KAPITEL 4
Glo rauschte pünktlich um acht Uhr in die Backstube. Sie stellte ihren Besen in die Ecke und legte ihre Umhängetasche in ein Regal.
»Gestern Abend ist mir etwas Unglaubliches passiert«, berichtete sie. »Ich habe online einen Mann kennengelernt, und er ist einfach perfekt. Ich glaube, er ist der Richtige. Und ich bin beinahe davon überzeugt, dass er ein Zauberer ist. Er hat es zwar nicht so direkt gesagt, aber ich habe eine entsprechende Schwingung empfangen.«
Ich warf einen Blick zu Clara hinüber und sah, dass sie sich nur mit Mühe eine Grimasse verkneifen konnte. Glo lernte ständig perfekte Männer kennen, die ein Hauch von Zauberei umgab. Ich bewunderte ihren Optimismus, war indes der Meinung, dass ihre Auswahlkriterien verbesserungswürdig waren. Keiner der Männer hatte sich bisher als Zauberer herausgestellt. Und einige von ihnen waren geradezu unheimlich.
»Wir treffen uns heute Abend auf einen Drink«, fuhr Glo fort. »Ich versprech mir echt viel davon.«
Clara zog ein Blech mit Croissants aus dem Ofen. »Das letzte Mal hatte der Kerl dreiundvierzig Piercings und ein Schlangentattoo auf seiner Stirn.«
»Er war aber süß«, verteidigte Glo sich. »Ich würde mich immer noch mit ihm treffen, wenn er nicht diesen Frauenkleidertick gehabt hätte. Manchmal ging er in meinen Klamotten nach Hause und gab sie mir nicht mehr zurück. Ich habe nichts dagegen, meine Sachen zu verleihen, aber irgendwo muss ich eine Grenze ziehen.«
Glo zog sich einen blauen Kittel von Dazzle’s über, knöpfte ihn zu und ging zur Eingangstür, wo bereits drei Kunden auf Einlass warteten. Zwei Stunden später hatte der Kundenansturm nachgelassen, und Glo nützte die Gelegenheit, um Vorbestellungen zur Abholung zu verpacken. Clara reinigte ihren Arbeitsbereich, und ich glasierte den letzten Posten Cupcakes. Die Hintertür war immer noch offen und ließ frische Luft und Sonnenschein in die Backstube. Plötzlich fiel ein Schatten auf den Fußboden, und wir schauten auf und sahen Hatchet vor uns.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Clara. »Sir Hatchet.«
»Nein«, erwiderte er. »Nur Hatchet. Im Dienste seines Herrn und Meisters.«
»Ich befürchte, Sie sind hier an der falschen Stelle«, erklärte Clara. »Wenn Sie Ihrem Herrn und Meister Cupcakes kaufen wollen, müssen Sie den Ladeneingang an der Straße nehmen.«
»Mein Lehnsherr braucht nichts so Banales wie Cupcakes«, entgegnete Hatchet. Er warf einen Blick auf das Tablett mit den frisch glasierten Schokoladenkuchen und öffnete den Mund. Seine Augen wurden glasig. »Obwohl sie wahrlich schmackhaft aussehen.«
»Komm endlich zur Sache«, forderte ich Hatchet auf. »Was willst du hier?«
Er wandte mir rasch seine Aufmerksamkeit zu. »Den Schlüssel. Ich sterbe lieber, bevor ich meinen Herrn enttäuschen muss.«
»Das ließe sich möglicherweise einrichten«, meinte Clara.
Hatchet starrte sie wütend an. »Macht Euch nicht über mich lustig. Ich werde den Schlüssel bekommen. Und diese Cupcakes nehme ich mir ebenfalls.« Er schnappte sich zwei Cupcakes vom Blech und stopfte sie sich in den Mund. »Und jetzt den Schlüssel«, fügte er hinzu.
Glo rümpfte die Nase. »Mann, Sie sollten nicht mit vollem Mund sprechen. Ihre Zähne sind mit Schokolade beschmiert.«
»Den Schlüssel!«, fauchte Hatchet. »Ich fordere die Herausgabe des Schlüssels!«
»Ich habe ihn nicht«, erklärte ich ihm. »Diesel hat ihn.«
Er zog sein Schwert. »Dann werde ich Euch als Geisel nehmen. Und Euch gegen den Schlüssel eintauschen.«
»Hey!«, rief Clara. »Was ist denn mit Ihnen los? Sie können hier nicht mit Ihrem Schwert herumfuchteln. Das ist eine Bäckerei. Ich erwarte etwas Respekt.«
»Ja, und wenn Sie sich nicht anständig benehmen, hole ich meinen Besen. Der wird Sie ordentlich verprügeln«, warf Glo ein.
»Euer Besen kann es nicht mit meinem Schwert aufnehmen«, erwiderte Hatchet. »Ich bin ein geübter Schwertkämpfer. Das meine ich todernst.«
»Nun, ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Besen magische Fähigkeiten besitzt«, erklärte Glo.
Hatchet hielt kurz inne. »Magische Fähigkeiten?«
»Ja, er ist nämlich ein Zauberbesen«, bestätigte Glo.
Hatchet warf mir einen Blick zu. »Ich werde mich jetzt zurückziehen, aber ich werde wiederkommen. Ich werde zuschlagen, wenn Ihr es am wenigsten vermutet. Und ich werde meine eigenen dunklen Mächte heraufbeschwören, um Eure bösen Kräfte zu bekämpfen. Tretet zurück, während ich mich empfehle. Und diese Cupcakes werde ich mit mir nehmen.«
Er streckte sein Schwert in unsere Richtung, packte das Tablett mit den Cupcakes, drehte sich um und rannte aus der Backstube. Auf dem Parkplatz sprang ein Motor an, und dann hörten wir das Quietschen von Reifen auf dem Asphalt.
»Er braucht dringend Medikamente«, meinte Clara.
Glo schulterte ein Blech mit Keksen. »Ich finde ihn irgendwie süß. Er ist nur ein wenig fehlgeleitet. Vielleicht finde ich einen Zauber, der ihm helfen kann. Ich werde heute Abend in Ripple’s Zauberbuch nachschlagen.«
Meine Güte, als wäre Hatchet nicht schon verrückt genug – jetzt wollte Glo ihm auch noch helfen.
»Was ist an diesem Schlüssel so besonders?«, wollte Clara wissen.
»Es geht um den Lovey-Schlüssel«, erklärte Glo. »Erinnerst du dich daran, dass ich gespart habe, um mir ein Buch mit Sonetten zu kaufen, mir dann aber jemand zuvorkam? Nun, das ist der kleine Schlüssel, der zu diesem Buch gehört, und Carl hat ihn gefunden und ihn Lizzy gegeben. Und Gilbert Reedy, der Mann, der das Buch gekauft hat, ist tot.«
»Ich habe gestern in den Nachrichten davon gehört«, sagte Clara. »Sie sagten, jemand hätte ihm das Genick gebrochen und ihn dann von seinem Balkon geworfen.«
Um ein Uhr tauchte Diesel auf. Er schlenderte in die Küche, schlang einen Arm um meinen Nacken und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel.
»Womit habe ich das verdient?«, fragte ich ihn.
»Ich mag dich.«
»Und?«
»Ich bin hungrig.«
»Du willst etwas zu essen?«
»Ja, das auch.«
»Im Kühlschrank sind ein paar verunglückte Fleischpasteten. Wurst, Rindfleisch mit Curry und gebratenes Gemüse.«
Wenn Pasteten oder Gebäckstücke nicht die perfekte Form hatten, bezeichneten wir sie als missglückt. Sie durften dann von den Angestellten gegessen werden. Diesel nahm sich eine der missglückten Fleischpasteten, lehnte sich an die Arbeitsplatte und verzehrte sie kalt.
»Ich habe noch nicht alles durchgelesen«, berichtete er. »Aber einige interessante Sachen habe ich bereits gefunden. Kurz nachdem sich Reedy das Lovey-Buch besorgt hatte, meldete er sich bei einer Partnervermittlung an. Er wählte vier Damen aus, von denen er glaubte, dass sie auf der Suche nach wahrer Liebe seien.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe eine Liste in einem der vielen Ordner gefunden. Reedy nannte sie die nach wahrer Liebe Suchenden und manchmal auch nur die Schlüsselsucher.«
»Das klingt sehr abenteuerlich.«
Diesel holte sich eine weitere Pastete. »Die Liste war auf die Rückseite einer Facharbeit aus dem Jahr 1953 gekritzelt, in der die These vertreten wird, dass die den sieben Sünden zugeordneten Steine ursprünglich für Tugenden standen. Völlerei stand für Freude an allen Dingen. Hochmut war ein emsiger Geist …«
»Und Wollust?«, fragte ich.
»Der Luxuria-Stein war angeblich ursprünglich der Stein wahrer Liebe. Der Autor der Abhandlung stellte die Theorie auf, dass der Stein zu irgendeinem Zeitpunkt beschädigt wurde und danach eine Sünde verkörperte. In einem Anhang heißt es, dass wahrscheinlich ein Schlüssel existiert, mit dem man den Stein finden kann.«
»Der Lovey-Schlüssel!«, rief Glo. »Ich wette, Reedy war auf der Suche nach der wahren Liebe.« Sie schlug sich die Hand auf die Brust. »Das ist so romantisch.«
»Ja, und jetzt ist er so tot«, bemerkte Clara.
Zehn Minuten später hatte ich meine Bäckereiklamotten ausgezogen und folgte Diesel zu seinem Wagen.
»Ich verstehe nicht, warum du dich veranlasst siehst, mit diesen vier Frauen zu sprechen«, sagte ich zu ihm. »Reedy hatte schließlich keine Beziehung mit einer von ihnen. Wie sollte dir das helfen, den Stein zu finden?«
»Es ist ein Anfang«, erwiderte Diesel. »Ich habe von allen die Privat- und Geschäftsadressen. Cassandra McGinty ist die Erste auf der Liste. Sie wohnt in Lynn und arbeitet als Bedienung in einem Restaurant in Salem. Ich habe in dem Restaurant angerufen, und man hat mir gesagt, dass ihre Schicht erst um vier Uhr beginnt, also dachte ich, wir könnten sie jetzt vielleicht zu Hause antreffen.«
Lynn liegt südlich von Marblehead. Es ist eine bunte Küstenstadt mit einer bewegten Geschichte und einer hart arbeitenden Bevölkerung. Cassandra McGinty wohnte in einem großen Schindelhaus, das zu Apartments umgebaut worden war. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock.
Ich stieg schnaufend und keuchend die Treppe hinauf und trat einen Schritt zurück, während Diesel an die Tür klopfte. Eine Frau mit riesigen Brüsten und kurzem, störrischem blondem Haar öffnete. Sie war Anfang zwanzig, mittelgroß und bis auf ihren Brustumfang schlank. Sie trug Stöckelschuhe, eine enge Jeans und ein Top mit Spaghettiträgern, das tiefen Einblick gestattete.
Diesel ließ den Blick über ihre Brüste schweifen, bis er auf Höhe der Brustwarzen hängen blieb, und grinste. »Ich bin auf der Suche nach Cassandra McGinty.«
»Sie haben sie soeben gefunden.« McGinty musterte Diesel von oben bis unten.
Ich hätte Diesel am liebsten gegen sein Bein getreten, um festzustellen, ob ich damit seinen Blick loseisen konnte, aber ich hatte ihm bereits gestern einen Tritt verpasst und wollte nicht, dass das zur Gewohnheit wurde, also ging ich um ihn herum und streckte meine Hand aus.
»Ich bin Lizzy Tucker«, stellte ich mich vor. »Der Kerl mit dem dümmlichen Grinsen ist Diesel. Wir würden gerne mit Ihnen über Gilbert Reedy sprechen.«
»Seid ihr Bullen?«, fragte sie. »Ich habe gehört, dass Gilbert sich von seinem Balkon aus im Fliegen versucht hat und dass das nicht gut ausgegangen ist.«
»Waren Sie ein Paar?«, fragte ich sie.
»Gilbert und ich haben uns einmal auf einen Kaffee getroffen, das war’s auch schon. Ich weiß nicht, ob Sie Gilbert gesehen haben, bevor er sich in einen Pfannkuchen auf dem Gehsteig verwandelt hat, aber er war wirklich kein heißer Typ.« Sie musterte Diesel noch einmal von Kopf bis Fuß. »Und ich steh nun mal auf heiße Typen.«
»Wie schade, dass ich keine kenne oder vorbeibringen könnte«, erklärte ich McGinty. »Diesel sieht recht gut aus, aber er spielt für das andere Team, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Die Glücklichen!«, seufzte McGinty.
»Wir suchen nach einem Buch mit Gedichten. Es fehlt in Reedys Wohnung.«
»Er hatte ein Buch dabei, als wir uns zum Kaffeetrinken getroffen haben. Es sah ziemlich alt aus, und er hat mir dieses lahme Gedicht daraus vorgelesen. Irgendetwas über ein heißes Auge.«
»Können Sie sich noch an etwas anderes erinnern?«
»Ja. Nur, dass ich hoffte, es möge bald zu Ende sein. Gilbert Reedy war ein unglaublicher Langweiler.«
»Er war auf der Suche nach seiner wahren Liebe«, erklärte ich ihr.
»Ich auch«, erwiderte McGinty. »Aber meine wahre Liebe muss gut bestückt sein.«
Wir dankten McGinty für ihre Hilfe, trotteten die Treppe hinunter und stiegen in Diesels Wagen ein.
»Ich hätte ihre wahre Liebe sein können, wenn du nicht alles mit dieser Lüge ruiniert hättest«, beklagte sich Diesel. »Ich besitze alle Voraussetzungen dafür.«
»Du hast sie angestarrt, als wäre sie eine Freikarte zum Super-Bowl-Spiel. Ich hatte Angst, du würdest dir auf deine Zunge treten.«