KAPITEL 15

Das Boston Museum of Science ist nicht sehr groß, wenn man es zum Beispiel mit dem Louvre vergleicht. Man braucht nicht den ganzen Tag, um sich alles anzuschauen. Im Erdgeschoss fanden wir keinerlei Hinweise. Wir wollten gerade weitergehen, als Carl in dem Rucksack zu zappeln begann.

»Wahrscheinlich ist es ihm dort drin zu heiß«, sagte ich zu Diesel. »Vielleicht sollten wir ihn herausholen und als Kind verkleiden. Ich könnte ihm in dem Museumsshop ein T-Shirt kaufen.«

»Mit einem T-Shirt ist es nicht getan«, meinte Diesel. »Er ist haarig, krummbeinig und hat einen Schwanz.«

»Stell dich nicht so an«, sagte ich. »Denk positiv. Nicht jedes Kind sieht niedlich aus.«

Ich betrat den Geschenkeladen und suchte mir ein T-Shirt für ein Kleinkind mit einem Dinosaurier darauf aus. Dazu eine passende Latzhose und Kinderstiefel von UGG. Anschließend brachte ich Carl in den Wickelraum, zog ihm die Sachen an und hielt ihn vor den Spiegel, damit er sich anschauen konnte.

»Iip«, stieß Carl hervor und deutete auf den grünen Dinosaurier auf seiner Brust.

»Dinosaurier«, erklärte ich ihm.

Er betrachtete seine Füße in den dicken Stiefelchen.

»Das sind Schuhe«, sagte ich. »In einem Museum muss man Schuhe tragen.«

Ich setzte ihn auf den Boden. »Du kannst laufen, aber du musst an meiner Hand bleiben.«

»Iip.«

Ich führte ihn hinaus und zeigte ihn Diesel. »Was hältst du davon?«

»Ich brauche einen Drink.«

»Ich finde, er sieht süß aus.«

»Ich wette, du hast deine Katze angezogen, als du ein kleines Mädchen warst.«

»Das tun alle kleinen Kinder.«

Wir gingen ins untere Geschoss und sahen uns die Dinosaurierausstellung an. In dem Saal liefen einige Menschen umher – und bei einem von ihnen handelte es sich um Hatchet in seiner mittelalterlichen Aufmachung. Er ging langsam durch den Raum und berührte alles, offensichtlich auf der Suche nach versteckter Energie.

»Schon etwas gefunden?«, sprach ich ihn an.

Er rang überrascht nach Luft, als er Diesel und mich sah, und warf dann einen Blick auf Carl. »Was bringt Euch an diesen Ort? Euch und Euren …«

»Affen«, ergänzte Diesel. »Er stammt nicht von meinem Zweig der Familie.«

Hatchet trug ein großes Heftpflaster im Nacken, eine grüne Tunika und eine braune Strumpfhose. Sein Ausschlag war verschwunden, und seine Schwertscheide war leer.

»Wo ist dein Schwert?«, wollte ich wissen.

»Ich musste es am Eingang abgeben. Mein Leben als Ritter ist nicht immer einfach.«

Carl zog an meiner Hand. Er wollte weitergehen und hatte bereits ein Auge auf den Triceratops geworfen.

»Hast du Peder Tichy ausgegraben?«, fragte ich Hatchet.

»Nein. Das war nicht nötig.«

»Aber irgendjemand hielt es für nötig.«

»Eine Bestie ohne unser einzigartiges Talent.«

»Bestie ist ein starkes Wort«, meinte ich.

»Das ist eine Bestie, das weiß ich genau. Und diese Bestie findet großes Vergnügen am Zerstören.«

»Iiiiip«, quengelte Carl, stampfte mit seinen Stiefeln auf den Boden und deutete auf den Dinosaurier.

»Hey!«, rief ich ihn zur Ordnung. »Ich unterhalte mich.«

»Hat die Bestie einen Namen?«, fragte ich Hatchet.

»Ja. Mein Meister hat Euch bereits gewarnt.«

»Anarchie«, riet Diesel.

»Mehr weiß ich auch nicht«, erklärte Hatchet. »Nur, dass man Angst davor haben sollte.«

Hatchet ging weiter und hinterließ an jedem Gegenstand seine Fingerabdrücke.

»Glaubst du wirklich, dass es eine Bestie namens Anarchie gibt?«, fragte ich Diesel.

»Glaube ich an einen feuerspeienden Drachen namens Anarchie? Nein. Kann ich mir einen Verrückten vorstellen, der sich irgendwo dort draußen herumtreibt und sich Anarchie nennt? Durchaus möglich.« Diesel führte Carl zu dem Triceratops hinüber. »Wenn jemand sich selbst Anarchie nennt, will er nur auffallen.«

»Und das sagt jemand mit dem Namen Diesel.«

»Ich habe mir diesen Namen nicht ausgesucht.«

»Wie würdest du denn gern heißen?«

»Gus.«

»Weil es ein kurzer Name ist?«

»Weil es ein normaler Name ist und entsprechend normale Erwartungen hervorrufen würde. Und das würde mir einen Vorteil verschaffen«, erklärte Diesel. »Da ich nicht ganz normal bin.«

»Glaubst du, Hatchet hat diese Brandwunde im Nacken von Anarchie?«

»Schon möglich. Irgendjemand hat sie ihm beigebracht, und es war nicht Wulf.«

»Nur so eine Idee. Der Handabdruck an Hatchets Hals war klein. Vielleicht handelte es sich um eine Frauenhand. Anarchie könnte eine Frau sein. Und wenn ich diesen Gedanken weiterführe, komme ich zu dem Schluss, dass Reedys geheimnisvolle Freundin Ann diese Anarchie sein könnte.«

»Das habe ich mir auch überlegt«, sagte Diesel. »Und sie könnte Reedy umgebracht haben. Ich hatte leider keine Gelegenheit, mir die Brandwunde genauer anzusehen.«

»Die meisten Frauen sind nicht so grausam und auch nicht so stark«, gab ich zu bedenken.

»Es handelt sich wohl nicht um eine normale Frau.«

»Es könnte deine Tante sein!«

»Wulfs Mutter?« Diesel lachte bellend. »Ich kann sie mir nicht als Verfechterin von Anarchie vorstellen. Sie ist wie Wulf und hat alles gern geordnet und unter Kontrolle.«

Ein Museumsführer stand neben einer farbenfrohen Vorrichtung, die etwa so groß wie ein zweistöckiges Haus war. Kugeln rollten über Schienen, stießen an Glocken, fielen auf Kreisel, wurden von winzigen Aufzügen nach oben transportiert und traten von dort mit Geklapper, Gebimmel und Gedröhne ihre Reise nach unten an. Der Apparat wurde von einem massiven Metallrahmen zusammengehalten und elektrisch angetrieben. Auf dem Schild davor war zu lesen, dass es sich um eine audiokinetische Skulptur handelte.

Der Museumsführer wippte auf seinen Fersen und wirkte gelangweilt. Einige Leute sahen sich die Skulptur an, wandten sich jedoch nicht an ihn. Ich ließ Carl bei Diesel und ging quer durch den Raum.

»Dieses Ding mit den Kugeln und den Glocken gefällt mir sehr gut«, sagte ich zu dem Museumsführer. »Ist es neu? Ich bin zum ersten Mal in diesem Museum.«

»Der offizielle Name für die Skulptur lautet Archimedean Excogitation«, erklärte er. »Sie wurde von George Rhoads entworfen und gebaut und steht seit 1987 hier.«

»Ich habe gehofft, hier Gegenstände aus dem früheren Museum an der Ecke Berkeley und Boylston zu finden.«

»Im hinteren Bereich des Raums steht eine kleine kinetische Skulptur auf einem Sockel. Sie ist eines der wenigen verbliebenen Ausstellungsstücke aus dem alten Gebäude.«

Ich drehte mich um und sah, dass Hatchet bereits zu dieser Skulptur hinübergegangen war und seine Nase an das Glas presste. Offensichtlich suchte er nach einem Weg, um in den Schaukasten hineinzukommen.

»Um Himmels willen«, stieß der Museumsführer hervor. »Sir!«, rief er Hatchet zu. »Bitte treten Sie von der Vitrine zurück.«

Hatchet wich einen Schritt zurück und schlich dann zu einem anderen Ausstellungsstück weiter.

»Hier treiben sich einige Spinner herum«, meinte der Museumsführer. »Was will er wohl in diesem Kostüm darstellen?«

»Einen mittelalterlichen Ritter«, erwiderte ich.

»So etwas sehe ich zum ersten Mal. Nun ja, jedem das Seine.«

»Er schien sich sehr für die kleine Skulptur zu interessieren.«

»Das ist der Grund, warum sie hinter Glas ausgestellt ist. Man muss sie per Hand in Betrieb setzen, und die Leute haben immer wieder versucht, sie in Bewegung zu bringen.«

»Haben Sie sie schon in Betrieb gesehen?«

»Ja. Sie ist nicht besonders interessant. Die Kugel schlägt gegen eine der Glocken, die nacheinander alle zum Klingeln kommen. Das ist alles. Und eine der Glocken ist zerbrochen. Sie klingt nicht mehr, sondern gibt nur noch einen dumpfen Ton von sich.«

»Interessant ist sie trotzdem, weil sie aus dem ursprünglichen Museum stammt.«

»Das ist richtig. Die meisten Leute nehmen sie nicht wahr, weil sie sich in dem Glaskasten befindet.«

Ich ging zu dem Schaukasten hinüber und las die kleine Tafel. Kinetische Skulptur von Monroe Tichy, 1890. Dann berührte ich das Glas mit einer Fingerspitze und spürte eine leichte Vibration und Wärme. Ich war sicher, dass Hatchet das auch bemerkt hatte.

Diesel und Carl stellten sich neben mich und betrachteten den Apparat von Monroe.

»Ich spüre eine Vibration«, teilte ich Diesel mit. »Und der Museumsführer sagte, dass eine der Glocken nicht mehr läutet. Das könnte sich auf den ersten Teil des Spruchs beziehen, in dem es heißt, dass Schweigen mehr sagt als Worte.«

»Die Glocke ist in einem Museum in einer Glasvitrine«, stellte Diesel fest. »Warum muss immer alles so furchtbar kompliziert sein?«

»Vielleicht wird die Botschaft sichtbar, wenn wir die Kugel in Bewegung setzen«, meinte ich. »Kannst du sie nicht anstoßen? Ich meine, sie durch deine Gedanken in Schwung bringen oder so etwas?«

»Das liegt nicht im Rahmen meiner Fähigkeiten. Ich kann auch keine Kuh fliegen lassen.«

Wir starrten auf den Schaukasten. Die Skulptur sah aus wie etwas aus einem Geschenkeshop. Wie eines dieser Dinger für den Schreibtisch, die man Leuten schenkte, die bereits alles hatten.

»Aber Schlösserknacken kannst du noch, oder?«, sagte ich. »Na los, mach den Schaukasten auf.«

»Okay. Am unteren Rand, wo der Kasten mit dem Podest verbunden ist, befindet sich ein kleines Schloss. Es gleicht diesen kleinen Schlössern, die man in Kaufhäusern an den Schmuckvitrinen sieht. Aber was soll ich tun, wenn ich das Schloss geöffnet habe?«

»Ich schätze, du musst das Ding stehlen.«

»Hast du dafür auch einen Plan?«

»Carl und ich werden für Ablenkung sorgen, du steckst den ganzen Apparat in deinen Rucksack und verschwindest damit.«

»Und wenn sie mich schnappen?«

»Dann werde ich schwören, dich noch nie in meinem Leben gesehen zu haben.«

»Ich nehme an, das könnte klappen«, meinte Diesel.

»Und wenn nicht, dann musst du dich eben aus dem Knast befreien.«

»Das klingt nicht gut«, sagte Diesel.

Ich lächelte ihn an. »Wenn du dich nicht erwischen lässt, werde ich heute Abend nett zu dir sein.«

Er zog kaum merklich die Augenbrauen nach oben.

»Wie nett?«, erkundigte er sich.

»Sehr nett.«

»Legst du dich nackt ins Bett?«

»Nein, aber ich backe dir Kekse.«

Er grinste mich an. »Darauf lasse ich mich nicht ein. Wenn ich das durchziehe, musst du nackt ins Bett kommen.«

»Das könnte mich dazu verleiten, dich auffliegen zu lassen.«

Er schüttelte den Kopf. »Das kannst du nicht machen. Wir müssen schließlich diesen Auftrag gemeinsam zu Ende bringen.«

»Wäre es nicht frustrierend, wenn ich nackt im Bett läge?«

»Damit komme ich schon klar.«

Ja, dachte ich, aber was ist mit mir? Mir fiel es schon schwer, mich zurückzuhalten, wenn ich komplett bekleidet war.

»Wir werden sehen«, sagte ich ausweichend. »Versuch lieber, dich nicht erwischen zu lassen.«

Diesel legte seine Hand auf den unteren Rand der Vitrine und fuhr mit seinen Fingern langsam über das kleine silberne Schloss. »Erledigt. Jetzt bist du dran.«

Ich schaute zu Carl hinunter. »Du musst jetzt hier für Chaos sorgen«, erklärte ich ihm. »Wir müssen alle von Diesel ablenken. Und wenn ich pfeife, rennst du zu dem Aufzug und verschwindest.«

»Chee«, erwiderte Carl. Und reckte seine Daumen in die Luft.

In unserer Nähe befanden sich ungefähr zwanzig Leute und der Museumsführer. Carl flitzte quer durch den Raum, schnappte sich die Handtasche einer Frau und rannte damit davon.

»Meine Tasche!«, kreischte die Frau. »Das haarige Kind hat mir meine Handtasche gestohlen!«

Alle drehten sich zuerst zu der Frau um und folgten dann Carl mit ihren Blicken. Carl hob die Tasche über seinen Kopf und schnatterte. »Chee, chee, chee!«

»Das ist kein Kind. Das ist ein Affe!«, rief jemand. »Schnappt ihn euch.«

Der Museumsführer griff nach seinem Telefon und rief den Sicherheitsdienst an, und alle Personen in dem Raum rannten hinter Carl her. Mütter, Väter, Kinder und eine alte Lady auf einem Elektromobil jagten Carl.

Carl kletterte auf die Excogitation-Skulptur und leerte, oben angekommen, die Tasche aus. Metallkugeln rollten über die Schienen, brachten Glocken zum Klingen und fielen in Körbe … und Papiertaschentücher, Lippenstifte, Münzen und weiterer Frauenkram regneten auf die Skulptur hernieder.

Obwohl ich diejenige war, die Carl losgeschickt hatte, blieb ich wie alle anderen wie versteinert stehen und beobachtete, wie er sich an der fast zehn Meter hohen Skulptur wie ein Affe in der Wildnis entlanghangelte.

Ich warf einen Blick zu Monroes Apparat hinüber und stellte fest, dass er verschwunden war. Ebenso wie Diesel. Die Glasvitrine wirkte unbeschädigt, aber sie war leer. Wahrscheinlich würde es eine Weile dauern, bis jemand das Fehlen der Skulptur bemerkte. Ich hastete zu dem Aufzug hinüber und pfiff nach Carl. Er sprang von der Skulptur auf die Wendeltreppe hinunter, huschte an zwei Wärtern vorbei, wich Hatchet aus und rettete sich mit einem Sprung in den Lift. Hatchet war dicht hinter ihm; sein Gesicht gerötet und verzerrt.

»Sie ist weg«, knurrte Hatchet. »Die Vitrine ist leer. Ich habe es als Erster entdeckt. Du hast die Skulptur gestohlen, und ich will sie haben.«

Er streckte den Arm aus und griff nach mir. Instinktiv trat ich ihm so fest in seine mittelalterlichen Eier, dass er einige Meter zurückflog. Er atmete zischend aus und krümmte sich zusammen. Die Aufzugtüren schlossen sich.

»Iik«, bemerkte Carl.

»Das ist ein böser Mann«, erklärte ich Carl.

Wir stiegen in der Tiefgarage aus und hasteten zu Diesels Wagen. Diesel wartete bereits mit laufendem Motor. Wir stiegen rasch ein, und Diesel fuhr aus der Garage.

»Das war einfach«, stellte Diesel fest.

Für ihn vielleicht. Für mich weniger. Meine Pulsfrequenz befand sich immer noch in einer Höhe, in der man einen Schlaganfall befürchten musste, und das Adrenalin ließ meinen Körper vibrieren.

»Hast du Carl gesehen?«, fragte ich ihn. »Er war unglaublich. Es war wie ein Gastspiel des Cirque du Soleil im Science Museum. Wir könnten ihm jederzeit einen Job besorgen, wenn wir ihn als Akrobat aus Rumänien ausgeben.«

Carl fand einen Kuchenkrümel in seinem Pelz, pflückte ihn heraus und schob ihn sich in den Mund.