KAPITEL 26
Diesel schrieb mir eine SMS und teilte mir mit, dass er erst zum Abendessen nach Hause käme. Vorher würde er es nicht schaffen. Das war eine nette Abwechslung, und ich war erleichtert, dass er mich heute nicht von der Arbeit abholen und mich zu einer Jagd nach irgendeinem verzauberten Relikt mitschleppen würde. Ich hielt in Marblehead an, um ein paar Lebensmittel und eine Flasche Wein zu besorgen. Zu Hause angekommen begrüßte ich Katerchen und Carl und gönnte mir einen Moment Ruhe. Dann legte ich den SALIGIA-Stein auf die Arbeitsplatte in der Küche und räumte die Lebensmittel weg. Als Diesel eintraf, hatte ich bereits den Tisch gedeckt und Steaks vorbereitet.
»Wo warst du?«, erkundigte ich mich.
»Ich habe die Tafel ins Büro gebracht.«
»Du hast herausgefunden, wo das Büro ist?«
»Ja. Offensichtlich liegt es in Quincy. Zumindest bin ich heute dort gewesen.« Er hielt inne und warf einen Blick auf den SALIGIA-Stein. »Ist das das, was ich vermute?«
»Wulf hat mir den Stein zurückgegeben. Er sagte, durch meine Hilfe habe sich der Stein verändert und sei jetzt nur noch ein kitschiger Wahre-Liebe-Stein.«
»Er sagte ›kitschiger Wahre-Liebe-Stein‹?«
»Nicht wörtlich, aber ich weiß, dass er das gemeint hat. Und er sagte, er schulde mir noch etwas und dies sei die Anzahlung zur Begleichung seiner Schuld.«
»Ich wünschte, das hätte ich früher gewusst. Dann hätte ich den Stein gleich nach Quincy mitnehmen können.«
»Jetzt kannst du ihn sowieso nicht haben. Ich habe Glo und Clara versprochen, dass wir heute Abend zusammen ausgehen und den Stein austesten werden. Mal sehen, ob man mit seiner Hilfe die wahre Liebe finden kann.«
»Nur damit ich dich richtig verstehe. Du bist im Augenblick im Besitz eines mächtigen Relikts von unschätzbarem Wert, das jahrhundertelang gewissenhaft bewacht wurde, und willst damit in eine Bar gehen, um herauszufinden, ob du damit jemanden aufreißen kannst?«
»So ungefähr.«
»Das haut mich um.«
Nach dem Abendessen zog ich meine beste Jeans und einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt an. Ich trug reichlich Make-up auf, schlüpfte in hochhackige Stiefeletten und schmückte meine Ohren mit großen Creolen.
»Den Stein brauchst du doch heute Abend gar nicht«, bemerkte Diesel. »Mit diesem Outfit wirst du keine Schwierigkeiten haben, die wahre Liebe zu finden. Tatsächlich könnte sie dir auch begegnen, wenn du zu Hause bliebst.«
Draußen ertönte eine Autohupe.
»Das ist Clara«, erklärte ich. »Sie holt mich ab. Sie ist heute unsere Fahrerin.«
Diesel begleitete mich zur Tür. »Sei brav.«
Ich nahm meine Jacke und meine Handtasche in die Hand und lief hinaus zu Claras Wagen.
»Hast du ihn dabei?«, fragte Glo, als ich eingestiegen war.
»Er ist in meiner Handtasche.«
»Darf ich ihn mir anschauen?«
Ich zog den Stein heraus.
»Er ist irgendwie hässlich«, meinte Glo. »Nur ein simpler alter Steinbrocken. Bist du sicher, dass er etwas Besonderes ist?«
»Ja. Wir müssen ihn hüten wie unseren Augapfel. Und niemand darf erfahren, dass wir ihn bei uns haben.«
Clara verließ Marblehead und fuhr auf der Derby Street zur Bum’s Sports Bar. Dort standen eine Menge Fernseher herum, die verschiedene Sportereignisse übertrugen, obwohl keiner zuschaute. Hohe Tische mit Barhockern. Und eine lange Theke, an der sich Zombies und Werwölfe drängten. Wir bahnten uns den Weg an die Bar. Glo und ich bestellten ein Bier, und Clara bekam eine Cola.
»Also hört zu«, sagte ich. »Ich bin nicht sicher, was der Stein bewirken kann, also sollten wir vielleicht einfach hier stehen bleiben und warten, ob aus meiner Handtasche irgendwelche Schwingungen kommen.«
»Ich glaube, ich spüre schon etwas«, meinte Glo. »Ich könnte in den Werwolf neben mir verliebt sein.«
Clara und ich warfen einen Blick zu ihm hinüber.
»Er sieht aus wie jeder andere Werwolf«, bemerkte Clara.
Der Werwolf bemerkte unser Interesse und drehte sich zu uns um. »Wuhuu«, grüßte er uns. »Sucht ihr jemanden?«
»Kann man so sagen«, erwiderte Glo.
»Mögt ihr Hunde? Ich kann mein Fell innerhalb von 1,3 Sekunden abwerfen und bin dann splitterfasernackt.«
»Jetzt weiß ich wieder, warum ich nie in eine Sports Bar gehe«, sagte Clara.
»Und wie steht es bei dir?« Glo wandte sich mir zu. »Du bist diejenige, die den Stein bei sich trägt. Steigen romantische Gefühle für einen dieser Zombies in dir auf?«
»Noch nicht.«
Die Zombies ließen mich kalt, aber ich hatte das Verlangen, mit jemandem zu kuscheln. Mit wem wusste ich nicht so genau. Vielleicht mit Diesel. Oder möglicherweise mit Brad Pitt.
Wir hielten noch etwa zwanzig Minuten durch. Es fanden einige Annäherungsversuche statt, aber für uns war nichts Passendes dabei.
»Ich glaube, der Stein ist ein Blindgänger«, meinte Glo. »Da habe ich allein mehr Glück.«
»Vielleicht liegt es daran, dass die wahre Liebe für uns hier nicht zu finden ist«, meinte ich. »Wenn der Luxuria-Stein immer noch Wollust auslösen würde, wären wir am richtigen Ort.«
»Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich verspürte heute in Wulfs Gegenwart eine leichte Erregung«, gestand Glo.
»Mir ging es ähnlich bei Andy Sklar«, gab Clara zu.
Glo trank ihr zweites Bier aus. »Ist das nicht der Typ, der sich jeden Tag einen Bananenmuffin holt?«
»Ja«, bestätigte Clara. »Ich finde ihn süß.«
Die beiden schauten mich an.
»Diesel«, sagte ich. »Ich steh total auf Diesel.«
Sie wussten beide, dass ich diese Gefühle mit Diesel nicht ausleben konnte.
»Verbotene Frucht«, seufzte Clara.
Wir verließen die Bar und traten auf die Straße hinaus, wo Halloween-Verrückte auf und ab liefen.
»In diesem Jahr sind mehr Trolle unterwegs als üblich«, stellte Clara fest.
Ich wohnte noch nicht sehr lange in Salem und hatte daher Schwierigkeiten, Trolle von Monstern zu unterscheiden. Auch die Halloween-Begeisterung vermochte ich nicht so recht nachzuvollziehen. Ich meine, ich mochte Halloween, aber hier wurde es auf eine übertrieben verrückte Art gefeiert.
»Das Raritätenkabinett hat heute lange geöffnet«, sagte Glo. »Es liegt nur einen Block von hier entfernt. Könnten wir vielleicht nachschauen, ob meine Fluchbeeren schon geliefert wurden?«
Auf dem Weg dorthin hielt ich meine Handtasche fest an mich gepresst. Mir wurde die Verantwortung bewusst, die ich mit dem Stein übernommen hatte, und ich fragte mich, ob ich nicht etwas Dummes getan hatte. Was, wenn mich nun ein Handtaschenräuber überfiel? Oder wenn Anarchie zwischenzeitlich entdeckt hatte, dass der Kristall kein SALIGIA-Stein war, und bereits auf der Suche nach mir war? Was, wenn ich tatsächlich meiner wahren Liebe begegnete? Und nun kam die Vorstellung, die mir am meisten Angst einjagte – was, wenn es sich dabei um Wulf handelte?
Wir betraten den Laden. Nina hatte ihren Kopf auf den Tresen neben die Kasse gelegt und schlief.
»Hallo«, sagte Glo. »Jemand zu Hause?«
Nina hob den Kopf und blinzelte. »Ich muss eingedöst sein. Heute ist nicht viel los. Ein Menge Leute auf den Straßen, aber niemand kommt herein.«
»Nun, wir sind gekommen«, stellte Glo fest. »Sind die Fluchbeeren eingetroffen?«
»Ja, ich habe schon etwas für Sie zurückgelegt.« Nina griff unter die Ladentheke und holte eine kleine Tüte hervor. »Vergessen Sie nicht, dass man davon nicht zu viel verwenden darf. Eine kleine Prise reicht.«
»Haben Sie alte Kochbücher mit magischen Rezepten?«, erkundigte sich Clara.
Nina rückte ihre glitzernde Prinzessinnenkrone zurecht. »Ich habe ein paar vorrätig. Sie finden sie auf der anderen Seite in der Bücherabteilung, gleich hinter dem Zauberstab von Harry Potter und der Federboasammlung.«
Wir schlenderten alle zur Buchabteilung hinüber.
»Ich könnte die ganze Nacht hierbleiben und in den Büchern schmökern«, sagte Glo. »Das Kleine Buch der wohltuenden Zaubertränke, Eine Anthologie der Hexen des 16. Jahrhunderts, Wie man sein eigenes Bier braut, 101 nützliche Einsatzmöglichkeiten für Fledermausflügel.«
Clara blätterte in einem kleinen ledergebundenen Buch. »Das ist die Kopie eines Buchs aus dem Jahr 1534. Es befasst sich nur mit Marzipansorten und Süßigkeiten.«
Von dort, wo wir standen, war es schwer, in den vorderen Teil des Ladens zu schauen; es waren zu viele Regale im Weg. Ich hörte, wie die Ladentür sich öffnete und wieder schloss, und dann klapperten Ninas Absätze auf dem Boden. Ich konnte meine Neugier nicht unterdrücken und spähte an einem Regal vorbei nach vorne, um den Vampir, den Zombie, die Hexe oder wen auch immer zu sehen, der soeben den Laden betreten hatte.
Es war Anarchie. Sie trug immer noch den Anzug aus schwarzem Leder. Ihr Make-up sah immer noch gruselig aus. Und ich sah von meinem Beobachtungsposten aus, dass Nina die Schultern straffte und sich versteifte. Offensichtlich hatte sie Anarchie von deren letztem Besuch wiedererkannt.
»Ich brauche etwas, um meine magischen Kräfte zu verstärken«, sagte Anarchie zu Nina. »Ich habe vor Kurzem einige neue Fähigkeiten erworben, aber sie scheinen schon wieder nachzulassen.«
»Waren diese Fähigkeiten das Ergebnis eines Zauberspruchs oder eines Tranks?«, erkundigte sich Nina.
»Nein. Sie waren das Ergebnis eines körperlichen Kontakts. Spielt das eine Rolle?«
»Möglicherweise.« Nina hob eine kleine Flasche von einem Regal. »Das ist ein leistungssteigerndes Mittel. Sehr effektiv, wie man mir gesagt hat. Es enthält eine kleine Menge Steroide.« Sie wählte ein zweites Fläschchen aus. »Das ist der pulverisierte Huf eines Einhorns. Es wird oft dazu verwendet, magische Fähigkeiten zu verstärken. Aber man kann es auch bei der Herstellung von Aspik einsetzen.«
»Es gibt keine Einhörner.«
»So steht es aber auf dem Etikett.« Nina zeigte ihr die Flasche. »Das ist eine sehr seriöse Firma.«
»Gut. Packen Sie beide ein«, befahl Anarchie. »Ich werde mir das nachher näher anschauen.« Sie sah sich um. »Ich plane, die Welt zu beherrschen und ein Massenchaos zu verursachen. Möglicherweise brauche ich einiges an halluzinogenen Substanzen. Kann man so etwas in großen Mengen bestellen?«
»Natürlich«, erwiderte Nina. »Wir nehmen ständig solche Spezialaufträge entgegen.« Nina schaute in meine Richtung und ließ ihren Zeigefinger neben ihrem Kopf kreisen.
Anarchie betrachtete das Glas mit dem Einhornhuf. »Wie lange dauert es, bis das wirkt?«
»Das geht schnell«, versicherte Nina. »Mischen Sie es mit Orangensaft. Und um die Wirkdauer zu verlängern, empfehle ich Ihnen, ein wenig Fluchbeere hinzuzufügen.«
»Großartig. Geben Sie mir etwas von diesen Fluchbeeren.«
Glo und Clara beobachteten nun ebenfalls heimlich Anarchie.
»Jammerschade, dass ich keine Fluchbeeren zur Hand hatte, als ich sie zur Salzsäule habe erstarren lassen«, flüsterte Glo.
Anarchie schraubte den Deckel von dem Glas mit Einhornhuf. Sie steckte einen Finger hinein und probierte das Pulver. »Wenn das nicht wirkt, werde ich zurückkommen und Ihren Laden abfackeln«, drohte sie Nina. »Ich bin ohnehin gerade auf dem Weg zu einem anderen Haus, das ich niederbrennen werde.«
»Gehört es jemandem, den ich kenne?«, erkundigte sich Nina.
»Einer kleinen, bedeutungslosen Kuchenbäckerin, die mich angelogen hat. Sie wollte mich austricksen, indem sie mir etwas angeblich Wertvolles gab, das völlig wertlos ist.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Nina.
»Dieses falsche Objekt hat keinerlei Reaktionen hervorgerufen.«
»Ist es nicht ein wenig übertrieben, deshalb ein Haus niederzubrennen?«
»Das ist erst der Anfang. Wenn ich sie finde, werde ich ihr die Leber herausschneiden und sie den Straßenkatzen zum Fraß vorwerfen.«
Ich zog Glo und Clara hinter das Regal zurück. »Schleicht euch raus, und holt Hilfe. Und ruft Diesel an. Ich bekomme hier im Laden keine Verbindung mit meinem Handy. Geht auf die Straße, ruft ihn an, und sagt ihm, er soll sofort zum Raritätenkabinett kommen und Anarchie festsetzen. Es ist mir egal, ob er dazu befugt ist oder nicht. Ich werde hierbleiben und sie im Auge behalten.«
»Ich will dich nicht allein lassen«, wandte Clara ein. »Sie will deine Leber an streunende Katzen verfüttern.«
»Mir wird nichts geschehen. Ich bleibe in meinem Versteck. Geht jetzt!«
»Ich höre ein Flüstern.« Anarchie schaute sich um. »Wer ist sonst noch hier?«
»Das ist das alte Gebäude«, meinte Nina. »Es gibt Geräusche von sich.«
Ich hörte, wie sich die Ladentür öffnete und wieder schloss, und wusste, dass Clara und Glo sich hinausgeschlichen hatten.
»Und manchmal rüttelt der Wind an der Tür«, fügte Nina hinzu.
Selbst aus dieser Entfernung konnte ich sehen, dass Anarchie ausrastete.
»Lügnerin!« Ihre Stimme war kalt, und in ihren Augen lag ein irres Funkeln. »Hier ist noch jemand.« Sie zog ihren Feuerstab aus ihrer Hobotasche von Gucci und fuchtelte damit vor Nina herum. »Wenn Sie mir sofort die Wahrheit sagen, verschone ich Sie vielleicht. Obwohl es spaßig wäre, die gute Hexe Glinda in Flammen aufgehen zu sehen.«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Nina. »Ich bin eingeschlafen. Vielleicht ist in der Zwischenzeit jemand hereingekommen.«
Anarchie ließ eine fünfundzwanzig Zentimeter lange blaue Flamme aus dem Bunsenbrenner schießen, und der bauschige Schleier an Ninas Prinzessinnenkrone fing Feuer. Nina zog sich die Krone vom Kopf und trampelte darauf herum.
»Hilfe!«, rief Nina.
»Halten Sie den Mund«, befahl Anarchie. »Niemand kann Ihnen mehr helfen.«
Nina griff in ein Glas auf der Theke und bewarf Anarchie mit einer Handvoll grauem Pulver. »Gehen Sie weg. Gehen Sie weg.«
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Anarchie.
»Das ist Todeskraut«, erklärte Nina. »Es wird dafür sorgen, dass Sie zusammenschrumpfen und davonfliegen.«
Anarchie sah an sich hinunter. Sie schrumpfte nicht.
»Vielleicht habe ich das falsche Glas erwischt«, meinte Nina. »War das Pulver grau oder rot?«
»Grau«, antwortete Anarchie.
»Hoppla, mein Fehler. Das war pulverisiertes Drachenhorn. Das ist ein harntreibendes Mittel.«
Anarchie ging mit ihrem Feuerstab in der Hand durch den Laden. »Ich weiß, dass jemand hier ist. Ich kann jemanden atmen hören. Ich spüre einen Herzschlag.«
Ich kauerte hinter einem Bücherregal und versuchte, ganz leise zu atmen. Gegen meinen Herzschlag konnte ich nichts tun. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich hörte, wie sie sich in meine Richtung wandte, hörte ihre Schritte näher kommen, und dann stand sie vor mir und schaute auf mich herunter.
»Du!«, rief sie. »Wie praktisch.«
Sie wedelte mit dem Bunsenbrenner vor mir herum, und ich sprang rasch zur Seite.
»Sie sollten sich ein wenig beruhigen«, sagte ich. »Nina kann Ihnen sicher einen passenden Trank mischen. Etwas, was gut für die Nerven ist. Vielleicht ein Milchshake. Ich fühle mich immer besser, wenn ich einen Milchshake getrunken habe.«
»Du hast mich mit diesem wertlosen Stück Glas ausgetrickst.«
»Es war ein Kristall.«
»Es war nicht der Stein!«, kreischte sie. »Ich will den Stein haben!«
Ich war ohnehin bereits in Panik, da fiel mir ein, dass ich den Stein in meiner Handtasche hatte. Dumme, dumme, dumme Lizzy.
»Diesel hat den Stein«, behauptete ich.
»Ich glaube dir nicht. Ich glaube, dass du ihn für dich selbst behalten willst. Du willst die Macht des Steins haben.«
»Ganz ehrlich«, sagte ich. »So viel Macht besitzt der Stein nicht.«
Nina schlich sich von hinten an Anarchie heran und bewarf sie noch einmal mit einem Pulver. »Verschwinden Sie! Los, gehen Sie weg!«
Anarchie drehte sich um und starrte Nina böse an. »Sie werden sterben«, sagte sie und zündete Ninas Kleid an.
Nina schrie auf, riss sich das Kleid vom Leib und rannte aus dem Laden. Ein Zipfel des Kleids setzte die Federboakollektion in Brand, und innerhalb von wenigen Sekunden stand der ganze vordere Ladenraum in Flammen.
»Wir müssen hier raus«, sagte ich zu Anarchie.
»Für dich gibt es keinen Weg nach draußen«, erwiderte sie. »Du wirst hier sterben. Die Flammen werden dich vernichten. Und wenn du tot bist, werde ich den Stein an mich nehmen.«
»Schauen Sie sich um«, sagte ich. »Sie werden mit mir sterben.«
Sie grinste mich an. »Ich kann nicht sterben. Ich besitze überirdische Kräfte.«
Sie zielte mit dem Bunsenbrenner auf mich, und ich schlug ihn ihr aus der Hand. Ich schob sie beiseite und wollte zur Tür laufen, aber Anarchie verpasste mir einen Schlag auf den Kopf, und ich fiel auf die Knie. In dem Moment krachte das große, freistehende Regal auf mich herunter. Ein scharfer Schmerz schoss durch mein Bein, und mir wurde übel. Ich versuchte mich zu bewegen, aber ich war unter dem Regal eingeklemmt.
Um mich herum schlugen Flammen hoch, und ich bekam vor lauter Rauch fast keine Luft mehr. Anarchie war verschwunden. Das Feuer um mich herum knisterte und zischte. Ich schrie um Hilfe, aber ich bezweifelte, dass mich jemand hören konnte. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass jemand durch das Flammenmeer gelangen und mich retten würde.
Ich schlug einen Arm vor mein Gesicht, um so wenig Rauch wie möglich einzuatmen. Plötzlich spürte ich, wie das Regal hochgehoben wurde. Es war Wulf. Er warf das Regal zur Seite und kniete sich neben mich.
»Jetzt sind wir quitt«, sagte er. »Also sei auf der Hut. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werde ich vielleicht nicht mehr so nett sein. Hatchet konnte sich an die meisten Schriftzeichen auf der Tafel erinnern … genug, um zu wissen, wo ich den nächsten Stein finden werde. Ich würde dir raten, mir nicht in die Quere zu kommen.«
Er zog mich auf die Füße, legte den Arm um meine Schulter und hielt mich fest. Und dann wurde es schwarz um mich.
Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich auf dem Gehweg gegenüber vom Raritätenkabinett. Ein Sanitäter beugte sich über mich und versorgte mich mit Sauerstoff. Ich atmete ein paarmal tief ein und setzte mich auf. Glo, Clara und Nina waren neben mir. Von Wulf keine Spur.
»Wo ist Diesel?«, fragte ich.
»Er war, kurz nachdem Wulf dich aus dem Haus getragen hatte, zur Stelle und hat geschaut, wie es dir geht. Und dann ist er mit Wulf losgezogen, um Anarchie zu suchen.«
Glo, Clara und Nina waren rußverschmiert. Ihre Kleider, ihre Arme und ihre Gesichter waren schmutzig. Claras Haar hing wie eine elektrisch aufgeladene, angesengte Wolke an ihrem Kopf. Nina war in eine Decke gehüllt, da sie ihr Kleid im Laden gelassen hatte. Alle beugten sich über mich, und ich sah, dass ihnen Tränen über die Wangen liefen.
»Wir haben uns irrsinnige Sorgen gemacht«, sagte Glo mit erstickter Stimme. »Wir haben versucht, dich da rauszuholen, aber wir sind nicht an den Flammen vorbeigekommen. Das Feuer hat sich in Windeseile in dem vorderen Teil des Ladens ausgebreitet. Polizei und Feuerwehr waren sofort da, aber wenn Wulf nicht gewesen wäre …« Sie schluchzte auf, wischte sich die Tränen vom Gesicht und fuhr sich mit ihrem Ärmel über die Nase.
»Wir wissen nicht einmal, wie er es geschafft hat, dich aus dem Laden zu holen«, berichtete Clara. »Er kam plötzlich mit dir auf den Armen hinter einem Feuerwehrwagen hervor. Er trug dich über die Straße, und wir rannten alle sofort zu dir. Du hast dich nicht bewegt. Wir hatten schon Angst, du …« Clara hielt kurz inne, um sich zu sammeln. »Wie auch immer, Wulf sagte, es würde dir schon bald wieder gut gehen, und er wartete, bis die Sanitäter bei dir waren. Diesel war inzwischen auch eingetroffen, und Wulf erzählte Diesel, dass er Anarchie gefolgt sei. Ich schätze, das war der Grund, warum Wulf so schnell bei dir war.«
Der Sanitäter versuchte, mir auf die Füße zu helfen, aber mein linkes Bein tat höllisch weh, und ich konnte es nicht belasten. Er schnitt meine Jeans am Knie auf, und ich sah, dass mein Schienbein stark geschwollen war. Zwischen meinem Knie und dem Knöchel bildete sich ein Bluterguss.
»Anarchie hat eins der schweren Regale umgeworfen, und es ist auf mein Bein gekracht«, berichtete ich. »Deshalb konnte ich nicht weglaufen. Ich war unter dem Regal eingeklemmt. Wulf hat mich befreit, und dann weiß ich nur noch, dass er seine Arme um mich legte und mich festhielt.«
»Das Bein muss untersucht werden«, sagte der Sanitäter. »Ich werde es schienen und Sie dann zur Notaufnahme bringen.«
In dem Moment tauchte Diesel wieder auf. Er kam über die Straße auf mich zu. »Wie geht es dir?«, erkundigte er sich.
»Mein Bein ist vielleicht gebrochen. Sie bringen mich zum Röntgen ins Krankenhaus. Habt ihr Anarchie gefunden?«
»Wulf und ich haben sie aufgespürt und sie in einer Sackgasse überwältigt. Ich war froh, dass Wulf bei mir war. Es war beinahe so, als müssten wir ein wildes Tier einfangen.«
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«
»Wir haben sie der Polizei übergeben.«
»Werden sie sie festhalten können?«
»Wahrscheinlich nicht. Offensichtlich hat sie die Macht verloren, die sie Wulf gestohlen hat, aber sie hat ihr eigenes Arsenal von unheimlichen besonderen Fähigkeiten. Eine davon besteht darin, Menschen ihren Handabdruck einzubrennen. Sie hat Reedy umgebracht und ihn vom Balkon geworfen, als sie entdeckte, dass Wulf sich das Buch mit den Sonetten bereits beschafft hatte.«
»Hat sie dir das gesagt?«
»Ja. Sie hat wirklich ein Problem damit, ihre Aggressionen in den Griff zu bekommen. Sie hat geschimpft und gezetert und Schaum vor dem Mund gehabt, als wir versucht haben, sie festzuhalten.«
»Schaum vor dem Mund?«
»Das habe ich erfunden. Ich verstehe nicht, warum es keinen Vermerk in ihrer Akte gibt. Anscheinend ist sie schon seit einer Weile als Anarchie unterwegs. Und ich nehme an, dass sie schon mindestens so lange auf der Suche nach den Steinen ist wie wir.«
»Und Wulf erlangt seine Kräfte wieder zurück?«
»Ich weiß es nicht. Wulf und ich reden nicht viel miteinander.«
Der Sanitäter rollte eine Trage zu mir herüber, und Diesel hob mich hinauf.
»Meine Handtasche ist weg«, sagte ich zu Diesel. »Da war auch meine Krankenversicherungskarte drin.«
»Wo ist deine Handtasche?«
»In dem Laden.« Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Der SALIGIA-Stein war in meiner Handtasche.
»Oje«, stöhnte ich. »Schlechte Nachrichten.«
»Lass mich raten«, sagte Diesel. »Der Stein war in deiner Handtasche.«
Wir schauten zu dem Raritätenkabinett hinüber. Viel war nicht davon übrig geblieben. Geschwärzte Mauern. Das Feuer war fast gelöscht. Übrig war nur noch glimmender Schutt.
Drei Tage später half mir Diesel aus dem Wagen und reichte mir meine Krücken. Ich hatte mir einen einfachen Bruch zugezogen. Eine Operation war nicht nötig gewesen, aber ich würde noch eine Zeitlang humpeln. Glo, Clara und Nina standen bereits auf dem Gehsteig vor dem Haus, das einmal das Raritätenkabinett gewesen war. Das gelbe Absperrband war entfernt worden, und der Brandinspektor hatte den Bereich für sicher erklärt.
Wir trugen alle Gummistiefel und Handschuhe, und ich hatte eine Plastiktüte über meinen Gips gezogen und mit Isolierband festgeklebt. Und wir waren alle mit Harken und Schaufeln bewaffnet. Wir wollten nach dem SALIGIA-Stein suchen.
»Es tut mir sehr leid wegen Ihres Ladens«, sagte ich zu Nina. »Aber ich bin froh, dass Sie sich bei dem Feuer nicht schlimm verletzt haben.«
»Ich habe mir nur meine Hände leicht verbrannt, als ich mir das Kleid vom Körper gerissen habe«, erwiderte Nina. »Ich bin nach Hause gegangen und habe sie sofort mit Salbe behandelt.«
Ich betrachtete das ausgebrannte Haus und die schwarzen Überreste. »Viel ist nicht übrig geblieben.«
»Halb so wild«, meinte Nina. »Ich war sehr gut versichert und werde mir etwas Besseres aufbauen. Es war ein altes, modriges Haus, in dem es ständig knackte und knarzte. In meinem neuen Laden wird es eine Zentralheizung und eine richtig hübsche Toilette geben.«
»Möchten Sie sich nach Dingen umschauen, die vielleicht noch zu retten sind?«, erkundigte ich mich.
»Nein. Das ist es nicht wert. Soviel ich sehen kann, liegt alles in Schutt und Asche. Und ich würde niemandem etwas geben wollen, das möglicherweise durch die Hitze verdorben ist. Ich habe bereits fast alles nachbestellt und mir eine vorübergehende Unterkunft besorgt.«
Nina stapfte in die Trümmer hinein. »Du hast dich dort drüben in der Ecke hinter dem Regal versteckt. Dort hast du wahrscheinlich deine Handtasche fallen lassen.«
Wir folgten Nina und arbeiteten uns durch den Schutt, räumten verrußte Gläser und Holzbalken zur Seite und kehrten Asche weg.
»Ich glaube, ich habe etwas gefunden«, sagte Glo. »Das könnte der Metallverschluss deiner Handtasche sein.«
Wir versammelten uns um Glo, schoben vorsichtig weitere Asche zur Seite, und ich entdeckte den kleinen braunen Stein. Ich hob ihn auf, und er summte in meiner Hand und erstrahlte in einem glänzenden Blau.
»Das ist er«, stellte ich fest.
Alle jubelten.
»Das ist ein wunderbarer Abschluss«, erklärte Nina. »Ich gehe jetzt in den Kostümladen und kaufe mir ein neues Kleid.«
»Ich habe einen Termin beim Friseur«, sagte Clara. »Ich lasse mir die versengten Enden abschneiden.«
»Und ich habe eine Verabredung mit dem süßen Sanitäter«, verkündete Glo. »Ich glaube, dass er der Richtige sein könnte.«
Diesel und ich gingen zu seinem Aston Martin zurück. Er legte mir den Arm um die Schultern und schmiegte sein Gesicht an meinen Hals. »Also, was haben wir nun hier? Ist es der Stein der wahren Liebe oder der Stein der Wollust?«
Ich ließ den Stein in seine Jeanstasche gleiten. »Es gibt ein paar Dinge, die ein Mann selbst herausfinden sollte.«
sponsored
by www.boox.to