - und schrumm! schon saust Gustls Pranke auf das Haupt des Patriarchen nieder. Das hat er davon. Ein weiteres Hindernis beseitigt. Mach rasch, Gustl. Die Bluthunde sind dir auf den Fersen.
Robitschek, der rücksichtslose Karrierist, schleudert eine Tränengasbombe ins Zimmer. Ein Schrei aus hundert Frauenkehlen ertönt im Zuschauerraum. Gustl leidet. Er leidet entsetzlich. Er hat seit Beginn des Films mindestens fünf Kilo abgenommen.
Ein Blick auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Jetzt ist es bald soweit, daß ein Verbrechen nichts einbringt. Das Ende naht.
Nun ja. Gustl, formal und dogmatisch betrachtet, ist ein Mörder, das wissen wir. Trotzdem: in menschlicher Hinsicht ist er ein Charakter aus purem Gold. Außerdem hat man ihn in eine unmögliche Zwangslage gebracht. Den Patriarchen hätte er vielleicht nicht umbringen müssen, aber da war er halt schon sehr nervös. Kein Wunder. Halt dich, Gustl. Es ist klar, daß du auf dem Altar der Zensur geopfert werden mußt, aber wehr dich wenigstens, solange du kannst. Schlag das Fenster ein, dann bekommst du Luft . Der tückische Robitschek hat durch die Türe gefeuert, und eine der Revolverkugeln wurde von Gustl aufgefangen. Über dem leblos hingestreckten Körper des Giganten führt Robitschek buchstäblich einen Freudentanz auf ... beugt sich siegestrunken zu ihm hinab ...
Hurra! Das Publikum jubelt! Gustl hat den schmierigen Wurm gepackt und an die Wand geklebt. Er ist einfach phantastisch. Der geborene Taktiker. Die tödliche Verwundung war nur gespielt.
Schon ist er aufgesprungen, schon schwingt er sich durchs Fenster.
Vielleicht werden wir jetzt zu Zeugen einer unerhörten, einer historischen Wendung. Vielleicht wird, zum ersten Mal in der Geschichte der Kinematographie, der kleine Verbrecher davonkommen, vielleicht geschieht ein Wunder und er ist gar nicht der wirkliche Mörder - nicht er, sondern Boulanger - er ist Valeries Stiefvater ... Klak-klak-klak-klak-klak.
Natürlich. So mußte es kommen. Eine Maschinengewehrsalve hat ihn hingestreckt. Großartig. Wirklich ein großartiger Erfolg. Die Armee der Grande Nation hat einen unbewaffneten Mann überwältigt. Gustl liegt im Rinnstein.
Trompetensignale aus der Ferne.
FIN.
Das Licht im Saal geht an und erhellt ein paar hundert tief enttäuschte Gesichter.
Erholung beim Kriminalfilm? Ablenkung? Aufregung? Spannung? Es gibt nichts Langweiligeres als die triumphierende Gerechtigkeit.