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Es kündigte sich bereits Herbstwetter an. Die Fahrt nach Einhausen war voller brauner Flecke in meiner Erinnerung, braune Lachen, naßgewordene Strohkubikel, die Menschen auf dem Feld trugen braune Hüte, selbst die Dächer waren bräunlich gesprenkelt. Wir fuhren verabredungsgemäß mit dem Ehepaar Fetter, der Mann fuhr zügig, etwas überdreht, während wir anderen uns zurücklehnten.
Es war verabredet worden, daß wir nicht als Paare teilnahmen, Juliane hatte das bestimmt. Alex, hatte sie gesagt, wir fahren auf keinen Fall als Paar, das wäre nicht richtig, und die Eheleute Traudl und Klaus Fetter hatten dazu genickt, er etwas stärker als sie. Ein wahres Mäuseehepaar, wenn ich das sagen darf, zierlich, gläubig, naiv sogar, wie ich aus einigen geäußerten Ansichten entnehmen konnte, beispielsweise was den Kapitalismus anging oder einige Sozialprobleme, ich hielt mich da besser heraus.
Der Klaus war eindeutig der aktivere, Frau Traudl der beklommenere Teil des Paares. Das ja nicht als solches auftrat. Allerdings hatte ich den Eindruck, daß Frau Traudl nicht ganz freiwillig an dem Unternehmen teilnahm. Eine unterdrückte Seele? Sie war sehr bleich, dunkle Haare, und sie war, ja, nicht hübsch, aber nett, etwas verschattet, und als ich sie einmal von der Seite ansah, traf ich ein Blick wie ein kleines Pique-As. Ihr Mann dagegen, wie soll ich ihn beschreiben, bei aller Mäusehaftigkeit gab er sich ziemlich krähend. Ein Kikeriki (ein Mäusekikeriki).
«Warst du schon mal im Pok-Dan?»
Ich verneinte, ich konnte nur ahnen, was das sein sollte, wahrscheinlich ein Körnerrestaurant. Juliane jedenfalls schien ihre Freude an den beiden zu haben.

«Wart ihr schon mal im Freitänzer?»

Da waren sie schon mal gewesen.
Wir näherten uns Einhausen, erkennbar am immer schlechter werdenden Straßenbelag, angeblich war das hier Militärgelände (gewesen). Was kostet denn der Spaß, hatte ich gefragt. Also er kostete runde Achthundert, inklusive Vollpension und einfacher Unterbringung, das Ganze sollte sieben Tage dauern. Montag bis Sonntag in Einhausen. Wo ist denn das, bei Gernsried, eine Stunde aus München heraus. Und wann? Am 20. September, genannt «Die Öffnung», Öffnung des Seins.
Wessen?
Alex, hatte sie gesagt, du bist furchtbar.
Als wir in den Hof einfuhren, warteten bereits zehn bis zwölf Teilnehmer neben dem langen Stallgebäude. Vorne wohnten anscheinend noch andere Leute, dort schauten zwei Kinder aus dem Fenster und ein gefleckter Hund, das Seminar sollte aber offensichtlich hinten stattfinden, wo über der Tür eine ausgespannte Fahne hing, «Tempel des Tantra», auf Sackleinwand gemalt, rustikal. Rechts und links je ein Kübel mit Stechpalme, dort standen auch mehrere Melkschemel. Antiquitäten?
Wie gesagt, ich war furchtbar, ich war voreingenommen und negativ gestimmt, und zwar aus Stilgründen, ich hasse Sackleinwand, ich hasse Melkschemel, vor allem hasse ich Rückgebäude. Und das Publikum konnte es mir auch nicht rechtmachen: Da gab es einen bärtigen Mann, eindeutig Naturmensch, dem bis zum Gürtel offenen Hemd nach zu urteilen, der sich offenbar für sehr populär hielt. So wie er dastand. Es gab ein ältliches Mädchen, das auch sehr «Single» umherblickte. Einen schönen großen Mann gab es, abseits an der Wand lehnend, er hielt sich leicht gebeugt.

Dann noch ein weiteres Naturwesen, Friede Neumann, ganz in grobem Strick, gestrickter Hose, gestricktem Kaftan, ungebleicht und naturbelassen. Offenbar bekannt hier, da ihr Name genannt wurde. Dann eine ganz Dicke und auch eine ganz Dünne und ein junger Spund, höchstens achtzehn, was wollte der hier? Es kamen noch weitere Leute, so daß nach einer Weile - es mochte eine halbe, vielleicht sogar eine ganze Stunde gedauert haben, inzwischen war es merklich kühler geworden und für den Abend schien sich Regen (noch dunkleres Herbstwetter) anzukündigen -, daß hier etwa zwanzig Leute von einem Bein auf das andere traten. Mittlerweile.

Bis wir plötzlich alle fröhlich wurden.
Es erschien ein Mann in der Tür. Ein Mann in Kittel und Kittelhose, und so wie er in die sich öffnende, von innen beleuchtete Tür trat («Tempel des Tantra»), wie er fröhlich und gastlich die Hände vor der Brust zusammenlegte, daran wäre ja eigentlich nichts auszusetzen gewesen. Nur, daß ich ihn hier nicht erwartet hatte. Ich habe Juliane später deswegen zur Rede gestellt. Wie das möglich sei, und warum um alle Welt sie mir das (ihn) verschwiegen habe!
«Du hättest ja fragen können.»
«Und du hättest einen Ton sagen können.»
Die Kutte trug er jetzt also nicht, statt dessen diesen Kittel, der ihm ein mehr rustikales Aussehen gab - nicht gerade aus Sackleinwand geschneidert, aber doch nicht weit davon entfernt. Auch war sein Gang nicht mehr so schleudernd, als er uns jetzt in einen lang sich hinstreckenden Raum oder Saal gleich neben dem Eingang führte. Vielleicht nur auf größere Distanzen schleudernd. In dem Saal war alles Fensterglas von innen mit Farbe angepinselt worden, wohl aus Sichtgründen, es war aber eine rosarote Waschfarbe, und sie war streifig, so daß es aussah, als ob hier frisch geschlachtet worden wäre. Zudem begannen wir alle sofort zu schwitzen, weil der Raum völlig überheizt war. Fußboden rohes Holz, gehobelt, aber unbehandelt. Wände grobe Ziegelformation, teilweise verputzt und schwärzlich. Aber vielleicht sollte man hier schwitzen, im «Tempel des Tantra».
Also, der Mann hielt zunächst eine Rede, stand zuversichtlich mit zusammengelegten Händen im Raum, um uns einen allerersten Einblick in das «Hier» und «Jetzt» zu geben, welches wir uns erarbeiten wollten. Im «Dasein».

Offen gestanden, ich hatte nicht gedacht, daß er sprechen konnte, jetzt sprach er sogar mit lokalem Akzent, was war das, Freilassing? Das «Dasein» war bei ihm ein «Dosein», und wenn ich genau hinhörte, sogar ein «Dohseen» mit etwas Wiener Einschlag? Während wir alle auf dem unbehandelten Holzfußboden saßen und das Gehörte bedachten (bezahlt hatten wir ja noch nicht). Dabei unternahm ich es, Juliane, die sich sechs Plätze entfernt hingesetzt hatte, einen vorsichtigen Seitenblick zuzuschicken: Oh, sie war weit offen - mein Gott, wie konnte sie so offen sein -, ganz weit mit aufgerissenen Augen, das Jetzt und Hier schien seine Wirkung nicht zu verfehlen. Auch nicht die «Beziehungsarbeit am Sich und am Anderen», den «lebendigen Körper freizusetzen und wertzuschätzen» und «mit dem Herzen sehen zu lernen».

Die Stimmlage - sie paßte eigentlich nicht zu der mächtigen Matte, hinter der sie hervordrang, eine modulierte, wohlplazierte Stimmlage, fast ein Singsang, «Im Frau-Sein und im… Mann-Sein die geschlechtliche Identität zu finden», während allenthalben Hohes stattfand, ein allseitig hohes Lächeln. Ich blickte um mich und wunderte mich. Diese Ansammlung von Leuten, die eine zweistündige unerfreuliche Anfahrt an einem grauen Tag auf ein Militärgelände hinter sich hatten, diesen Leuten ein hohes Lächeln zu entlocken - ich wollte gerecht sein -, das war erstklassige Arbeit. Anscheinend war ich der einzige, der kein Wort verstand.
O du mein schönes Heimatland,
wo man das Sauerkraut erfand.
Wir lieben dich und preisen laut,
Ehre, Freiheit, Sauerkraut.
In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß er mich seit geraumer Zeit anblickte, der Mann hatte mich unter seinen Schafen erkannt.


*


Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns freizuschütteln. - Oh, ich vergaß, zuvor hatten wir noch unseren Obulus zu entrichten. Den meinen zahlte ich so ziemlich als letzter, während Juliane vorne in der Reihe stand, ich hörte sie glucksen, anscheinend war sie schon ganz in der Gruppe aufgegangen. Der schöne Mann, der große, etwas gebeugte «Hans» stand direkt hinter ihr, aber wenn ich mich nicht irrte, gluckste sie nach vorne, wo die populäre «Friede» stand. Der bärtige «Rudi» stand zwei Plätze hinter ihr und gluckste auch irgendwie, in einem Baß, den man bis zum Ende der Reihe hören konnte.

Zum Kassieren hatten sie einen alten Schreibtisch im Gang gleich neben der Küche aufgestellt, und dort saß der Pradi neben einer Frau, die mir angst machte.
An sich lächelte sie freundlich, hatte sogar zwei Sterne in den Augen, aber wie sie das Geld in den Kasten packte, in einen großen knallenden Eisenkasten, das war… ja, das war eigentlich gnadenlos. Keine Schecks. Ich konnte mir gut vorstellen, daß die Steuer in jedem Fall zu kurz kommen würde. Ihr Name war Sindra, sein Name, der Name des Meisters wurde auch verkündet, laßt mich raten: Pradhi Rama. Wie er wirklich hieß, wird man wahrscheinlich nie in Erfahrung bringen (unter welchem Namen er seine Steuern zahlte). Als ich an die Reihe kam, gab er kein Zeichen des Erkennens. Blickte nur kurz auf. Aber wir sollten ja alle noch unsere Namen bekommen, unsere eigentlichen wirklichen, unsere Seelennamen.
Freischütteln.
Draußen unter freiem Himmel, wo sich inzwischen ein beschauliches Licht über den Hof mit den drei Hühnern, die dort herumliefen, gesenkt hatte. Wir stellen uns auf. Und dann Schütteln, Schütteln, Schütteln: Kundalini-Schütteln. Unterleib locker, locker. Arme locker, locker. Beine locker machen. Brust und Becken, vor allem das Becken, und nicht nachlassen!
Später gab es noch ein Abendbrot.

Es war ein ganz passables Körneressen, ungesalzen, mit gurkenähnlichen Gebilden, kein Fleisch, dazu erste Gespräche, die an mir etwas vorbeigingen: Da habe also jemand in Soltau eine Intensivgruppe gemacht, die hast du gemacht? Die habe er sogar wiederholt. Und die Waldgruppe, wir haben eine Waldgruppe gemacht, letztes Jahr im Odenwald, abends waren wir so absolut fertig, daß wir hätten sonstwas futtern können. Jetzt nehme ich mir noch was. Ich habe mir dann auch noch was genommen, und es war, na ja, man kann sagen, es war ganz passabel, mit einem etwas eigenartigen Geschmack allerdings. Pferd? Ich hätte ja auch gern etwas zur Unterhaltung beigesteuert, aber ir gendwie machte es sich nicht. Juliane saß mit ihrer neuen Freundin Friede auf der Treppenstufe.

Noch später zeigte man uns dann unsere Quartiere, die sich als «einfach» erwiesen. Im späten Schein der Kerzen. Mehrere Räume oder Kammern waren mit Matratzen ausgelegt, wo man zu dritt, viert oder noch mehreren schlafen konnte, Männer und Frauen getrennt. Das heißt, für Paare gab es auch Zweierkammern, ich habe sie nicht zu sehen bekommen, da wir ja nicht als Paar auftraten. Das heißt, kurz vor der Trennung - beim Essen hatten wir immerhin fast drei Worte gewechselt - besann sich Juliane, wurde anscheinend von einem Gefühl überwältigt, denn an der Ecke zum Frauentrakt, einer unverputzten Stelle, wo anscheinend kürzlich etwas angebaut worden war, lehnte sie sich plötzlich gegen mich: Worte sind überflüssig, das weißt du doch (wenn die Sinne bis zum Rand angefüllt sind). Genauer gesagt, ich wußte es eigentlich nicht, wo dieser Stimmungsumschwung so plötzlich herrührte. Vielleicht war es die Unwiederbringlichkeit der Trennung, der Trennungsschmerz, da wir uns nun in unsere separaten Trakte zu begeben hatten.


*


Ich bezog mein Quartier zusammen mit dem Naturmenschen Rudi und dem Ehemann Fetter, einem unruhigen Schläfer, wie sich herausstellen sollte. Zunächst irrit ierte aber der Naturmensch, der, nachdem er sein Hemd und ein eigenartiges Kittelleibchen aus Drillich abgelegt hatte, sich auf den Kopf stellte, und zwar so, daß er eich mit angewinkelten Beinen von der Wand abstützte. Es schien das seine Routine vor dem Schlafengehen zu sein, und ich gebe zu, es war beeindruckend.

Überhaupt herrschte eine generelle Einstimmung vor, nebenan wurde herzlich gelacht, es polterte etwas zu Boden, ein Hundegebell war hörbar (imitiert?), und als ich schließlich mit meiner Zahnbürste zum Waschraum ging, hatten sich dort in der Duschecke erst zwei, dann drei nackte Damen eingefunden, alle in Hochstimmung und Seifenschaum, und dann noch ein nackter Mann. Aber das waren sicherlich alles erfahrene Teilnehmer, die sich hier wiedertrafen und fröhlich miteinander waren, und ein bißchen Arroganz gegenüber uns Anfängern (mit Zahnbürste) war wohl auch im Spiel. Übrigens entdeckte ich unseren schönen Hans unter dem Seifenschaum, mit dem ihn die Damen unter viel Gelächter eingelassen hatten.

Die Juliane entdeckte ich Gottseidank nicht.
«Ich kenne dich.»
Als ich, aus dem Waschraum kommend, um die unverputzte Ecke bog - diesmal von der anderen Seite her - lehnte dort der Pradi an der Wand, als ob er auf mich gewartet hätte.
«Ich kenne dich.»
«Natürlich kennst du mich, Pradi, ich bin der Alexander.»
Er schüttelte den Kopf.
«Nein, ich kenne dich!»
– – –
Und dann vollführte er eine Geste: Er legte die Hände mit aufwärtsgerichteten Handflächen quer über den Bauch. Wie einen Sperrgürtel. Blickte mich dabei aufmerksam an, als ob ich wissen müßte, was das bedeutete.
«Du bist ein Mhata, ein Mann des Oberen.»
Blickte mich immer noch aufmerksam an. In der Beleuchtung der einzelnen Glühbirne an der Mauerecke sah seine Gesichtshaut grob gekörnt wie Sandstein aus. Dann senkte er die Hände und zog sie ein wenig auseinander, als ob er etwas abschneiden wollte.
«Bist du sicher, daß du bleiben willst?»
«Nie so sicher gewesen», sagte ich und wußte plötzlich, wo ich diese Geste schon einmal gesehen hatte, es war mir eingefallen: Eine Tanzfigur auf einem Sandsteinrelief in der Mauer von Khor, der Tänzer zieht die Handkanten quer über den Bauch wie eine Klinge. Es ist Wedisch, der «Gott der Entmannung».
Kein Zweifel, Pradi war gebildet.


*

Aber nun der Traum in dieser ersten Nacht, den ich zusammen mit Ehemann Klaus und dem Naturmenschen Rudi träumte. Wobei die klumpige Matratze, das leise Röcheln auf der einen Seite, das lautere auf der anderen eine Rolle spielten. Ich träumte von einer «langsamen» Landschaft, die sich durch meinen Traum wälzte. Von einem Weg, auf dem niemand kam. Niemand außer dem Weg selbst. Es war so, daß ich immer wieder aufwachte und die Bedeutung erkannte und darüber immer wieder einschlief.

Ich wußte, daß ich sie kannte. Aber welche?


*


In der Frühe ging es dann ernsthaft zur Sache. Es war wie erwartet ein kühler Morgen, noch etwas näßlich am Boden, als wir uns draußen aufstellten: Im Stehen hochschwingen und sich ins Becken fallen lassen, es begann, einen Sinn zu ergeben. Außerdem kündigte sich ganz im Süden mit einem schmalen hellblauen Streifen besseres Wetter an. So daß wir zuversichtlich waren. Hochschwingen und fallen lassen. Hoch und– – voll ins Becken, Brahhh.
Es nannte sich «Dynamische Meditation», die wir hier betrieben, eine Entspannungsübung, nicht mit dem Kundalinischütteln zu verwechseln. Vorher hatte ich noch Gelegenheit, mit Juliane zu sprechen, die sich an diesem Morgen gelöst und glücklich gebärdete. Sie umhalste mich, nannte mich ihren Alex, offenbar hatte sie sich die ganze Nacht über mit ihren Schlafgenossinnen unterhalten, Kinderbilder seien gezeigt worden, Berührungen. Ja, Berührungen habe es auch gegeben, Liebkosen von Schultern und Bauch. Schenkel? Schenkel auch. Für meinen Geschmack eine etwas suspekte Angelegenheit, doch schien es sie glücklich zu machen. Jedenfalls gebärdete sie sich so.
Und jetzt: Sich ganz hochhängen, hoch, hoch mit gestreckten Armen, bis sich dann doch ein leiser Unwillen einschleicht, aber das ist eben die Disziplin, die noch sehr viel bringen wird. Den Unwillen zu überwinden. Um uns dann so hochaufgehängt und wirklich hochauf - massiv ins Becken fallen zu lassen. Herrgott, diese Erschütterung!

Das sollte man erst einmal erfahren haben. Brahhh und Broaaahhhoh… Das stößt die Seele frei! Das öffnet den Kanal! Insbesondere nach dem zehnten, dem zwanzigsten Mal, so daß sich ein tagelanger Muskelkater einstellen wird. Ich nehme an, daß diese Muskeln normalerweise nicht betätigt werden - wir sollten noch erfahren, zu welchem Zweck. Ich für meinen Teil bekam etwas Rheuma.

Zunächst gab es aber ein Frühstück, bestehend aus Tee und Butterbroten, und danach allgemeine Aussprache. Das heißt, man stellte sich vor, man stand auf und erklärte, wer man sei, wo und warum. Möglichst mit allen vorhandenen Gebrechen. Ich glaube, es war so gedacht, daß man sich erst einmal psychisch auszog, bevor es ins Körperliche ging. Zum Beispiel erklärte ein relativ kleiner Mann, den ich bisher noch nicht wahrgenommen hatte, daß er sich zum Sex nur unter Brechreiz zwingen konnte.
Aha.
Das sah also so aus: Da hatte sich dieser bedauernswerte Mann schon den ganzen Morgen lang vor dem gefürchtet, das kommen sollte. Trat nun beherzt vor, der Gerhard, und erklärte sich bereit, den Anfang zu machen - ich weiß nicht, was ihn dazu bewog. Berichtete, der wirklich nette und geschlagene Mann, daß ihn einerseits die ganze Sache abstoße (er nickte uns zu), so sehr abstoße, daß er nur mit Widerwillen, ja, mit körperlicher Übelkeit daran denken könne. Automatisch mit einem sich einstellenden Würgen. Daß er aber andererseits den Sex nur «leben» könne, wenn ihn ebendieser Übelkeitsreiz überkomme. Versteht ihr? Wir konnten das zwar nicht so ganz verstehen, saßen trotzdem teilnahmsvoll auf dem Fußboden. In dem überheizten Raum.
Oder die Dicke, die sich überwand - die Dünne übrigens auch -, die sich beide überwanden, über ihre Eßzwänge zu sprechen, was ich als mutig empfand. Sie hatten beide das genau gleiche Problem, wobei nicht ganz geklärt schien, wieso es einmal die sehr Füllige und einmal die sehr Magere betreffen sollte. Ich selber, als ich an die Reihe kam, gab eine Kurzfassung meiner Studien, was nicht so recht ankam, erwähnte meine augenblickliche Situation, nämlich mit der Partnerin nicht als Paar aufzutreten, was nun wieder recht gut ankam. Der Pradi blickte zwar mißtrauisch herüber, im allgemeinen stieß ich aber mit meiner kurzen Darstellung auf Verständnis und zustimmendes Kopfnicken, vielleicht weil sie so kurz war.

Womit andere offenbar Schwierigkeiten hatten. Der Rudi zum Beispiel wollte und wollte nicht zum Ende kommen, entrollte ein weites Panorama, Kindheit, frühes und spätes Berufsleben (Dekorateur), Gesellschaft, Stellung und alles proper und gelungen. Nur, daß er von dem Gedanken besessen schien, die Menschheit wiche vor ihm zurück – – aber Rudi! Ja, darauf wollte er denn doch bestehen - nicht, daß er sich sehr deutlich ausdrückte, er benötigte fast eine Viertelstunde, um vom Zurücknehmen (eine zurückgenommene Gesellschaft) auf das Zurückweichen zu kommen. Während wir zwar teilnahmsvoll, doch eigentlich etwas unruhig dasaßen. Auf dem Fußboden im überheizten Raum.

Oder, ich möchte mich vorsichtig ausdrücken: Ich war derjenige, der unruhig dasaß, für die anderen kann ich nicht sprechen, es kann durchaus sein, daß sie den Ausführungen mit großem Interesse lauschten. Obwohl wir - jetzt spreche ich wieder für alle - im Laufe der nächsten Tage alle ein wenig vor Rudi zurückwichen. Das zeigte sich zum Beispiel daran, wie er bei der Elle nicht ankam und bei der Ulli nicht, bei der Thea schon gar nicht – – – bis sich am Ende eben doch zeigte, daß er mit einem vielleicht unmerklichen Körpergeruch behaftet war? Von dem Gedanken besessen?
Ja, leider.
Weißt du, Rudi, das ist nun dein Problem. Du bist sicherlich ein wertvoller Mensch, ich meine, was die Beziehungsebenen angeht, Gruppenarbeit und alles. Aber wir lieben dich eben nur auf eine Entfernung von Armeslänge, da ist nun nichts zu machen, was deine Nähe angeht. Rudi.
Ja, sonst war der Vormittag mit mehr oder weniger gestaltlosen Bekenntnissen angefüllt, wobei manche sich leichttaten, manche nicht. Insgesamt hatte ich hinterher - als wir zu Mittag unser Körneressen aßen - den Eindruck eines Sammelsuriums, das gar nichts besagte, nichts über das ältere Mädchen, die Friede, nichts über den jungen Spund (was will der hier), nichts über den schönen Mann. Allenfalls über den Rudi - der roch etwas.
*

Am Nachmittag wurden wir dann handgreiflich, sozusagen. Es wurde eine Übung praktiziert, die sich «Fette Engel» nannte. Fette Engel sein! Sich anschubsen, Raum behaupten, sich gegenseitig wegdrängen und sich mal so richtig breitmachen. Dazu nahmen wir Aufstellung, diesmal nicht auf Armeslänge, sondern schön eng - man stelle sich eine gut gefüllte Straßenbahn vor -, und dann, Herrgott, gab es Körperkontakt, es gab endlich das, worauf wir gewartet hatten.

Das sieht also so aus: Ich stehe am Rand rechts und hätte notfalls ausweichen können. Neben mir ist die Friede tätig, die mich kräftig anstößt, aber nicht bösartig, mehr kommunikativ, mehr kokett mit dem Ellenbogen, und ich stoße mit dem Ellenbogen ein wenig zurück. Während sie mich dann mit ihrer Brust anstößt. Wir haben uns hier gewissermaßen auf Körperwärme angenähert, die mir in ihrem Fall nicht unangenehm erscheint, wenn auch mehr im Rahmen der Gruppenerfahrung. Immerhin bedeckt. Ich meine, immerhin noch in Hemd und Hose, so daß, wenn sie mich mit ihrer Brust anstößt, ich mit meiner eben ein wenig zurückstoße. So etwa.
Da gestaltete sich mein Verhältnis zum Vordermann - es war der Rudi - schon etwas drastischer. Der glaubte wohl, nicht genügend Platz zu haben, und rammte nach ein paar schwachen Versuchen, mich abzudrängen, seinen Naturarsch in mich hinein. Aber voll. Dem habe ich dann meinen Naturbauch voll in den Rücken gerammt. Immerhin waren wir ja fette Engel und brauchten Platz, und traurig die Versuche der Hespe, die ganz dünn hinter mir stand und mir als «fetter Engel» eine sehr dünne Schulter in die Seite schob, denn ich hatte mich inzwischen gedreht, hätte auch gerne die dicke Thea geschubst, aber die stand eigentlich nur ruhig da. Hatte wohl keinen Spaß an der Sache.
Und Juliane, also Juliane schien voll auf ihre Kosten zu kommen, die war weiter entfernt mit dem schönen Hans und dem ganz jungen Spund im Gange, schubste, drängte, stemmte und gluckste lauthals, sie glucksten alle lauthals. Wie habe ich sie gehaßt! Ganz besonders die Juliane, die ihre schöne Hüfte dem schönen Hans in. die Seite schob, wie ich sehr wohl wahrnahm!

Bis mich der Rudi ins Kreuz stieß. Aber diesmal ernsthaft. Ich weiß nicht, womit er stieß, mit der Faust vielleicht, oder auch nur mit sich selbst, jedenfalls stockte mir der Atem, und ich wäre fast in die Knie gegangen, stieß rückwärts zurück. Mit angezogenen Ellenbogen. Und das hat er wohl krumm genommen, sollte er auch, mir war sowieso nicht zum Spaßen zumute. Aber als er mich dann tatsächlich mit der Faust vor die Brust stieß, ja, da habe ich ihm voll eine geschauert. Aggressionen finden oft unvermutete Kanäle. Habe ihm richtig eine verpaßt.

Obwohl, bei Licht besehen, es kaum mehr als eine ausfahrende Bewegung gewesen sein kann. Bamm!


*


Daraufhin Totenstille. Den Rest des Nachmittags nahmen wir dann frei - nach dieser Episode -, wir hatten Gelegenheit zum Ruhen, zu Zweier- und Dreiergesprächen. Mir selbst allerdings stand der Sinn nach einem Gang in der frischen Luft, leider konnte ich Juliane nicht finden, sie war plötzlich spurlos verschwunden, war weder auf der Toilette noch in einem der Schlafräume. Im Bad auch nicht. Also zog ich alleine los.
Herbstliche Elegie. Kartoffelfeuer, glaube ich, gibt es gar nicht mehr, trotzdem roch die Luft danach, auch nach etwas Grünlichschwarzem. Und nach nassem Stroh. Als ich so dahinging.
«Willst du darüber reden?»
Da hat er mich aber doch erschreckt, denn wie ich soeben ein Gebüsch umrunde, tritt plötzlich der Pradhi Rama hervor. Anscheinend hatte er sich auf einem anderen Weg hierher begeben, der Mann kannte sich schließlich hier aus - und das hätte ich mir merken sollen.
«Eigentlich nicht», sagte ich.
Er betrachtete mich sehr sorgsam. Der Mann war ja nicht dumm, sonst hätte er keinen Betrieb dieser Art aufziehen können, aber offenbar war ihm jemand wie ich noch nicht untergekommen.
«So ist das mit der Gruppendynamik», sagte ich, «sie ist dynamisch. Irgendwann gibt es einen Toten, und den hat es nun gegeben.»
«Ich mache dir einen Vorschlag.»
«Ich zahle dir dein Geld zurück, die Hälfte.»
Warum nur die Hälfte?
«Das Seminar läuft seit drei Tagen, also sagen wir die Hälfte.»

Das war einleuchtend.

Und es wäre sogar ein guter Grund für mich gewesen, ein Grund mehr jedenfalls, denn so ein «dicker» Engel war ich nie. Bis auf den Unterton, den ich heraushörte, die Drohung, die leise (herbstliche) Elegie.
«Weißt du, Pradi», sagte ich, «wenn ich es mir recht überlege, möchte ich doch den Rest nicht missen. Um keinen Preis.»
– – –

«Auch nicht um die Hälfte.»