15
Es kündigte sich bereits Herbstwetter an. Die
Fahrt nach Einhausen war voller brauner Flecke in meiner
Erinnerung, braune Lachen, naßgewordene Strohkubikel, die Menschen
auf dem Feld trugen braune Hüte, selbst die Dächer waren bräunlich
gesprenkelt. Wir fuhren verabredungsgemäß mit dem Ehepaar Fetter,
der Mann fuhr zügig, etwas überdreht, während wir anderen uns
zurücklehnten.
Es war verabredet worden, daß wir nicht als
Paare teilnahmen, Juliane hatte das bestimmt. Alex, hatte sie
gesagt, wir fahren auf keinen Fall als Paar, das wäre nicht
richtig, und die Eheleute Traudl und Klaus Fetter hatten dazu
genickt, er etwas stärker als sie. Ein wahres Mäuseehepaar, wenn
ich das sagen darf, zierlich, gläubig, naiv sogar, wie ich aus
einigen geäußerten Ansichten entnehmen konnte, beispielsweise was
den Kapitalismus anging oder einige Sozialprobleme, ich hielt mich
da besser heraus.
Der Klaus war eindeutig der aktivere, Frau
Traudl der beklommenere Teil des Paares. Das ja nicht als solches
auftrat. Allerdings hatte ich den Eindruck, daß Frau Traudl nicht
ganz freiwillig an dem Unternehmen teilnahm. Eine unterdrückte
Seele? Sie war sehr bleich, dunkle Haare, und sie war, ja, nicht
hübsch, aber nett, etwas verschattet, und als ich sie einmal von
der Seite ansah, traf ich ein Blick wie ein kleines Pique-As. Ihr
Mann dagegen, wie soll ich ihn beschreiben, bei aller
Mäusehaftigkeit gab er sich ziemlich krähend. Ein Kikeriki (ein
Mäusekikeriki).
«Warst du schon mal im Pok-Dan?»
Ich verneinte, ich konnte nur ahnen, was das
sein sollte, wahrscheinlich ein Körnerrestaurant. Juliane
jedenfalls schien ihre Freude an den beiden zu haben.
«Wart ihr schon mal im Freitänzer?»
Da waren sie schon mal gewesen.
Wir näherten uns Einhausen, erkennbar am
immer schlechter werdenden Straßenbelag, angeblich war das hier
Militärgelände (gewesen). Was kostet denn der Spaß, hatte ich
gefragt. Also er kostete runde Achthundert, inklusive Vollpension
und einfacher Unterbringung, das Ganze sollte sieben Tage dauern.
Montag bis Sonntag in Einhausen. Wo ist denn das, bei Gernsried,
eine Stunde aus München heraus. Und wann? Am 20. September, genannt
«Die Öffnung», Öffnung des Seins.
Wessen?
Alex, hatte sie gesagt, du bist
furchtbar.
Als wir in den Hof einfuhren, warteten
bereits zehn bis zwölf Teilnehmer neben dem langen Stallgebäude.
Vorne wohnten anscheinend noch andere Leute, dort schauten zwei
Kinder aus dem Fenster und ein gefleckter Hund, das Seminar sollte
aber offensichtlich hinten stattfinden, wo über der Tür eine
ausgespannte Fahne hing, «Tempel des Tantra», auf Sackleinwand
gemalt, rustikal. Rechts und links je ein Kübel mit Stechpalme,
dort standen auch mehrere Melkschemel. Antiquitäten?
Wie gesagt, ich war furchtbar, ich war
voreingenommen und negativ gestimmt, und zwar aus Stilgründen, ich
hasse Sackleinwand, ich hasse Melkschemel, vor allem hasse ich
Rückgebäude. Und das Publikum konnte es mir auch nicht rechtmachen:
Da gab es einen bärtigen Mann, eindeutig Naturmensch, dem bis zum
Gürtel offenen Hemd nach zu urteilen, der sich offenbar für sehr
populär hielt. So wie er dastand. Es gab ein ältliches Mädchen, das
auch sehr «Single» umherblickte. Einen schönen großen Mann gab es,
abseits an der Wand lehnend, er hielt sich leicht
gebeugt.
Dann noch ein weiteres Naturwesen, Friede
Neumann, ganz in grobem Strick, gestrickter Hose, gestricktem
Kaftan, ungebleicht und naturbelassen. Offenbar bekannt hier, da
ihr Name genannt wurde. Dann eine ganz Dicke und auch eine ganz
Dünne und ein junger Spund, höchstens achtzehn, was wollte der
hier? Es kamen noch weitere Leute, so daß nach einer Weile - es
mochte eine halbe, vielleicht sogar eine ganze Stunde gedauert
haben, inzwischen war es merklich kühler geworden und für den Abend
schien sich Regen (noch dunkleres Herbstwetter) anzukündigen -, daß
hier etwa zwanzig Leute von einem Bein auf das andere traten.
Mittlerweile.
Bis wir plötzlich alle fröhlich
wurden.
Es erschien ein Mann in der Tür. Ein Mann in
Kittel und Kittelhose, und so wie er in die sich öffnende, von
innen beleuchtete Tür trat («Tempel des Tantra»), wie er fröhlich
und gastlich die Hände vor der Brust zusammenlegte, daran wäre ja
eigentlich nichts auszusetzen gewesen. Nur, daß ich ihn hier nicht
erwartet hatte. Ich habe Juliane später deswegen zur Rede gestellt.
Wie das möglich sei, und warum um alle Welt sie mir das (ihn)
verschwiegen habe!
«Du hättest ja fragen können.»
«Und du hättest einen Ton sagen
können.»
Die Kutte trug er jetzt also nicht, statt
dessen diesen Kittel, der ihm ein mehr rustikales Aussehen gab -
nicht gerade aus Sackleinwand geschneidert, aber doch nicht weit
davon entfernt. Auch war sein Gang nicht mehr so schleudernd, als
er uns jetzt in einen lang sich hinstreckenden Raum oder Saal
gleich neben dem Eingang führte. Vielleicht nur auf größere
Distanzen schleudernd. In dem Saal war alles Fensterglas von innen
mit Farbe angepinselt worden, wohl aus Sichtgründen, es war aber
eine rosarote Waschfarbe, und sie war streifig, so daß es aussah,
als ob hier frisch geschlachtet worden wäre. Zudem begannen wir
alle sofort zu schwitzen, weil der Raum völlig überheizt war.
Fußboden rohes Holz, gehobelt, aber unbehandelt. Wände grobe
Ziegelformation, teilweise verputzt und schwärzlich. Aber
vielleicht sollte man hier schwitzen, im «Tempel des
Tantra».
Also, der Mann hielt zunächst eine Rede,
stand zuversichtlich mit zusammengelegten Händen im Raum, um uns
einen allerersten Einblick in das «Hier» und «Jetzt» zu geben,
welches wir uns erarbeiten wollten. Im «Dasein».
Offen gestanden, ich hatte nicht gedacht, daß
er sprechen konnte, jetzt sprach er sogar mit lokalem Akzent, was
war das, Freilassing? Das «Dasein» war bei ihm ein «Dosein», und
wenn ich genau hinhörte, sogar ein «Dohseen» mit etwas Wiener
Einschlag? Während wir alle auf dem unbehandelten Holzfußboden
saßen und das Gehörte bedachten (bezahlt hatten wir ja noch nicht).
Dabei unternahm ich es, Juliane, die sich sechs Plätze entfernt
hingesetzt hatte, einen vorsichtigen Seitenblick zuzuschicken: Oh,
sie war weit offen - mein Gott, wie konnte sie so offen sein -,
ganz weit mit aufgerissenen Augen, das Jetzt und Hier schien seine
Wirkung nicht zu verfehlen. Auch nicht die «Beziehungsarbeit am
Sich und am Anderen», den «lebendigen Körper freizusetzen und
wertzuschätzen» und «mit dem Herzen sehen zu lernen».
Die Stimmlage - sie paßte eigentlich nicht zu
der mächtigen Matte, hinter der sie hervordrang, eine modulierte,
wohlplazierte Stimmlage, fast ein Singsang, «Im Frau-Sein und im…
Mann-Sein die geschlechtliche Identität zu finden», während
allenthalben Hohes stattfand, ein allseitig hohes Lächeln. Ich
blickte um mich und wunderte mich. Diese Ansammlung von Leuten, die
eine zweistündige unerfreuliche Anfahrt an einem grauen Tag auf ein
Militärgelände hinter sich hatten, diesen Leuten ein hohes Lächeln
zu entlocken - ich wollte gerecht sein -, das war erstklassige
Arbeit. Anscheinend war ich der einzige, der kein Wort
verstand.
O du mein schönes Heimatland,
wo man das Sauerkraut erfand.
Wir lieben dich und preisen laut,
Ehre, Freiheit, Sauerkraut.
In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß er
mich seit geraumer Zeit anblickte, der Mann hatte mich unter seinen
Schafen erkannt.
*
Den Rest des Tages verbrachten wir damit, uns
freizuschütteln. - Oh, ich vergaß, zuvor hatten wir noch unseren
Obulus zu entrichten. Den meinen zahlte ich so ziemlich als
letzter, während Juliane vorne in der Reihe stand, ich hörte sie
glucksen, anscheinend war sie schon ganz in der Gruppe aufgegangen.
Der schöne Mann, der große, etwas gebeugte «Hans» stand direkt
hinter ihr, aber wenn ich mich nicht irrte, gluckste sie nach
vorne, wo die populäre «Friede» stand. Der bärtige «Rudi» stand
zwei Plätze hinter ihr und gluckste auch irgendwie, in einem Baß,
den man bis zum Ende der Reihe hören konnte.
Zum Kassieren hatten sie einen alten
Schreibtisch im Gang gleich neben der Küche aufgestellt, und dort
saß der Pradi neben einer Frau, die mir angst machte.
An sich lächelte sie freundlich, hatte sogar
zwei Sterne in den Augen, aber wie sie das Geld in den Kasten
packte, in einen großen knallenden Eisenkasten, das war… ja, das
war eigentlich gnadenlos. Keine Schecks. Ich konnte mir gut
vorstellen, daß die Steuer in jedem Fall zu kurz kommen würde. Ihr
Name war Sindra, sein Name, der Name des Meisters wurde auch
verkündet, laßt mich raten: Pradhi Rama. Wie er wirklich hieß, wird
man wahrscheinlich nie in Erfahrung bringen (unter welchem Namen er
seine Steuern zahlte). Als ich an die Reihe kam, gab er kein
Zeichen des Erkennens. Blickte nur kurz auf. Aber wir sollten ja
alle noch unsere Namen bekommen, unsere eigentlichen wirklichen,
unsere Seelennamen.
Freischütteln.
Draußen unter freiem Himmel, wo sich
inzwischen ein beschauliches Licht über den Hof mit den drei
Hühnern, die dort herumliefen, gesenkt hatte. Wir stellen uns auf.
Und dann Schütteln, Schütteln, Schütteln: Kundalini-Schütteln.
Unterleib locker, locker. Arme locker, locker. Beine locker machen.
Brust und Becken, vor allem das Becken, und nicht
nachlassen!
Später gab es noch ein Abendbrot.
Es war ein ganz passables Körneressen,
ungesalzen, mit gurkenähnlichen Gebilden, kein Fleisch, dazu erste
Gespräche, die an mir etwas vorbeigingen: Da habe also jemand in
Soltau eine Intensivgruppe gemacht, die hast du gemacht? Die habe
er sogar wiederholt. Und die Waldgruppe, wir haben eine Waldgruppe
gemacht, letztes Jahr im Odenwald, abends waren wir so absolut
fertig, daß wir hätten sonstwas futtern können. Jetzt nehme ich mir
noch was. Ich habe mir dann auch noch was genommen, und es war, na
ja, man kann sagen, es war ganz passabel, mit einem etwas
eigenartigen Geschmack allerdings. Pferd? Ich hätte ja auch gern
etwas zur Unterhaltung beigesteuert, aber ir gendwie machte es sich
nicht. Juliane saß mit ihrer neuen Freundin Friede auf der
Treppenstufe.
Noch später zeigte man uns dann unsere
Quartiere, die sich als «einfach» erwiesen. Im späten Schein der
Kerzen. Mehrere Räume oder Kammern waren mit Matratzen ausgelegt,
wo man zu dritt, viert oder noch mehreren schlafen konnte, Männer
und Frauen getrennt. Das heißt, für Paare gab es auch
Zweierkammern, ich habe sie nicht zu sehen bekommen, da wir ja
nicht als Paar auftraten. Das heißt, kurz vor der Trennung - beim
Essen hatten wir immerhin fast drei Worte gewechselt - besann sich
Juliane, wurde anscheinend von einem Gefühl überwältigt, denn an
der Ecke zum Frauentrakt, einer unverputzten Stelle, wo anscheinend
kürzlich etwas angebaut worden war, lehnte sie sich plötzlich gegen
mich: Worte sind überflüssig, das weißt du doch (wenn die Sinne bis
zum Rand angefüllt sind). Genauer gesagt, ich wußte es eigentlich
nicht, wo dieser Stimmungsumschwung so plötzlich herrührte.
Vielleicht war es die Unwiederbringlichkeit der Trennung, der
Trennungsschmerz, da wir uns nun in unsere separaten Trakte zu
begeben hatten.
*
Ich bezog mein Quartier zusammen mit dem
Naturmenschen Rudi und dem Ehemann Fetter, einem unruhigen
Schläfer, wie sich herausstellen sollte. Zunächst irrit ierte aber
der Naturmensch, der, nachdem er sein Hemd und ein eigenartiges
Kittelleibchen aus Drillich abgelegt hatte, sich auf den Kopf
stellte, und zwar so, daß er eich mit angewinkelten Beinen von der
Wand abstützte. Es schien das seine Routine vor dem Schlafengehen
zu sein, und ich gebe zu, es war beeindruckend.
Überhaupt herrschte eine generelle Einstimmung
vor, nebenan wurde herzlich gelacht, es polterte etwas zu Boden,
ein Hundegebell war hörbar (imitiert?), und als ich schließlich mit
meiner Zahnbürste zum Waschraum ging, hatten sich dort in der
Duschecke erst zwei, dann drei nackte Damen eingefunden, alle in
Hochstimmung und Seifenschaum, und dann noch ein nackter Mann. Aber
das waren sicherlich alles erfahrene Teilnehmer, die sich hier
wiedertrafen und fröhlich miteinander waren, und ein bißchen
Arroganz gegenüber uns Anfängern (mit Zahnbürste) war wohl auch im
Spiel. Übrigens entdeckte ich unseren schönen Hans unter dem
Seifenschaum, mit dem ihn die Damen unter viel Gelächter
eingelassen hatten.
Die Juliane entdeckte ich Gottseidank
nicht.
«Ich kenne dich.»
Als ich, aus dem Waschraum kommend, um die
unverputzte Ecke bog - diesmal von der anderen Seite her - lehnte
dort der Pradi an der Wand, als ob er auf mich gewartet
hätte.
«Ich kenne dich.»
«Natürlich kennst du mich, Pradi, ich bin der
Alexander.»
Er schüttelte den Kopf.
«Nein, ich kenne dich!»
– – –
Und dann vollführte er eine Geste: Er legte
die Hände mit aufwärtsgerichteten Handflächen quer über den Bauch.
Wie einen Sperrgürtel. Blickte mich dabei aufmerksam an, als ob ich
wissen müßte, was das bedeutete.
«Du bist ein Mhata, ein Mann des
Oberen.»
Blickte mich immer noch aufmerksam an. In der
Beleuchtung der einzelnen Glühbirne an der Mauerecke sah seine
Gesichtshaut grob gekörnt wie Sandstein aus. Dann senkte er die
Hände und zog sie ein wenig auseinander, als ob er etwas
abschneiden wollte.
«Bist du sicher, daß du bleiben
willst?»
«Nie so sicher gewesen», sagte ich und wußte
plötzlich, wo ich diese Geste schon einmal gesehen hatte, es war
mir eingefallen: Eine Tanzfigur auf einem Sandsteinrelief in der
Mauer von Khor, der Tänzer zieht die Handkanten quer über den Bauch
wie eine Klinge. Es ist Wedisch, der «Gott der
Entmannung».
Kein Zweifel, Pradi war gebildet.
*
Aber nun der Traum in dieser ersten Nacht, den
ich zusammen mit Ehemann Klaus und dem Naturmenschen Rudi träumte.
Wobei die klumpige Matratze, das leise Röcheln auf der einen Seite,
das lautere auf der anderen eine Rolle spielten. Ich träumte von
einer «langsamen» Landschaft, die sich durch meinen Traum wälzte.
Von einem Weg, auf dem niemand kam. Niemand außer dem Weg selbst.
Es war so, daß ich immer wieder aufwachte und die Bedeutung
erkannte und darüber immer wieder einschlief.
Ich wußte, daß ich sie kannte. Aber
welche?
*
In der Frühe ging es dann ernsthaft zur
Sache. Es war wie erwartet ein kühler Morgen, noch etwas näßlich am
Boden, als wir uns draußen aufstellten: Im Stehen hochschwingen und
sich ins Becken fallen lassen, es begann, einen Sinn zu ergeben.
Außerdem kündigte sich ganz im Süden mit einem schmalen hellblauen
Streifen besseres Wetter an. So daß wir zuversichtlich waren.
Hochschwingen und fallen lassen. Hoch und– – voll ins Becken,
Brahhh.
Es nannte sich «Dynamische Meditation», die
wir hier betrieben, eine Entspannungsübung, nicht mit dem
Kundalinischütteln zu verwechseln. Vorher hatte ich noch
Gelegenheit, mit Juliane zu sprechen, die sich an diesem Morgen
gelöst und glücklich gebärdete. Sie umhalste mich, nannte mich
ihren Alex, offenbar hatte sie sich die ganze Nacht über mit ihren
Schlafgenossinnen unterhalten, Kinderbilder seien gezeigt worden,
Berührungen. Ja, Berührungen habe es auch gegeben, Liebkosen von
Schultern und Bauch. Schenkel? Schenkel auch. Für meinen Geschmack
eine etwas suspekte Angelegenheit, doch schien es sie glücklich zu
machen. Jedenfalls gebärdete sie sich so.
Und jetzt: Sich ganz hochhängen, hoch, hoch
mit gestreckten Armen, bis sich dann doch ein leiser Unwillen
einschleicht, aber das ist eben die Disziplin, die noch sehr viel
bringen wird. Den Unwillen zu überwinden. Um uns dann so
hochaufgehängt und wirklich hochauf - massiv ins Becken fallen zu
lassen. Herrgott, diese Erschütterung!
Das sollte man erst einmal erfahren haben.
Brahhh und Broaaahhhoh… Das stößt die Seele frei! Das öffnet den
Kanal! Insbesondere nach dem zehnten, dem zwanzigsten Mal, so daß
sich ein tagelanger Muskelkater einstellen wird. Ich nehme an, daß
diese Muskeln normalerweise nicht betätigt werden - wir sollten
noch erfahren, zu welchem Zweck. Ich für meinen Teil bekam etwas
Rheuma.
Zunächst gab es aber ein Frühstück, bestehend
aus Tee und Butterbroten, und danach allgemeine Aussprache. Das
heißt, man stellte sich vor, man stand auf und erklärte, wer man
sei, wo und warum. Möglichst mit allen vorhandenen Gebrechen. Ich
glaube, es war so gedacht, daß man sich erst einmal psychisch
auszog, bevor es ins Körperliche ging. Zum Beispiel erklärte ein
relativ kleiner Mann, den ich bisher noch nicht wahrgenommen hatte,
daß er sich zum Sex nur unter Brechreiz zwingen konnte.
Aha.
Das sah also so aus: Da hatte sich dieser
bedauernswerte Mann schon den ganzen Morgen lang vor dem
gefürchtet, das kommen sollte. Trat nun beherzt vor, der Gerhard,
und erklärte sich bereit, den Anfang zu machen - ich weiß nicht,
was ihn dazu bewog. Berichtete, der wirklich nette und geschlagene
Mann, daß ihn einerseits die ganze Sache abstoße (er nickte uns
zu), so sehr abstoße, daß er nur mit Widerwillen, ja, mit
körperlicher Übelkeit daran denken könne. Automatisch mit einem
sich einstellenden Würgen. Daß er aber andererseits den Sex nur
«leben» könne, wenn ihn ebendieser Übelkeitsreiz überkomme.
Versteht ihr? Wir konnten das zwar nicht so ganz verstehen, saßen
trotzdem teilnahmsvoll auf dem Fußboden. In dem überheizten
Raum.
Oder die Dicke, die sich überwand - die Dünne
übrigens auch -, die sich beide überwanden, über ihre Eßzwänge zu
sprechen, was ich als mutig empfand. Sie hatten beide das genau
gleiche Problem, wobei nicht ganz geklärt schien, wieso es einmal
die sehr Füllige und einmal die sehr Magere betreffen sollte. Ich
selber, als ich an die Reihe kam, gab eine Kurzfassung meiner
Studien, was nicht so recht ankam, erwähnte meine augenblickliche
Situation, nämlich mit der Partnerin nicht als Paar aufzutreten,
was nun wieder recht gut ankam. Der Pradi blickte zwar mißtrauisch
herüber, im allgemeinen stieß ich aber mit meiner kurzen
Darstellung auf Verständnis und zustimmendes Kopfnicken, vielleicht
weil sie so kurz war.
Womit andere offenbar Schwierigkeiten hatten.
Der Rudi zum Beispiel wollte und wollte nicht zum Ende kommen,
entrollte ein weites Panorama, Kindheit, frühes und spätes
Berufsleben (Dekorateur), Gesellschaft, Stellung und alles proper
und gelungen. Nur, daß er von dem Gedanken besessen schien, die
Menschheit wiche vor ihm zurück – – aber Rudi! Ja, darauf wollte er
denn doch bestehen - nicht, daß er sich sehr deutlich ausdrückte,
er benötigte fast eine Viertelstunde, um vom Zurücknehmen (eine
zurückgenommene Gesellschaft) auf das Zurückweichen zu kommen.
Während wir zwar teilnahmsvoll, doch eigentlich etwas unruhig
dasaßen. Auf dem Fußboden im überheizten Raum.
Oder, ich möchte mich vorsichtig ausdrücken:
Ich war derjenige, der unruhig dasaß, für die anderen kann ich
nicht sprechen, es kann durchaus sein, daß sie den Ausführungen mit
großem Interesse lauschten. Obwohl wir - jetzt spreche ich wieder
für alle - im Laufe der nächsten Tage alle ein wenig vor Rudi
zurückwichen. Das zeigte sich zum Beispiel daran, wie er bei der
Elle nicht ankam und bei der Ulli nicht, bei der Thea schon gar
nicht – – – bis sich am Ende eben doch zeigte, daß er mit einem
vielleicht unmerklichen Körpergeruch behaftet war? Von dem Gedanken
besessen?
Ja, leider.
Weißt du, Rudi, das ist nun dein Problem. Du
bist sicherlich ein wertvoller Mensch, ich meine, was die
Beziehungsebenen angeht, Gruppenarbeit und alles. Aber wir lieben
dich eben nur auf eine Entfernung von Armeslänge, da ist nun nichts
zu machen, was deine Nähe angeht. Rudi.
Ja, sonst war der Vormittag mit mehr oder
weniger gestaltlosen Bekenntnissen angefüllt, wobei manche sich
leichttaten, manche nicht. Insgesamt hatte ich hinterher - als wir
zu Mittag unser Körneressen aßen - den Eindruck eines
Sammelsuriums, das gar nichts besagte, nichts über das ältere
Mädchen, die Friede, nichts über den jungen Spund (was will der
hier), nichts über den schönen Mann. Allenfalls über den Rudi - der
roch etwas.
*
Am Nachmittag wurden wir dann handgreiflich,
sozusagen. Es wurde eine Übung praktiziert, die sich «Fette Engel»
nannte. Fette Engel sein! Sich anschubsen, Raum behaupten, sich
gegenseitig wegdrängen und sich mal so richtig breitmachen. Dazu
nahmen wir Aufstellung, diesmal nicht auf Armeslänge, sondern schön
eng - man stelle sich eine gut gefüllte Straßenbahn vor -, und
dann, Herrgott, gab es Körperkontakt, es
gab endlich das, worauf wir gewartet hatten.
Das sieht also so aus: Ich stehe am Rand
rechts und hätte notfalls ausweichen können. Neben mir ist die
Friede tätig, die mich kräftig anstößt, aber nicht bösartig, mehr
kommunikativ, mehr kokett mit dem Ellenbogen, und ich stoße mit dem
Ellenbogen ein wenig zurück. Während sie mich dann mit ihrer Brust
anstößt. Wir haben uns hier gewissermaßen auf Körperwärme
angenähert, die mir in ihrem Fall nicht unangenehm erscheint, wenn
auch mehr im Rahmen der Gruppenerfahrung. Immerhin bedeckt. Ich
meine, immerhin noch in Hemd und Hose, so daß, wenn sie mich mit
ihrer Brust anstößt, ich mit meiner eben ein wenig zurückstoße. So
etwa.
Da gestaltete sich mein Verhältnis zum
Vordermann - es war der Rudi - schon etwas drastischer. Der glaubte
wohl, nicht genügend Platz zu haben, und rammte nach ein paar
schwachen Versuchen, mich abzudrängen, seinen Naturarsch in mich
hinein. Aber voll. Dem habe ich dann meinen Naturbauch voll in den
Rücken gerammt. Immerhin waren wir ja fette Engel und brauchten
Platz, und traurig die Versuche der Hespe, die ganz dünn hinter mir
stand und mir als «fetter Engel» eine sehr dünne Schulter in die
Seite schob, denn ich hatte mich inzwischen gedreht, hätte auch
gerne die dicke Thea geschubst, aber die stand eigentlich nur ruhig
da. Hatte wohl keinen Spaß an der Sache.
Und Juliane, also Juliane schien voll auf
ihre Kosten zu kommen, die war weiter entfernt mit dem schönen Hans
und dem ganz jungen Spund im Gange, schubste, drängte, stemmte und
gluckste lauthals, sie glucksten alle lauthals. Wie habe ich sie
gehaßt! Ganz besonders die Juliane, die ihre schöne Hüfte dem
schönen Hans in. die Seite schob, wie ich sehr wohl
wahrnahm!
Bis mich der Rudi ins Kreuz stieß. Aber diesmal
ernsthaft. Ich weiß nicht, womit er stieß, mit der Faust
vielleicht, oder auch nur mit sich selbst, jedenfalls stockte mir
der Atem, und ich wäre fast in die Knie gegangen, stieß rückwärts
zurück. Mit angezogenen Ellenbogen. Und das hat er wohl krumm
genommen, sollte er auch, mir war sowieso nicht zum Spaßen zumute.
Aber als er mich dann tatsächlich mit der Faust vor die Brust
stieß, ja, da habe ich ihm voll eine geschauert. Aggressionen
finden oft unvermutete Kanäle. Habe ihm richtig eine verpaßt.
Obwohl, bei Licht besehen, es kaum mehr als
eine ausfahrende Bewegung gewesen sein kann. Bamm!
*
Daraufhin Totenstille. Den Rest des
Nachmittags nahmen wir dann frei - nach dieser Episode -, wir
hatten Gelegenheit zum Ruhen, zu Zweier- und Dreiergesprächen. Mir
selbst allerdings stand der Sinn nach einem Gang in der frischen
Luft, leider konnte ich Juliane nicht finden, sie war plötzlich
spurlos verschwunden, war weder auf der Toilette noch in einem der
Schlafräume. Im Bad auch nicht. Also zog ich alleine los.
Herbstliche Elegie. Kartoffelfeuer, glaube
ich, gibt es gar nicht mehr, trotzdem roch die Luft danach, auch
nach etwas Grünlichschwarzem. Und nach nassem Stroh. Als ich so
dahinging.
«Willst du darüber reden?»
Da hat er mich aber doch erschreckt, denn wie
ich soeben ein Gebüsch umrunde, tritt plötzlich der Pradhi Rama
hervor. Anscheinend hatte er sich auf einem anderen Weg hierher
begeben, der Mann kannte sich schließlich hier aus - und das hätte
ich mir merken sollen.
«Eigentlich nicht», sagte ich.
Er betrachtete mich sehr sorgsam. Der Mann
war ja nicht dumm, sonst hätte er keinen Betrieb dieser Art
aufziehen können, aber offenbar war ihm jemand wie ich noch nicht
untergekommen.
«So ist das mit der Gruppendynamik», sagte
ich, «sie ist dynamisch. Irgendwann gibt es einen Toten, und den
hat es nun gegeben.»
«Ich mache dir einen Vorschlag.»
«Ich zahle dir dein Geld zurück, die
Hälfte.»
Warum nur die Hälfte?
«Das Seminar läuft seit drei Tagen, also
sagen wir die Hälfte.»
Das war einleuchtend.
Und es wäre sogar ein guter Grund für mich
gewesen, ein Grund mehr jedenfalls, denn so ein «dicker» Engel war
ich nie. Bis auf den Unterton, den ich heraushörte, die Drohung,
die leise (herbstliche) Elegie.
«Weißt du, Pradi», sagte ich, «wenn ich es
mir recht überlege, möchte ich doch den Rest nicht missen. Um
keinen Preis.»
– – –
«Auch nicht um die Hälfte.»