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Der Strand ist schattig. Und ich weiß auch,
warum, die Sonne wird durch das gelbe Haus verdeckt, das oben am
Weg steht und einen langen Schatten wirft. Es ist aber trotzdem
heiß hier unten und hinterläßt was?
Ja, sie hat sich ein Spiel ausgedacht, ein
Fächerspiel, sie taucht ins Wasser, taucht auf und blitzt mich an.
Ihr Tuch, das sie über der Brust verknotet trägt, bläht sich dabei
wie eine große goldfarbene Qualle. Wenn sie aus dem Wasser steigt,
hält sie es vor sich hin, so daß ihre Schönheit vom Weg her, der
gelb geschlängelt vom Dorf verläuft, nicht zu sehen ist, es sieht
aber sowieso niemand hin, weil niemand dort geht. Sie blitzt und
strahlt und dreht sich um, hält das Tuch hinter sich und steigt ins
Wasser. Steigt heraus, schwingt das Tuch, es ist sehr schön,
goldgelb mit grünem Rand und einer Borte aus blauen Löwen. Ich habe
es ihr geschenkt, ich habe ihr noch viele andere schöne Tücher
geschenkt, die sie beim Baden um sich schwingt, vor sich und hinter
sich wie einen Fächer, damit ich deutlich sehen kann, wie schön sie
ist.
Denn hier stehe ich.
Mit meinem Lingam. Der Priester hat gesagt,
daß der Lingam heilig ist und für den Tempelgebrauch bestimmt, ein
vollkommener Unsinn, jedermann weiß, wofür der Lingam gut ist. Ich
weiß es, mein guter Lingam wächst aus meinem eigenen Tempel, er ist
wie die Deichsel eines Wagens, mit dem es vorangeht.
Vielleicht will der Priester, daß wir ihn uns
abschneiden, alle, damit seiner als einziger riesiger übrig bleibt.
In der großen Höhle. Ich habe ihn nie gesehen, aber man sagt, er
sei über und über mit Butter beträufelt wie ein Chapatti, das in
den Ofen soll. Drüben vom Dorf her trägt der Wind das Rasseln und
Gellen herüber, mit dem sie die Pilger wachhalten, mich erreichen
sie nicht.
Ich brauche sie nicht.
Denn ich halte Sita im Arm, die Schöne, die
Leuchtende, die Immerwiederkehrende, und die Zeit rinnt.
*
Als ich aufwache, steht eine Glaswelt vor dem
Fenster, ein unglaublich klar gezeichneter Himmel mit präzisen
Punktwolken, es herrscht Föhn! An diesem Tag kann alles geschehen,
an diesem Tag kommt sie…
Ich muß dazu etwas weiter ausholen. Es ist
dies eine eigenständige Wetterlage für München, ein warmer Fallwind
von Süden her, der die Gemüter mit drastischen Fernblicken beglückt
und auch bedrückt, beides zugleich. Die Schneealpen bis hinauf nach
Ötz und Ziller stehen sengend scharf über dem Marienplatz, das
Führerhaus am Obersalzberg als Ansichtskarte, die lange Kette des
Wilden Kaiser unmittelbar über dem Kaufhaus Beck, das heißt, man
muß schon hinauf auf den St. Peter, um sie zu sehen. Auch so eine
Eigenheit Münchens, der «Alte Peter» steht da wie ausgesägt, von
vorn breit und hoch mit einer gehörigen Barockkuppel, von der Seite
gesehen jedoch platt wie eine Pappscheibe, und die Kuppel wie ein
dünnes Würstchen. Davor haben sich die Kräuterweibl postiert. Noch
eine Eigenart. Mit neun Röcken über den von Haus aus stattlichen
Unterbauten, und sie verkaufen dir Kräutlein, von denen du noch nie
gehört hast: Fingerwurz, Miefer, Stechapfel, graue Feldbilche. Sie
verkaufen dir einen Winzling im Töpfchen, der sich Liebswohnerle
nennt.
Wenn du ihn in ein leeres Zimmer stellst, ist
es bewohnt.
Und das Ganze am Sonntag, im Sommer, in
München, eines Tages werde ich das alles verdichten und den großen
Münchenroman schreiben. Ein für allemal.
Aber nicht heute. - Unser Freigelände ist
unter Föhneinfluß übersichtlicher und nicht mehr so groß,
gleichzeitig ist es aber viel größer geworden. Man kann von einem
bis zum anderen Ende die Haarlinie von Frau Heidenreich klar
erkennen. Unter einem Busch blitzt die goldgeränderte Brille auf,
und man weiß, wer dort lagert. Oder die alten Damen als
Elfenbeinpüppchen. Die Biertrinker haben putzige kleine Biergläser,
gelb und weiß, ihre Genitalzonen weisen winzige Hämmerchen auf, und
überall sind Brüste zu sehen, in der Größe von Senfkörnern, mit
äußerster Präzision dargestellt.
Aber ich sehe noch etwas: Den quadratischen
Menschen als solchen. Ich weiß nicht, was das ist, ist es die
Föhnluft, daß ich durch die Haut hindurchsehen kann: Das
pulsierende Herz, das ganz klein und bescheiden schlägt,
anscheinend hat der gestrige Anfall doch seine Spuren hinterlassen.
Vielleicht ist es an der Zeit, denke ich, ihm den Gnadenstoß zu
versetzen.
Die gesamte Menschheit gestochen scharf in
Miniatur, ich sehe, sie ist einen weiten Weg gegangen. Vom
geduckten ersten Menschen - und damit ist der allererste gemeint,
der noch käseweiß ist - bis zum Homo erectus, stolz
dahinschreitend. Vom Urzustand bis hin zu den zementierten
Besitzständen an der Wasserfront, sexistisch, rassistisch und schön
mit dem immer noch gehuldigten Ideal eines Torso von Arno
Breker.
Gerade eben sehe ich einen solchen in
unmenschlicher Schärfe am Beckenrand stehen.
Ich glaube, kein Nordländer wird die
Föhnlandschaft je begreifen, sie ist eine Landkarte mit ganz
genauen und verständlichen Eintragungen. Und gleichzeitig ein
vollkommenes Mysterium. Ich habe mir später oft überlegt, ob an
einem anderen Tag in einem anderen Licht ich die Erscheinung
überhaupt wahrgenommen hätte.
Aber hier kommt sie…
*
Nein, vorher, sozusagen als Einstimmung
erschien noch der kleine Priap - ich habe ihn so genannt, weil er
wirklich so heißen sollte, und hiermit drehe ich den Tag noch
einmal zurück, ganz bis zum frühen Morgen, als ich soeben das Bad
betrete. Ich war fast der erste hier, entdeckte nur noch zwei frühe
Herren hinten an der rechten Ecke des Beckens, überall gab es noch
freie grüne Wiese und freien Beton. Ach ja, Frau Lempe im Gebüsch,
die war allerdings auch schon da, hielt sich wie immer kurzsichtig
die Zeitung vor die Augen und hätte schon aus diesem Grunde nichts
bezeugen können, mit ihrer Lesebrille.
Ich hatte mich noch nicht hingelegt,
unschlüssig, ob ich nun vorn an der Schmalseite oder in der Mitte
meinen Platz beziehen sollte, denn noch gab es die freie Auswahl.
Als dieses Männlein um die Ecke kam. Ich kannte es, ich hatte es
immer als tragisch empfunden, weil dieses schmächtige Männlein den
absurd großen Kopf eines Bankdirektors besaß, gediegen und sehr
ernst. Vielleicht war er Schuster in einem Souterrain an der Ecke,
ich weiß es nicht, jedenfalls hatte er schwer an seinem Kopf zu
tragen - und wie sich nun zeigte, nicht nur an seinem Kopf. Wie er
da um die Ecke kam.
Mein Gott, das haben wir ja gar nicht
gewußt.
Der hatte immer still und abseits auf seinem
Badetuch gesessen, den lieben langen Tag, unauffällig und wenig
sichtbar, das heißt, einige Male war er mir doch aufgefallen, weil
er sich so gar nicht bewegte. Im Sitzen hielt er seinen Oberkörper
merkwürdig steil, aber auch im Liegen immer etwas aufgerichtet, als
ob er eine Strebe für den zu großen Kopf benötigte. Und nun, an
diesem schönen Morgen, an dem man von hier aus einen Hufnagel in
Germering hätte erkennen können, trat er plötzlich frei in
Erscheinung.
Sehr frei.
Stieg ins Becken und nun stand er da, im
Seichten, ganz allein im vorderen Viertel, wo sonst die Kinder
spielen. Das Wasser reichte ihm die Oberschenkel hinauf bis knapp
unter den Bauch und genau bis dahin. Weshalb ich das sorgfältig
bestimme? Mein Gott, wir haben es wirklich nicht gewußt, der Mann
hatte ein ungeheuerliches Glied! Mir wäre, hätte ich selbst dort
gestanden, das Wasser gerade übers Knie gegangen, er aber war dort
wie nach dem goldenen Schnitt postiert, wie ein Torso auf dem
Sockel. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb genau diese Stelle im
Wasser ausgesucht, und möglicherweise nicht zum ersten Mal. Seine
Hoden, das heißt, einer von ihnen, der etwas tiefer hing, berührte
gerade die Wasseroberfläche, das konnte man erkennen, weil das
Glied, das Organ, der Baum oder wie man es nennen wollte, frei nach
oben stand.
Und zwar - hier merkte, glaube ich, jeder der
Anwesenden mit Ausnahme von Frau Lempe auf - und zwar senkrecht
nach oben. Man muß sich das so vorstellen, das Ding war fast einen
halben Meter lang, stand zunächst einmal waagerecht aus dem Körper
heraus, um aber dann mit einer perfekten Biegung in der Vertikalen
hinaufzustreben. Und das praktisch im Alleingang - wir, die
zufällig viel zu früh Anwesenden, zählten gar nicht.
Um auch das klarzustellen.
Ich habe oft mit gewisser Achtung daran
denken müssen, es ist sicherlich keine Zurschaustellung gewesen,
der Mann war völlig in sich gekehrt - Gott Priap persönlich. Da
hatte dieser stille Mensch mit dem lächerlich großen Kopf eines
Bankdirektors, was sage ich, eines Zentralbankdirektors seine
stolze Existenz gefunden.
In der Ewigkeit der Morgenstunde.