UND MOSES SPRACH ZU GOLDSTEIN

 

Die Nacht senkte sich über das Zeltlager. Unruhe herrschte unter den Kindern Israels. Jetzt war es schon Wochen her, daß Moses sich oben auf dem Berg befand, und noch immer hatte man nichts von ihm gehört. Die Juden standen in kleinen Gruppen herum und diskutierten. Mit besonderer Vorliebe sprachen sie über die vielen Unglücksfälle, die ihnen auf der langen Wanderung aus Ägypten zugestoßen waren. Ein trockener Wüstenwind wehte den Sand in heißen Wirbeln vom Berge Sinai herab. Das Vieh zerrte an den Halftern und brüllte ängstlich in die dunkle, trostlose Einöde ringsum. Schakale umschlichen das Lager. Ihr Lachen klang beinahe menschlich. Stumm und drohend ragte der Berg in die Nacht. In einem der größeren Zelte saß eine schweigende Gruppe von Männern in farbigen Burnussen. Sie regten sich kaum. Ihre Augen zwinkerten durch das Zwielicht. Die Weiber saßen in einer Ecke und trockneten sich mit öligen Lappen den Schweiß von den Gesichtern.

Einer der Männer, eine hohe, bärtige Erscheinung, nahm das Wort:

»Jochanan gibt«, sagte er. »Doktor Salomon, heben Sie ab.«

Dr. Salomon hob ab, und der untersetzte, kraushaarige Jochanan begann zu geben. Seit dem frühen Nachmittag war die Pokerpartie im Gang. Vor Jochanan häuften sich die Goldkörner.

»Unser Freund hat Glück«, brummte Pinky Goldstein, ein grimmiger Geselle mit ewig zerrauftem Scheitel. »Er raubt uns ganz schön aus.«

»Was hat er davon«, ließ aus der Ecke Jochanans Weib sich vernehmen. »Was kauf ich mir dafür. Bei der Auswahl, die man hier hat. Wachteln oder Manna. Und zur Abwechslung Manna oder Wachteln. Und dann wieder Wachteln. Eines Tags werden mir noch Flügel wachsen, und weg bin ich. Es ist zum Verzweifeln. Keine Gurke, keine Tomaten, keine Zwiebel, kein Knoblauch. Nicht für alles Gold der Israeliten.«

»Und ich werde euch aus Ägypten führen in das Land, wo Milch und Honig fließt!« Zum hundertsten Mal kopierte Pinky Goldstein die mühsame, ein wenig stotternde Redeweise, die Moses zu eigen war. »Diese verdammten Zionisten«, setzte er hinzu.

»Wenn ich an das Roastbeef denke, das mir mein Schwager aus Goshen immer geschickt hat ...« Dr. Salomon seufzte, und sein Mund mit den großen, gelben Zähnen wässerte hörbar. »Jedes Jahr hat er ein Kalb für uns gemästet. Jedes Jahr. Bis es diesem verrückten ägyptischen Hauptmann plötzlich einfiel, das ganze Dorf niederzubrennen und die Einwohner zu vierteilen. Nie wieder habe ich solche Kalbsschnitzel gegessen. Ja, das waren noch Zeiten.«

Eine Weile herrschte Schweigen. Man hörte nur das Jaulen der Wachthunde vor dem Lager.

»Um es einmal ganz klar zu sagen«, nahm Pinky Goldstein abermals das Wort. »Ich finde diesen Auszug aus Ägypten einfach idiotisch. Die ganze Zeit frage ich mich: was habe ich, Pinky Goldstein, ein Ägypter israelitischen Religionsbekenntnisses, hier in der Wüste zu suchen? Ist es mir vielleicht in Ägypten schlecht gegangen? Warum bin ich nicht dort geblieben?«

»Weil du ein Dummkopf bist, Pinky. Darum.« Es war Gloria, Pinkys Gattin, die sich ins Gespräch mischte, während sie ihre Augenbrauen mit rotem Kalkstaub färbte. »Ein leichtgläubiger Dummkopf. Wie oft habe ich dir gesagt: Pinky, du bist ein Intellektueller. Die Aufseher haben Vertrauen zu dir, weil sie sehen, daß du nicht zu dem übrigen Gesindel gehörst. Du hättest deine Stellung glatt behalten können.

Aber nein, nach Kanaan muß er gehen!«

»Liebling«, protestierte Pinky Goldstein. »Liebling, du tust ja gerade so, als ob ich unbedingt hätte gehen wollen. Habe ich Moses nicht immer wieder gebeten, uns gefälligst in Ruhe zu lassen, weil wir den Ägyptern dienen möchten? Es hat nichts genützt. Und daß die Situation auf die Dauer unhaltbar wurde, weißt du so gut wie ich. Schließlich und endlich hat Pharao den Befehl gegeben, unsere Erstgeborenen zu töten.«

»Mach dich nicht lächerlich. Jeder vernünftige Mensch weiß, daß dieser Befehl niemals ausgeführt worden wäre.«

»Aber er wurde doch ausgeführt, Liebling. Der Nil war ja schon voll mit toten hebräischen Kindern.«

»Nicht in unserer Gegend. Und überhaupt hat das alles erst angefangen, als Moses sich bei Pharao unbeliebt machte. Bis dahin wurde uns kein Haar gekrümmt.«

Die Spieler hatten ihre Karten hingelegt und hörten zu.

»Man mußte hart arbeiten in Ägypten, das stimmt«, ließ Jochanan sich vernehmen. »Aber die Arbeit wurde auch richtig eingeschätzt. Man lebte im Schweiße seines Angesichts.

Nicht so wie hier, wo die Nahrung vom Himmel fällt. Auch schon eine Nahrung, dieses Manna. Das hat's in Goshen nicht gegeben. Und wenn ich die vorgeschriebene Anzahl von Ziegeln ablieferte, wurde ich niemals länger geschlagen als nötig.«

»Na, na, na. Einmal hat man Sie doch beinahe totgeprügelt.«

»Sie übertreiben. So schlimm war's gar nicht. Ganz abgesehn davon, daß der Aufseher nur seine Pflicht tat, denn ich hatte Pharaos Namen ausgesprochen. Soll man Pharaos Namen aussprechen? Man soll nicht. Das nenne ich Disziplin.«

»Pharao war streng, aber gerecht«, bekräftigte Pinky Goldstein. »Wer ehrlich arbeitete und den Mund hielt, dem ist nichts geschehen.«

»Ganz unter uns«, sagte Jochanan. »Wir hätten auf Pharao hören sollen, als er uns nicht gehen lassen wollte. Er wußte, was von dieser zionistischen Propaganda zu halten war. Jetzt hocken wir hier und sterben wie die Fliegen.«

Ein Windstoß riß einen der Vorhänge auf und wirbelte heißen Wüstensand ins Zelt. Dr. Salomon schleuderte sein Trinkhorn in die Ecke und spuckte angewidert aus.

»Zum Teufel mit diesem lauwarmen Gesöff. In Goshen hat man keine Wunder gebraucht, um Wasser zu bekommen.

Gutes Trinkwasser. Und überhaupt. Wäre ich doch nur wieder in meiner geschmackvoll eingerichteten Zweizimmerhöhle.«

Gloria kämmte ihr Haar:

»Außerdem sind seit dem letzten Wunder schon wieder Wochen vergangen«, sagte sie schnippisch.

»Das Unglück ist«, holte Dr. Salomon aus, »daß Moses lieber auf Jetro hört, seinen gojischen Schwiegervater, als auf die jüdischen Fachleute. Was ist das Resultat? Ein Kastensystem mit lauter Obersten und Hauptleuten und solchem Zeug. Aber dafür darf man keine Zinsen mehr nehmen. Wie will er unter solchen Umständen das Budget ausgleichen? Oder nehmen Sie dieses blödsinnige neue Sklavengesetz. Wer wird denn noch investieren, wenn man die Sklaven alle sieben Jahre freisetzen muß?«

»Angeblich plant Aaron ein neues Goldbesteuerungs-System«, flüsterte Pinky. »Das gibt uns den Rest.«

»Wissen möchte ich, was Moses oben auf dem Berg erreicht hat«, brummte Dr. Salomon.

Jochanan kratzte sich am Kinn; seine Stimme klang verschwörerisch:

»Stellen Sie Radio Kairo ein«, sagte er. »Es kursieren Gerüchte, daß man uns die Rückkehr ermöglichen will. Ich weiß allerdings noch nichts Konkretes. Pharao soll auf der Tötung unserer Erstgeborenen bestehen, verspricht uns aber im übrigen humane Behandlung, geregelte Arbeit und gesicherte Verpflegung ... Moses müßte natürlich ausgeliefert werden ...«

Die Männer steckten ihre Köpfe zusammen.

Genau in diesem Augenblick geschah es, daß Moses vom Herrn die steinernen Tafeln mit den Zehn Geboten empfing.

 

 

 

 

Nichts ist unseren Künstlern so zuwider wie die aufdringliche Verehrung, die ihnen von der großen Masse entgegengebracht wird. Nur eines ist ihnen noch zuwiderer: wenn ihnen die große Masse keine aufdringliche Verehrung entgegenbringt.