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Oh, das war verboten. Mein Gott, war das verboten. Ich sah sie flüchtig von fern, wie sie an der Schleuse stand, war wohl gerade hereingekommen und sondierte das Gelände. Überhaupt nicht mein Fall. Untersetzt stand sie da auf ihren Standbeinen, Kinnlade vorgeschoben, Backenknochen heraus, große Oberlippe. Ich sah sie dann noch einmal, wie sie auf den Pool zuging und ihre Standbeine vor sich herpflanzte. Abrupt hierhin und dorthin blickend. Ende der Vorstellung.
Und dann nach einer Weile, als ich etwas schläfrig dalag, spürte ich einen Luftzug am Kopfende. Da hatte die Dame dicht vor mir eine Lücke entdeckt und breitete gerade ihr Tuch aus, und zwar ziemlich abrupt, indem sie es auch noch kräftig ausschüttelte, ziemlich kraftvoll. Legte sich hin, schob die Kinnlade vor und zeigte mir die Fußsohlen dicht vor meinem Kopf.
Wie es so ist, bei der Enge.

Margot blickte kurz von ihrem Buch auf, es war inzwischen Diderots «Neffe des Rameau», ich konnte sie nur bewundern, daß sie das las. Blickte auf und las weiter. Ich studierte dann eine Weile lang die Wolkenformationen, kompakte, kugelige Gebilde mit flacher Unterseite, harmlos in Abständen über München segelnd. Gerade hatte eines einen runden Schatten über das Schwimmbecken hinweggezogen, als ich einmal kurz zu den Fußsohlen aufblickte. Da waren sie etwas auseinandergenommen. Nicht viel, aber genügend, daß in der Verlängerung ein Genital sichtbar wurde, nur ein Teil, aber deutlich und insofern auffällig, als sich in dieser Position normalerweise nicht viel zeigen kann. Nichts zeigen kann. Dachte ich bei mir.

Studierte mit etwas Besorgnis die Wolkenformation, die sich im Westen aufgebaut hatte, auch die Wolkenformation im Osten, und dann konsultierte ich die große Uhr über dem Pool: Wie spät es sein mochte.
Aber als ich wieder hinblickte, hatte sie die Füße weiter auseinandergenommen, wohl drei bis vier Spannen weit, und jetzt sah ich auch, warum: Das war ein außerordentlich großes Genital, das für sich genommen sehr viel Platz brauchte, es war abgesetzt in zwei dicke äußere Schamlippen, und die inneren waren auch nicht gerade dünn, sie waren wie zwei Blasebälge. Darum! Ich sah jetzt, daß auch Margot etwas gesehen hatte, sie ließ den Diderot sinken, sandte mir dann einen Blick zu, den ich lieber meiden wollte. Ich zog ein Magazin hervor und war lange Zeit damit beschäftigt, nicht nur das Kreuzworträtsel auf Seite vier zu lösen, sondern auch noch das amerikanische Kreuzworträtsel, das sehr viel schwerer zu lösen ist, weil es keine schwarzen Felder vorgibt, nur die Anzahl der Buchstaben.
Was nicht viel bewirkte. Denn inzwischen hatte die Dame ihre Schenkel so weit auseinandergenommen, daß es nun ganz klar war: Dieses war das größte weibliche Genital, das jemals in einem öffentlichen Bad gezeigt wurde, und es war ganz klar, daß in praktisch jeder Position es der Dame schwerfallen dürfte, dieses zu verbergen. Und das tat sie denn auch nicht. Wie es ausging? Es ging gar nicht aus, nach zwei Stunden packte die Dame ihre Sachen zusammen und ging heim. Nur die Margot mit ihrem Diderot gab sich für den Rest des Nachmittags etwas reserviert. Nicht ostentativ, aber vielleicht hatte ich doch einmal zu häufig hingeschaut.


*


Und das sollte auch das Ende gewesen sein.

Wenn nicht am nächsten Tag - es war vormittags um zehn, ich weiß es - ein Schatten auf mich gefallen wäre, im Verein mit einem abrupten Luftzug, der mir bekannt schien, und dann erblickte ich plötzlich zwei Fußsohlen, diesmal aber mit den Fersen nach oben gerichtet. Ich vergewisserte mich: Die Dame Margot neben mir las Götz Kraffts «Die Geschichte einer Jugend» und blickte nicht auf, die Dame vor mir hatte rosige, gekerbte, an den Ballen gelblich harte Fußsohlen. Dazu fiel mir ein, daß es bei den Japanern zum Beispiel als beleidigend gilt, jemandem die Fußsohlen zu weisen.

Und doch war die Situation eine andere. War gestern die Lücke die einzige vorhandene gewesen, so hätte sich an diesem Morgen die Dame ohne weiteres woanders ausbreiten können, ja, weiter unten gab es sogar noch einen Platz in der ersten Reihe. Warum also gerade hier? Und so dicht? Später am Vormittag schlossen sich die Reihen, und da fiel es nicht mehr auf, aber jetzt sandte mir Margot einen Blick zu! Ich sagte: Dafür kann ich nichts. Sagte ich natürlich nicht, anscheinend hatte die Dame einen festen Platz gefunden.
Sie öffnete dann die Beine, und da sie auf dem Bauch lag, bildete ihr sehr großes Genital zwischen den Gesäßbacken eine Tüte, anders kann ich es nicht beschreiben, es war tatsächlich eine nach oben offene Tüte, die sich da entfaltete. Ein Gebilde, bestehend aus den dickeren Teilen, die aber jetzt nach unten hin eine Brücke formten, ein großes U, in dessen Grund sich eine kompliziert gebuckelte Anatomie mit einem - ich weiß, ich bin etwas zwanghaft - daumenförmigen Anhängsel befand. Ich glaube, es war der Kitzler. Margot klappte mit einem Knall ihr Buch zu.

Ich ging jetzt erst einmal ins Wasser. Schwamm die ganze Länge und kehrte zurück. Von hier aus war der Anblick nicht ganz so dramatisch, der Winkel war ein anderer. Margot hatte ihr Buch wieder aufgenommen, die andere Dame hatte sich inzwischen auf den Rücken gelegt, und ich registrierte, daß sie ihre Oberschenkel wie zwei Schirme rechts und links hochgestellt hatte, so daß das Ganze doch sehr viel privater aussah, jedenfalls nicht so verboten wie aus der Frontalsicht. Ich will sagen: Man konnte sich doch ganz gut heraushalten. Deshalb schwamm ich noch eine Länge und zurück, nahm dann wieder meinen Platz ein, Margot kehrte mir auf Dauer den Rücken zu. Und so ging das Ganze aus: Nach zwei Stunden packte die Dame ihre Sachen und verschwand. Sie war übrigens bis in die Tiefe durchgebräunt, vollständig, ja, und sorgfältig rasiert, das wollte ich zum Schluß noch erwähnt haben.

*


Doch der darauffolgende Tag - es war wieder ein Samstag - begann mit einem Eklat. Ich lag friedlich auf meinem angestammten Platz und sonnte mich, Margot war noch nicht erschienen, also hielt ich einen Platz frei. Döste vor mich hin und dachte sozusagen an nichts Böses, als plötzlich dicht neben mir eine ganz hohe Stimme brüllte, eine Fistelstimme:
«Du Spanner! Hab’ ich dich, du Spanner!»
– – –
«Kommst her, legst dich hin und spannst!»
Da war mir doch der Schreck in die Glieder gefahren.
«Ich kenn’ dich, dich kenne ich!»
Ich hob vorsichtig den Kopf und sah einen gewaltigen Mann mit zornrotem Gesicht. Er war absolut viereckig, ebenso breit wie hoch, und er hatte einen Kleinen am Kragen, buchstäblich, er hatte ihn am Wickel. So als ob er den Kleinen endlich erwischt hätte.
Folgende Situation: Fünf bis sechs Plätze lin ks von mir befand sich ein trauriges Lager, bestehend aus einem einzigen braunen Handtuch, einer Ledertasche und einer Krücke. Dort hatte sich ein Mickermännchen vor einer Gruppe hübscher kleiner Luder niedergelassen. Unglücklicherweise. Man kennt diese Mädchen, viel zu fröhlich, viel zu jung, viel zu hübsch, jedenfalls zu hübsch für ein Mickermännchen. Und das war ihm ja auch schlecht genug bekommen, sich hier mir nichts, dir nichts herzulegen.
Er war nur halb ausgezogen oder, ich weiß nicht, halb angezogen, die Hose fehlte. Jedenfalls hatte ihm der Viereckige das Hemd mit einem Kraftgriff am Nacken zusammengedreht und hob ihn jetzt mit gebeugtem Knie auf seine Höhe. Mit furchteinflößend vollkommen professioneller Hebelwirkung, anders konnte man das nicht bezeichnen.

«Sie sind ja nicht bei sich», schrie der arme Spanner - wenn er einer war - «Sie sind ja nicht richtig im Kopf!»

Und da mochte er sogar recht haben, denn dieser würfelförmige Kopf, der auf dem Muskelpaket aufsaß, war zu einem geradezu beängstigenden Violett angelaufen.
«Dich kenn’ ich vom Flaucher, da kenn ich dich genau!»
Dazu muß man wissen, daß der Flaucher eine Isarinsel im Stadtbereich ist, ein wildumspültes Dreieck, allgemein bekannt als Schweineinsel. Bezeichnenderweise. Inzwischen war die halbe Badeanstalt zu diesem Spektakel zusammengelaufen, die Leute standen direkt über mir, so daß ich nicht umhin konnte teilzunehmen.
«Der hat jede Woche jemanden am Kanthaken», klärte mich ein Nebenstehender auf.
«Aber was hat er denn getan, um Gottes willen? ›»
«Er hat sich angefaßt.»
– – –
«Aha.»
Außerdem, wurde ich aufgeklärt, handele es sich bei dem Muskelpaket um einen «Untermann» vom Zirkus Krone. Er sei derjenige, der ganz alleine die Pyramide der Dalton Brothers trägt, ganze elf Mann und ein Kind, und das konnte ich mir gut vorstellen: Eine Säule, ein Atlas war der Mann, eine Grundfeste. Auf keinen Fall jemand, mit dem man sich anlegen sollte.


*


So spektakulär die Szene auch gewesen sein mag - die rudernden Arme und der spezielle Haltegriff, mit dem das Bündelchen schließlich hinausbefördert wurde -, wir waren alle froh, als wieder Ruhe einkehrte. Hätte es doch praktisch jeden einzelnen von uns (Männern) treffen können - ich konnte nur mit Schaudern daran denken.
So lag ich denn aufgekratzt, in gewissem Sinne aber auch erleichtert, auf meinem Badetuch, so wie wir alle erleichtert waren, daß der Kelch noch einmal vorübergegangen war.

Das Flämmchen Schadenfreude.

Als ich wie von ungefähr einmal auf den Eingang schaute. O nein. Ich erahnte sie, noch bevor ich sie in der Schleuse sah, noch bevor ich überhaupt irgendwelche Anzeichen sah, die Standbeine, die Kinnlade, die Backenknochen. Und als sie dann wirklich eintrat, abrupt und zielgerichtet, als sie sich nach einem kurzen Blick gnadenlos in Bewegung setzte, begann ich zu beten. Sie kam in gerader Linie über die Wiese direkt auf mich zu, steuerte haarscharf den Platz vor meinem Kopfende an…
Liebe Dame, betete ich, dies ist nicht der Tag, der Zeitpunkt ist nicht gut gewählt, ein andermal vielleicht, nicht heute. Ich weiß nicht, ob man sich die Angst der folgenden zwei Stunden ganz vorstellen kann, während deren ich schweißgebadet auf meinem Tuch lag, weder rechts noch links blickend. Diesmal hatte sie sich eine dicke Zeitung mitgebracht, nahm zunächst eine schrägsitzende Stellung ein, sie saß auf nur einer Backe, auf der rechten, und stützte sich seitlich mit dem rechten Ellenbogen auf. Las direkt an meinem Kopf vorbei - ich glaube, es war der Leitartikel -, las eine Zeitlang, blickte zwischendurch senkrecht noch oben. Dann stand sie auf und bückte sich, weil sie etwas in ihrer Tasche zu suchen hatte, fand das Zeug nicht gleich, was immer es war. Setzte sich wieder hin.
Diesmal in Schräglage nach links. Linke Backe, linker Ellenbogen, aber schräger als vorher, mehr auf der Seite liegend. Las einen anderen Leitartikel, und nachdem sie ihn gelesen hatte, schlug sie mit dem Handrücken schallend aufs Blatt.
Jetzt nahm sie eine ganz vertrakte Stellung ein. Sie stützte sich mit beiden Ellenbogen auf, lag aber nicht auf dem Bauch,, sondern mit dem Unterteil seitlich verdreht und mit angezogenen Beinen, so daß sie mir eine volle Breitseite zuwandte. Dabei machte ich eine Feststellung, daß nämlich das Gesicht den Körper widerspiegelt und umgekehrt, ein Gemeinplatz natürlich, der aber bei der Dame wunderbar zutraf: Sie hatte ausgeprägte Backenknochen, ich meine, auch vor den Hinterbacken, die sie mir zuwandte, hatte sie welche. Zwei gewaltige Steißbeine, wie bei einem Wasserbüffel.

Ich rührte mich vorsichtig, aber nicht viel, ich deckte die Situation sozusagen mit mir selber zu - jedenfalls hätte ich auf keinen Fall aufstehen können. Jetzt legte sich die Dame flach auf den Rücken, hielt die Zeitung waagerecht nach oben, gen Himmel, las über längere Zeit anscheinend noch einen dritten Leitartikel, wobei sie die Knie hin- und herschwenkte. Dann schlug sie aufs Blatt.

So ging das volle zwei Stunden lang, und ich darf sagen, daß ich in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal hochzublicken wagte, denn - man muß sich das Ganze mit Angst und Schrecken vorstellen - in jeder erdenklichen Lage, ob vorne oder hinten, ob oben oder unten, ob vertrakt verdreht oder plan auf dem Rücken, das Ding war nicht unterzukriegen! Ganz gleich, im Sitzen oder Liegen, immer war es präsent, es war anscheinend nicht zu vermeiden. Die Dame schlug aufs Blatt, und das Ding kroch heraus.
Ich sagte mir: «Dieses mußt du durchstehen, da hilft kein Heulen und kein Zähneklappern, kein noch so tiefes Erdloch, in das wir kriechen könnten. So ist die Dame eben.»
Obwohl.
Ich möchte es einmal so ausdrücken: Es handelte sich um ein Eigenleben, das hier stattfand - da war eigentlich niemand zuständig -, ein Eigenleben, das sich um jeden Preis selbsttätig vorarbeitete. Hatte ich Tüte gesagt? Es war keine Tüte, jetzt habe ich den richtigen Vergleich: Ein kleines Maul war es, das so aussah, als ob es sprechen könnte.
Und bei alledem - das ist nun das letzte, was ich noch dazu sagen möchte - blickte mich die Dame niemals direkt an. Immerhin befanden sich nur achtzig Zentimeter zwischen uns, und das kleine Maul sprach genau in meine Richtung, aber die Dame selbst, nein, kein Blick. Schaute hoch zum Himmel und tief in die Erde, schaute auch nach vorn und eine Handbreit an mir vorbei. Ich hätte winken können «hallo!», aber kein Lächeln.
Doch.
Nach Ablauf der zwei Stunden stand sie ziemlich abrupt auf und zog sich an. Und dann lächelte sie mir plötzlich ganz kurz zu, jawohl, es war ein Lächeln, das in dem unschönen Gesicht furchtbar aussah (ich habe mich gefürchtet), und sagte «dankeschön». Aber mehr so in die Gegend hinein, so allgemein, so daß man nicht wußte, meinte sie die gesamte Population. Im Jakobi-Bad. In München. Im Sommer.

Ich habe sie nie wiedergesehen. Wahrscheinlich hatte sie einen anderen Liebhaber in einem anderen Schwimmbad gefunden.