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Diesmal zogen wir uns alle miteinander aus. Es war gut eingeheizt worden, und es überkam mich eine Erinnerung: Die Turnhalle in Rottach, der Dunst der Knaben, die am Reck gehangen haben. Schweiß und Turnschuhe und ein besonderes Element: ein wenig säuerliche Angst. Unser erstes Ritual also, hier die Kerle, dort die Weiber, getrennt an den gegenüberliegenden Schmalseiten des Tempels (des Tantra), und alle mit dem Gesicht zur Wand.
Es gab sogar einige Unruhe auf der Weiberseite, als es hieß: Jetzt ziehen wir uns aus. Nicht ganz verständlich, denn deshalb waren wir ja hergekommen. Diese kleinen Zicken da drüben stießen doch tatsächlich ein paar «ach« und «ganz?» aus, ich darf sagen, wir Männer blieben bei dieser Gelegenheit weit gelassener. Standen da frei und luftig um die Beine vor der Wand, blickten auf das Korn des Mauerputzes, ich für meinen Teil mit einiger Erwartung, ich war ja gewarnt.
Das Ritual schrieb vor, voranzugehen ohne zu wissen, wohin - und vor allem, zu wem -, nichts zu sagen, nichts zu fragen, nicht den Blick vom Boden zu erheben, und das Ganze hieß: Die Begegnung. Wir drehten uns um.
– – – Einen Schritt.
– – – Noch einen Schritt.
Langsam. Die Augen am Boden. Noch einen Schritt.
Es war, wie man erkennt, ein restriktives Ritual und ein sehr langsames dazu. Es sollte wohl Symbolcharakter haben: Die Menschenkinder, die sich ihrer Bestimmung näherten.

Mit gesenktem Blick zentimeterweise zur Saalmitte.

Eine kurze Unterbrechung: «Juliane.»
Aber nicht aufschauen.
«Juliane, würdest du bitte mit deiner Nachbarin den Pla tz wechseln. Nein, mit der anderen.»
Woraufhin ein gewisser Wechsel stattfand. Ich hatte in diesem Fall ein ganz gutes Gespür, so als ob ich mich hier einer spirituellen Juliane nähern sollte, ich spürte sie deutlich, mir gegenüber, spürte ihre Nähe. Ich meine, bei allen Vorbehalten durfte ich doch eine Ahnung dessen haben, was hier möglicherweise auf mich zukommen würde. Wie immer man das nennen will, eine Sensibilisierung, bei aller Restriktion eine langsame Annäherung? Bis mir, ja, die Füße ins Blickfeld gerieten. Ja, da waren es ein paar kleine weiße mit dünnen blauen Äderchen auf dem Rist. Juliane hatte größere braune mit einer Schrägstellung der großen Zehe, und die stimmte auch nicht.
Um es ganz klar herauszuarbeiten, das war Absicht, der Wechsel war nicht zu meinem Besten erfolgt. Denn als ich (ungeheuer langsam) aufschauen durfte, da waren da ein paar zarte weiße Wadenansätze zu sehen, eindeutig einer fremden Dame gehörig.
Einer nicht allzu großen.
Höher hinauf hatte ich es mit zwei relativ zarten Kniescheiben zu tun, dann mit zwei Oberschenkeln, Innenseiten und Außenseiten, denn da war ein Unterschied: Außen war die Haut ein wenig rauher, während sie innen glatt war wie eine Milchoberfläche. Darüber - der Blick darf sich heben - erschien ein schwarzes Dreieck. Ich dachte, was ist das, ein richtig scharf gezeichnetes Dreieck, so wie man es früher hatte. Unrasiert, sogar etwas ins Bläuliche gehend, bestehend aus feinem Kraushaar, feinen Korkenziehern, metallisch glänzend.
Da hatte ich meine Partnerin.

Das übrige war dann leicht zu erfassen: Die Traudl, Frau Fetter, mein Gott, war sie nackt! Sie war viel nackter, als es eigentlich möglich sein sollte, sehr beklommen, fühlte sich sichtlich unbehaglich in ihrer Haut. Sie besaß keine Hüften, aber eigentlich auch keine Taille, nur zwei Dellen über den Beckenkämmen, die ihrerseits spitz herausstanden. Höher hinauf gab es dann zwei hochangesetzte flache Brüstchen, noch mehr weiße Milchhaut, und noch höher zwei Schlüsselbeine und einen Hals, letzterer gegenüber der Milchweiße fast ein wenig bräunlich. Aber auch weiß.

In Augenhöhe mit Frau Fetter.
«Machen Sie sich keine Sorgen», sagte ich.
Es war so, daß mich eigentlich Erbarmen packte, angesichts der Lieblichkeit, der ich hier notgedrungen begegnete. So wie man einen völlig verängstigten grünen Rasen betritt. Und es war auch so, daß ich sofort die ganze Ehetragödie begriff, die schweigsamen Kaffeestunden in der Küche, die verunglückten Nächte, der stille Abscheu am Morgen. Sicherlich ein Werk des Ehemannes Fetter, der soeben den Blick zu der kommunikativen Friede erhob - von sich aus wäre die arme Ehefrau nie und nimmer auf die Idee gekommen. Ich meine, auf diese Tragödie hier.
«Haben Sie keine Angst», sagte ich, «wir werden das unbeschadet hinter uns bringen», empfing dafür einen mehr oder weniger verständnislosen Blick.
Die Begegnung.
Pradi - wie sich jetzt herausstellte - hatte inzwischen auch seine Kleidung abgelegt. Desgleichen die assistierende Sindra, die eine deutliche Vorstellung vermittelte, zu welchem Ergebnis ein solcher fortgesetzter Mißbrauch führt: zu totaler Magerkeit. Sie war auf geradezu obszöne Weise dünn, ihre Beine, eigentlich nur zwei lange Röhrenknochen, waren weit voneinander in das Becken eingesetzt, dazwischen trug sie hinten ein kaum vorhandenes Gesäß und vorne zwei dünne Schamlippen, wie sie assistierend zwischen den Paaren herumging. Aber möglicherweise werden die Mageren magerer und die Dicken dicker, dachte ich.

Danach haben die Paare ein «Haus» eingerichtet. Tücher wurden ausgebreitet. Man nahm Platz, wechselseitig einer liegend, der andere am Kopfende sitzend, sich wechselseitig mitteilend: Wie und welche Kindheitsschuld, wo und wann bestraft, wie Sexualität erfahren, von Eltern, Freunden, Onkeln, auch Demütigungen, wie und wo. Insgesamt eine rituelle Atmosphäre, während der Pradi oder auch die Sindra von Haus zu Haus gingen, und wir beklommen auf unseren Tüchern saßen, das heißt, ich weniger, eher die Traudl, offensichtlich. Oh, einen Unsinn habe ich noch zu berichten. Als wir noch in Zeitlupe auf eine vermeintliche Juliane zugeschritten waren - die sich dann zufällig als die arme Traudl entpuppte -, hatte ich als besondere Zugabe neben mir den schönen Hans zu ertragen. Der stöhnte und stöhnte sich auf der gesamten Strecke einen zurecht, ebenfalls in Zeitlupe. Offenbar tat sich der Junge schwer mit seinen Problemen. Und als er schließlich vor seiner Partnerin stand, tat er sich nur noch schwerer.

«Ich kann das nicht.»
Gebärdete sich wie ein Idiot.
«Ich bin gar nicht hier.»
Man stelle sich vor, da gerät jemand unverdientermaßen und durch eine ganz miese Vertauschung an meine Juliane, und dieser Idiot hat nichts Besseres zu sagen:
«Dies ist nur meine Hülle», habt Erbarmen, «ich bin gar nicht anwesend…»
Doch das bist du, wollte ich ausrufen, und zwar in Einhausen, auf der verdammten Schönheitsfarm, Ende September. Ich meine, ich hätte es ja nachvollziehen können, aber die verdammte Juliane mit ihrer Gruppenerfahrung nahm sich dieses Problems in sehr liebevoller und sehr hassenswerter Weise an - inzwischen hatten wir freie Sicht, und ich konnte es genau beobachten.
Dieses, glaube ich, war der Augenblick, an dem ich zum ersten Mal daran dachte, sie umzubringen.


*


In der Nacht träumte ich die Ermordung des Fritz Otto Kortners, eines früheren Kollegen, an den ich dreißig Jahre lang nicht gedacht hatte, und zwar geschah sie seitwärts als Ritual über eine abgerissene Decke hinweg. Die ganze Nacht über versuchte ich, das Bild frontal vor die Augen zu bekommen, was mir nicht gelang, weil ich in diesem außerordentlich quälenden Traum meine Augen nicht erheben durfte; ich war froh, am Morgen aufzuwachen.

*

Partnerwahl.
Endlich ging es zur Sache. Am Morgen sollten wir uns nicht nur mit Badetüchern, sondern auch mit dem Fläschchen Massageöl einfinden. Ich hatte mich sowieso gewundert, welche Utensilien in unserem Gepäck erwünscht waren: Wickeltücher, Sarongs, Lanais oder ähnliches, auch persönliche Dinge, Geburtssteine (Mars?), Düfte in Dosen, sogar Trommeln oder Rasseln, Spezereien zum Räuchern. Und eben das bewußte Massageöl.
Ja, da wurde die Spreu vom Weizen getrennt. Wir stellten uns in großem Kreis auf und sahen uns an. Es wurde wohl erwartet, daß sich die Paare vom Vortag zusammenfanden, was auch der Fall war, zum Beispiel bei meiner Traudl und mir - ohne große Umstände, wenn auch nicht besonders dringlich.
Nicht so im Fall Rudi. Der Rudi hatte sich feingemacht, er trug ein hauchdünnes javanisches Hemd, gemustert wie eine Flagge, dazu hauchdünne javanische Hosen, in denen man, wenn man wollte, den Yati sah. In der Hand trug er ein paar alberne Gegenstände, einen Brief zum Beispiel, einen aufgeblasenen Kinderball, mit dem er nun auf die Friede losging, die jedoch, so kommunikativ sie immer sein mochte, ganz sachlich den Kopf schüttelte. Also nein. Woraufhin er, immer noch mit dem Kinderball in der Hand, ein paar Schritt weiter im Kreis sich der armen Hespe zuwandte.
Diese übertrieb allerdings, indem sie ganz unstatthaft zurückwich, regelrecht aus dem Kreis heraus, sich sogar etwas zusammenkrümmte, wobei sie die Arme dicht an den Körper zog. Körpersprache. Dabei hatte ich kurz zuvor registriert, als ich dem Mann zufällig nahekam, daß er zur Zeit keinen Körpergeruch verbreitete. Ziemlich sicher. Während eine dritte Dame, eine gewisse Linde, ganz einfach beiseite schaute, das sah so aus, als ob sie blind wäre, der Naturmensch in seinem Flaggenhemd war ja nicht zu übersehen, anscheinend sah sie ihn aber nicht.

Woraufhin er eine gewisse Vierte, eine solide Dame, eine Politikerin, wie ich gehörte hatte, ansteuerte – – einen vierten Versuch hatte er nämlich nicht – – ansteuerte, und dann doch nicht. Er trat nicht in den Kreis zurück, stand da mit hängenden Armen und hätte nun konse-quenterweise seinem Leben ein Ende bereiten müssen. Jedenfalls hatte ich noch nie einen derart vernichteten Menschen gesehen, während mein Mitgefühl sicherlich nicht erwünscht war. Ihn beispielsweise beiseite zu nehmen: Wenn Sie Hund wären, würden Sie sich wundern, wie wenig Gerüche Menschen wahrnehmen, sie unterscheiden allenfalls zwischen gut und schlecht, und auch das bilden sie sich nur ein.

Hätte ich sagen können.
Er endete dann bei der armen Thea, die übrigblieb, nein, dort endete er auch nicht, er endete bei der Assistentin, der Sindra, die in diesem Fall einsprang. Die Thea dagegen, die Füllige, wurde vom Hirten selbst in Obhut genommen. Womit die Zahl dann aufging.


*


Wir anderen Paare, die wir glücklicher dran waren, richteten jetzt unsere Herzlager ein. Mit um so größerem Eifer, als wir ja gesehen hatten, wie es laufen könnte (wenn es nicht lief).
Die Traudl machte das übrigens sehr liebevoll, baute ringsum kleine Pagoden auf, kleine Sockel, auf denen Räucherstäbchen steckten. Auch zwei Kerzen oder schwimmende Dochte in Lotosschalen, rechts und links des Lagers zwei farbige Bänder mit aufgenähten Spiegelchen, Tütchen, alles sehr wohnlich und offenbar von langer Hand vorbereitet. Ich konnte erkennen, was es bedeutet, sich einen «mental» abgegrenzten Raum zu schaffen, und darf sagen, ich fühlte mich angerührt, gleichzeitig aber auch beschämt, hier mit sozusagen leeren Händen zu erscheinen.
Mit nichts als Massageöl.
Immerhin frohen Sinnes (ein Spaß).

Das Ausziehen sollte diesmal rituellen Charakter haben, indem wir uns gegenseitig auszogen, mutuell, ich die Traudl und die Traudl mich. «Machen Sie sich keine Sorgen», sagte ich und war wirklich der Meinung, sie sollte sich keine machen, damit wir hier eine mögliche Peinlichkeit einigermaßen überbrücken konnten. Die Traudl sah mir fest ins Auge.

«Ich mache mir keine Sorgen», sagte sie .
Sie legte sich dann in ausgezogenem Zustand auf das Lager. Folgende Anordnung: Die Dame liegt flach auf dem Rücken, der Herr zu Häupten streicht ihre Stirn. Die Wangen. Und mit sehr viel Fingerspitzengefühl die Mundpartie. Sie hebt das Becken, senkt das Becken und hat dabei Empfindungen: Es ist das «Beckenwiegen» und das «angenehme Kribbeln», das dabei empfunden wird, das Apanasatram. Der Meister läßt das Wort rollen und erklärt, daß es «Willkommen» oder «Öffnen der Tür» bedeutet, es sei eine Begrüßung.
«Wir begrüßen uns jetzt.»
– – –
«Sie brauchen nichts dabei zu empfinden», sagte ich leise zur Traudl, «wenn es nicht geht, geht es nicht. Hauptsache, es sieht so aus.»
«Ich empfinde sehr viel.»
Also gut. Jetzt bleibt die Dame auf dem Rücken liegen, der Herr sitzt ihr zur Seite, immer noch in Hockstellung, seine Rechte, mit der er massiert, ist ausgestreckt, die Linke hält das Öl. Das Massageöl. Es sollte leichtfließend sein, mit einer Duftnote, Sandel, Hibiskus, Ringelblume, die Streichbewegung leicht, ohne Druck und langsam. Ruhige Kreisbewegungen oder lange gerade Striche. Sie sollten «ein Zephir» sein, aber nicht kitzeln.
«Empfinden Sie etwas?»
Die Traudl blickte mir plötzlich starr ins Auge. Sah ich das Ganze vielleicht falsch? Mir kam der Verdacht, daß die Dame sehr viel empfand und vielleicht genau das Richtige. Jetzt strich ich ihr mit einem langen Strich vom Fuß bis zur Hüfte, aber wirklich nur ganz auf der Außenseite, und dann mit einem langen Strich an der anderen Außenseite hinab. Was sollte ich sagen, beide Male entlockte ich ihr einen deutlichen Seufzer, und vielleicht war es gar nicht der Ehemann Fetter, der die Idee gehabt hatte?

Inzwischen hatte aber eine leise Musik im Raum eingesetzt, mehr ein Hintergrund als Musikstück, «Gesang der Natur» aus einem verborgenen Lautsprecher - hinter der Sackleinwand? Der Pradi ging von Paar zu Paar, gab hier eine leichte Korrektur, dort eine ordnende Hand. So wie ein Meister zwischen seinen Kunststudenten einhergeht. «Wir wollen unseren Körper kennenlernen. Für uns selbst und für den anderen.»

Gewichtig, aber auch behutsam.
«Wie fühle ich mich!»
Aber auch mächtig, so wie wir ihn von unten sahen.
«Und wie fühle ich, was der andere fühlt.»
Mächtig und auch gemächtig, so wie er über uns stand.
«Wir wollen empfinden und empfinden lassen, auf einer Skala von eins zu zehn.» Wir wollen was?
– – –
Im Augenblick glaubte ich, nicht richtig gehört zu haben.
«Das Gefühl numerieren», sagte er behutsam, «wir wollen Noten geben für das, was wir empfinden (und empfinden la ssen).»
Eins - nicht so gut.
Zwei - auch nicht gut, aber besser.
Drei - besser.
Vier - gut.
u.s.w.
Zehn - fulminant, außerordentlich aufregend, das höchste der Gefühle.
Auf der Landkarte des Körpers? Das allerdings war eine merkwürdige Wendung, die die Dinge nahmen.
«Was ist das?»
«Das ist eine Zehn», sagte die Traudl leise. Und das war natürlich Unsinn, ich hatte ihr nur ganz sachte über den Oberschenkel gestrichen, setzte deshalb etwas tief er an und strich übers Knie?
«Eine Zehn.»

«Eine Zehn», wunderte ich mich, «wie kann das eine Zehn sein!» Natürlich flüsterte ich, wollte nicht, daß die Nachbarn an unserem Gefühlsleben teilnahmen, nur fiel mir auf, daß meine Dame irgendwie glasig schaute, als ob sie ein Mittel genommen hätte, irgendwie weggetreten. Als ich ihr jetzt über die Vorderkuppe der Großen Zehe strich (Großer Onkel).

«Eine Zehn.»
«Oh, oh», rief ich aus, leise natürlich, «vielleicht sollten wir doch noch einmal genauer nachfühlen: Ist es eine, oder ist es keine.»
Es war eine Zehn.
«Und hier?»
Hier auch.
Wohin sollte das führen, es waren sozusagen lauter Zehner, ganz gleich, wo ich hinfaßte, ich meine, irgendwo mußte doch eine gottverdammte Steigerung zu verzeichnen sein. Wenn ich jetzt über den Fußrücken strich.
«Ja.»
Ich meine, vom Fußrücken aufwärts über die Fesseln, über die Waden…
«Ja.»
… über die Innenseite der Oberschenkel zum Venusbereich, mußte sich doch in Gottes Namen…
«Ja. Ja.»
Ihn sanft umkreisend.
«Ja. Ja. Ja.»
Jetzt gab die Dame einen Ton von sich. Leise erst, dann lauter, und es entsprach so gar nicht der blassen Frau Fetter, daß sie jetzt rotgesichtig wurde. Bei aller Blässe. Ganz laut. Großer Gott, was hatten wir da angerichtet, Orgasmus ist bei diesen kontemplativen Übungen gar nicht vorgesehen, genauer gesagt, widerspricht er ihnen: Er ist nicht das Ziel, allenfalls der Weg. Das habe ich natürlich nicht gesagt, vielmehr etwas Beruhigendes: «Ist ja gut. Es wird in Ordnung gehen. Wir werden auch das unbeschadet hinter uns bringen.» Oder noch ruhiger:
«Keine Angst.»

Zu diesem Zeitpunkt fing ich aber einen vernichtenden Blick des Ehemannes Fetter auf, der zwei Plätze weiter ein eher mechanisches, zumindest etwas angestrengtes Verhältnis mit der sonst kommunikativen Friede hatte. Und der Meister trat dann auch noch in Erscheinung, indem er verkündete, daß ab heutigem Abend für alle diejenigen, die ihn benutzen wollten, der «Liebestempel» geöffnet sei.

«Ab neun Uhr, im hinteren Saal.»
– – –
«Kommst du?» fragte die Traudl.


*


Den «Liebestempel» habe ich tatsächlich in Augenschein genommen. Es handelte sich um den sogenannten geheimen Raum, den einige Tage zuvor die Frauengruppen für ihre Sitzungen benutzt hatten und der nun offenbar umfunktioniert war: der Liebestempel ab neun.
Er war üppig mit Matratzen bestückt, ich zählte elf, und es waren an drei Stellen Kondome ausgelegt, wie ich sah, dazu Kerzenbeleuchtung auf kleinen Tischen, die Wände ochsenblutrot, Decke mit einem großen Mandaladruck bespannt, der, stark durchhängend, ein negatives Gewölbe ergab - insofern ein wenig drückend, ich weiß nicht, ob das beabsichtigt war. Obendrein von einer eintönig gleichbleibenden Musik durchzogen - das ist nicht abwertend gemeint, es war eben nur ein Ton -, durchzogen auch von ziemlich starkem indischem (chinesisch-indonesischem) Räuchergeruch. Außerdem war kein Mensch anwesend.
Außer mir um neun Uhr.

Und auch nur, um der armen Traudl mitzuteilen, daß ich nicht kommen würde. Die aber auch nicht kam - am Morgen würden wir dann alle erfahren, daß das Ehepaar noch in der Nacht abgereist war, wofür wir, besonders ich, eigentlich Verständnis hatten. Jedenfalls war der «Liebestempel» an diesem Tag nicht angenommen worden. Nicht am Donnerstag. Und nicht um neun. Ob später, kann ich nicht sagen.