KAPITEL 6

Diesel kurvte eine Weile herum, bis er einen Parkplatz gefunden hatte. Die Gehsteige und Gebäude waren aus Backstein, es gab etliche Grünflächen, und ich hatte das Gefühl, als befände ich mich in einem kleinen Dorf mitten in der Stadt. Es war sonnig, aber die Luft war kalt, und die Leute trugen Sweatshirts und Pullover und hatten sich lange Strickschals um den Hals geschlungen.

Wir betraten über die Quincy Street den Innenhof des Barker Center und fanden Reedys Doktorandin ohne Schwierigkeiten. Sie trug eine Jeans, einen dicken Pullover und drückte eine Ausgabe der Geschichte der englischen Lyrik des 16. Jahrhunderts an ihre Brust. Ihr krauses braunes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der wie ein bauschiger Knoten in ihrem Nacken hing. Kein Make-up. Eine große runde Brille mit rotem Gestell. Eins fünfundfünfzig groß. Auf den ersten Blick sah sie aus wie zwölf, aber bei näherem Hinsehen entdeckte ich ein paar feine Fältchen um ihre Augen.

Diesel stellte sich als Daniel Crowley vor, und Julies Augen füllten sich mit Tränen.

»Herzliches Beileid«, sagte sie. »Dr. Reedy war ein wunderbarer Mensch.«

»Ich habe gehofft, dass ich mir sein Büro ansehen dürfte«, sagte Diesel. »Ich habe ihm vor einigen Jahren ein Buch gegeben, das großen ideellen Wert für mich besitzt. Ich hätte es gern zurück, und in seiner Wohnung konnte ich es nicht finden.«

»Natürlich. Ich kann Sie zu seinem Büro bringen. Die Polizei war bereits hier, aber sie haben nichts mitgenommen. Sie haben sich nur umgesehen und die Augen verdreht, dann sind sie wieder gegangen. Wir warten darauf, dass ein Familienangehöriger seine Sachen ausräumt, doch bisher sind Sie der Einzige, der gekommen ist.«

Wir folgten ihr eine Treppe nach oben und den Gang entlang und blieben an der Tür zu Reedys Büro stehen. Auf den ersten Blick wurde klar, warum die Polizisten die Augen verdreht hatten und wieder gegangen waren. Das Büro war vollgestopft mit typischem Professoren-Krimskrams. Die Bücher stapelten sich nicht nur in den Regalen, sondern waren im ganzen Raum aufgetürmt. In jeder Ecke stand irgendein Kunstgegenstand. Und auf dem Boden und dem Schreibtisch lagen verstreut zusammengerollte Karten.

»Wow«, staunte ich. »Ein ganz schönes Durcheinander. Seine Wohnung war so ordentlich aufgeräumt. Er scheint zwei verschiedene Persönlichkeiten gehabt zu haben.«

»Er hat in seiner Wohnung geschlafen, aber gelebt hat er hier«, erklärte Julie. »Und soviel ich weiß, hat er sogar einige Nächte hier verbracht, wenn er länger arbeiten musste. Unter all den Büchern und Papieren ist eine Couch versteckt. Sein Fachgebiet war zwar die elisabethanische Literatur, aber seine Leidenschaft galt einem vergessenen Dichter aus dem späten 19. Jahrhundert, John Lovey. Dr. Reedy ist vor zehn Jahren zufällig auf einige von Loveys Sonetten gestoßen und war zutiefst bewegt davon. Ich glaube, im Grunde seines Herzens war Dr. Reedy ein wahrer Romantiker.«

»Haben Sie die Sonette gelesen?«, erkundigte ich mich.

»Ja, aber ich muss gestehen, dass ich von ihnen nicht so begeistert war wie Dr. Reedy.« Sie ging zum Schreibtisch und wühlte in den Papieren. »Er schrieb eine wissenschaftliche Abhandlung über Loveys Werke und sein Leben. Ich weiß, dass hier irgendwo eine Kopie davon liegt. Die Arbeit ist sehr interessant. Anscheinend wurde Lovey zu seiner Zeit als visionärer Philosoph betrachtet. Eine Art Ayn Rand. Er hatte ein kleine, eingeschworene Fangemeinde. Sie waren alle auf der Suche nach wahrer Liebe.« Sie ging zu einem anderen Papierstapel und suchte dort weiter. »Loveys größter Bewunderer war ein Mann namens Abner Goodfellow. Er lebte in Hanover, New Hampshire, und Abners Haus ist immer noch im Besitz der Familie Goodfellow. Dr. Reedy besuchte Abners Urururenkelin, und sie erlaubte ihm, sich im Speicher umzuschauen, der bis oben hin mit alten Schätzen vollgestopft war. Zumindest hielt Dr. Reedy sie für Schätze, aber ich glaube eher, dass es sich um den üblichen Trödel handelte, der sich im Laufe der Zeit auf Speichern und in Garagen ansammelt.« Sie zog ein paar Seiten aus dem Stapel und schwenkte sie durch die Luft. »Ich habe es gefunden!«

Diesel nahm die Abhandlung entgegen. »Darf ich das behalten?«

»Natürlich.« Sie sah sich in dem Raum um. »Dr. Reedy war in den letzten Monaten so sehr in seine Arbeit vertieft, dass es hier noch unordentlicher aussieht als üblich. Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Ihr Buch zu finden. Wonach genau suchen Sie?«

»Es handelt sich um eine signierte Ausgabe von Der Wind in den Weiden«, erwiderte Diesel. »Gilbert liebte den Kröterich.«

»Ich kann mich nicht erinnern, es hier gesehen zu haben«, meinte Julie. »Ich suche auf dieser Seite des Zimmers, und Sie sehen im Bücherregal nach.«

Ich ging zum Schreibtisch hinüber und durchsuchte systematisch alle Schubladen. Die oberste Schublade auf der rechten Seite war verschlossen, und ich konnte nirgendwo einen Schlüssel entdecken, also holte ich Diesel, damit er seine magische Entriegelungstechnik anwendete. Er öffnete die Schublade, und wir starrten auf ein in Leder gebundenes Buch, das, wie ich annahm, Ähnlichkeit mit dem Sonettenbuch besaß. Ein handbemalter Einband und eine kleine Schließe mit Schloss. Das Motiv auf diesem Buch war jedoch ein aufwändig gestaltetes A und G.

»Das ist Abners Tagebuch«, erklärte Julie mit einem Blick über den Schreibtisch. »Dr. Reedy ist in Abners Speicher darauf gestoßen. Unter anderem werden darin die letzten Tage von Loveys Leben und Einzelheiten darüber geschildert, was Lovey Abner Goodfellow kurz vor seinem Tod erzählt hat. Für Dr. Reedy war es eine Art Evangelium, aber für mich klingt es eher nach einem sehr kranken alten Mann, der das Lieblingsmärchen seiner Kindheit noch einmal aufleben lässt.« Julie sah sich rasch noch einmal in dem Büro um. »Ich bin mir nicht sicher, ob Sie Ihr Buch hier finden werden. Vielleicht möchten Sie stattdessen dieses Tagebuch mitnehmen. Es war eines der Dinge, die Dr. Reedy am meisten am Herzen lagen. Ich glaube, der kleine Schlüssel dazu befindet sich in derselben Schublade wie das Tagebuch.«

»Ich nehme das Tagebuch sehr gern mit.« Diesel nahm das Buch und den dazugehörigen Schlüssel aus der Schublade. »Das ist sehr großzügig von Ihnen. Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen.«

»Vielleicht könnten Sie den Rest der Familie benachrichtigen und sie wissen lassen, dass er einige wundervolle Dinge hier zurückgelassen hat.«

»Natürlich«, sagte Diesel. »Noch einmal vielen Dank.«

Deirdre Early wohnte in der Commonwealth Avenue im Bostoner Stadtteil Back Bay. Es war ein Katzensprung von Harvard dorthin, aber wir brauchten im Stoßverkehr über eine Stunde. Noch dazu hatte an der Harry-Houdini-Brücke ein Wagen Feuer gefangen. Glücklicherweise war das Auto beinahe schon ganz ausgebrannt, als wir die Brücke erreichten, und der Verkehr floss bereits wieder. Diesel fuhr einmal um den Block, um nach einem Parkplatz zu suchen. Als er zum zweiten Mal an Earlys Adresse vorbeifuhr, war anscheinend soeben ein Auto weggefahren, und er fuhr rasch in die Lücke.

»Wie schaffst du es, immer einen Parkplatz zu finden?«, fragte ich. Ich befürchtete beinahe, dass irgendein argloser Autofahrer mit seinem Wagen von einer unbekannten Kraft ins All geschossen worden war.

»Positives Denken«, erwiderte Diesel. »Und ich habe außergewöhnlich großes Glück … normalerweise.«

»Normalerweise?«

»Hin und wieder lässt es mich auch im Stich.«

Vor Earlys kleinem dreistöckigem Reihenhaus befand sich ein briefmarkengroßer Vorgarten, der im Sommer sicher wunderschön gewesen war, jetzt aber mit abgestorbenem Gestrüpp und verkümmerten Büschen überwuchert war. Die Fassade war aus grauem Stein und das Dach mit grauen Schieferplatten gedeckt. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge, die keinen Lichtschimmer durchließen. Die Tür und die Holzverkleidungen waren schwarz.

»Meine Güte«, stieß ich hervor, während ich das Haus betrachtete.

»Sehr düster«, meinte Diesel.

Wir gingen zur Haustür und klingelten. Eine Frau öffnete uns die Tür. Sie sah aus wie ein Filmstar. Ihr glänzendes pechschwarzes Haar war kurz geschnitten. Sie hatte lange schwarze Wimpern, und ihre Lippen waren grellrot geschminkt. Sie war etwa so groß wie ich, aber ein wenig üppiger und trug ein tief ausgeschnittenes Seidentop, einen engen schwarzen Bleistiftrock und zehn Zentimeter hohe Stöckelschuhe.

»Deirdre Early?«, fragte Diesel.

»Ja«, erwiderte sie. »Und wer sind Sie?«

»Diesel.«

Sie lächelte verhalten, und ihre Augen blieben dabei kalt. »Interessant«, sagte sie.

Diesel erwiderte ihr Lächeln nicht. »Ich würde gern mit Ihnen über Gilbert Reedy sprechen.«

»Der arme Mann«, bemerkte sie. »Möchten Sie hereinkommen?«

Wir traten in ihre Diele und blieben dort stehen. Von meinem Standort aus konnte ich einen Blick in ihr Wohnzimmer und in ihr Esszimmer werfen. Sehr gediegen. Orientalische Teppiche. Die Bezüge waren in Burgunderrot und Gold gehalten. Dunkles Holz. Ein Kristalllüster über dem Tisch.

»Wie ich annehme, haben Sie sich mit Reedy getroffen«, sagte Diesel.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nur kurz. Er ist tot, wie Sie wohl wissen.«

»Sie haben ein hübsches Heim«, bemerkte ich.

Sie warf mir einen kurzen Blick zu. »Danke. Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.«

»Lizzy Tucker.«

Sie musterte mich einen Moment lang und wandte sich dann wieder Diesel zu. »Sie sind dran.«

»Waren Sie auf der Suche nach wahrer Liebe?«

»Natürlich. Ist das nicht unser aller Ziel? Suchen Sie nicht auch nach der wahren Liebe?«

»Nicht im Moment«, erwiderte Diesel.

Sie sah ihn unter gesenkten Wimpern an. »Schade.«

»Und wie steht es mit Dichtern des 19. Jahrhunderts?«, fuhr Diesel fort. »Mögen Sie die?«

»Ich habe geradezu eine Leidenschaft für sie. Und Sie?«

»Eigentlich nicht.«

»Hmm. Ich dachte, wir hätten mehr gemein«, meinte Early. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden – ich habe eine Verabredung zum Abendessen.«

Wir verließen Back Bay und sprachen kein Wort, bis wir wieder auf der 1A waren.

»Das war eigenartig«, meinte ich. »Das Haus war hübsch eingerichtet, aber bedrückend. Und ich hatte das Gefühl, als würdet ihr euch kennen.«

»Wir sind uns noch nie begegnet, aber es ist möglich, dass sie schon von mir gehört hat. Und die negative Energie, die du gespürt hast, ging von ihr aus. Sie strömte sie in Wellen aus. Wenn ich noch länger geblieben wäre, hätten meine Ohren zu bluten begonnen.«

»Meine Güte. Meinst du das im Ernst?«

Diesel grinste mich an. »Nein, ich habe ein wenig übertrieben.«

»Deirdre ist nicht normal.«

»Nicht einmal ein bisschen«, bestätigte Diesel.

»Ich nehme an, wir sind auch nicht normal.«

»Die einzigen normalen Menschen sind die, die man nicht gut kennt.«

»Ist das ein Zitat von einer berühmten Persönlichkeit?«, fragte ich.

»Ja. Ich glaube, es stammt entweder von Matlock oder von Yoda.«