Für das ethische Empfinden des Juden gibt es nichts Schmählicheres, als keinen Broterwerb zu haben. Besser eine Beschäftigung, die überhaupt nichts einbringt, als ein hochbezahlter Posten, der nur ein Posten ist. Dieses Paradox kann nur verstehen, wer hauptberuflich Jude ist.

 

IM SCHWEISSE DEINES ANGESICHTES

 

Vor drei Jahren erschien der Hausierer zum erstenmal in unserem Haus. Er kletterte alle Stiegen hinauf, läutete an allen Wohnungstüren und hob, wenn eine Tür sich öffnete, seinen kleinen Handkoffer ein wenig vom Boden ab:

   »Seife? Rasierklingen?«

»Nein, danke«, lautete die regelmäßige Antwort. »Zahnbürsten?«

   »Danke, nein.«

   »Kämme?«

   »Nein!«

»Toilettepapier?«

Wenn es so weit war, wurde die Türe gewöhnlich zugeschlagen.

Seither kommt der Hausierer ungefähr alle drei Wochen in unser Haus, läutet an den Türen, sagt sein Sprüchlein auf, wartet, bis die Türe zugeschlagen wird, und geht ab. Einmal, von einer jähen menschlichen Regung überwältigt, wollte ich ihm ein paar Münzen zustecken. Er wies sie entrüstet zurück, belehrte mich, daß er kein Bettler sei, und schlug die Türe zu.

Gestern läutete er wieder bei mir an:

»Seife? Rasierklingen?«

Mich packte die Abenteuerlust:

»Ja. Geben Sie mir eine Rasierklinge.«

»Zahnbürsten?« fragte er unbeirrt weiter.

»Ich wollte eine Rasierklinge haben.«

»Kämme?«

»Verstehen Sie nicht? Sie sollen mir eine Rasierklinge geben!«

»Was?«

»Eine Rasierklinge!!«

Grenzenlose Verblüffung malte sich auf seinem Gesicht:

»Warum?«

»Eine neue Rasierklinge! Ich - will - von Ihnen - eine Rasierklinge - kaufen! Jetzt!«

»Toilette ...«, wimmerte der Hausierer. »Papier ...«

Ich riß ihm den Koffer aus der Hand und öffnete ihn. Der Koffer war leer. Vollkommen leer.

»Was - was heißt das?«

Seine Adern schwollen zornig an:

»Was heißt das: was heißt das? Noch nie hat jemand etwas von mir gekauft. Keine Seife, keine Zahnbürsten, keine Rasierklingen, nichts. Wozu soll ich das ganze Zeug mit mir herumschleppen?«

»Ich verstehe«, lenkte ich mit besänftigender Stimme ein.

»Aber warum steigen Sie denn dann die vielen Stiegen hinauf und läuten an jeder Türe?«

»Weil man sich irgendwie sein Brot verdienen muß, Herr!« sagte der Hausierer. Dann drehte er sich um und läutete nebenan bei Selig.