»Die Freiheit eines Landes erkennt man an der Freiheit seiner Presse«, sagte der Nachtredakteur eines
halbpornographischen Boulevardblattes. Warum sollten wir mit ihm streiten? Der zudringliche Reporter, der Journalist ohne Scham und Hemmung, erfreut sich beim Publikum größter Beliebtheit. Und nicht nur beim Publikum.
ZWEIGELEISIGES INTERVIEW
»Nur herein! Die Türe ist offen! Endlich. Der Reporter. Seit einer halben Stunde warte ich auf ihn. Bitte einzutreten!«
»Guten Abend, Herr Slutzky. Entschuldigen Sie den Überfall.
Er schaut genau so unsympathisch aus wie auf den Bildern, der alte Ziegenbock. Ich bin der Reporter.«
»Reporter? Verzeihen Sie - was für ein Reporter?«
»Hat man Sie denn aus der Redaktion nicht angerufen? Mach kein Theater, alter Bock. Seit Wochen liegst du unserem Chefredakteur in den Ohren, damit wir dich interviewen.«
»Ach ja, jetzt dämmert mir etwas. Bitte nehmen Sie Platz.
Und mit einem solchen Niemand muß man auch noch höflich sein. Zu meiner Zeit hätte so einer höchstens die Bleistifte spitzen dürfen. Zigarette gefällig? Ich freue mich, Sie bei mir zu sehen, Herr ... Herr ...«
»Ziegler. Benzion Ziegler. Er raucht amerikanische Zigaretten. Ich möchte wissen, wo diese Idealisten, die man uns immer als Muster hinstellt, das Geld für so teure Zigaretten hernehmen. Oh, vielen Dank. Eine ausgezeichnete Zigarette!«
»Benzion Ziegler? Wer ist das? Aber natürlich! Vielleicht bringt er auch ein Photo von mir. Ich lese Ihre Artikel immer mit dem größten Vergnügen. Schaut aus wie ein kompletter Analphabet.«
»Sie erweisen mir eine große Ehre, Herr Slutzky. Streng dich nicht an, du seniler Schwätzer. Spar dir die Phrasen. Ich weiß, daß Sie auf mein Lob keinen Wert legen, aber ich möchte Ihnen doch sagen, daß es für unsere ganze Familie immer ein besonderes Ereignis ist, wenn Sie einmal im Radio sprechen.
Wir drehen dann sofort ab und haben endlich Ruhe.«
»Das freut mich. Sie kennen ja mein Motto: >Sag alles, was du sagen willst, aber sag's nicht schärfer, als du es sagen mußt!< Warum schreibt er nicht mit, der Analphabet? Einen so hervorragend formulierten Gedanken müßte er doch mitschreiben.«
»Darf ich diesen Ausspruch notieren? Ich werde versuchen, ihm eine etwas bessere Fassung zu geben, sonst klingt es gar zu läppisch. «
»Notieren? Wenn Sie diese Kleinigkeit für wichtig genug halten - bitte sehr, Herr Ziegler. Hoffentlich kann er schreiben.«
»Ich möchte Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, Herr Slutzky. Um neun Uhr beginnt das Kino und ich habe noch keine Karten. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Schießen Sie los, junger Mann. Hoffentlich wurden ihm die Fragen von der Redaktion vorgeschrieben. Was könnte so einer schon fragen. Ich werde frei von der Leber weg sprechen und mich nur dort ein wenig zurückhalten, wo die Sicherheit unseres Landes oder übernationale Fragen auf dem Spiel stehen. Ob er das verstanden hat, der Schwachkopf?«
»Ich verstehe vollkommen, Herr Slutzky. Herr Slutzky, es würde unsere Leser vor allem interessieren, was Sie zur gegenwärtigen Krise unserer Innenpolitik zu sagen haben.«
Tu doch nicht so, als müßtest du erst nachdenken. Komm schon heraus mit deiner alten Phrase: >Die Lage ist zwar kritisch, aber deshalb braucht man nicht gleich von Krise zu sprechen. <
»Ich werde ganz offen sein, Herr Ziegler. Die Lage ist zwar kritisch, aber deshalb braucht man nicht gleich von Krise zu sprechen.«
»Darf ich diese sensationelle Äußerung wörtlich zitieren? Ich mache mir keine Notizen mehr. Es steht gar nicht dafür, ein solches Gewäsch aufzuschreiben. Ich werde kleine abstrakte Figuren in mein Notizbuch malen.«
»Im Grunde liegt die baldige Beendigung der Krise im Interesse aller Parteien. Von was für einer Krise spricht er überhaupt? Was weiß dieser junge Laffe von Krisen? Eine dauerhafte Verständigung kann allerdings nur durch wechselseitige Konzessionen erzielt werden. Seit vierzig Jahren sage ich immer das gleiche, und sie merken es nicht.«
»Das trifft den Nagel auf den Kopf! Seit vierzig Jahren sagt er immer das gleiche und merkt es nicht. Meine nächste Frage, Herr Slutzky, ist ein wenig delikat. Er wackelt mit den Ohren.
Er hat die komischsten Ohren, die ich je gesehen habe. Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Sicherheit unserer Grenzen?«
»Ich bedaure, aber darüber kann ich aus Sicherheitsgründen nichts sagen. Ich kann höchstens versuchen . lassen Sie mich nachdenken .«
»Aber bitte. Hör auf, mit den Ohren zu wackeln, Slutzky.
Um Himmels willen, hör auf. Ich bekomme einen Lachkrampf. Wenn ich nur wüßte, wem er ähnlich sieht. Halt, ich hab 's. Dumbo. Walt Disneys fliegender Elefant, der seine Ohren als Flügel verwendet.«
»Ich möchte mein Credo in ein paar ganz kurze Worte kleiden: Sicherheit geht über alles.«
»Ausgezeichnet. Wenn er die Ohren noch einmal flattern läßt, steigt er in die Luft und umkreist die Hängelampe.
Aber wie vereinbaren Sie das mit der scharfen Wendung unserer Außenpolitik?«
»Eine gute Frage. Warum glotzt er mich denn so komisch an? Das macht er schon seit einer ganzen Weile. Was ich Ihnen jetzt sage, ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt.«
»Sie können sich auf mich verlassen, Herr Slutzky. Ich darf ihn nicht mehr anschauen. Wenn ich ihn noch einmal dabei erwische, wie er mit dem linken Ohr wackelt, bin ich verloren. Ich habe immer das Gefühl, daß sein linkes Ohr dem rechten das Startsignal gibt.«
»Brauchen Sie etwas, Herr Ziegler? Ist Ihnen nicht gut? Diese jungen Anfänger von heute sind lauter Neurotiker. Zu meiner Zeit ...«
»Nein, danke. Das Erlebnis, Ihnen zu begegnen, nimmt mich ein wenig her. Schließlich bekommt man es ja nicht jeden Tag mit einem Jesaja Slutzky zu tun. Das fehlte noch. Sie sind also der Meinung, daß die Spannung an unseren Grenzen anhalten wird?«
»Darüber möchte ich mich nicht äußern.«
»Ich danke Ihnen. Gerade das ist eine vielsagende Äußerung.
Nur nicht hinschaun, nur nicht hinschaun. Noch ein einziges Ohrenflattern - und es ist um mich geschehn. Ich lache ihm ins Gesicht. Nach mir die Sintflut. Ich werde meinen Posten verlieren, aber diese Ohren ertrage ich nicht länger. Eine letzte Frage, Herr Slutzky. Nicht hinschaun. Wirtschaftliche Unabhängigkeit - wann?«
»Ja - wann? Warum fragst du mich, du kleiner Lausbub? Woher soll ich das wissen? Wenn Sie gestatten, möchte ich Ihre Frage mit einer Anekdote beantworten. Das ist eine alte jüdische Gewohnheit.«
»Ich bitte darum. Er flattert schon wieder. Obwohl ich gar nicht hinschaue, spüre ich ganz deutlich, daß er schon wieder flattert.«
»Also hören Sie zu. Der Schammes kommt zum Rabbiner und sagt: >Rebbe, warum läßt man mich nie Schofar blasen? < Sagt der Rebbe: > Schofar darf nur blasen, wer sich streng nach der Vorschrift gereinigt hat. Du suchst zwar regelmäßig das rituelle Bad auf, aber du hast es noch nie über dich gebracht, in der Mikwe ganz unterzutauchend Sagt der Schammes ...«
»Ja? Ich platze. Wenn er nicht sofort zu flattern aufhört, platze ich. «
»Sagt der Schammes: >Das Wasser in der Mikwe ist immer so kalt.< Sagt der Rebbe: >Eben. Auf Kaltes bläst man nicht.<«
»Bruh-ha-ha ... Gott sei Dank, das war 's. Bruuu-ha-ha-ha ... Bruuu-bruuu .«
»Haha . Aber Herr Ziegler! Es ist ja ein ganz guter Witz, nur ... gleich so ein Anfall ... haha ... ich hatte keine Ahnung ... warum denn gleich auf den Teppich ... Ich bitte Sie ... stehen Sie doch auf, Herr Ziegler .«
»Ich kann nicht. Der Rebbe ... die Mikwe ... Dumbo ... Bruuu-ha-ha-ha .«
»Na ja. Sie werden sich schon beruhigen ... Mein Humor ist eben unwiderstehlich. Noch irgendwelche Fragen?«
»Nein, nein, danke. Bruuu-ha-ha .«
»Schon gut ... hahaha ... Auf Wiedersehn, Herr Ziegler.
Wie sich zeigt, hat meine Wirkung auf die junge Generation noch nicht nachgelassen. Ich habe mich sehr gefreut, Sie bei mir zu sehen. Übrigens - nehmen Sie doch lieber eine von den alten Aufnahmen, nicht die letzte ... haha, wirklich. Unsere Jugend ist zum Glück noch nicht ganz unempfänglich für witzige Parallelen. Alles Gute, Herr Ziegler.«
»Bruuu-ha-ha-ha-ha .«
»Auf Wiedersehen! Eigentlich ein ganz netter junger Mann ...«