KAPITEL 5

Gail Danko war die Zweite auf der Liste. Sie wohnte in einem kleinen, heruntergekommenen Bungalow eine halbe Meile von Cassandra McGinty entfernt. In der Auffahrt stand ein schwarzer Sentra. Er war an einigen Stellen verrostet und wies ein paar ziemlich große Beulen auf. Eine graue Katze saß auf dem Autodach und genoss die Nachmittagssonne.

»Danko ist Krankenschwester, derzeit aber krankgeschrieben«, informierte mich Diesel. »Geschieden. Keine Kinder.«

Er klopfte an die Tür, und eine kleine, rundliche Frau mit einer großen, flauschigen weißen Katze auf dem Arm und einem Fuß in Gips öffnete uns. »Was ist?«

»Ich bin auf der Suche nach Gail Danko«, sagte Diesel.

Die Augen der Frau wurden glasig, als sie Diesel musterte. »Mmmmm«, stieß sie hervor.

Diesel lächelte sie an. »Warum trägt Ihre Katze eine Hose?«

»Sie ist nationaler Champion und rollig. Morgen soll sie gedeckt werden.«

Die Katze auf dem Wagen maunzte laut, und der nationale Champion sprang von Dankos Arm und schoss zur Tür hinaus.

»Miss Snowball!«, rief Danko. »Hilfe! Fangen Sie sie! Sie lässt sich sonst von diesem Streuner decken!«

Snowball zischte los wie ein geölter Blitz. Sie rannte so schnell, wie sie mit ihrer Katzenwindel konnte, und war kurz darauf außer Sichtweite. Der graue Kater war ihr dicht auf den Fersen. Gail Danko stapfte mit ihrem Gipsfuß und ihrer Krücke auf die kleine Veranda, aber sie hatte keine Chance, Snowball einzufangen.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ich Danko. »Diesel wird Miss Snowball aufspüren. So was kann er echt gut.«

»Ich spüre keine Katzen auf«, protestierte Diesel.

»Natürlich tust du das«, entgegnete ich. »Du kannst bestimmte Energieflüsse orten.«

»Ich kann Menschen aufspüren.«

»Bist du sicher, dass das nicht auch bei Katzen funktioniert? Hast du es schon einmal versucht?«

»Nein«, erwiderte Diesel. »Aber Miss Wie-auch-immer sollte nicht schwer zu finden sein. Aus der Perspektive eines Mannes vermute ich, dass sie und der Kater in den Büschen um die nächste Ecke verschwunden sind, wo er gerade versucht, ihr das Höschen auszuziehen.«

Diesel ging um das Gebäude herum, und Danko und ich blieben stehen und warteten.

»Was ist mit Ihrem Fuß passiert?«, erkundigte ich mich.

»Eine Ballenzeh-Operation«, erwiderte sie. »Seit zwei Wochen sitze ich herum, muss den Fuß hochlagern und tue nichts als zu essen. Schon vor der Operation hatte ich Gewichtsprobleme, aber jetzt bin ich richtig fett. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, lässt sich Miss Snowball nun auch noch von diesem räudigen Straßenkater schwängern.« Wir hörten ein gottserbärmliches Kreischen und Jaulen, und Danko stolperte einen Schritt zurück und drückte eine Hand gegen die Brust. »Mein Baby!«

»So schlimm ist es vielleicht gar nicht«, beruhigte ich sie. »Sie könnte nur so tun als ob. Ich meine, haben wir das nicht alle schon mal getan?«

Kurz darauf tauchte Diesel mit Miss Snowball hinter dem Haus auf. Die Windel war zerfetzt, befand sich aber immer noch an ihrem Platz, das Fell der Katze stand in die Höhe, und ihre Augen traten aus den Höhlen.

»Hast du so gekreischt?«, fragte ich Diesel.

»Der Prinzessin gefiel das Vorspiel ihres heißen Verehrers nicht.« Er gab Danko Snowball zurück. »Ich hoffe, der Kater, der morgen kommt, weiß, worauf er sich einlässt.«

»Wir wollten Sie etwas über Gilbert Reedy fragen«, wandte ich mich an Danko. »Soviel ich weiß, haben Sie sich mit ihm getroffen.«

»Ja, zum Kaffeetrinken, aber nach fünf Minuten begann er zu keuchen. Wie sich herausstellte, war er allergisch gegen Katzen.«

»Hat er in diesen fünf Minuten irgendetwas Interessantes gesagt?«, fragte ich.

»Nein. In sein Profil schrieb er, dass er den Schlüssel zu wahrer Liebe besitze, aber das war alles. Es ist schwer, sich über wahre Liebe zu unterhalten, wenn man mit einer Asthmaattacke kämpfen muss.«

Diesel fuhr nach Salem zurück und parkte vor der Stadtbücherei. »Sharon Gordon ist die Dritte auf der Liste. Sie ist Bibliothekarin. Sechsunddreißig Jahre alt. Wohnt noch bei ihrer Mutter. Und auf ihrer Facebook-Seite heißt es, dass sie Nora Roberts, Zuckerwatte und Pinguine mag.«

»Man sollte niemandem trauen, der Zuckerwatte mag«, meinte ich. »Dieses klebrige Zeug ist widerlich.«

»Gut zu wissen.«

Wir betraten das Gebäude und fanden Gordon in der Kinderbuchabteilung beim Einräumen eines Regals. Sie war groß und schlank und hatte braunes Haar, das sie mit einer Spange im Nacken zusammengebunden hatte. Sie trug ein blassrosa Stricktop, eine hellbraune Hose und flache Schuhe.

Als sie sich umdrehte und Diesel sah, schnappte sie nach Luft. »Tut mir leid«, sagte sie rasch. »Ich bin es gewohnt, hier nur kleine Menschen zu sehen.«

»Wir würden gern über Gilbert Reedy mit Ihnen sprechen«, erklärte Diesel.

»Sind Sie von der Polizei?«

Diesel nahm ein Buch über Lastwagen von ihrem Rollwagen und blätterte darin. »Das ist eine schwierige Frage.«

Sharon schob ihr Wägelchen vorwärts und stellte ein Buch in das Regal. »Ich habe Gilbert über eine Partnervermittlung kennengelernt. Er sagte, er sei auf der Suche nach der wahren Liebe.«

»Und?«

Sie zuckte die Schultern. »Wir gingen ein paarmal miteinander aus, und ich dachte, er würde mich mögen, aber dann tauchte diese Frau namens Ann auf, und er benahm sich sehr merkwürdig und gab mir schließlich den Laufpass.«

»Kennen Sie ihren Nachnamen?«

»Nein. Ich weiß gar nichts über sie.« Sie stellte ein weiteres Buch in das Regal. »Aber eines kann ich Ihnen sagen – Gilbert Reedy war ein seltsamer Kauz. Sein Fachgebiet war das elisabethanische England, doch er war völlig besessen von einem obskuren Dichter aus dem 19. Jahrhundert. Er besaß ein kleines Buch mit Sonetten, aus dem er auswendig zitieren konnte. Er war davon überzeugt, dass darin der Schlüssel zu wahrer Liebe zu finden war. So als hätte es mystische Kräfte. Und dann rief er mich eines Tages an und erklärte mir, dass er mich nicht mehr brauche. Er brauchte mich nicht mehr. Können Sie sich das vorstellen? Wie soll ich das verstehen? Und dann plapperte er ständig von Ann. Ann, Ann, Ann. Vom Sieg des Guten über das Böse. Und dass er es schon viel eher hätte sehen müssen.«

»Was hätte er schon eher sehen müssen?«, fragte ich.

»Das hat er nicht gesagt. Er redete unaufhörlich vor sich hin, und sein Geschwätz ergab keinen Sinn. Hätte es sich um jemand anderen gehandelt, hätte ich auf Drogen getippt, aber Gilbert Reedy hätte nicht einmal gewusst, wo er sich Drogen besorgen sollte. Er war ein typischer Gelehrter. Es kam mir beinahe so vor, als wären unsere Treffen ein wissenschaftliches Experiment gewesen.«

»Hatte er dieses Sonettenbuch bei sich?«, erkundigte sich Diesel. »Haben Sie es gesehen?«

»Ja. Es war ein sehr schönes Buch. Die Sonette waren von einem Dichter namens Lovey verfasst, und das Buch war in Leder gebunden und mit handgemalten Mandelblüten verziert. Es erinnerte mich an dieses Gemälde von van Gogh. Ich habe ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass van Gogh und Lovey Zeitgenossen waren, also ist es möglich, dass Lovey das Gemälde als Vorlage für die Verzierung des Buchs verwendet hat. Vielleicht war es aber auch nur Zufall. Die Mandelblüte ist schon seit langer Zeit ein Symbol für Hoffnung. Das Buch war wie ein Tagebuch mit einem Schloss versehen, und es gab einen kleinen Schlüssel dazu. Gilbert hat mir den Schlüssel jedoch nie gezeigt. Er sagte, er sei das letzte Teil des Puzzles und er würde ihn an einem sicheren Platz aufbewahren.«

»Was meinte er damit, dass es sich um das letzte Teil des Puzzles handle?«, fragte ich sie.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Gordon. »Er machte ständig solche Bemerkungen und schweifte dann zu einem ganz anderen Thema ab. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich immer wieder mit ihm ausgegangen bin. Eigentlich war er ein richtiger Spinner.«

»Er hat Ihnen Gedichte vorgelesen, und er war auf der Suche nach der wahren Liebe«, bemerkte ich.

Gordon nickte und lächelte. »Ja. Er war ein romantischer Spinner.«

»Haben Sie eine Ahnung, wer etwas über den Schlüssel und das Puzzle wissen könnte?«, fragte ich sie. »Hatte er nahe Verwandte oder Freunde, mit denen er darüber gesprochen haben könnte?«

»Ich glaube nicht, dass er Freunde hatte, und Verwandte hat er nie erwähnt. Er hat öfter von seiner Doktorandin Julie gesprochen. Er war ihr Doktorvater und hielt sie für sehr klug. Möglicherweise hat er sich ihr anvertraut. Und dann gab es natürlich diese Ann.«

Wir verließen die Bücherei und gingen zum Wagen zurück.

»Du hast gesagt, Reedy habe sich bei der Partnervermittlung vier Frauen ausgesucht«, sagte ich zu Diesel. »Ist Ann die vierte?«

»Nein, die vierte ist Deirdre Early. Sie wohnt in Boston.«

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Es ist fast vier Uhr. Willst du noch weitermachen?«

»Ja. Ich würde mich gern in Harvard ein wenig umschauen. Vielleicht finden wir Reedys Doktorandin. Und auf dem Heimweg könnten wir vielleicht Early einen Besuch abstatten.«

Diesel tippte eine Nummer in sein Handy und bat um Hilfe beim Auffinden von Reedys Studentin. »Ich werde in einer Stunde in Cambridge sein«, erklärte er. »Versuch, ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Außerdem möchte ich mich gern in Reedys Büro umsehen.«

»War das deine Assistentin?«, fragte ich ihn, nachdem er aufgelegt hatte.

»Mehr oder weniger.«

In der kurzen Zeit, in der ich Diesel kannte, hatte er bereits sechs verschiedene Assistentinnen gehabt. Ich versuchte inzwischen nicht mehr, mir die Namen zu merken. Sie sind alle gesichtslos, lediglich Stimmen, die aus der Freisprechanlage des Autotelefons schallen und dank des Wunders von Bluetooth an Diesels Ohr gelangen.

Wir fuhren auf der 1A nach Boston. Die Landschaft war zuerst sehr interessant und wurde dann hässlich. Überall waren Schlaglöcher, und aggressive Fahrer rasten wie verrückt über das Autobahngewirr.

In der Stadt bogen wir auf den Storrow Drive ab, der am Ufer des Charles River entlangführte. Die linke Seite der Straße war gesäumt von vierstöckigen Backsteinhäusern, hinter denen sich Bostons Hochhäuser erhoben. Rechts erstreckten sich ein schmaler Grünstreifen und ein Fahrradweg. Einige Leute strampelten den Radweg entlang, und ein paar Abgehärtete trieben in Segelbooten auf dem Fluss dahin. Wir fuhren an einer leeren Konzertmuschel und an einigen Dixi-Klos vorbei, die vom Wochenende übrig geblieben waren. Diesel fuhr zum Ende des Storrow Drive und bog dann auf die Brücke ab, die über den Charles River nach Cambridge führt. Jetzt befand ich mich auf fremdem Terrain. Seit ich nach Marblehead gezogen war, hatte ich bereits einige Ausflüge in die Innenstadt von Boston gemacht, aber ich war noch nie über den Fluss nach Cambridge gefahren.

»Du scheinst dich hier auszukennen«, bemerkte ich.

»Vor zwei Jahren habe ich hier mal nach jemandem gesucht«, erklärte Diesel.

»Hast du ihn gefunden?«

»Ja.«

»Und?«

Diesel blieb an einer Ampel stehen. »Das ist schwer zu beantworten.«

»Du hast ihn doch nicht umgebracht, oder?«

»Ich bringe niemanden um.«

»Hast du ihn in eine Kröte verwandelt?«

Diesel warf mir einen Blick zu und grinste.

Ich war mir nicht sicher, was dieses Grinsen bedeutete, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt wissen wollte, also starrte ich aus dem Fenster auf die vorbeifliegenden Gebäude. Auf den Gehsteigen tummelten sich Studenten. »Sind wir gerade an Harvard vorbeigefahren?«, fragte ich.

»Nein«, erwiderte Diesel. »Das war die Technische Hochschule MIT. Harvard liegt ein paar Meilen weiter an der Massachusetts Avenue.«

Die Massachusetts Avenue war eine vierspurige, vielbefahrene Straße, die von Apartmenthäusern, Ladengeschäften und Hotels gesäumt wurde.

Diesels Telefon klingelte, und eine weibliche Stimme meldete sich. »Julie Brodsky wird sich mit dir im Barker Center in der Quincy Street 12 treffen. Ich habe ihr gesagt, du wärst Daniel Crowley, Reedys Cousin aus Chicago.«

»Prima«, sagte Diesel. »Danke.« Er legte auf.

»Wo wohnt deine Assistentin?«, wollte ich wissen.

»Keine Ahnung.«

»Hast du sie schon einmal gesehen?«

»Nein.«

»Du hast einen ziemlich großen Verschleiß an Assistentinnen.«

»Das hat man mir bereits gesagt.«

»Und warum ist das deiner Meinung nach so?«, fragte ich.

»Es geht das Gerücht, dass man bei mir für wenig Entlohnung sehr viel arbeiten müsse.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.«

»Hör mal, wenn ich jemanden in der indischen Wüste Thar verfolge, Durchfall habe und mein Kamel davonläuft, dann erwarte ich, dass ganz schnell ein neues Kamel auftaucht.«

»Das ist nachvollziehbar. Wie oft passiert denn so etwas?«

»Öfter, als mir lieb ist.«