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Sie nahm mich mit zu sich nach
Hause.
«Möchtest du mit mir kommen, Alex?»
An diesem fliegenden Abend.
Ich hatte nicht gewußt, daß München so viele
Lichter hat. Wir fuhren durch die Ainmillerstraße über den
Rotkreuzplatz, Donnersbergerbrücke, durch die Trappentreustraße,
und jedes Haus war gelb und gold, rot und rosenfarben. Alle
Ecklokale fürstlich erleuchtet mit juwelenbesetzten Baldachinen.
Ich hatte nicht gewußt, wie viele illuminierte Bierseidel München
aufweist, wie viele Lichtsäulen und Leuchtampeln, und über allem
der Fernsehturm wie ein gleißendes Szepter.
«Herrgott», rief ich aus, «wie schön ist
München, wie kommt es, daß es so schön ist.»
Der Taxifahrer fuhr dezent, drehte sich auf
der ganzen Strecke bis zur Gertrudenstraße kein einziges Mal um,
bis zu einer Wohnanlage mit hintereinandergestaffelten Blöcken,
jeder Block zwölf Stockwerke hoch, und dort im dritten Block, eine
Treppe hoch, durch einen rechts und links von Türen flankierten
Gang hindurch, im Apartment 113 wohnte sie, Juliaan Fabergast,
meine Göttin.
Mit großen Erwartungen?
Eigentlich ja.
Es fiel mir nicht gleich auf, als ich die
Wohnung betrat. Der Grundriß war mit einem Blick zu überschauen,
eine Wohnschachtel mit Wohnzimmer, Kochnische und der üblichen
Glasfront zum Balkon hin, dazu ein kleines Badezimmer, dessen Tür
offenstand. Vor dem Balkon das zwölfstöckige Wabenmuster des
nächsten Blocks als Ausblick. Auf dem Balkon eine Liege am
Geländer.
«Liegst du da?»
Die Fenster des gegenüberliegenden
Wabenmusters waren teilweise hinter Balkone zurückverlegt,
teilweise vorn in die Mauer gesetzt, so daß sich durchgehende
Senkrechten ergaben. An einem der Fenster stand ein Mann, stützte
sich am Sims ab.
«Jeden Morgen, ab fünf.»
«Ab fünf?»
«Da ziehe ich um, wenn die Sonne
herumkommt.»
Augenblick mal.
«Bis um acht, dann geht die Sonne wieder
weg.»
«Augenblick mal», sagte ich, «du stehst
mitten in der Nacht auf, legst dich hier draußen hin und schläfst
weiter?»
Ich war skeptisch.
«Wegen der Sonne?»
Ich war eigentlich sehr skeptisch.
«Sag mal», fragte ich vorsichtig, «liegst du
da nackt?»
Sie strahlte. «Alex», sagte sie, du bist
altmodisch.»
«Und was ist mit diesen Fenstern.»
«Die sind weit weg.»
Es waren, wie ich feststellte, höchstens
dreißig Meter über den Hof bis zur Fensterfront, und es waren - ich
überschlug die Zahl - bei zwölf Stockwerken und bei acht Fenstern
pro Stockwerk fast einhundert, die auf diesen Balkon blickten. An
dieser Stelle wurde ich aber doch skeptisch, und als ich die Liege
ausprobierte und über die niedrige Balustrade peilte - sie bestand
in der oberen Hälfte nur aus einem Gestänge -, da erlitt ich doch
einen gelinden Schock: Meine Göttin jeden Morgen um fünf den
Blicken von einhundert schmutzigen Männern preisgegeben? Die extra
zu diesem Zweck früh aufstanden? Ich besitze leider genügend
Phantasie, um sie mir vorzustellen, die Männer mit den Ferngläsern,
möglicherweise mit einer Vergrößerung von 1:50, so daß sie über
dreißig Meter auf einen Abstand von sechzig Zentimeter herankamen?
Welch eine Vorstellung! Sie könnten jedes einzelne Haar zählen.
Jeden Leberfleck.
Ich mußte erst einmal tief
durchatmen.
Was hatte sie gesagt? Die gehen mich nichts
an?
Das ist deren Sache? -
Inzwischen saß ich
tief durchatmend am Tisch und betrachtete die kleinen Gegenstände,
die hier aufgebaut waren: ein winziger Lastenträger aus Stroh, eine
rosa Kugel, mit Docht versehen, vier kleine Lumpenpüppchen in einer
Reihe zusammengesteckt, ein Big Ben aus Bronze, kleinfingerhoch,
eine Emaillebüchse mit den Portraits von zwei irischen
Zeppelinkapitänen auf dem Deckel, jedenfalls stand darauf: God
bless Ireland. Und ein Halter für Räucherkerzen, von denen sie
jetzt eine anzündete, dazu eine ganz leise unterschwellige Musik:
Ladadididi ladadididi. Indisch vermutlich.
Aber erst, als ich mich weiter umsah - die
Wände waren blaß fleischfarben gestrichen, mitten im Raum stand ein
großes flaches Bett, lachsrot bezogen mit einer Unmenge Kissen -
erst da fiel es mir auf: Ihre Fenster hatten keine
Vorhänge!
Die gesamte durchgehende Fensterfront, vom
Fußboden bis zur Decke und von einer Querwand zur anderen, war
blank und bloß, keine Blenden, keine Jalousien, keinerlei Markisen
oder Rolläden, kein gar nichts. Es waren noch nicht einmal Haken
angebracht, wo man hätte etwas aufhängen können. Jeder, der wollte,
konnte uns die Bissen in den Mund zählen, wie wir hier am Tisch
saßen, im Begriff, die Broccoli vom Teller zu nehmen.
Ich glaube, erst das war der Augenblick, in
dem ich zusammengebrochen bin, und nicht nur bildlich, ganz real,
jedenfalls lag ich über dem Tisch. Schluchzend. Das nicht gerade,
aber wie ein Mann habe ich mich nicht benommen (ein alter
Mann).
*
Broccoli, Reis, oder waren es ähnliche
Körner, etwas Indianisches aus Peru, Möhren, Zucchini und ein
viereckig geschnittener Gemüsestrunk, den ich nicht deuten konnte.
Meditative Musik, das «Lied der Ströme», dazu klares Wasser, sehr
schön.
Glaubst du an Seelenwanderung? Ja, daran
glauben wir sicherlich, jeder auf seine Weise. An die
Seelenwanderung.
Nur glaube ich nicht, daß die Seele
wandert.
– – –
Ich glaube, daß sie stillsteht. Die Zeiten
wandern, die Träume.
– – –
Sehr schön.
Es war noch hell draußen, hier drinnen aber
durch den überhängenden Balkon vom oberen Stockwerk bereits etwas
dämmrig. Und es würde noch dämmriger werden. Unsere Knie berührten
sich unter dem Tisch, es war schon fast eine Intimität, deshalb
streckte ich die Hand aus und ließ sie dort ruhen. Diese Sommerhaut
über dem Knie ist viel glatter als die im Winter, eine luxuriöse
Politur ist das, eine Schlangenhaut. Und die Sicht, wie ich annahm,
war durch die Tischplatte verdeckt, jemand, der drüben auf dem
Balkon stand, sah nur die Teller, die Schüssel mit dem Deckel, die
Gläser und die zwei verschiedenen Brotsorten auf der Tischplatte.
Das Mädchen Juliane bewegungslos in völliger Hingabe, sozusagen
erstarrt.
Ich ließ die Hand ruhen.
Völlig erstarrt.
– – –
«Alex», sagte sie, «das ist mir jetzt zu
intim.»
Im selben Augenblick ging das Licht an, und ein
junger Mann betrat den Raum. «Hi», sagte er, «was macht ihr? Gibt
es was zu essen?» Schleuderte seine Jacke in die Ecke, dann legte
er sich rücklings auf die Bettecke, ließ die Beine baumeln. Dann
zog er sich die Schuhe aus. Augenblick mal, wo kam denn der her?
Eben noch intimes Dämmern und plötzlich grelle Beleuchtung. Das
Licht war durch einen Schirm abgedeckt auf die Decke gerichtet, von
dort aber voll aktiv, eine jener leistungsstarken Sparleuchten,
nicht angenehm. Jetzt zog er sich das graurote Hemd aus. Legte sich
wieder rücklings hin. «Das ist Bali», stellte sie vor.
«Hi.»
«Und das ist Alex.»
«Hi.»
Daraufhin zog er sich die Hose aus und ging
ins Bad. Die Hose, bemerkte ich, war mehr ein Sack, ein durch ein
Band zusammengehaltener grauroter Doppelbeutel, der in sich
zusammenfiel, als das Band aufging. Darunter war ein ziemlich
magerer Hintern erschienen, ziemlich unverhofft. Augenblick
mal!
«Es ist sein Tantra-Name», erläuterte sie,
«ich weiß nicht, wie er sonst heißt, hier heißt er Bali.»
«Hier?» -
«Im Tantra», erläuterte sie.
Er plätscherte draußen eine Weile, dann hörte
man massiv Wasser einlaufen, ein paar dumpfe Schläge, dann Stille.
Anscheinend hatte der Tantramann dort seinen Platz
gefunden.
«Kann man das Licht wieder ausmachen?» fragte
ich.
«Aber ja, Alex.»
Dafür waren aber im Nachbarblock die Lichter
angegangen, ein Muster heller und dunkler Fenster, uns beleuchtend,
die wir hier saßen. Ein sehr helles Fenster drüben hatte fast die
Qualität eines Theaterlichts, während hinter einem dunklen Fenster
in gleicher Höhe und direkt gegenüber ein roter Schein
aufflackerte. Ein plötzlicher Zimmerbrand? Es war aber anscheinend
nur eine Tür, die dort jemand von einem rückwärtigen Raum her
geöffnet hatte, dabei wurden zwei Umrisse sichtbar, zwei Männer,
nein, ein Mann und eine Frau. Die Tür wurde auch gleich wieder
geschlossen.
Ich liebe dich. Und ich liebe dich
auch.
Ich legte meine Hand auf ihre Hand und ließ sie
dort ruhen, war auch nicht zu intim. In diesem Augenblick ging bei
uns das Licht wieder an und eintraten zwei junge Männer, das heißt,
einer war schon älter und trug fast die gleiche Hose wie der Bali,
der andere Jeans und Jeanshemd, setzten sich - alle beide -,
nachdem sie ihre Jacken in die Ecke geschmissen, Schuhe ausgezogen
hatten, aufs Bett.
«Das sind Krishnu und Yoko», stellte Juliane
vor.
«Krishnu!» sagte ich und hob das Glas
Wasser.
«Yoko!», ich hob es noch einmal, und beide
nickten.
Yokohama.
Mir kam jedoch der schreckliche Verdacht, daß
die Tür zum Gang offenstand. Wurden noch mehr Teilnehmer erwartet?
Und auch drüben im Nachbarblock flackerte mehrmals der Zimmerbrand,
ich wollte es nicht beschwören, also ich sah jetzt drei, ich
glaube, sogar vier Silhouetten am Fenster. Inzwischen war Bali vom
Bad hereingekommen. Er hatte sich ein Frottiertuch um die Hüften
geknotet, auch trug er ein braunes Stirnband, offensichtlich einen
Strumpf. Bali.
–
Sie alle setzten sich zu Tisch, Bali, Yoko
und Krishnu, letzterer jetzt ohne Hemd, füllten sich das
Körneressen in viereckige Keramikschalen, je mit einem Zweig
Rosmarin versehen, welcher dann wie ein kleiner Mast aus dem Brei
stand. Machten sich über das Essen her. Wasser wurde auch
gereicht.
Krishnu stand auf und ließ nun seinerseits
die Hose fallen. Ging ins Bad, sein Hinterteil war etwas behaart,
wie ich feststellen mußte, aber nicht viel. Vielleicht sollte ich
wenigstens die Schuhe ausziehen, ich war hier der einzige in
Schuhen.
«So, Ali», sagte Yoko, «was machst du
denn.»
«Er heißt Alex.»
«So? Was machst du denn, Alex.»
«Gar nichts», erwiderte ich, «eigentlich
nicht viel.»
«Hört sich gut an.»
«Er studiert Aramäisch», erklärte Juliane,
«Chaldäisch, Hethitisch, Hebräisch.»
Yoko nickte.
«Wedisch.»
«Wedisch hört sich gut an», sagte
Yoko.
Im Badezimmer lief wieder massiv Wasser ein, es
plätscherte eine Weile, danach war Ruhe. Juliane machte sich in der
Kochnische zu schaffen, sie zog ihr Kleid aus, einen ärmellosen
Hänger aus bedruk ktem Kattun, darunter trug sie nur den Slip. Ich
schaute hinüber zu den beleuchteten Fenstern, von denen inzwischen
einige dunkel waren, direkt gegenüber eine Reihe von fünf.
«Und sonst», interessierte sich Yoko, «was
machst du sonst.»
«Römisch. Ich mache Griechisch, Römisch,
Phrygisch…»
Juliane war plötzlich nicht mehr da. Wo war
sie? Und diese Laute, die ich hörte, waren auch eigenartig, es
waren Seufzer, aber laut und mechanisch, ohne Emotion. Wie man
eigentlich nicht seufzt.
«Was ist das?»
«Was?»
«Das!» wollte ich wissen.
«Sie atmen», erklärte mir der Yoko, und der
Bali nickte dazu: «Sie atmen.»
Also atmeten sie, allerdings schien das eine
sehr ausführliche Atmung zu sein, der Tonlage nach zu urteilen,
anfangs noch etwas brüchig, aber nach ein paar Probeläufen steter
und lauter werdend, als ob Luft aus einem Druckbehälter
herausgelassen wurde. Bis schließlich das volle Gebrüll
ertönte.
«Hiiihh - - hiiihh - -!»
«Hört sich gut an», sagte Yoko.
Ich war aufgesprungen und zum Bad gelaufen.
Riß die Tür auf, man bedenke, daß mir bis dahin nicht die leiseste
Ahnung vom Wesen und Wirken der anderen Generation gekommen war,
ich meine, ich hatte mir nie einen Begriff gemacht, es war nie an
mich herangetragen worden, hiiihh. Immerhin hätte ja auch ein
entsetzliches Unglück geschehen sein können. War es auch! Juliane
saß strahlend vor dem Krishnu in der Badewanne, beide in aufrechter
Position, beide gewaltig atmend. Dazu hatten sie beide - man denke
- die Zunge zur Röhre gerollt, durch die sie diese Töne von sich
gaben.
«Hiiiiiiiihhhh–-»
– –
Das war es dann gewesen.
Hier und an dieser Stelle bin ich zum zweiten
Mal zusammengebrochen, bildlich gesprochen, nicht wirklich, denn
ich hielt mich ganz gut auf den Beinen. Es war wohl die Heiterkeit,
die mich umbrachte, das frohe Unterfangen und die Kerzenbeleuchtung
im Bad, sie war festlich. Dazu strahlte mich Juliane voll an, in
dieser Beleuchtung.
Im Totenreich.
Als ich wieder im Taxi saß und durch die
Stadt nach Hause gefahren wurde, war diese eine außerordentlich
dunkle Stadt, ohne jegliche Illumination, höchstens daß ein paar
Funzeln an den Ecken brannten, aber auch die fast am Erlöschen -
wahrscheinlich war der Taxifahrer eine andere Route
gefahren.
Jawohl, es hatte noch ein drittes Mal
gegeben, draußen, als ich über den gepflasterten Hof flüchtete und
nicht wußte, ob mir noch jemand nachblickte. Vom Badezimmerfenster
her oder vom Balkon. Und mich nicht umsah, und dann doch: Da war
der Jemand wohl schon wieder vom Balkon zurückgetreten. Jawohl, das
war das dritte Mal, daß ich umfiel, direkt auf das Pflaster, hatte
nicht genügend achtgegeben.
*
In dieser Nacht träumte ich von einem Blau,
das ich nicht verstand. Es war ein unglaublich blauer Traum. Das
Blau war eine Sonne, den ganzen Himmel verdeckend, in der Tiefe
schwarz, zum Rand hin kreischend grell hellbau, fast weiß und
dennoch blau.
Meine Schöne streckte sich, und ich war der
glücklichste Mann der Welt, schwamm in einem Meer von Glück, und im
Aufwachen ist es mir, als hätte ich von einer Vergangenheit
geträumt, die stattgefunden hat -, während jetzt, da ich aufwache,
eine merkwürdige Zukunft stattfindet: Der viereckige Sonnenfleck
dort auf der Fensterbank ist Zukunft, mein abgrundtiefes Befinden
ist Zukunft und das Gezwitscher der Vögel draußen eine fast
überzeugend realistische Beigabe.