Afra
Ich bin am Ende meiner Geschichte angelangt, und es bleiben die letzten Tage im Dorf vor Richlint´s Tod, von denen ich noch erzählen muß. Doch es ist schwer, die richtigen Worte zu finden und allen Menschen nach so langer Zeit gerecht zu werden, und ich brauche meine ganze Kraft und meinen ganzen Willen, um mich an diese schwarzen Stunden zu erinnern.
Es fällt mir nicht leicht, vom Ende des unseligen Bruderkrieges zwischen dem König und seinem Sohn zu berichten, von der Versöhnung aller deutschen Stämme und dem vereinten Haß auf die Ungarn, und von der großen Schlacht gegen die heidnischen Reiterkrieger, die unser Volk gemeinsam geschlagen und gemeinsam gewonnen hat und die das Leben von uns allen von Grund auf veränderte.
Es fällt mir nicht leicht, vom eigennützigen Verhalten der Menschen in meinem Dorf zu erzählen, die nur an ihr irdisches Leben und an ihr Hab und Gut auf dieser Erde dachten und darüber meine Freundin, die eine von ihnen war, verleugneten und verrieten.
Es ist schwer, von den letzten Tagen und Stunden Richlint´s zu sprechen, von ihrer Angst um das Kind und den geliebten Mann, von ihrer Verzweiflung über den Ausgang des Kampfes und von der tiefen Enttäuschung über all die Menschen, die sie im Stich gelassen haben. Auch Justina und ich gehören dazu, denn wir haben unsere Freundin nicht in Sicherheit gebracht, als die Zeit dafür noch reichte, sondern die blutige Entscheidung der Schlacht auf dem Lechfeld abgewartet und damit ihr Leben verloren.
Am schwersten aber ist es für mich, von meiner eigenen Schuld an Richlint´s Tod zu sprechen, und doch muß ich um unser aller Frieden willen die Geschichte zu Ende erzählen, auch wenn die Tränen in meinen Augen mich blind machen und meine Stimme versagt.
Erst im Februar des Jahres 955 erfuhren wir in Pitengouua, daß der Schwabenherzog Liudolf bei einer Jagd im Saufeld die Vergebung seines Vaters König Otto erfleht hatte, im härenen Büßergewand und mit bloßen Füßen soll er die königliche Verzeihung erbeten haben, und auf dem Hoftag zu Arnstedt im Dezember 954 wurden die Herzöge Konrad von Lothringen und Liudolf von Schwaben wieder in die Huld des Königs aufgenommen und standen nun entschlossen auf dessen Seite. Doch die bairischen Adeligen wollten sich nicht damit abfinden, daß der sächsische Bruder des Königs, Herzog Heinrich, weiterhin ihr Herr sein sollte, und so kam es Anfang März zu der harten Auseinandersetzung bei Muldorf am Influß, bei der einige Männer aus unserem Gau ihr Leben lassen mußten und der bairische Aufstand vom Herzog endgültig niedergeschlagen wurde.
Trotz des Todes von Utz aus Haslach, dem blonden, freundlichen Bruder von Chuonrad, und einigen anderen Kriegern aus dem Ambragau während dieser Schlacht, und trotz der erneuten Herrschaft des verhaßten Herzogs Heinrich waren die Menschen in unserem Dorf froh und erleichtert, daß der Krieg vorüber war und wieder Einigkeit unter den Stämmen und Völkern herrschte. Recht und Ordnung waren wieder hergestellt, Otto von Sachsen war unser aller König und die ungarischen Reiterkrieger unser aller Feind, so wie schon seit vielen Jahren und solange ich denken konnte. Nach einem regenreichen Frühjahr und einem nassen Sommeranfang war das Einbringen der Ernte und der Vorräte für das Vieh unsere größte Sorge, und was sich außerhalb unseres Gaus unter den großen Herren ereignete, war für uns einfache Bauern nicht von Bedeutung, solange es nur keinen Krieg gab.
Als die Ungarn noch unsere Verbündeten waren, wurde Richlint von den meisten Menschen in Pitengouua mit zuvorkommender Freundlichkeit und einer gewissen Vorsicht behandelt, denn keiner wußte genau, ob wir nicht alle eines Tages auf ihre Hilfe und ihren Schutz angewiesen sein würden, weil sie einem Anführer der heidnischen Krieger so eng verbunden war. Besonders Liutbirc von Dornau, deren Mann Arbeo mit Arpad in diesem Sommer an der Lecha Freundschaft geschlossen hatte, war den ganzen Winter über ausgesprochen liebenswürdig zu Richlint, sehr entgegen ihrer früheren, ablehnenden Haltung, und meine Freundin wußte sich oft gar nicht all der Gefälligkeiten und süßen Worte und Einladungen nach Dornau zu erwehren. Doch auch die anderen Frauen und Männer ließen es nicht an Aufmerksamkeiten fehlen, so brachte Chuonrad von Haslach seiner geschiedenen Frau im Januar einen weißen Fuchspelz von der Jagd mit und die Knechte von Pitengouua richteten auf Anweisung des Meiers Leonhard die fast zerfallene Hütte von Folchaid wieder her.
Nur mein alter Vater Wezilo konnte Richlint nicht verzeihen, daß sie sich mit unserem heidnischen und blutdürstigen Erzfeind eingelassen hatte, und er sprach kein Wort mehr mit ihr und strafte sie mit Verachtung, seit ihr Verhältnis mit Arpad offensichtlich und kein Geheimnis mehr war.
Doch von dem Tag an, als der Bruderkrieg zu Ende war und wieder alle vereint gegen die Ungarn standen, veränderte sich die Stimmung im Dorf und im Gau, und Richlint wurde wie eine Aussätzige behandelt.
Niemand wollte zusammen mit ihr arbeiten oder in der Kirche neben ihr stehen, und böse Blicke und feindseliges Gerede folgten ihrer aufrechten Gestalt, wohin sie auch ging. Liutbirc und ihre alte Mutter Uoda übersahen meine Freundin jetzt vollkommen, genauso wie die Haslacher Familie, und nur Eilika, die gutmütige Frau von Wichard, schenkte Richlint hin und wieder ein Lächeln oder einen Gruß, wenn ihr Ehemann nicht dabei war. Die Mägde und Knechte taten es ihrer Herrschaft gleich, und so hatte Richlint nur noch Justina und mich und unsere kleine Kindsmagd Gisel, die all diese Vorgänge nicht richtig begreifen konnte und freundlich zu allen Dorfleuten war. Selbst Leonhard wollte nicht mehr, daß Richlint bei uns im Meierhof ein und ausging, obwohl der Hof wie ihr Zuhause war und ich und meine Kinder wie ihre Familie, und nur dank eines vom Altmeier Wezilo gesprochenen Machtwortes stand ihr die Tür bei uns weiter offen. Denn mein Vater handelte stets nach seiner tiefen christlichen Überzeugung, und deshalb nahm er Richlint wieder in sein Herz auf, als sie schutzlos und verfemt war, obwohl er sie vorher verachtet hatte, und er versuchte durch seine innigen Gebete, sie im Glauben zu stärken und ihr zu helfen.
Sobald die Schwangerschaft von Richlint nicht mehr zu verbergen und für alle neugierigen Augen sichtbar war, wurde das Gerede im Dorf gehässig und richtig böse, und meine Freundin mußte sich als schamlose Hure und Ungarnschlampe bezeichnen lassen, die es nicht wert sei, ihr tägliches Essen und ihre Unterkunft in einem ordentlichen und christlichen Dorf zu erhalten. Sogar vor mir als der Meiersfrau hielten sich die gemeinen Stimmen nicht zurück, und wenn ich mit den Mägden im Stall oder im Garten arbeitete, redeten sie über Richlint und ihr ungeborenes Kind, als wenn ich nicht da wäre.
„Solch ein Weib sollte man gleich im Gumpen ertränken, mitsamt dem heidnischen Balg in ihrem Leib! Sie bringt nur Unglück über Pitengouua, und wenn der Bischof in Augusburc oder der Herzog von ihrer Liebschaft mit einem feindlichen Ungarn erfahren, werden sie uns alle dafür verantwortlich machen und uns bitter bestrafen!“
Diese Worte einer Frau aus unserem Dorf wurden laut und deutlich gesprochen, denn sie waren für meine Ohren bestimmt, aber ich senkte nur den Kopf und tat so, als ob ich nichts gehört hätte.
Richlint war meine Freundin und Vertraute und ich würde sie nicht verleugnen, aber ihr eigensinniges Verhalten und ihre sorglosen Reden zu dieser Zeit konnte ich nicht verstehen, und Wut auf ihr unvernünftiges Gebaren und Angst um ihre und meine Zukunft beunruhigten mein Herz.
Denn Richlint gab sich nicht reumütig und bescheiden, und sie beugte nicht demütig ihr Haupt und flehte auf Knien in der Kirche Christus um Vergebung für ihre große Schuld, wie alle es von ihr erwarteten. Sie hielt an Arpad und ihrer Liebe zu ihm fest, auch wenn dieser Mann jetzt wieder ein Feind der Baiern war, und sie machte kein Geheimnis aus dieser Gesinnung und sprach offen von ihrem Wunsch, mit Arpad nach Ungarn zu reiten. Stolz und trotzig ging Richlint mit ihrem gewölbten Bauch am Bach entlang und trug dabei die kostbaren Lederstiefel, die ihr ungarischer Geliebter ihr vor seinem Abschied geschenkt hatte, und dazu ein einfaches Kleid aus Schafwolle, das durch seine Weite ihre Schwangerschaft hervorhob und so kurz geschnitten war, daß es nicht einmal ihre nackten Knie bedeckte. Dafür konnten alle Dorfleute die auffallenden Stiefel besser sehen, deren Schaft aus weichem und hellem Ziegenleder mit einem Fußoberteil und einer Sohle aus festerem Rindsleder verstärkt war und die bis in die Kniesenkel hinaufreichten. Stiefel aus solch feinem Leder und in dieser Machart waren bei uns gänzlich unbekannt, und niemals habe ich einen bairischen Mann und schon gar nicht eine Frau mit ähnlich wertvollem Schuhwerk gesehen.
Als im Juli durch Boten des Grafen die Nachricht kam, daß ungarische Horden über die bairische Grenze ins Land eindrangen und sich zu einem großen Heer zusammen fanden, und daß auch der König seine Leute versammelte, um die Feinde zu schlagen, da schnitt Richlint zu meinem Entsetzen ihre hüftlangen, goldbraunen Haare ab und trug die Locken, von einem gewebten Band gebändigt, nur noch bis zum Kinn. „Erst wenn die große Schlacht geschlagen ist und Arpad als Sieger nach Pitengouua kommt, um mich zu holen, erst dann werde ich meine Haare wieder wachsen lassen und nach Art der verheirateten Frauen tragen!“
Richlint´s Kind sollte im Monat August geboren werden, mitten in der Erntezeit, und Justina und ich bedrängten sie schon Wochen vorher, hinaus ins Weinland zum alten Gutshof zu ziehen, um dort ihr Kind fernab vom Dorf und von den feindseligen Menschen in Ruhe und Sicherheit zu gebären. Doch Richlint weigerte sich entschlossen, Pitengouua zu verlassen und in der Einöde zu leben, denn sie wartete auf Nachrichten von Arpad und auf das Ende des Krieges, und nur im Dorf würde sie von allen wichtigen Vorgängen erfahren. Kein Flehen und keine Sorge von uns konnte sie umstimmen, und so richtete sich Justina mit ihren Kräutern und Salben und dem großen, weißen Hund in der alten Hütte beim Hollerbusch ein, um auf die Geburt des Kindes zu warten und Richlint zur Seite zu stehen.
Erneut zogen die Männer aus unserem Gau zu den Truppen des Königs und des Herzogs Heinrich, um ihre Heimat diesmal vereint gegen die Ungarn zu verteidigen, und Arbeo von Dornau schloß sich mit seinen Leuten dem Königssohn Liudolf an, der als ihr Herzog die Schwaben anführte. Wieder blieben nur die Alten und Kranken, die Frauen und Kinder, die Dorfmeier und wenige Knechte zur Erntearbeit in den Weilern und Höfen zurück, und wieder waren unsere Tage angefüllt mit schwerer Arbeit und bangem Warten auf den Ausgang des Krieges.
Im Juli war es für die Jahreszeit zu kalt und feucht gewesen, doch Anfang August änderte sich das Wetter und es wurde drückend heiß und sehr schwül. Zahlreiche schwere Unwetter zogen an den Abenden über den Himmel und erschütterten mit ihren lauten Donnerschlägen und den hell leuchtenden Blitzen die Menschen, und wir alle drängten uns bei so einem Gewitter in der Stube des Meierhofes zusammen, zündeten geweihte Wetterkerzen an, brannten kostbaren Weihrauch in Haus und Stall und baten Gott und alle Heiligen um ihren Beistand und Schutz. Die Angst und Ehrfurcht vor dem Donnergott und den anderen alten Göttern war in uns allen noch lebendig, und nachdem drei Kühe auf der Weide vom Blitz getroffen verendeten und ein Hagelschauer mit eisigen Körnern über den Dächern von Pitengouua niederging, fürchteten sich die Leute vor den göttlichen Zeichen und erwarteten den Untergang unserer christlichen Welt. Denn ein herumziehender Bettler hatte uns berichtet, daß die ungarischen Krieger die Lecha hinunter gegen Augusburc ritten, eine so große Zahl von Männern und Pferden, wie sie noch keine Menschenseele jemals gesehen hatte, und sie seien blutdürstig und wild wie tolle Hunde und schreckten vor keiner Kirche und keinem Kloster auf ihrem Weg zurück. So hatten die Ungarn die unschuldigen Mönche in Wezzinbrunnen überfallen und auf grausame und niederträchtige Art mitsamt ihrem Abt Thiento erschlagen, und nun wollten sie die Stadt von Bischof Udalrich erobern und sich dem König auf dem Lechfeld zum Kampf stellen, denn sie waren Otto und seinen Männern an ihrer Zahl um ein Vielfaches überlegen und sich deshalb ihres Sieges gewiß.
Eine seltsame Stimmung herrschte in diesen Tagen im Dorf. Wir lebten wie abgeschnitten von der übrigen Welt hinter unseren Schutzzäunen und Dornenhecken, und keine Nachricht über den Stand des Krieges und den Verbleib der Männer aus unserem Gau erreichte uns außer den wenigen Worten des zerlumpten Bettlers, der nur auf Treu und Glauben weitererzählte, was ihm andere berichtet hatten. Keiner von uns getraute sich mehr, Pitengouua zu verlassen und nach Bobinga oder Dornau zu reiten, um nicht herumstreifenden feindlichen Horden in die Hände zu fallen, und Eilika mit ihren Kindern und der alten Uoda zog vom Meierberg herunter ins Dorf, um mit uns zu warten und zu beten. Auch Liutbirc war gekommen, denn sie fürchtete sich allein mit den Mägden auf dem Dornauer Gutshof, nachdem Arbeo und Aistulf mit ihren Knechten zu den Truppen des Königs gezogen waren und sie lange nichts mehr von ihnen gehört hatte. Alle diese Menschen drängelten sich im Meierhof und in der Schmiede voller Sorge zusammen, und die Gebete meines frommen, alten Vaters tönten von Sonnenaufgang bis zur späten Nacht im Haus und beruhigten mich nicht. In der kleinen Holzkirche knieten der Priester und die Frauen und baten Gott und alle Heiligen um ihren Beistand, und dabei zündeten sie so viele Kerzen an, daß die Luft noch heißer und stickiger wurde und ich kaum noch atmen konnte. Ungewißheit und nagende Angst bestimmten diese heißen Tage in Pitengouua, und ich ließ meine Kinder Ella und Agilolf keinen Augenblick mehr allein und überlegte verzweifelt, wie ich sie beschützen könnte.
Auch Richlint wartete mit uns, sie wartete auf die Geburt ihres Kindes und auf eine Nachricht von ihrem Geliebten, und wenn sie hinten in der Kirche stand und betete, dann wußte keiner unter uns, wem ihre Fürbitten und Gebete galten, dem König oder dem Feind. Doch niemand verwehrte ihr den Zugang zur Kirche oder zum Meierhof, und die böse Hetze gegen meine Freundin war verstummt und betretenem Schweigen gewichen. Keiner schaute ihr in die Augen oder richtete das Wort an Richlint, außer Justina und mir, und Liutbirc und Uoda gingen ihr mit gesenkten Augen aus dem Weg und vermieden es, im gleichen Raum mit meiner Freundin zu sein.
Am Abend des zehnten Augusts kam endlich Arbeo von Dornau erschöpft und todmüde nach Pitengouua, und wir versammelten uns im Hof vor dem Meieranwesen, weil die Stube viel zu klein für so viele Menschen war und alle den Bericht von Arbeo hören wollten. Leonhard hatte Pechfackeln in die Erde gesteckt, um die Dunkelheit der anbrechenden Nacht zu vertreiben, und im flackernden Licht saßen und standen Männer und Frauen, Knechte und Mägde und die Kinder des Dorfes dicht gedrängt um Arbeo und lauschten angespannt den Worten des Dornauers.
„Noch ist nichts entschieden!“ begann der Gutsherr seine Erzählung, und ein schmerzvolles Aufstöhnen erklang daraufhin unter den Wartenden. Dann prasselten die Fragen so wild durcheinander auf Arbeo ein, daß der Meier fast mit Gewalt für Ruhe sorgen mußte, bevor der müde Arbeo fortfahren konnte. „Ich erzähle euch alles, was ich weiß und mit eigenen Augen gesehen habe, Leute von Pitengouua, aber ihr müßt still sein und ruhig zuhören, weil meiner Stimme die Kraft fehlt nach diesen schrecklichen Tagen, und weil ich so müde und zerschlagen bin wie noch nie in meinem Leben!“
Mit Agilolf auf dem Schoß und Ella dicht an meiner Seite saß ich inmitten all der besorgten Menschen, und es herrschte eine atemlose Stille, als der Dornauer zu erzählen begann.
„Die Ungarn kamen vor wenigen Wochen in so großer Zahl nach Baiern, wie keiner es für möglich gehalten und je vorher gesehen hatte. Sie verwüsteten das Land von der Donua bis zum Schwarzen Wald beim Gebirge, brannten Dörfer und Kirchen und Klöster, und dann setzten sie über die Lecha und drangen in Schwaben ein. Bei der Stadt Augusburc sammelten sie ihre Truppen und steckten die Kirche der heiligen Afra in Brand, die vor den Toren der Stadt liegt, und wir Krieger standen mit dem Bischof hinter den niedrigen Mauern von Augusburc und sahen gelbe und rote Flammen wie feurige Zungen aus dem Haus der Heiligen lodern und hörten das schaurige Gebrüll der plündernden Barbaren. Die Leute des Bischofs und wir anderen Männer, die unter seinem Bruder Graf Dietpald kämpften, wollten hinaus aufs freie Feld und den Heiden entgegentreten, doch Udalrich erlaubte uns nicht, die Stadt zu verlassen, sondern befahl, die Wälle und Mauern zu verstärken und das Tor, welches zum Wasser führt, fest zu verrammeln. Dort beim Osttor begannen die Ungarn auch ihre Belagerung, genau vor zwei Tagen, und sie bestürmten uns derart, daß ich schon glaubte, sie in den nächsten Stunden in die Stadt eindringen zu sehen. Doch der Bischof gab uns Kraft und Mut durch sein Beispiel, hoch zu Roß war er immer unter den Kämpfenden und blieb wie durch ein Wunder unverletzt und unbeschadet von all den spitzen Pfeilen und schweren Steinen, die ihn umschwirrten. Und so hielten wir dem Ansturm stand, bis einer der heidnischen Anführer getötet war und seine Leute sich verwirrt und verängstigt mit dem Leichnam in ihr Lager zurückzogen.“
Arbeo hielt für einen Augenblick inne und schaute Richlint an, die mit bleichem Gesicht und verkrampften Händen aus der Dunkelheit des Hofes ins Licht der Fackeln getreten war. „Es war nicht Arpad,“ sagte er leise in ihre Richtung, und Richlint trat ohne ein weiteres Wort wieder in den sie vor den Blicken der Dorfleute schützenden Schatten zurück.
„In der folgenden Nacht tat kein Mensch in Augusburc ein Auge zu, denn der Bischof befahl uns, die Wälle wieder auszubessern und neue Wehrhäuser zu errichten, und er selbst betete auf seinen Knien die ganze Nacht über und gönnte sich nur im Morgengrauen eine Stunde Schlaf. Dann feierte er mit uns allen die heilige Messe und bestärkte uns im Glauben an Gott, der auch im finsteren Tal an unserer Seite war, und mit neuem Mut und Vertrauen stellten wir uns den angreifenden Feinden und kämpften wie Löwen. Die Ungarn aber hatten sich mit Sturmgerät und Leitern ausgerüstet, um die Mauern von Augusburc zu bezwingen, und ihre Anführer trieben die Krieger mit Geißelhieben zum Kampf, über die Leichen der gefallenen Freunde und Brüder hinweg, und das folgende Blutbad war entsetzlich. Auch bei uns gab es Tote und Verletzte, viele tapfere Männer sah ich sterben, und das Wehklagen der trauernden Frauen klang von einem Tor der Stadt zum anderen.“
„Aber Gott steht auf der Seite der Gerechten,“ ertönte die rauhe Stimme von Wezilo, „und wer an ihn glaubt, dem wird geholfen! Ihr seht doch, daß der Bischof unbeschadet geblieben ist, und dank unserer Gebete und Fürbitten wird der Ungarnsturm endlich auch an uns vorüberziehen.“
Arbeo schwieg. Betroffen hatte ich seinen Worten zugehört, und Angst um unser aller Leben und unermeßlicher Haß und heiße Wut auf die Feinde erfüllten mein Herz, und der tiefe Glaube meines alten Vaters konnte mich nicht beruhigen. Richlint und ihre Sorge um den Geliebten aber berührten mich nicht mehr, denn Arpad war ein heidnischer Ungar, wenn er sich auch Christ nannte, und er kämpfte gegen mein Volk und gegen mein Land, gegen mich und meine beiden unschuldigen Kinder, und ich würde ihm niemals verzeihen können, was seine Reiterkrieger in Baiern und Schwaben angerichtet hatten.
Doch als der Dornauer mit seinem Bericht fortfuhr, keimte eine vorsichtige Hoffnung auf den Sieg und auf Frieden bei den Menschen von Pitengouua auf, und sie lauschten aufmerksam und ohne ihn zu unterbrechen.
„Plötzlich erscholl ein lautes Hornsignal, und die Ungarn ließen auf einmal von Augusburc ab und zogen sich in ihr Lager östlich der Lecha zurück. Der Verräter Berthold, ein Sohn des Pfalzgrafen, hatte dem Heerführer der Reiterkrieger die Nachricht gebracht, daß unser König mit seinem Heer auf dem Weg nach Augusburc war, um den Feind in einer großen und entscheidenden Schlacht zu stellen, und die Heiden versammelten sich zu ihrer ganzen Stärke, um uns endgültig zu schlagen. In der folgenden Nacht schickte Bischof Udalrich seinen Bruder Dietpald und seinen Schwestersohn Reginpald mit ausgesuchten Männern zum König, damit sie seine Mannschaft verstärkten und ihm zum Sieg verhalfen, und auf Weisung des Bischofs ging ich mit ihnen aus der Stadt hinaus und erstattete in allen Dörfern und Weilern die Lecha entlang einen Bericht über die Lage, und so bin ich bis nach Pitengouua gekommen und werde morgen früh wieder aufbrechen. Denn die Schlacht wird heute am Tag des heiligen Laurentius geschlagen, auf dem Gunzenle, dem Thingplatz der Ahnen und der Richtstätte des Königs, und ich weiß nicht, wie unsere Sache steht. Denn sie waren in der Übermacht, diese unseligen Reiterkrieger, und nur mit der Hilfe Gottes und des Heiligen kann unser Heer den Kampf gewinnen!“
Die ganze lange Nacht über und den darauffolgenden Tag verharrten die Menschen wartend und bangend auf unserem Hofplatz. Die einen suchten ihre Zuflucht im stillen Gebet und faßten einander dabei angstvoll bei den Händen, und die anderen beredeten wieder und wieder den Ansturm der Ungarn auf Augusburc und die tapferen Krieger des Bischofs, und wenn auch in ihren Augen Furcht und Verzweiflung stand, so gaben sie sich doch siegessicher und lobten die Truppen unseres Königs mit glühenden Worten.
Kein Mann und keine Frau aus unserem Dorf fand in dieser langen Nacht Schlaf und Ruhe, und nur die Kinder rollten sich irgendwann auf einer wollenen Decke zusammen und schliefen vor lauter Erschöpfung und Angst ein. Ich blieb wach und kauerte neben Ella und Agilolf auf der Erde, und ich betete mit meinem Vater und den Frauen und hörte den aufgeregten Gesprächen der Männer zu. Erst im Morgengrauen stand ich widerwillig auf und ging in den Stall, um das Vieh zu füttern und zu melken, und Richlint, die abseits von mir und den Kindern am Rande des Platzes gewacht hatte, folgte mir ohne ein Wort.
Schweigend hoben wir mit den schweren Holzgabeln das dreckige Stroh auf die Karren, schweigend hockten wir eng nebeneinander im düsteren Stall auf den dreibeinigen Schemeln und molken die Kühe und Ziegen, und selbst als wir im hellen Licht des Tages im Obstgarten die Eier der Hühner einsammelten und die Schafe in ihrem Pferch fütterten, fiel kein einziges Wort zwischen uns. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Richlint blaß und müde war, ihre goldbraunen Augen waren von dunklen Schatten umgeben und lagen tief in ihrem Gesicht, und ihre Lippen waren weiß und dünn wie ein schmaler Strich. Immer wieder faßte sie mit einer Hand an ihren Rücken, so als ob sie Schmerzen hätte und nicht länger stehen könnte, und doch arbeitete sie beharrlich und ohne einen Laut an meiner Seite, bis wir alle Tiere versorgt hatten und die warme Milch in Trögen gesammelt war.
An der Furt bei der Schmiede stieg ich mit hochgeschürztem Rock zwischen den Büschen und Sträuchern am Bachrand ins Wasser und wusch den braunen Mist in meinen Zehen aus, und Richlint stand neben mir, in ihrem kurzen, weiten Kleid, und ließ das kühle Wasser der Pitenach über ihre nackten Füße laufen. Ich spürte die groben Kiesel unter meiner Sohle und sah die hellen Strahlen der Sonne auf den großen Steinen im Wasser glänzen, und über mir rauschte ein leichter Wind in den Blättern der Bäume und vertrieb die schwüle Luft der vergangenen heißen Tage. Kein Mensch war zu sehen außer Richlint und mir, und als ich so neben meiner Freundin im klaren und reinen Wasser des Baches stand, wurde mir bewußt, wie sehr ich sie liebte und brauchte, und salzige Tränen liefen im Innern meiner Kehle hinunter, weil ich mich so sehr davor fürchtete, sie zu verlieren.
Und doch gab es nichts zwischen uns zu sagen, was nicht schon gesagt worden war, und keine noch so schönen Worte konnten unser Schicksal aufhalten oder verändern. Wir schauten uns an und schlossen uns schweigend in die Arme, und wenn ich heute meine Augen schließe und an diesen Moment denke, dann rieche ich immer noch den süßen Duft von Richlint´s Haut, und ich spüre ihre kurzen Haare meinen Hals kitzeln und den sanften Druck ihrer Hände und Arme auf meinen Schultern. Für den Rest meines Lebens und in alle Ewigkeit wollte ich geradeso stehenbleiben, die bloßen Füße von kühlem Wasser umspült, das Licht der Sonne in den Augen und die Arme der Freundin um meine Hüften, und ich wünschte mir, daß die Zeit für uns beide nicht gelten und es niemals wieder Nacht werden sollte.
Doch vom Hofplatz riefen meine beiden Kinder mit lauten Stimmen nach mir, und die kleine Gisel kam mit wehenden Röcken angelaufen, um mich wieder zu den anderen Dorfleuten zu holen. „Chuonrad kommt! Der Haslachbauer kommt zurück!“ rief sie Richlint und mir entgegen, und wir rannten an der Schmiede vorbei zum Hofplatz, so schnell wir nur konnten. Gerade als wir atemlos vor dem Meierhof ankamen, wurden die Tore für Chuonrad geöffnet, und auf seinem schaumbedecktem Pferd galoppierte der Haslacher mitten unter die wartenden Leute. „Sieg! Sieg!“ schrie er mit hochgereckter Faust und sprang mit beiden Beinen von dem schnaubenden Roß auf die Erde, „der König hat den Kampf gewonnen! Das ungarische Heer ist zerstört und aufgerieben, und die blutdürstigen Heiden fliehen in Scharen über die Lecha nach Osten!“
Unbeschreiblicher Jubel brach unter den Pitengouuern aus, sie schrien und kreischten und weinten vor Glück, und voller Erleichterung fielen sich die Menschen in die Arme und drehten und tanzten wie Tollwütige über den Platz. Unser Priester und mein Vater Wezilo aber sanken in die Knie und dankten Gott mit hocherhobenen Armen und lauter Stimme für seine Gnade, und einer nach dem anderen hörte auf zu jubeln und kniete nieder, Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge, und gemeinsam schickten wir unser Dankgebet hinauf in den Himmel.
Nur Richlint war am Rande des Hofplatzes stehengeblieben, mit versteinertem Gesicht und ineinander verkrampften Händen starrte sie Chuonrad an und wartete auf erklärende Worte, und als der Haslachbauer seine ehemalige Frau erkannte, hochschwanger von einem anderen Mann, von einem heidnischen Feind, da verzog er verächtlich seine Lippen und spuckte auf den Boden. „Der König befiehlt, daß alle Furten und alle Brücken über die Lecha Tag und Nacht bewacht werden, und jeder Krieger aus dem feindlichen Heer, der bis dahin den Schwertern entkommen ist, soll von den Bauern und Dorfleuten erschlagen und verbrannt werden, auf daß kein Ungar nach dieser grausamen Schlacht die gelben Steppen seiner Heimat jemals wiedersieht! Wer aber einem Heiden zur Flucht verhilft oder ihn versteckt, der soll von seinen Nachbarn und Verwandten mit Stricken gebunden in der Lecha ersäuft werden, wie es einem gemeinen Verräter gebührt!“
Ein unmenschlicher Laut des Schreckens drang aus Richlint´s Kehle, und mit beiden Händen umfaßte sie schützend ihren gewölbten Leib, strauchelte und fiel fast zu Boden. Justina und ich eilten an ihre Seite und versuchten, sie aufzurichten und zu ihrer Hütte zu bringen, denn heftige Krämpfe schüttelten meine Freundin, und Justina war sich sicher, daß die Wehen mit voller Macht eingesetzt hatten und die Geburt unmittelbar bevorstand.
„Das Kind kommt,“ sagte sie mit ihrer ruhigen und sicheren Stimme, „ich weiß, daß du schon seit gestern morgen Wehen hast, Richlint, und du hast uns nichts gesagt, damit du auf dem Hofplatz bleiben und alles über den Krieg erfahren kannst. Aber nun ist nichts mehr wichtig außer diesem Kind, das mit all seiner Kraft auf die Welt drängt, und Afra und ich werden dich zu deiner Bettstatt bringen und dir beistehen!“
Keine der anderen Frauen machte Anstalten, uns zur alten Hütte von Folchaid zu begleiten und während der anstehenden Geburt zu helfen, wie es der Brauch war, sie verbargen ihre Augen vor uns auf dem Weg den Bach entlang und schauten uns nur heimlich mit ablehnenden oder schadenfrohen Gesichtern hinterher. Einzig die kleine Gisel blieb treu an der Seite von Richlint, Justina und mir und kümmerte sich nicht um die bösen Blicke, die uns folgten, und als wir Richlint endlich mühsam auf das Strohlager gebettet und ihr die Stiefel ausgezogen hatten, holte Gisel frisches Wasser und reine Tücher und setzte sich dann auf die Bank, um mit uns auf das Kind zu warten.
Endlos lange Stunden in der kleinen, rauchigen Stube vergingen, und die Wehen waren stark und durchliefen Richlint´s Körper immer schneller hintereinander, doch meine Freundin widersetzte sich voller Unruhe über das Schicksal ihres Geliebten dem drängenden Kind in ihrem Leib und verzögerte dadurch die Geburt. All ihre Gedanken galten dem Ungarn Arpad und seiner Flucht, und sie wälzte sich stöhnend vor Schmerzen auf dem durchgeschwitzten Lager und wollte immer wieder hinaus ins Dorf, um von Chuonrad Einzelheiten über die Schlacht zu erfahren und die Männer des Dorfes zu bitten, Arpad und ihr selbst zu helfen.
„Sie haben mit ihm getrunken und gefeiert und gelacht, sie haben sich so gut mit ihm verstanden, Arbeo, Chuonrad und Leonhard, das können sie doch nicht vergessen und ihn jetzt wie einen Feind behandeln und verfolgen!“
Verzweifelt preßte Richlint in der kurzen Atempause zwischen zwei Wehen meine Hand. „Bitte geh´, Afra, bitte geh´ für mich zu den Männern und flehe sie in meinem Namen und bei der Liebe Gottes an, Arpad zu verschonen!“
Ich wollte nicht aus der dämmrigen Hütte hinausgehen und Richlint mit Schmerzen auf ihrem Lager liegen lassen, ich wollte nicht mit den anderen das glückliche Ende dieses Krieges feiern, ich wollte nicht in den Mienen von Uoda und Liutbirc den unverhohlenen Haß auf meine Freundin sehen und die Genugtuung über den Sieg der christlichen Welt in den Reden von Chuonrad und unserem Priester hören, und vor allen Dingen wollte ich nicht den mahnenden Blick meines Mannes spüren, der mich an meine eigenen Kinder und an die Verantwortung für sie erinnerte. Doch auch Justina bat mich, Richlint´s Wunsch zu erfüllen, damit meine Freundin sich beruhigte und das Kind endlich geboren würde, und so verließ ich nach einigem Zögern die stickige Hütte von Folchaid und ging langsam am Bach entlang zum Meierhof.
Im Hof steckten noch die herunter gebrannten Pechfackeln der vergangenen Nacht in der Erde, doch die Mägde und Knechte waren jetzt am frühen Abend an ihre Stallarbeit zurückgekehrt und der Platz vor unserem Haus war menschenleer. Ich stieg die Stufen zum Schopf hinauf und sah in meiner Stube Uoda, Liutbirc, Eilika und meinen alten Vater sitzen, und Ella und Agilolf spielten mit den Burgkindern und ihren Strohpuppen in der Herdecke. Doch ich sah keinen der erwachsenen Männer, weder Chuonrad noch Leonhard, noch den Schmied Reimbold oder unseren Hausknecht Lutold, und eine dunkle Ahnung schlich sich wie brennendes Gift in mein Herz und machte mir Angst.
„Wo sind die Männer?“ fragte ich mit dünner Stimme, und alle Augen wandten sich zu mir.
„Da bist du endlich, Afra,“ sagte Eilika und lächelte mich freundlich an, und Wezilo schaute unter seinen schweren Lidern forschend in mein müdes Gesicht und fragte nach Richlint und ihrem Kind. Kaum hatte ich begonnen, von der schweren Geburt und Richlint´s Angst um Arpad zu erzählen, da unterbrach mich Liutbirc mit Worten voll Häme und Triumph.
„Sie braucht sich bald keine Sorgen mehr um ihren Geliebten zu machen, die Ungarnschlampe, denn unsere Männer sind bereits im ganzen Gau unterwegs, um die Anordnungen des Königs zu erfüllen und jedem Feind, dem sie begegnen, das Schwert in die Brust zu stoßen! Unser Heer hat die Schlacht gewonnen, und es ist Richlint´s eigene Schuld, daß sie sich mit einem der feindlichen Heiden eingelassen hat und jetzt vogelfrei und ohne jeden Schutz ist! Aber was kann man von der Tochter einer unfreien Magd wie Folchaid anderes erwarten, als daß sie wie eine Hure zum nächstbesten Mann aufs Lager kriecht, auch wenn er ein Feind ihres Volkes und ein Heide obendrein ist. Die bittere Strafe des Herzogs und seiner Männer wird auch deine Richlint zu spüren bekommen, Afra, und es wäre wirklich besser für uns alle, wenn sie das Dorf für immer verlassen und ihr Name nie wieder erwähnt würde, noch bevor wir sie mitsamt ihrem Bankert im Gumpen ertränken müssen!“
Mit beiden Fäusten wollte ich auf Liutbirc losgehen, um sie hart auf den Mund zu schlagen und ihre bitterbösen Worte im Rachen zu ersticken, doch mein Vater hielt mich zurück. „Sie hat recht, Afra, du mußt es endlich einsehen, Liutbirc spricht nur aus, was alle Menschen im Dorf und im Gau befürchten! Wenn der Herzog von Richlint und ihrem Verhältnis mit einem feindlichen Anführer erfährt, dann wird er uns alle hier in Pitengouua dafür bestrafen, daß wir den Ungarn nicht gleich erschlagen und die Frau gezüchtigt haben, wie unser bairisches Gesetz es befiehlt. Richlint ist eine Frau unseres Dorfes, und wir alle, besonders dein Mann als Meier und Wichard als Burgvogt, sind für ihr Handeln verantwortlich und werden zur Rechenschaft gezogen!“
Immer noch verständnislos starrte ich Wezilo an. Mein Vater seufzte und nahm meine beiden Hände fest zwischen seine rauhen Finger.
„Richlint´s Trotz und Eigensinn und ihre Liebe zu dem ungarischen Mann werden es nicht zulassen, daß wir diese Liebschaft vor dem Grafen oder den Männern des Herzogs verheimlichen und verleugnen können, sie wird von Arpad sprechen und wieder und wieder nach ihm suchen! Afra, du warst nicht hier, als Chuonrad von der Lechfeldschlacht berichtet hat, und du hast noch nicht wirklich erkannt, was diese heidnischen Reiterkrieger uns angetan haben! Heimtückisch haben sie von hinten das Heer des Königs angegriffen, Proviant und Waffen geraubt, hunderte von unseren tapferen Kriegern erschlagen und Gefangene in ihr Lager gebracht, um sie zu Sklaven zu machen. Erst als Herzog Konrad von Lothringen mit seinen Leuten vom König geschickt wurde und ohne Zögern den blutigen Kampf mit den grausamen Barbaren aufnahm, wendete sich das Kriegsglück und die Heiden flohen zu ihrem Lager jenseits der Lecha zurück. Es waren so viele Krieger, so eine Übermacht von Feinden, daß die Augusburcer auf ihren Wehrtürmen zuerst meinten, ein neuer Sturmangriff stünde bevor und die Stadt wäre endgültig verloren! Die hinterlistige Absicht der ungarischen Anführer war, den Bruderkrieg in unserem Land auszunutzen und mit Tausenden von Kriegern unseren König unwiderruflich zu besiegen, und sie wollten uns alle vernichten und töten, Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppen und unsere Städte und Dörfer und Kirchen niederbrennen. Doch der allmächtige Gott hat nicht zugelassen, daß die Heiden diese Schlacht gewinnen, und als unser König die heilige Lanze ergriff, Gott und alle Heiligen um Beistand anflehte und mutig an vorderster Stelle in den Kampf ritt, als tapferster Ritter ein Vorbild für alle Streiter, da legte Gott seine schützende Hand über den König und sein Heer und verhalf ihnen zum gerechten Sieg. Doch viele starke und furchtlose Männer mußten ihr Leben auf dem mit rotem Blut besudeltem Schlachtfeld lassen, unser Bischof verlor seinen Bruder und den Sohn seiner Schwester schon zu Beginn des Kampfes, und Arbeo klagt um seinen Bruder Aistulf, der doch noch so jung war und in der Blüte seiner Jahre stand! Und von einem Pfeil aus dem Hinterhalt getroffen wurde der Tapferste von allen, der rote Herzog Konrad, als er den Helm lockerte und sich den Schweiß von der Stirn wischte, starb er einen grausamen Tod und wurde von allen bitterlich beweint.“
Wezilo holte tief Luft. „Hast du vergessen, was die Barbaren deiner unschuldigen Mutter und den Frauen und Kindern aus Pitengouua angetan haben? Hast du vergessen, wie wir sie in ihrem Blut liegend fanden, getötet und geschändet auf unserem Grund und Boden, in unserem Land? Nein, Afra, Arpad muß jetzt sterben, wenn er nicht schon auf dem Schlachtfeld gefallen ist, er muß erschlagen werden, so wie alle diese blutdürstigen Heiden erschlagen werden müssen, damit sie niemals ihre Heimat wiedersehen und ihr Volk niemals wieder zu Beutezügen aufbrechen und Trauer und Tod in unser Land bringen kann. Als Sühne für mein Weib Rautgund und all die anderen bairischen Frauen und Männer soll Arpad getötet werden, und Richlint mit ihrem Kind muß das Dorf in Schande für immer verlassen, wenn sie sich nicht von ihrem Geliebten lossagt und auf Knien in der Kirche vor allen Pitengouuern ihr Verhältnis mit dem Feind bitter bereut und sühnt!“
Während der langen und heftigen Rede meines Vaters hatten die Kinder aufgehört zu spielen und mit großen Augen gebannt dem Altmeier zugehört, und unter den Frauen in der Meierstube fiel kein einziges Wort mehr. Sogar die fette Liutbirc mit ihrem gemeinen Mundwerk war nun still, sie hockte zufrieden über Wezilo´s strenge Worte auf meiner Herdbank und schaute mich nur hin und wieder voller Schadenfreude an.
So warteten wir schweigend auf die Rückkehr der Männer, Wezilo, Eilika, Uoda, Liutbirc und ich, und in meinem Kopf und in meinem Herzen wirbelten die Gedanken und die Gefühle wie trockene Blätter im Herbstwind durcheinander und machten mich so schwindelig, daß ich mit beiden Händen die Lehne des Hockers umklammerte und mich daran festhielt. Da war meine Freundin Richlint mit ihrem ungeborenen Kind und der Liebe zu einem Fremden, der mein Feind war, und da waren meine beiden Kinder und mein Mann und meine Familie und mein Dorf und meine Heimat, und ich fühlte mich hilflos und zerrissen zwischen diesen Menschen und wußte nicht mehr, ob ich Richlint weiter beschützen und an ihrer Seite bleiben konnte. Denn ich spürte den Haß auf die Ungarn wie Feuer in meinen Eingeweiden brennen, und ich wollte auch um Richlint´s willen meinen Mann nicht mehr daran hindern, unseren Feind Arpad zu töten, auch wenn er der Geliebte meiner Freundin war.
Es war schon spät in der Nacht, als die Männer zurückkehrten, und die Kinder schliefen längst eng aneinander geschmiegt auf der Bettstatt hinter der Feuerstelle. Ich hatte meinen Platz auf dem kleinen Schemel nicht verlassen und mich um Richlint gekümmert, sondern die ganzen langen Stunden mit meinem Vater und den Frauen auf Leonhard und Chuonrad gewartet, und als sie nun endlich in der Tür standen, fürchtete ich mich davor, in ihre Augen zu schauen und zu erfahren, was geschehen war.
„Nun ist er tot, der niederträchtige Heide, und er treibt mit den Fischen in den wilden Fluten der Lecha, so wie der gerechte Gott und unser König es wollten!“ rief Chuonrad mit lauter Stimme, kaum daß er in die Stube getreten war, „wie wir alle schon geahnt haben, hat er sich bis nach Pitengouua durchgeschlagen, um hier seine schwangere Hure zu holen und von uns Hilfe bei der Flucht zu erhalten. Unten am Fuße des Schneckenbichls, nahe der Lechafurt, da haben wir ihn getroffen, Bogen und Pfeil hielt er schußbereit in den Händen, und das blutbefleckte Schwert eines fränkischen Kriegers, den er wohl getötet und schändlich beraubt hat, hing an seinem Gürtel. Ohne einen Laut schlich er wie ein spitzohriger Luchs durch unseren Wald, und wir hätten ihn wohl schwerlich bemerkt, wenn er sich nicht selbst zu erkennen gegeben hätte. Doch der Ungar ließ seine Waffen sinken und kam voll Freude auf Leonhard und mich zu, als er unsere Stimmen im Dickicht hörte, und er tat wie ein Freund und hieß uns Brüder und Verbündete und reichte beide Hände zum Gruß. Da haben wir mit den Streitäxten zugeschlagen, Leonhard und ich, mit aller Kraft, und dem Feind den Schädel gespalten, so daß sein graues Hirn auf den Waldboden sickerte und er noch im selben Augenblick seinen letzten Atem aushauchte!“
Bei den frohlockenden Worten von Chuonrad sprang ich voller Abscheu über diesen heimtückischen Mord auf und stellte mich anklagend vor meinen Mann, doch er schob mich einfach zur Seite und redete mit Wezilo. „Reimbold und Lutold haben den leblosen Körper dann zur Furt hinunter geschleift und in die Lecha geworfen, wo in diesen Tagen viele tote Leiber bis zur Donua und mit ihr weiter nach Osten treiben, und so erreicht manch einer dieser ruchlosen Barbaren als aufgedunsener Leichnam sein Heimatland und warnt das Heidenvolk davor, noch einmal gegen König Otto nach Baiern oder Schwaben zu ziehen!“
Mein Vater nickte zustimmend und schlug Leonhard anerkennend auf die Schulter. „Das war richtig und gut, was du und Chuonrad für unser Dorf getan habt, mein Sohn, und auch meine Tochter Afra wird es euch angesichts ihrer unschuldigen Kinder eines Tages danken! Solange Ella und der kleine Agilolf leben, werden es die grausamen Reiterkrieger nicht wagen, noch einmal nach Pitengouua zu reiten, und wir alle können ohne Angst und in Frieden hier im Dorf beisammen sein und unsere Felder bestellen. Laßt uns Gott danken für seine Gnade!“
Wie versteinert stand ich mitten in der Stube und dachte über Wezilo´s Worte nach, und obwohl ich den hinterlistigen Totschlag an der Lechafurt verabscheute und mit Bangen Richlint und ihren Schmerz über den Tod des Geliebten vor mir sah, spürte ich doch Erleichterung und eine tiefe Genugtuung in meinem Herzen. Denn die heidnische Gefahr war nun für lange Zeit gebannt und meine Kinder und ich waren vor den Pfeilen der Barbaren sicher, und meine Mutter Rautgund, die schöne Folchaid und der liebe, alte Haimeran waren so grausam und unerbittlich gerächt worden, wie sie selbst vor vielen Jahren von den Ungarn getötet worden waren.
Chuonrad und Leonhard hatten sich an den Tisch in der Stube gesetzt und redeten mit meinem Vater, doch ich war mit meinen Gedanken beschäftigt und achtete nicht auf die Gespräche der Männer. Erst als der Name meiner Freundin fiel, wurde ich aufmerksam und hörte mit Entsetzen, was Liutbirc mit gehässiger Stimme über Richlint und ihr Kind sagte.
„Sie muß genauso sterben wie der heidnische Anführer! Hat nicht unser König verfügt, daß alle Baiern, die dem Feind helfen oder ihn verstecken, mit Stricken gebunden in der Lecha ersäuft werden sollen? Dieses schamlose Weib wird noch lange nach ihrem Geliebten rufen und seinen Leichnam suchen, und sie gebiert das Balg eines heidnischen Kriegers und wird niemals über den Vater dieses Kindes schweigen. Sollen die Männer des Königs erfahren, daß wir in Pitengouua ein Heidenkind aufziehen und eine ungarische Hure beschützen? Sie werden uns alle dafür verantwortlich machen und bitter bestrafen!“
Chuonrad nickte zustimmend zu den Worten der Gutsbesitzerin aus Dornau, und blinder Haß auf die ehemalige Haslachbäuerin war in seiner aufgebrachten Stimme zu hören. „Liutbirc hat recht! Es reicht nicht aus, wenn die Schlampe auf Knien in unserer Kirche um Vergebung fleht und dem Feind abschwört, so wie du es vorschlägst, Altmeier Wezilo! Habt ihr alle vergessen, wie stolz und hochmütig sie in ihren kostbaren Lederstiefeln durchs Dorf geschlendert ist, und wie sie im ungarischen Lager an der Lecha unter all den halbnackten Männern gehaust hat, so als ob sie schon die rechtmäßige Frau dieses heimtückischen Reiterführers wäre? Richlint hat sich gegen den König, gegen uns Pitengouuer, gegen ihr bairisches Heimatland für die feindliche, die heidnische Seite entschieden, und sie wollte mit Arpad und seiner blutdürstigen Horde ins Ungarnland ziehen! Jetzt muß sie die Folgen ihres schamlosen und unchristlichen Handelns ertragen, so wie ein jeder von uns für seine Taten vor dem Dorfgericht und dem Grafen einstehen muß, und auf Hurerei und Verrat gegenüber dem eigenen Volk steht die Todesstrafe!“
Bei seinen letzten Worten schaute Chuonrad nicht mehr die anderen Männer an, sondern selbstsicher und fordernd geradeaus in mein Gesicht, und verzweifelt suchte ich in den Augen meines Mannes und meines Vaters festen Widerspruch gegen die Rede des Haslachbauern und eine winzige Hoffnung für meine Freundin. Doch in den Blicken von Leonhard und Wezilo lag nur unendliches Mitleid und tiefe Sorge für mich, und ich erkannte, daß sie Chuonrad und Liutbirc Recht gaben und Richlint nicht länger schützen wollten.
Da drehte ich mich um und rannte wie von Geistern getrieben aus der Meierstube in die schwarze Nacht hinaus, barfuß und mit wehenden Röcken den Bach entlang zur Hütte am Hollerbusch, und schwer atmend stemmte ich die sperrige Tür auf und schlüpfte in die kleine Stube mit ihrem dämmrigen Licht.
Richlint lag in der Ecke auf ihrem Strohlager und schien fest zu schlafen, und die kleine Gisel klapperte an der Feuerstelle mit dem eisernen Topf herum und summte dabei leise vor sich hin. Justina saß mit aufgestützten Armen auf einem dreibeinigen Stallschemel, den weißen Hund lang ausgestreckt neben sich, und ließ das Haupt mit den schwarzgrauen Locken müde nach unten hängen, doch als sie das Knarren der zufallenden Tür und meinen schweren Atem hörte, hob sie sofort den Kopf und erforschte mit wachen Augen mein Gesicht.
Meine verzweifelte Miene, mein wie Espenlaub bebender Körper und die hilflos zu Fäusten geballten Finger meiner Hände erzählten Justina alles, was geschehen war, und schwarze Tränen verschleierten ihren samtdunklen Blick, als sie erkannte, wie ernst es um Richlint´s Leben stand. Schwerfällig und mit gebeugtem Rücken stand sie auf und blieb für einen Augenblick so stehen, mit gesenktem Kopf und herabhängenden Armen, und angesichts der Hoffnungslosigkeit und Trauer dieser starken und allwissenden Frau fühlte ich mich so hilflos und verloren wie ein treibendes Blatt allein in den tosenden Wellen der Lecha.
Doch wie von einer unsichtbaren Hand berührt und gestärkt straffte Justina plötzlich die Schultern und richtete sich auf, schickte mit einer barschen Handbewegung die kleine Magd nach draußen und verschloß hinter Gisel sorgfältig die schwere Tür. Dann ging sie mit schnellen Schritten zu ihrem Ledersack voller Kräuter und Heilmittel und wühlte darin herum, bis sie ein sorgsam verschnürtes Leinensäckchen und eine braune Tonschale gefunden hatte, und erleichtert schlossen sich ihre langen, schmalen Finger um das Säckchen und hielten es fest.
„Geh´ zu Richlint, Afra,“ sagte Justina mit leiser und sanfter Stimme, „sie hat ein wunderschönes Mädchen geboren, ein Kind mit gesunden Gliedern und dichten, pechschwarzen Haaren, ein Kind mit den Erinnerungen und den Seelen von zwei Völkern, wie sie verschiedener nicht sein könnten, und sie wird dir ihre neugeborene Tochter zeigen und das Kleine deiner Obhut anvertrauen!“
Richlint war wach, als ich zur Bettstatt hinüber ging, erschöpft nach der langen Geburt lag sie auf dem mit Stroh gefüllten Kissen und drückte den schlafenden Säugling an ihre Brust. Ihr Gesicht war bleich und ernst, die Augen umrandet von tiefen Schatten, und die sonst so vollen Lippen waren schmal und weiß wie frischgefallener Schnee. Sie versuchte zu lächeln und sich aufzurichten, als sie mich sah, und ich nahm das Kind aus ihren Armen entgegen und beugte den Kopf tief über das kleine, warme Wesen, um den nach der Wahrheit suchenden Augen meiner Freundin zu entgehen.
„Sie ist das schönste Neugeborene, das ich jemals gesehen habe, Afra, sie ist einfach vollkommen!“ flüsterte Richlint mit belegter Stimme, „schau´ dir ihre zarten Finger an, und diese kleinen Füße mit den winzigen Zehen! Es war schmerzhaft und sehr schwer, dieses kleine Mädchen zur Welt zu bringen, und die Sorge um Arpad hat mir soviel von meiner Kraft geraubt, daß ich während der Geburt um mein eigenes Leben fürchtete. Aber nun ist meine Tochter geboren, stark und gesund, und während du sie so gut behütest wie deine eigenen Kinder, gehe ich zur Lecha hinunter und versuche ihren Vater vor den Pitengouuern zu warnen!“
Bei ihren letzten Worten war Richlint mühsam aufgestanden und hatte die hellbraunen Stiefel hervorgeholt, und ich saß am Rande der Bettstatt, hielt das Kind sorgsam in meinen Armen und neigte den Kopf noch tiefer herab. Das Neugeborene schaute mich mit seinen tiefblauen Augen an und zugleich durch mich hindurch auf etwas Fremdes und Fernes, und dieser klare Blick voller Unschuld ließ es nicht zu, daß ich meiner Freundin mein Wissen über den Tod von Arpad noch länger verschwieg.
„Du brauchst nicht zu gehen und nach ihm zu suchen, Richlint, Arpad ist tot. Sie haben ihn im Dickicht bei der Lechafurt am Schneckenbichl mit ihren Schwertern erschlagen und seinen leblosen Körper in den Fluß geworfen, Chuonrad und Leonhard und die anderen, und nun wollen sie auch dich für deine Liebschaft mit einem ungarischen Feind bestrafen und vors Dorfgericht bringen. Liutbirc und Chuonrad fordern unverhohlen deinen Tod, noch bevor die Männer des Herzogs in Pitengouua erscheinen und uns alle der Freundschaft mit den Reiterkriegern anklagen oder sogar ein verbotenes Bündnis vermuten, und wenn auch mein Vater Wezilo nur strenge Buße und ernsthafte Reue von dir verlangt, so weiß ich doch nicht, ob seine Stimme allein dein Leben retten kann.“
Vollkommene Stille herrschte in der kleinen Stube, als ich geendet hatte. Richlint war ohne einen einzigen Laut auf die Bettstatt gesunken, und sie lag mit ihren schönen Lederstiefeln auf dem Stroh und krümmte sich wie ein schwer verletztes Tier, stumm vor grenzenlosem Schmerz und mit Entsetzen in den weit aufgerissenen Augen. Justina setzte sich zu uns auf das Lager und nahm Richlint in ihre Arme, streichelte wieder und wieder sanft und zärtlich über das blasse Gesicht und die zuckenden Hände, über das lockige, kurze Haar und den lautlos bebenden Rücken. Ich hielt Richlint´s neugeborenes Kind fest an mich gedrückt und begann leise zu weinen, voller Angst, daß schon bald die Stimmen der Männer aus Pitengouua sich der kleinen Hütte nähern und uns drei Frauen für immer auseinanderreißen würden.
Wie festgefroren waren wir in Schmerz und Trauer und schierer Angst, Justina, Richlint und ich, und die Zeit in der rauchigen Hütte schien stillzustehen und ewig zu währen. Doch dann packte Richlint die Hand von Justina und richtete sich entschlossen auf.
„Laß´ es nicht zu, Justina, daß Männer wie Chuonrad und Wichard über mich und meine Liebe urteilen und mir einen ehrlosen Tod bereiten! Laß´ es nicht zu, daß sie mich wie eine Verräterin und Feindin vor allen Pitengouuern demütigen und verhöhnen, und daß sie mein unschuldiges Kind für seinen Vater und seine Mutter bestrafen, kaum daß es den ersten Schrei getan hat!“
Richlint umklammerte Justina´s Hände mit eisenhartem Griff, und ihre dunkel umrandeten Augen in dem schneeweißen Gesicht flehten die schwarzhaarige Heilerin an. „Afra wird sich um den Säugling kümmern und sein Leben mit der Hilfe und Fürbitte ihres alten Vaters retten. Ich aber will zu Arpad, Justina, ich will zu meinem Geliebten! Ich will den einsamen und schmerzhaften Weg gehen, den auch er gegangen ist, und wenigstens am Ende dieses Weges will ich wieder mit ihm vereint sein. Ich bitte dich, mir zu helfen, so wie du mir damals geholfen hast, als ich das Kind von Chuonrad in meinem Leib trug und nicht mehr weiterleben wollte. Keinen Ausweg und keine Flucht für mich und das Neugeborene kann ich erkennen, denn die Menschen des ganzen Gau stehen mitleidlos gegen uns, und ich bin krank und schwach und ohne die Mittel, mir Hilfe und Flucht zu erkaufen. Erbarme dich meiner, denn die Tochter von Arpad und mir soll leben, auch wenn ich nicht mehr bin, es ist unmöglich, uns beide zu retten!“
Justina schloß Richlint in ihre Arme und drückte sie fest an sich, und schwerfällig stand sie auf und ging zu ihren Kräutern und Töpfen an der Feuerstelle. In einer kleinen Tonschale verrührte sie das weiße Pulver aus dem Leinensäckchen in ihrer Faust mit Wasser und etwas Wein zu einem dünnflüssigen Brei, und dann kam sie zur Bettstatt zurück und reichte meiner Freundin mit beiden Händen die braune Schale.
Ich hielt das Kind eng an meiner Brust und schaute sie nur an, Richlint und die Heilerin, und ich stieß die Hände von Justina nicht zur Seite, damit die Tonschale in tausend Scherben auf dem Boden zerbrach und das weiße Wasser in der Erde versickerte, und ich verschloß nicht Richlint´s Lippen fest mit meiner Handfläche, damit sie die helle Flüssigkeit nicht trinken konnte und der dünne Brei ohne jede Wirkung über ihren Hals und ihr Kleid floß.
Ich schaute nur zu, wie meine Freundin mit den goldbraunen Augen das Gift in einem Zug austrank und sich dann niederlegte, bereit für den Tod, und ich schaute nur zu, als schließlich ihr Atem stockte und sie keine Luft mehr bekam und sich verzweifelt mit den Händen an die Kehle faßte.
Ich schwieg und wartete und wiegte den Säugling in meinen Armen, und nur meine Augen versprachen Richlint meine Sorge und Liebe für das Kind, solange ich lebte, und nur meine Augen baten meine Freundin um Vergebung für meine Schuld. Über meine Lippen aber kam in dieser schwarzen Nacht kein einziges Wort mehr, und als im Morgengrauen die Männer von Pitengouua mit ihren Äxten und Schwertern kamen, um über die Frau des Ungarnführers Arpad das Urteil zu fällen und sie zu richten, weilte Richlint schon bei ihrem Geliebten, und ich betete inbrünstig zu Gott, daß meine Freundin mit ihm über die unendlichen Steppen seiner Heimat ritt und glücklich und für immer frei war.
Mein Name ist Afra, und ich habe alles erzählt über das gemeinsame Leben von Richlint und mir, und ich habe nichts weggelassen und nichts beschönigt.
Mehr als tausend Jahre sind seit dem Tod meiner Freundin vergangen, und endlich fühle ich mich befreit von den dunklen Schatten der Vergangenheit und sehe das unendlicheLicht. Meine Schuld an Richlint´s Ende habe ich eingestanden vor Gott und den Menschen, meine Feigheit und mein Zögern, ganz für sie einzustehen und ihren Tod zu verhindern, meine Angst nur um das eigene Leben und das meiner Kinder, und mir wurde voll Gnade vergeben.
Mein Name ist Afra, und ich stehe mit bloßen Füßen im kühlen Wasser des Baches, und die hellen Strahlen der Sonne glänzen auf den nassen Bachkieseln und zaubern goldene Lichter ins lockige Haar meiner Freundin. Über uns rauscht leise ein samtener Wind in grünen Blättern, und Richlint legt ihre Arme um meine Hüften und drückt mich fest an sich.
Nach mehr als tausend Jahren haben wir unseren Frieden gefunden, Richlint und ich, und das Licht Gottes umfängt uns sanft und sicher in alle Ewigkeit.
ΩΩ
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