6




Der Strand ist schattig. Und ich weiß auch, warum, die Sonne wird durch das gelbe Haus verdeckt, das oben am Weg steht und einen langen Schatten wirft. Es ist aber trotzdem heiß hier unten und hinterläßt was?
Ja, sie hat sich ein Spiel ausgedacht, ein Fächerspiel, sie taucht ins Wasser, taucht auf und blitzt mich an. Ihr Tuch, das sie über der Brust verknotet trägt, bläht sich dabei wie eine große goldfarbene Qualle. Wenn sie aus dem Wasser steigt, hält sie es vor sich hin, so daß ihre Schönheit vom Weg her, der gelb geschlängelt vom Dorf verläuft, nicht zu sehen ist, es sieht aber sowieso niemand hin, weil niemand dort geht. Sie blitzt und strahlt und dreht sich um, hält das Tuch hinter sich und steigt ins Wasser. Steigt heraus, schwingt das Tuch, es ist sehr schön, goldgelb mit grünem Rand und einer Borte aus blauen Löwen. Ich habe es ihr geschenkt, ich habe ihr noch viele andere schöne Tücher geschenkt, die sie beim Baden um sich schwingt, vor sich und hinter sich wie einen Fächer, damit ich deutlich sehen kann, wie schön sie ist.
Denn hier stehe ich.
Mit meinem Lingam. Der Priester hat gesagt, daß der Lingam heilig ist und für den Tempelgebrauch bestimmt, ein vollkommener Unsinn, jedermann weiß, wofür der Lingam gut ist. Ich weiß es, mein guter Lingam wächst aus meinem eigenen Tempel, er ist wie die Deichsel eines Wagens, mit dem es vorangeht.

Vielleicht will der Priester, daß wir ihn uns abschneiden, alle, damit seiner als einziger riesiger übrig bleibt. In der großen Höhle. Ich habe ihn nie gesehen, aber man sagt, er sei über und über mit Butter beträufelt wie ein Chapatti, das in den Ofen soll. Drüben vom Dorf her trägt der Wind das Rasseln und Gellen herüber, mit dem sie die Pilger wachhalten, mich erreichen sie nicht.

Ich brauche sie nicht.
Denn ich halte Sita im Arm, die Schöne, die Leuchtende, die Immerwiederkehrende, und die Zeit rinnt.


*


Als ich aufwache, steht eine Glaswelt vor dem Fenster, ein unglaublich klar gezeichneter Himmel mit präzisen Punktwolken, es herrscht Föhn! An diesem Tag kann alles geschehen, an diesem Tag kommt sie…
Ich muß dazu etwas weiter ausholen. Es ist dies eine eigenständige Wetterlage für München, ein warmer Fallwind von Süden her, der die Gemüter mit drastischen Fernblicken beglückt und auch bedrückt, beides zugleich. Die Schneealpen bis hinauf nach Ötz und Ziller stehen sengend scharf über dem Marienplatz, das Führerhaus am Obersalzberg als Ansichtskarte, die lange Kette des Wilden Kaiser unmittelbar über dem Kaufhaus Beck, das heißt, man muß schon hinauf auf den St. Peter, um sie zu sehen. Auch so eine Eigenheit Münchens, der «Alte Peter» steht da wie ausgesägt, von vorn breit und hoch mit einer gehörigen Barockkuppel, von der Seite gesehen jedoch platt wie eine Pappscheibe, und die Kuppel wie ein dünnes Würstchen. Davor haben sich die Kräuterweibl postiert. Noch eine Eigenart. Mit neun Röcken über den von Haus aus stattlichen Unterbauten, und sie verkaufen dir Kräutlein, von denen du noch nie gehört hast: Fingerwurz, Miefer, Stechapfel, graue Feldbilche. Sie verkaufen dir einen Winzling im Töpfchen, der sich Liebswohnerle nennt.
Wenn du ihn in ein leeres Zimmer stellst, ist es bewohnt.

Und das Ganze am Sonntag, im Sommer, in München, eines Tages werde ich das alles verdichten und den großen Münchenroman schreiben. Ein für allemal.

Aber nicht heute. - Unser Freigelände ist unter Föhneinfluß übersichtlicher und nicht mehr so groß, gleichzeitig ist es aber viel größer geworden. Man kann von einem bis zum anderen Ende die Haarlinie von Frau Heidenreich klar erkennen. Unter einem Busch blitzt die goldgeränderte Brille auf, und man weiß, wer dort lagert. Oder die alten Damen als Elfenbeinpüppchen. Die Biertrinker haben putzige kleine Biergläser, gelb und weiß, ihre Genitalzonen weisen winzige Hämmerchen auf, und überall sind Brüste zu sehen, in der Größe von Senfkörnern, mit äußerster Präzision dargestellt.
Aber ich sehe noch etwas: Den quadratischen Menschen als solchen. Ich weiß nicht, was das ist, ist es die Föhnluft, daß ich durch die Haut hindurchsehen kann: Das pulsierende Herz, das ganz klein und bescheiden schlägt, anscheinend hat der gestrige Anfall doch seine Spuren hinterlassen. Vielleicht ist es an der Zeit, denke ich, ihm den Gnadenstoß zu versetzen.
Die gesamte Menschheit gestochen scharf in Miniatur, ich sehe, sie ist einen weiten Weg gegangen. Vom geduckten ersten Menschen - und damit ist der allererste gemeint, der noch käseweiß ist - bis zum Homo erectus, stolz dahinschreitend. Vom Urzustand bis hin zu den zementierten Besitzständen an der Wasserfront, sexistisch, rassistisch und schön mit dem immer noch gehuldigten Ideal eines Torso von Arno Breker.
Gerade eben sehe ich einen solchen in unmenschlicher Schärfe am Beckenrand stehen.
Ich glaube, kein Nordländer wird die Föhnlandschaft je begreifen, sie ist eine Landkarte mit ganz genauen und verständlichen Eintragungen. Und gleichzeitig ein vollkommenes Mysterium. Ich habe mir später oft überlegt, ob an einem anderen Tag in einem anderen Licht ich die Erscheinung überhaupt wahrgenommen hätte.
Aber hier kommt sie…


*


Nein, vorher, sozusagen als Einstimmung erschien noch der kleine Priap - ich habe ihn so genannt, weil er wirklich so heißen sollte, und hiermit drehe ich den Tag noch einmal zurück, ganz bis zum frühen Morgen, als ich soeben das Bad betrete. Ich war fast der erste hier, entdeckte nur noch zwei frühe Herren hinten an der rechten Ecke des Beckens, überall gab es noch freie grüne Wiese und freien Beton. Ach ja, Frau Lempe im Gebüsch, die war allerdings auch schon da, hielt sich wie immer kurzsichtig die Zeitung vor die Augen und hätte schon aus diesem Grunde nichts bezeugen können, mit ihrer Lesebrille.

Ich hatte mich noch nicht hingelegt, unschlüssig, ob ich nun vorn an der Schmalseite oder in der Mitte meinen Platz beziehen sollte, denn noch gab es die freie Auswahl. Als dieses Männlein um die Ecke kam. Ich kannte es, ich hatte es immer als tragisch empfunden, weil dieses schmächtige Männlein den absurd großen Kopf eines Bankdirektors besaß, gediegen und sehr ernst. Vielleicht war er Schuster in einem Souterrain an der Ecke, ich weiß es nicht, jedenfalls hatte er schwer an seinem Kopf zu tragen - und wie sich nun zeigte, nicht nur an seinem Kopf. Wie er da um die Ecke kam.
Mein Gott, das haben wir ja gar nicht gewußt.
Der hatte immer still und abseits auf seinem Badetuch gesessen, den lieben langen Tag, unauffällig und wenig sichtbar, das heißt, einige Male war er mir doch aufgefallen, weil er sich so gar nicht bewegte. Im Sitzen hielt er seinen Oberkörper merkwürdig steil, aber auch im Liegen immer etwas aufgerichtet, als ob er eine Strebe für den zu großen Kopf benötigte. Und nun, an diesem schönen Morgen, an dem man von hier aus einen Hufnagel in Germering hätte erkennen können, trat er plötzlich frei in Erscheinung.
Sehr frei.

Stieg ins Becken und nun stand er da, im Seichten, ganz allein im vorderen Viertel, wo sonst die Kinder spielen. Das Wasser reichte ihm die Oberschenkel hinauf bis knapp unter den Bauch und genau bis dahin. Weshalb ich das sorgfältig bestimme? Mein Gott, wir haben es wirklich nicht gewußt, der Mann hatte ein ungeheuerliches Glied! Mir wäre, hätte ich selbst dort gestanden, das Wasser gerade übers Knie gegangen, er aber war dort wie nach dem goldenen Schnitt postiert, wie ein Torso auf dem Sockel. Wahrscheinlich hatte er sich deshalb genau diese Stelle im Wasser ausgesucht, und möglicherweise nicht zum ersten Mal. Seine Hoden, das heißt, einer von ihnen, der etwas tiefer hing, berührte gerade die Wasseroberfläche, das konnte man erkennen, weil das Glied, das Organ, der Baum oder wie man es nennen wollte, frei nach oben stand.

Und zwar - hier merkte, glaube ich, jeder der Anwesenden mit Ausnahme von Frau Lempe auf - und zwar senkrecht nach oben. Man muß sich das so vorstellen, das Ding war fast einen halben Meter lang, stand zunächst einmal waagerecht aus dem Körper heraus, um aber dann mit einer perfekten Biegung in der Vertikalen hinaufzustreben. Und das praktisch im Alleingang - wir, die zufällig viel zu früh Anwesenden, zählten gar nicht.
Um auch das klarzustellen.
Ich habe oft mit gewisser Achtung daran denken müssen, es ist sicherlich keine Zurschaustellung gewesen, der Mann war völlig in sich gekehrt - Gott Priap persönlich. Da hatte dieser stille Mensch mit dem lächerlich großen Kopf eines Bankdirektors, was sage ich, eines Zentralbankdirektors seine stolze Existenz gefunden.

In der Ewigkeit der Morgenstunde.