Afra
Vier lange, harte Jahre waren vergangen, als wir im Herbst 944 endlich wieder ein richtiges Fest in unserem Dorf feierten. Weder Richlint noch Walburc oder ich waren die gleichen unbeschwerten Kinder wie vor dem Überfall der Barbaren, unser aller Leben hatte sich seit diesem Tag grundlegend verändert und unsere Kindheit war für alle Zeiten vorbei. Wenn ich an diese Jahre zurückdenke, spüre ich noch einmal den nagenden Hunger in meinem leeren Bauch und die eisige Kälte auf meinem dünnen Körper, unter denen wir vor allem im ersten Winter nach dem Unglück litten, und ich sehe Richlint und mich eng aneinander geschmiegt auf dem Bett hocken, eine wollene Decke um uns geschlungen, und mit vor Trauer rauhen Stimmen leise über unsere toten Mütter reden. Selbst nach tausend Jahren fährt der Schmerz brennend wie ein glühendheiß geschmiedetes Messer in meine Brust, wenn ich an ihren Tod denke, und immer wieder sehe ich meine unschuldige Mutter Rautgund leblos in den Armen meines weinenden Vaters liegen und fühle mich grenzenlos verlassen und traurig. Daß die allmächtige Gottheit so und nicht anders entschieden hat, das nehme ich jetzt klaglos hin, aber den Grund dafür, daß Frauen und kleine Kinder grausam sterben müssen, habe ich bis heute nicht verstanden, und es werden wohl noch weitere tausend lange Jahre vergehen müssen, bis ich darin einen Sinn erkennen kann.
In diesem Herbst aber, als Richlint zwölf und ich dreizehn Jahre zählte, herrschten statt Trauer und Armut endlich wieder Zuversicht und Wohlstand in unserer kleinen Gemeinschaft, und die Menschen lachten und feierten und machten Pläne für die Zukunft. Es war die Hochzeit meiner Schwester Walburc, die so großartig begangen wurde, denn mit ihrem jungen Mann zog der zukünftige Meier nach Pitengouua, und damit begann für uns alle eine neue Zeit voller Hoffnung auf Wohlstand und Frieden.
Die Ehe zwischen Walburc und Bruno war von seinen Eltern und meinem Vater ausgehandelt und vereinbart worden, und die Brautleute hatten sich vor der Hochzeit nur einmal kurz getroffen, als Bruno mit seinem Vater zu einem Besuch auf dem Gut in der Dornau weilte. Zu dieser Zeit war zwischen den Alten bereits alles ausgemacht und der Tag der Hochzeit stand schon fest, aber der Bräutigam zauderte noch ein wenig, da er seine zukünftige Frau nie gesehen hatte und sich wegen ihres Aussehens und ihrer Wesensart nicht allein auf die Berichte von anderen verlassen, sondern das Mädchen selbst in Augenschein nehmen wollte.
Walburc war damals fünfzehn Jahre alt, ein mittelgroßes, kräftiges Mädchen mit dunkelbraunen Zöpfen und einer frischen, gesunden Gesichtsfarbe, und die ausgeprägten weiblichen Formen ihres Körpers und ihre Ernsthaftigkeit ließen sie älter erscheinen, als sie tatsächlich war. Nach dem Tod unserer Mutter lag zuviel Verantwortung auf ihren Schultern, denn der Haushalt im Meierhof mußte weitergeführt und dazu die kleine Schwester mit ihrer mutterlosen Freundin betreut werden, und unser Vater Wezilo war ihr darin keine Hilfe, denn nach dem schmerzvollen Verlust von Rautgund wurde er einsilbig und wortkarg und zog sich allein zurück, wann immer es möglich war. Walburc war damals erst elf Jahre alt, aber sie ließ sich nicht für einen Augenblick gehen oder war müßig, sondern teilte jedem seine Aufgaben zu und arbeitete selbst von Sonnenaufgang bis zur tiefen Nacht. Unsere Mutter war immer ihr Vorbild gewesen und sie hatte von ihr gelernt, wie man einen so großen Hof führt und die Knechte und Mägde anleitet und dabei selbst ohne Zögern vorangeht bei der Arbeit. Auch den festen Glauben an Jesus und die Kraft der Heiligen hatte Walburc von unserer Mutter übernommen, und mit dem tröstlichen Gedanken an Rautgund im himmlischen Paradies unter lauter Engeln fiel ihr der bittere Alltag leichter als Richlint und mir. Walburc tat ihre Pflicht und klagte nie, für sie war der angemessene Platz für Trauer der Friedhof mit seinen Gräbern, und nur dort sah ich sie jeden Sonntag nach dem Kirchgang auf den Knien liegen und leise weinen.
Als dieses tüchtige Mädchen aber in der Stube des Dornauer Hofes ihrem zukünftigen Mann gegenüberstand, war von ihrem Selbstbewußtsein und ihrer Kraft nicht viel zu merken, denn sie hatte verlegen die Lider gesenkt und stand unbeholfen und linkisch herum, ohne ein Wort zu sprechen. Meine Schwester war sich der vielen neugierigen Augenpaare sehr bewußt, die jede Regung von ihr beobachteten, und deshalb traute sie sich kaum, einen genaueren Blick auf den jungen, untersetzten Mann zu werfen, mit dem sie schon sehr bald das Lager teilen sollte. Der junge Bruno jedoch hielt sich nicht im mindesten zurück, sondern starrte seine schüchterne Braut unverhohlen und aufdringlich von Kopf bis Fuß an, ließ seinen musternden Blick lange auf ihren vollen, runden Brüsten ruhen und machte dann gegenüber den anderen Männern ein paar derbe Anspielungen, die erkennen ließen, daß er mit dem Heiratsbeschluß seiner Eltern sehr zufrieden war. An seine zukünftige Frau aber richtete er kein einziges Wort, und dieses grobe Verhalten verletzte Walburc sichtlich, auf ihren Wangen brannten zwei kreisrunde, rote Flecken, und die zitternden Hände versuchte sie unter ihrem Umhang zu verstecken.
Richlint und ich waren bei diesem ersten Treffen der Brautleute in der Dornau dabei, brav und gesittet saßen wir in der Stube neben meinem Vater Wezilo auf der Ofenbank, ließen die Alten reden und sagten selber nichts, wie es sich für junge Mädchen geziemt. Aber sobald die ganze Gesellschaft aufstand, um sich die Ställe und die Pferde anzuschauen und ein wenig plaudernd auf dem Hof herumzugehen, flüchteten wir zusammen in den weitläufig angelegten Obstgarten hinter den Gebäuden, setzten uns auf eine verborgen gelegene Holzbeuge und redeten über Bruno und Walburc.
„Wie eine Kuh! Er hat sie gemustert wie ein Bauer die Rindviecher auf dem Markt! Es fehlte nur noch, daß er ihre nackten Flanken abgegriffen hat und ihr Euter sehen wollte! Wenn sie nicht zur rechten Zeit kalbt, wird er sein bißchen Gold zurückfordern!“ Richlint war außer sich über Walburc´s Bräutigam und seine abschätzenden Blicke. Ich dachte insgeheim genauso über das erste Treffen mit Bruno und war gar nicht begeistert davon, den groben Kerl in unsere Familie aufzunehmen, aber das wollte ich meiner Freundin nicht eingestehen. Richlint war in ihrem Urteil immer so endgültig und entschieden, sah nur Hell oder Dunkel und keine Zwischentöne, und machte sich mit ihrer schroffen, ehrlichen Art anderen Leuten gegenüber oft das Leben schwer. Mit Bruno würden auch wir beide leben müssen, nicht nur Walburc, und daher wäre es besser, ein paar gute Seiten an ihm zu finden und nicht von vornherein alles zu verderben. Also versuchte ich, Richlint zu besänftigen, und ich zählte alles auf, was für diese Ehe sprach. „Er ist halt neugierig auf seine zukünftige Frau, wer wollte ihm das verübeln! Aber er ist jung und gesund, und so schlecht sieht er gar nicht aus, vielleicht ein bißchen plump und gedrungen, aber das ist ja gar nicht so wichtig! Wichtig ist, daß er ein Meiersohn ist, wenn auch nur ein Zweitgeborener, du weißt, daß das Herz unserer Walburc am Hof hängt und daß sie wie meine Mutter werden will, eine rechtschaffene, tüchtige Meiersfrau. Und nachdem Bruno bei sich daheim keinen Hof bekommt, weil er einen älteren Bruder hat, passen doch in Pitengouua alle Dinge genau zusammen! Sie will einen Mann, der den Hof führt, und möglichst viele Kinder, und das will er auch! Und das Gold, das er als Brautgabe mitbringt, das können wir hier gut gebrauchen, du weißt, daß unser Wohlstand heute noch nicht wieder der Gleiche ist wie vor dem schrecklichen Tag.“
Wir saßen ganz dicht nebeneinander auf dem Holzstoß und faßten uns unwillkürlich fest bei den Händen, als ich den Überfall der Ungarn erwähnte, so wie wir uns in den vergangenen vier Jahren immer wieder aneinander festgehalten hatten, wenn unsere Verzweiflung und unsere Trauer zu groß war, um sie allein durchzustehen. Wir hatten beide unsere Mütter verloren, durch einen gewaltsamen, grausamen Tod, und es waren seitdem schwere und traurige Jahre für Walburc, Richlint und mich und alle Bewohner von Pitengouua gekommen.
Die wilden Reiterhorden waren auf dem Weg nach Kembeduno, Uoda´s Heimatstadt, gewesen und hatten den Ort mit seinem Kloster zum drittenmal in den letzten 30 Jahren vollständig zerstört, wie wir später erfahren mußten. Da die Ungarn als Reiterkrieger keine Vorräte mit sich führten, überfielen sie auf der Suche nach Nahrung die kleinen Dörfer und Höfe auf ihrem Weg und nahmen sich, was sie brauchten. Im ersten Winter, nachdem sie uns ausgeplündert und die Frauen ermordet hatten, litten wir alle Hunger im Dorf, denn die Barbaren hatten als Versorgung für ihr Heer einen Großteil unserer Vorräte weggeschleppt und alles angezündet, was sie nicht auf ihren kleinen Pferden mitnehmen konnten, die Grubenhäuser und Vorratsschuppen waren zerstört und mit ihnen unser Rückhalt für einen langen, kalten Winter. Nachdem wir unsere Toten würdevoll bestattet hatten und die erste laute Verzweiflung einer dumpfen Niedergeschlagenheit wich, erkannten wir erst wirklich, was diese Heimsuchung für uns Überlebende bedeutete. Als wir begannen, die verbrannten Gebäude aufzuräumen und wiederherzustellen, lag die ganze Verwüstung offen vor unseren ungläubigen Augen. Da war kein Körnchen Getreide mehr für Brei oder Brot; Äpfel und Birnen, Kohl und Rüben, Käselaibe und Geräuchertes waren fort oder lagen als verkohlte, schwarze Haufen ungenießbar unter den eingestürzten Balken der Vorratshäuser. Das Schlimmste aber war, daß auch unser Saatgut für die Felder des nächsten Frühjahrs zerstört war, und womit wir das Vieh, das oben auf der Burgwiese überlebt hatte, durch den Winter füttern sollten, das wußten wir nicht, denn Heu und Stroh waren verbrannt.
Die Menschen von Kembeduno hatten Glück, denn Bischof Udalrich von Augusburc, der auch der Abt des Klosters von Kembeduno war, fing schon im Jahr darauf damit an, den Ort und das Kloster schöner und größer als je zuvor wieder aufzubauen. König Otto hatte ihm die Mittel dafür geschenkt, reines Gold und unfreie Männer für die schwere Arbeit, und damit fiel es dem Bischof leicht, die Häuser wieder zu errichten. Wir aber waren nur ein kleines, unbedeutendes Dorf, ein Nichts in den Augen des Königs, und wir hatten weder von ihm noch vom Bischof etwas zu erwarten. Die Leute von Pitengouua erhofften alle Hilfe und Rat von meinem Vater, der doch ihr Meier war und sie immer richtig geführt und für sie gesorgt hatte, aber Wezilo war in seiner abgrundtiefen Trauer um Rautgund so versunken, daß er nicht fähig war, einen Ausweg zu suchen oder in irgendeiner Form zu handeln, ja er bemerkte nicht einmal, wie schlimm es um die Menschen in seinem Dorf stand. Es war der alte Sigiboto, der schließlich alles in die Hand nahm und dem wir eigentlich unser Überleben verdanken, der strenge, stolze Haslachbauer zeigte mehr Herz und Mitgefühl, als ich es von ihm angenommen hätte. Zuerst schickte er seine drei Söhne mit Ochsenkarren nach Pitengouua, schwer beladen mit ungefähr einem Drittel der Ernte und der Vorräte des Haslachhofes, und sie schenkten alles den Menschen im Dorf, ohne irgendeine Gegengabe zu fordern. Dann drängte er Wicpert von der Burg, seinen Sohn nach Altdorf zum Welfengraf zu schicken, um von unserem Schicksal zu berichten und um Hilfe zu bitten, und nach einiger Zeit kamen von dort zwei Karren, hoch beladen mit Pökelfleisch und Käse, mit Getreide und Gemüse, mit Äpfeln und Honig. Das Schönste aber war ein Säckchen mit Goldstücken, das Graf Roudolf dem Vogtsohn Wichard mitgegeben hatte, damit konnten wir im Frühjahr auf den Märkten in Murnowe und Ephach Saatgut einkaufen und unsere Felder wieder bestellen.
Doch trotz der vielen Hilfe, die wir von den Haslachern und den Welfen erfahren hatten, war das Essen in diesem bedrückenden Winter für uns alle sehr knapp, und es wurde genau eingeteilt, wieviel jede Familie in der Woche bekam, und damit mußten die Leute auskommen. Nun konnten wir Kinder uns nicht wie früher aus den Grubenhäusern so viele rote und gelbe Äpfel holen, wie wir Lust dazu hatten, sondern ein einziger Apfel mußte für zwei Wochen reichen, und eine jede von uns ging mit dem ihr Zugeteilten anders um. Die ungeduldige Richlint aß ihren Apfel auf der Stelle auf, wenn sie ihn bekam, und dann sehnte sie sich vierzehn Tage lang nach einem Neuen. Walburc, sparsam und vorausdenkend, schnitt ihre Frucht sorgfältig in schmale Scheiben zum Trocknen und versteckte diese vor uns, und sie hatte so alle drei Tage einen saftigen Apfelring zum Essen dazu. Ich selber hob meinen Apfel ungefähr eine Woche auf, holte ihn immer wieder hervor und roch genüßlich daran, und dann verspeiste ich ihn kurz entschlossen mit Butz und Stiel.
Aber wir alle wurden mager und knochig in diesem harten, ersten Winter nach der Verwüstung durch die ungarischen Reiter, Frauen, Männer und Kinder; und das wenige Vieh, das nicht im November geschlachtet wurde, sondern dringend zur Weiterzucht nötig war und durchgefüttert werden mußte, war so dürr und schwach, daß im Frühjahr die Rippen der Tiere wie totes Holz herausstanden und wir sie mit vereinten Kräften mehr auf die Weide schleppen als führen mußten.
In den darauffolgenden Jahren besserte sich unser Leben langsam, denn wir Leute von Pitengouua waren zäh und fleißig und schufteten hart, um den Schaden der Barbaren gut zu machen. Was zerstört war, wurde wieder aufgebaut, Grubenkeller ausgeschachtet, die Felder mit neuer Saat bestellt, Schweine und Rinder gezüchtet, und nach langer Zeit füllten sich auch unsere Vorratsschuppen wieder mit Getreide, Fleisch und Gemüse. Zweimal in diesen vier Jahren kam Graf Roudolf selber nach Pitengouua, um auf der Burg und dem Meierhof nach dem Rechten zu schauen und sich um die jetzt mutterlosen Kinder seines verstorbenen Bruders Eticho zu kümmern, so wie er es bei ihrer Freilassung versprochen hatte. Der kleine Eticho war in der Grafenfamilie bei Roudolf und seiner Frau Itha in Altdorf gut aufgehoben, und er wuchs und war klug für sein Alter, wie der Graf den Geschwistern berichtete. Rasso lebte damals oben auf der Burg bei Wicpert und Uoda, wie es schon vor dem Unglückstag vereinbart worden war, und nachdem Wichard mit achtzehn Jahren geheiratet hatte, eine fröhliche, junge Frau aus dem Westen namens Eilika, fand der Graf, daß auch Rasso standesgemäß heiraten und eine Familie gründen sollte und versprach ihn mit Kunissa, einem jungen Mädchen aus einer sehr guten und vermögenden Familie, die in Andehsa am Amberse einen großen Gutshof mit Land und Leuten besaß. Richlint lebte mit uns auf dem Meierhof, bei Wezilo, Walburc und mir, und wir teilten so gut es ging ein Bett und unseren Kummer und die Angst vor der Zukunft miteinander. Unsere Freundschaft wurde enger als je zuvor, und wir waren wie zwei Schwestern.
Deshalb verstand ich an diesem sonnigen Nachmittag auf der Obstwiese in der Dornau Richlint so gut, als sie sich über den zukünftigen Mann von Walburc aufregte. Wir beide liebten unsere große Schwester, die immer für uns da gewesen war, und wir wollten sie glücklich sehen, wir wollten, daß ein Mann nur um ihretwillen um sie freite, und nicht, weil er dadurch einen großen Hof und eine tüchtige Meierin bekam. „Ich lasse mich nicht einfach verheiraten!“ sagte Richlint trotzig, und mit einer heftigen Bewegung des Kopfes warf sie ihre dunkelblonden Zöpfe nach hinten über den Rücken, entzog mir ihre Hände und verschränkte sie entschlossen vor der Brust, „und abschätzen und verkaufen wie ein Stück Vieh! Unfrei bin ich die ersten Jahre meines Lebens gewesen, und jetzt lasse ich nicht wieder jemand über mich bestimmen! Entweder ein Mann gefällt mir und ich liebe ihn so sehr, daß ich einfach alles mit ihm teilen möchte, sogar Hunger und Not, oder ich heirate niemals, und lebe allein wie Justina!“
Um Heirat und Ehe drehten sich unsere Gespräche in letzter Zeit immer öfter, denn nach Wichard und Walburc kam im Dorf und auf der Burg eine nach der anderen an die Reihe, und wir wußten genau, daß wir nach Liutbirc die beiden nächsten sein würden, die zur Ehe versprochen wurden. Ich war nüchterner als Richlint, nicht so verträumt und eigensinnig, und mir war bewußt, daß wir den Mann nehmen mußten, den mein Vater oder Richlint´s Oheim für uns aussuchten. Auch für Richlint als Graf Eticho´s Tochter würde es keine Ausnahme geben, denn Frauen und Mädchen standen schon zu allen Zeiten unter der Gewalt ihrer Väter oder Ehemänner und hatten selbst keine Stimme. Sogar die hochgeborenen Frauen aus den Herrscherhäusern wurden nicht nach ihren Gefühlen gefragt, und die Königin Edgith aus Britannien war von ihrem Vater mit unserem König Otto vermählt worden, obwohl sie ihn vorher noch nie gesehen hatte, und auch Leutgard, die Tochter der beiden, würde nicht um ihre Neigung oder ihre Wünsche gebeten werden, wenn ihre Zeit zum Heiraten gekommen war.
Richlint machte mich wütend mit ihrer starrköpfigen Art. Nie wollte sie die Dinge hinnehmen, wie sie waren, sondern immer aufbegehren gegen alles und jeden. „Du weißt sehr gut, Richlint, daß eine Frau ihr Leben lang unter der Munt eines Mannes stehen wird! Beim Kind ist es der Vater, bei der Frau der Mann, und selbst eine Witwe kann nicht frei entscheiden, weil ihre männlichen Verwandten über sie zu befinden haben. Damit mußt du dich endlich abfinden, wir sind nun einmal Frauen!“ In scharfem Ton sagte ich ihr diese Worte, obwohl sie mir leid tat und ich in meinem Inneren nicht anders empfand als sie. Der plumpe, zudringliche Bruno widerte mich an, und die Vorstellung, daß er mit meiner Walburc das Bett teilen und in unsere Familie aufgenommen werden sollte, machte mir Angst. Aber es war nicht zu ändern, und ich selber fürchtete mich auch davor, bald verheiratet zu werden und Pitengouua vielleicht für immer verlassen zu müssen. Rasso, den ich schon seit meiner Kinderzeit liebte, war bereits mit einer Anderen versprochen worden, was ihn anscheinend gleichgültig ließ, und außer mir hatte nie jemand an eine Verbindung von uns beiden gedacht. Er hatte in mir immer nur die Freundin seiner kleinen Schwester gesehen, und im Gegensatz zu den anderen Jungen in seinem Alter hatte er Mädchen noch nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Er ritt und jagte leidenschaftlich gern, hörte am liebsten den Geschichten der erwachsenen Männer über Kampf und Gefahren zu, und außer um seine Schwester Richlint kümmerte er sich um kein Mädchen, wenn sie ihm auch noch so schöne Augen machte. Nur seine schöne Mutter Folchaid hatte er sehr geliebt, und nach ihrem Tod sprach er von ihr wie von einer Heiligen, die niemals gefehlt hatte.
Rasso würde nie mein Ehemann werden, damit hatte ich mich abgefunden, er würde in ein paar Wochen an den Amberse ziehen und die vermögende Kunissa heiraten. Welche Männer für Richlint und mich bestimmt waren, das wußten wir damals auf der Obstwiese nicht, aber ich wollte Richlint, die sich nach meinen barschen Worten weggedreht hatte und mich nicht anschaute, wieder zuversichtlicher stimmen.
„Komm, Richlint, so schlecht wird es nicht werden! Dein Oheim Roudolf wird keinen unwürdigen Ehemann für dich aussuchen, es wird ein freier, gesunder Mann mit Besitz sein, und du wirst die Herrin auf dem Hof werden! Schau´ dir an, was meine Eltern für eine glückliche Ehe geführt haben! Wie zufrieden waren sie miteinander, und sie haben sich doch vor der Ehe kaum gekannt. Und Wichard mit Eilika! Die Heirat wurde von den Eltern beschlossen, und in meinem ganzen Leben habe ich Wichard nicht so ausgeglichen und glücklich gesehen wie im letzten Jahr, seit er mit Eilika zusammen ist. Und jetzt ist sie auch noch guter Hoffnung, und er lächelt und ist freundlich und hat für jeden ein gutes Wort, so haben wir ihn doch vorher gar nicht gekannt!“
Richlint setzte sich auf der Holzbeuge zurecht und ließ ihre dünnen Beine heftig hin und her schwingen. Ihr blasses Gesicht war noch immer verschlossen, die roten Lippen eine schmale Linie voller Unmut. „Du nimmst einfach alles hin, Afra, fragst nicht nach und läßt über dich bestimmen! Wer sagt dir, daß du mit deinem Ehemann soviel Glück haben wirst wie Wichard und Eilika miteinander? Eilika ist eine liebe, fröhliche Frau, das Schicksal hat es mit Wichard gut gemeint, aber wenn du einen Mann wie Bruno bekommst, wird dir die Freude rasch vergehen! Und ich werde einen solchen groben Kerl schon gar nicht nehmen, geschweige denn ihm ein Kind gebären, davor soll mich Justina´s Göttin behüten!“ Die Worte von Richlint klangen endgültig. Sie würde sich wehren, wenn ihr Unrecht geschah, das wußte ich, und es würde nicht leicht werden für sie.
An unser Gespräch auf der Obstwiese in der Dornau dachte ich noch öfter, als sich das tägliche Leben mit Bruno auf dem Meierhof als weit unangenehmer herausstellte, als ich befürchtet hatte. Auf der Hochzeit war er leutselig und lustig gewesen, hatte zuviel Wein und Met getrunken und mehrmals erbrochen, und am Ende mußte er von den Knechten zu Bett gebracht werden, weil er aus eigener Kraft nicht mehr stehen konnte. Aber schon am nächsten Morgen schallte seine übellaunige Stimme laut über den Hof, als er nach seinem Weib rief, das ihm Essen und frische Kleider bringen sollte. Und in den folgenden Wochen und Monaten wurde es nicht besser, sondern eher schlimmer mit ihm. Er ließ sich von Walburc den ganzen Tag lang bedienen, so daß sie kaum noch mit ihrer Arbeit nachkam, er ging nicht mit auf die Felder zum Arbeiten, wie es die Leute bisher von ihrem Meier gewöhnt waren, sondern spielte den großen Herrn, hockte untätig auf dem Hofplatz herum und schaffte allen nur an. Die Pitengouuer mochten ihn nicht, das war bald zu spüren, und schon waren die ersten Männer bei meinem Vater Wezilo vorstellig geworden, er möge doch wieder selber das Heft in die Hand nehmen und dem jungen Kerl erst einmal das Arbeiten beibringen. Unser Vater aber war seit Rautgunds Tod alt und müde geworden, und es fehlte ihm die Kraft und der Wille, wieder der Meier von Pitengouua zu sein. Das Glück seiner Tochter und der Wunsch der Dorfleute war ihm aber nicht gleichgültig, und er sprach mehrmals mit Bruno hart und eindringlich über sein unangemessenes Verhalten. Das führte dann für ein paar Tage dazu, daß Bruno mit aufs Feld ging oder auf die Jagd und sich auch einmal beim Schmied oder beim Müller sehen ließ, aber es änderte nichts wirklich, denn nach kurzer Zeit benahm er sich wieder wie vor dem Gespräch und tat nichts, außer andere herum zu hetzen.
Richlint und ich lebten mit Bruno und Walburc in einem Haushalt sehr eng zusammen, und wenn seine Frau nicht gleich zur Stelle war, um seine Wünsche zu erfüllen, dann rief er mit lauter, nörgelnder Stimme nach uns Mädchen. Neben der vielen täglichen Arbeit wie dem Kochen und Putzen und Wasser holen, dem Weben von Woll- und Leinenstoffen in den kühlen Grubenhäusern, dem Hegen des Gemüsegartens und der Versorgung des zahlreichen Viehs und Geflügels in den Ställen und Gattern, die wir als junge Frauen auf dem Hof leisten mußten, neben all dieser Arbeit gab es jetzt auch noch Bruno. Er war der Ansicht, daß nur er allein unsere Aufgaben richtig einteilen könne und hatte doch keine Ahnung von der Hofarbeit, und immer wieder rief er uns mitten unter dem Schaffen zu sich und teilte uns belehrend mit, wie man dies und jenes besser machen könnte, oder er wollte, daß wir nach Walburc suchten oder ihm ein Bad bereiteten oder sonst irgend etwas. Bruno bedeutete keine Entlastung für uns auf dem Meierhof, wie wir es ursprünglich alle gehofft hatten, sondern ganz einfach zusätzliche Arbeit, und Walburc wurde dünn und fahrig in ihrem ständigen Bemühen, ihrem Mann und allen anderen gerecht zu werden.
Die tägliche, harte Arbeit auf dem großen Hof war nicht wirklich schlimm für Richlint und mich, denn das waren wir von den letzten Jahren gewohnt. Schlimm waren die Nächte im Meierhof, in denen plötzlich ein Fremder mit unserer Schwester das Lager teilte und dessen Geräusche in der tiefen Nacht uns den Schlaf raubten. Es gab, anders als auf der Burg oben, bei uns nur einen Wohnraum für alle freien Bewohner des Hofes, einen stickigen, dunklen Raum zum Kochen und Essen, zum Arbeiten und zum Schlafen. Hier teilten sich Richlint und ich eine Bettstatt, und mein Vater hatte sein früheres breites Lager direkt hinter der Feuerstelle für das junge Paar Bruno und Walburc geräumt und schlief jetzt auf einem schmalen Strohsack gleich bei der Tür zum Stall, den alten Hund Ludo immer neben sich auf dem Boden. Der schwere, rasselnde Atem und das hartnäckige Husten von Wezilo vor allem in den Winternächten war uns vertraut, genau wie das gelegentliche Winseln und Scharren des träumenden Hundes, und diese seit langem gewohnten Geräusche hinderten Richlint und mich nicht am Schlafen. Aber mit der Heirat von Walburc kamen ganz neue Laute in unsere gemeinsame Schlafstube, ein ständiges Rascheln von Stroh, ein geheimnisvolles Flüstern zwischen Bruno und Walburc und dann immer das tiefe, lang anhaltende Stöhnen des Mannes. Manchmal war auch ein unterdrückter Schmerzenslaut unserer Schwester zu hören, aber Richlint und ich lagen stocksteif wie Holzstecken nebeneinander und wagten kaum zu atmen, bis es nach kurzer Zeit wieder still wurde und wir das regelmäßige Schnarchen von Bruno vernahmen. Meist stand Walburc danach leise auf und kam barfuß zu uns herüber, um die Wolldecke um uns herum fest zu stopfen und uns kurz über den Kopf zu streichen, aber Richlint und ich taten immer so, als ob wir tief schlafen würden und nichts gehört hatten. Wir wollten nicht mit Walburc über diese Nächte und ihr Geheimnis reden, und schon der Gedanke daran, was unsere Schwester mit ihrem Mann unter der Decke tat und warum er dabei so schwer stöhnte, machte uns zutiefst verlegen.
Es war nicht so, daß wir Mädchen nichts über das Beieinanderliegen von Frau und Mann und über die Entstehung von Kindern wußten. Wir waren Dorfkinder, Bauernkinder, und es war ganz natürlich für uns, daß sich Tiere paarten, trächtig wurden und schließlich Junge warfen. Das konnten wir jeden Tag beobachten, bei Kuh und Stier, bei Stute und Hengst, bei Sau und Eber, bei Hund und Hündin. Über Zucht und Geburt bei Mensch und Vieh wurde offen und viel geredet, und Richlint und ich waren schon bei vielen Tiergeburten und auch bei der einen oder anderen Entbindung eines Kindes dabei gewesen und Justina, die dann meist von den Frauen gerufen wurde, zur Hand gegangen. Aber selber betroffen zu sein, von einem Mann an den heimlichen Stellen berührt zu werden, das war etwas ganz anderes, und nach einem häßlichen Vorfall mit Bruno verstand ich, warum unser bairisches Gesetz die Frauen vor den Männern schützte und diejenigen mit Strafe belegte, die sich nicht an den angemessenen Umgang hielten.
Bruno war damals im Vorratskeller gewesen und hatte laut nach mir gerufen, ungeduldig und streng wie immer, und als ich die Stufen hinunter ging, um nachzuschauen, was er von mir wollte, bemerkte ich sofort, daß er ziemlich viel getrunken hatte. Er schwankte leicht und hielt sich mit einer Hand am Balken fest, und mit der anderen deutete er auf zwei Körbe voll mit erdigen Rüben und befahl mir, sie nach oben zu tragen. So schnell wie möglich wollte ich aus diesem Keller wieder hinaus, und deshalb bückte ich mich ohne Widerrede, um die geflochtenen Körbe zu nehmen und nach oben zu tragen, obwohl ich nicht wußte, was er damit eigentlich machen wollte. Da fiel eine schwere Hand auf meine Hüfte, und eine andere schob mein Kleid weit nach oben und packte meinen bloßen Hintern. Bruno zog mich mit festem Griff zu sich heran, ganz nah an seinen warmen, schwitzenden Körper, er blies mir seinen nach Wein stinkenden Atem ins Gesicht und murmelte etwas von „so ein liebes, schönes Mädel, wir sind doch verwandt“, und dabei tätschelte und zwickte seine Hand unter dem Rock mein nacktes Fleisch.
Im ersten Augenblick war ich starr vor Schreck und hielt still wie ein Kaninchen im Griff des Fallenstellers, aber dann nahm ich meine ganze Kraft zusammen und stieß ihn so heftig vor die Brust und von mir weg, daß er vollkommen überrascht über die Körbe stolperte und zu Boden fiel. Blitzschnell lief ich die Kellerstufen hinauf auf den Hofplatz und dann zum Bach hinunter, um mich dort hinter dichten Büschen zu verstecken, und ich bebte und zitterte vor Abscheu am ganzen Körper. Verwirrt und beschmutzt, wie ich mich fühlte, sollte mich kein Mensch sehen, schon gar nicht meine arglose Schwester Walburc, der ich niemals von diesem Vorfall erzählte.
Von da ab ging ich Bruno sorgsam aus dem Weg und achtete darauf, nie irgendwo allein mit ihm zu sein, und Richlint, der ich alles berichtet hatte, verhielt sich genauso.
An den Sonntagen draußen bei Justina redeten wir natürlich ausführlich über das häßliche Verhalten von Bruno, und unsere ältere Freundin erklärte uns den Unterschied zwischen kleinen Mädchen und Jungfrauen, die wir jetzt beide nach dem Einsetzen unserer Mondblutung waren. „Ihr müßt euch vor dem Alleinsein mit Männern, die nicht euer Vater oder Bruder sind, hüten! Auch so unbefangen wie bisher dürft ihr nicht mit jungen Männern umgehen, denn die harmlosen Spiele und Neckereien von Kindern bekommen einen anderen Sinn, wenn ihr Frauen seid, und sie könnten mißverstanden und als Aufforderung zu unrechtem Tun betrachtet werden.“ Justina lächelte, als sie unsere ernsthaften Gesichter sah, und machte uns Mut. „Es ist schön, eine Frau zu sein, auch wenn ihr jetzt glaubt, dadurch nur Einschränkungen und Verbote zu erleben! Nur die Frauen erleben das Geheimnis des Lebens, wenn sie ein Kind gebären, und sie sind immer ganz nah an der Seite der Göttin, ob es um Liebe oder Tod geht. Es ist einfach schön, weiche, zarte Brüste zu haben und einen runden Leib, der ein vollkommenes Gefäß der Lust ist für Mann und Frau und ein Hort für kommendes Leben.“ Die schwarzhaarige Frau hielt inne und strich zärtlich über ihren Bauch, umfaßte ihn sanft mit ihren kräftigen, braunen Händen. „Im Frühling, wenn der Schnee geschmolzen ist und die Bäche voll von rauschendem Wasser dahinfließen, wenn die Apfelbäume weiße Blüten tragen und meine Ziegen ihre Jungen werfen, in diesem Frühling werde auch ich ein Kind bekommen, und es wird das Beste sein, was in meinem Leben mit mir geschieht.“
Auf die erstaunten Blicke und entsetzten Ausrufe von Richlint und mir blieb Justina ganz gelassen. Wir fanden es fast unmöglich und sehr aufregend, daß unsere Freundin ein Kind bekommen sollte, so allein wie sie lebte im verfallenen Gutshof draußen im Weinland, weitab von den anderen Höfen und Menschen und nur mit ihren Tieren, und wir wollten alle Umstände genau von ihr erfahren. Justina erzählte uns von Arbeo, dem Vater des Kindes, wie er sich freute und wie sehr er sie liebte und doch nicht zu seiner rechtmäßigen Frau machen konnte, weil sein Vater dagegen und Justina nur die Tochter einer Sklavin war.
„Ich habe keine Angst davor, das Kind alleine aufzuziehen, hier draußen fühle ich mich wohl und ich kenne mich aus. Viele Frauen haben keinen Vater für ihre Kinder, keinen Mann nach dem Gesetz, viele Frauen müssen ihr Kind nach einer Vergewaltigung austragen und gebären und erhalten von niemand Hilfe, und sie überleben doch! Ich freue mich unsagbar auf dieses kleine Wesen, das die Liebe zwischen Arbeo und mir vereint, und mir ist nicht bange vor der Zukunft. So vielen Frauen und Tieren habe ich schon bei einer Geburt beigestanden, so viele Schwangerschaften begleitet, und endlich werde ich selbst dieses Geheimnis des Lebens erfahren dürfen!“
Justina strahlte, und mit ihrer unbändigen Lebensfreude steckte sie uns an und wir lachten mit ihr.
Im vergangenen Jahr hatte sie uns schon einmal mit dieser Freude am Leben sehr geholfen. Ich bekam zum ersten Mal meine monatliche Blutung und fürchtete mich sehr, denn ich hatte keine Mutter mehr, die mit mir darüber gesprochen und mir geholfen hätte. Walburc tat ihr Bestes, sie gab mir schmale Streifen aus leinenem Tuch und weiße, weiche Schafwolle, um das Blut damit aufzufangen, und sie zeigte mir, wie ich alles um meinen Körper wickeln mußte, damit nichts verrutschte. „Du bist jetzt eine Frau, Afra, und du kannst heiraten und Kinder bekommen! Ich werde unserem Vater davon Bescheid geben, damit er bald deine Verlobung in die Wege leitet! Dieses Blut wird jeden Monat zur gleichen Zeit erscheinen, und nur, wenn du ein Kind erwartest, wird es als Zeichen für eine Schwangerschaft ausbleiben. Lästig und unangenehm ist es, das weiß ich wohl, aber wir Frauen sind unreine Geschöpfe, und unser Körper befreit sich von diesen schmutzigen Säften. Die Frau ist von Natur aus schwächlicher als der Mann, und wegen dieser Schwachheit können wir das Übermaß an schlechten Säften nicht täglich heraus schwitzen, wie es die Männer bei ihrer Arbeit tun, sondern es sammelt und reinigt sich in unserem Leib einmal jeden Monat und wir müssen es ertragen. Halte dich in den Tagen, in denen dein Blut fließt, fern von den Männern, auf daß sie nichts bemerken von deinen Umständen, und geh´ nicht in die Kirche oder gar an den Altar, denn du bist befleckt und unwürdig, so vor Gott zu treten! Laß´ die Hände von Kochtopf und Essen, denn es könnte verderben, und sammle keine Kräuter während des Blutflußes, denn ihre Kraft und Wirkung geht dann verloren.“
Mit gesenktem Kopf und dem Gefühl, ein Brandzeichen auf der Stirn zu tragen, so schlich ich in den nächsten Tagen umher und fühlte mich unwohl. Sehnsüchtig erwartete ich den kommenden Sonntag bei Justina, damit sie mir mehr über diese seltsamen Dinge erklärte, und auch Richlint, die jünger als ich war und noch keinen Blutfluß erlebt hatte, war wißbegierig und gespannt.
Justina verhielt sich völlig anders, als wir Mädchen es erwartet hatten. Sie nahm mich freudig in den Arm und begrüßte mich herzlich bei den Frauen, zu denen ich jetzt gehörte, und sie verzog nicht das Gesicht wie Walburc es getan hatte, sondern sie lächelte und ihre Augen glänzten. Während ich ihr erzählte, was Walburc mir gesagt und geraten hatte, schüttelte Justina nur immer wieder ihren Kopf mit den dunklen Locken und erzählte uns dann alles, was sie über die Blutungen wußte. „Das ist falsch, das ist alles nicht richtig, was dir deine Schwester gesagt hat! Jeden Monat aufs Neue bereitet sich dein Körper jetzt darauf vor, ein Kind zu empfangen. Und wenn das nicht geschieht, wird das überflüssige Blut, das die Nahrung für das Kind in deinem Bauch sein sollte, aus dem Körper wieder ausgeschieden, um Platz für frisches Blut zu machen. Da ist nichts Unreines oder Schmutziges dabei, sondern es ist ein wunderbarer und kluger Einfall der Natur, wie die Milch einer Mutter, die nur dann fließt, wenn sie einen Säugling zu ernähren hat! Ich bereite das Essen und sammle Kräuter, auch an meinen Monatstagen, und ich stehe den Kranken und Gebärenden bei, auch wenn gerade mein Blut fließt, und noch nie habe ich festgestellt, daß meine Heilkräfte oder die der Pflanzen darunter leiden, oder daß das Essen verdirbt. Im Gegenteil, manchmal habe ich das Gefühl, daß gerade an diesen Tagen mehr Liebe und Einfühlsamkeit in die göttliche Ordnung in mir ist als sonst!“
Justina legte einen Arm um Richlint und den anderen um mich, und während wir so fast schon getröstet eng beieinander saßen, berichtete sie darüber, was ihr die eigene Mutter zum Blutfluß erzählt hatte. „Das Volk meiner Mutter und auch ihre römischen Nachfolger nannten diese besondere Reinigung die Blüten der Frauen, denn so wie der Baum ohne Blüten keine Früchte hervorbringt, so bleibt es den Frauen ohne die eigenen Blüten versagt, ein Kind zu empfangen. Das ist es, Afra, was dir gerade widerfährt, du trägst deine eigenen Blüten, und darin ist nur Schönes und Reines zu sehen!“
Wir vertrauten Justina mehr als irgendeinem anderen Menschen und waren durch ihre Worte versöhnt mit unserem Schicksal als Frauen. Aber im Dorf erzählten wir niemand von den Blüten und Früchten, nicht einmal Walburc weihten wir ein, denn sie hätte uns nicht verstanden und wäre entsetzt gewesen, wenn wir an der Lehre der Kirche, in der Frauen als schwach und unrein galten, gezweifelt hätten. In Pitengouua hielten wir uns an die Regeln, die für alle Frauen galten, frei oder unfrei, arm oder reich, aber auf dem alten Gut bei Justina waren wir erlöst und glücklich an allen Tagen.
Ω