Das dürre braune Pferd, eingespannt vor einen hölzernen Wagen, der hoch mit trockenen, schwarzen Torfwäsen beladen war, ließ müde den Kopf hängen und schnaubte. Nur noch zwei Männer standen beim Wagen auf dem Dorfplatz unter der großen Linde, alle anderen, die heute im Süßen Flecken beim Torfstechen und Wäsen aufbocken und Beerensammeln dabei gewesen waren, saßen längst in ihren Häusern und Hütten bei der Abendmahlzeit oder lagen schon auf der Bettstatt. Gelber Rauch drang aus den Strohdächern der Häuser in den Abendhimmel hinauf, und eine bunte Katze huschte lautlos über den Weg und verschwand im Loch einer Stallwand. Es war sehr still in Pitengouua, die Arbeit des Tages war getan und keiner war mehr draußen, denn die Menschen fürchteten sich bei Anbruch der Finsternis unter freiem Himmel, vor Feinden, wilden Tieren, Geistern und verlorenen Seelen, und jeder vernünftige Mensch blieb während der dunklen Nacht lieber in der Sicherheit seiner Hütte.

Ohne Worte, nur mit einer müden Bewegung seiner Hand bedeutete Wichard dem Knecht, der neben dem Pferd stand, daß sie aufbrechen wollten, und Berno packte das träge Roß am Halfter und schnalzte aufmunternd mit der Zunge, bis das erschöpfte Tier gemächlich anzog und der Wagen langsam zu rollen begann. Wenn sie sich beeilten, konnten sie es mit dem letzten Licht der Sonne, die bereits hinter dem breiten Rücken des Meierbergs untergegangen war, gerade noch schaffen, vor Einbruch der völligen Dunkelheit in der Burg zu sein.

Ihr Weg führte ein Stück die Pitenach entlang, an der Schmiede mit dem hölzernen Notstand zum Beschlagen widerspenstiger Tiere vorbei, beim daneben liegenden Meierhof durch die breite Furt des Baches hinauf zum Friedhof mit seinen hölzernen Grabkreuzen, der rund um die Kirche des Weilers angelegt war. Beim Durchqueren der Grabstätten murmelte Wichard ein kurzes Gebet, und der Knecht Berno schlug das Kreuzzeichen auf der Stirn und dann zur Sicherheit noch seine Finger schräg übereinander in einer alten, heidnischen Geste, aber heimlich, damit Wichard es nicht bemerkte, denn solcher Aberglaube wurde nicht gern gesehen in einer christlichen Gemeinde. Früher gab man den Toten ihr Hab und Gut, Waffen, Schmuck und manchmal sogar ihr Leibpferd mit ins Grab, damit sie im nächsten Leben zufrieden waren, ihren Rang ausfüllen konnten und keinen Grund hatten, auf die Erde zurückzukehren und ihre Nachkommen heimzusuchen, aber seit es nur noch christliche Bestattungen ohne Beigaben neben der Kirche und keine mehr  draußen vor dem Dorf auf dem uralten Gräberfeld der Ahnen gab, waren sich viele Leute nicht mehr so sicher, daß den Toten gerecht getan wurde und sie die Lebenden in Frieden ließen. Deshalb konnte ein Schutzzauber nicht schaden und tat ja auch niemandem weh, aber Berno wollte seine Furcht, bei Dämmerung den Friedhof zu durchqueren, vor Wichard nicht eingestehen, und machte sein Zeichen deshalb lieber im Verborgenen unter dem Schutz seines Umhangs.

Wichard aber achtete gar nicht auf den jungen Knecht und seine Gesten, sondern ging seinen Weg tief in Gedanken versunken, unschlüssig wegen seiner Unbeherrschtheit gegenüber der unfreien Richlint draußen am Moorsee. Er hatte sich dumm benommen, hitzköpfig und unüberlegt gehandelt, als er das zarte Mädchen so hart geschlagen hatte, das würde ihm viel Ärger einbringen, wenn sein Vater es erfuhr. Und daß er es erfahren würde, das war nicht zu verhindern. Denn heute abend noch würde er Berno ausfragen, über den Verlauf des Tages, über das Verhalten seines Sohnes, dem er keine Führungsrolle zutraute, und wenn Berno ihm die unselige Geschichte nicht noch am gleichen Abend erzählte, dann kamen morgen sicher die aufgebrachten Pitengouuer gelaufen, um Klage zu erheben, daß Wichard die Tochter Eticho´s geschlagen hatte. Diese Richlint mit ihrem eigensinnigen Betragen reizte ihn bis aufs Blut, und das nicht zum ersten Mal! Alle anderen hatten gearbeitet, bis ihnen der Schweiß auf der Stirn stand, und sie hatten viel geschafft, Torf in Ziegeln abgestochen und aufgebockt zum Trocknen, den Wagen mit bereits trockenen Wäsen bis obenhin beladen, die Mädchen hatten fleißig gesammelt, die Körbe randvoll mit Beeren waren sie zurückgekehrt. Nur dieses eingebildete dürre Ding mußte seinen eigenen Weg gehen, abseits von den anderen, und sie erlaubte sich, den Tag zu vertrödeln und nichts zu arbeiten, als wenn sie eine freie Meiertochter oder ein adeliges Burgfräulein wäre!

Wichard atmete tief durch. Nein, er war im Recht, das konnte gar nicht anders sein, schließlich war er als Anführer mitgegangen, um die Arbeit zu leiten, und wenn einer der Dienstbaren nichts tun wollte, dann mußte er seine Strafe erhalten. Wo gibt es das, daß eine Unfreie den Anordnungen des Herrn nicht folgt, und wenn sie zehnmal die Tochter eines Grafen war, so war sie doch  nur eine einfache Magd wie viele andere auch!

In dem Durcheinander seiner Gedanken bei dieser feststehenden Tatsache angekommen, fühlte sich Wichard sehr erleichtert, ihm konnte eigentlich nichts passieren, und er begann wieder, auf seine Umgebung zu achten, und schritt schneller und lockerer aus.

Die zwei jungen Männer hatten mit ihrem Wagen den Friedhof hinter sich gelassen und begannen nun den Aufstieg zum Meierberg, auf dem die Burg, wie die befestigte Zuflucht von den Bewohnern genannt wurde, breit und sicher vor ihnen lag. Ein alter Wachturm und der obere Wall standen schon seit langer Zeit auf dem Berg, aber die große Anlage, die den Bewohnern Pitengouua´s heute Schutz bei drohender Gefahr bot, war erst in den letzten Jahren unter Graf Eticho entstanden. Bischof Udalrich von Augusburc hatte Eticho die Anregung dazu gegeben und den Baumeister vermittelt, der im Augusburcer Raum schon ähnliches gebaut hatte, und nachdem die Einfälle der ungarischen Barbaren im bairischen und alemannischen Land in letzter Zeit wieder häufiger wurden, war eine Schutzbefestigung für die Bevölkerung dringend notwendig.

Steil führte der schmale, gerade wagenbreite Weg zur ersten Anhöhe mit dem riesigen, aus starken Holzbohlen gefertigten Tor und dem daran gebauten Turm, auf dem Tag und Nacht ein Mann bereit stand, den Zugang zu überwachen. Hinter dem Holztor durchschnitt ein abgrundtiefer Graben den Berg, und nur ein enger Weg, den ein mit spitzen  Stöcken befestigter, dichter Zaun sicherte, führte weiter nach oben. Rings um die Anhöhe, mit geringem Abstand, waren große Erdaufschüttungen angelegt, die mit dornigem Gestrüpp und angespitzten Pflöcken bewehrt waren, so daß ein angreifender Reiter gezwungen wurde, vom Pferd abzusteigen, wollte er durch die schmale Gasse den Berg heraufreiten. Das war ein besonders guter Schutz hinsichtlich der wilden Ungarn, die mit ihren schnellen Pferden im Sturm über die Ortschaften herfielen, durch nichts aufzuhalten, und alles erschlugen, was sich ihnen in den Weg stellte.

Entlang der zweiten Anhöhe, nach dem fast unüberwindlichen Graben, lief ein hoher Zaun aus Holz um den Berg, an der Außenseite dicht bewachsen mit stacheligen Hecken und innen an gefährlichen Stellen mit einer Art Gerüst befestigt, auf das man hinaufklettern und so gut darüber blicken konnte. Von diesem Standpunkt aus konnten die Verteidiger der Anlage auf Angreifer mit Pfeilen und Speeren zielen, und waren doch selbst in Deckung. Hinter der Palisade lag eine grüne Rodung, die dem Dorfvieh bei einer Belagerung als Weidefläche diente, und deren Abholzen und Abbrennen sehr mühsam gewesen war. Damit eine gleichmäßige Ebene entstand, hatte man viel Erde abgetragen und zur Erhöhung des darüberliegenden Burgplateaus und zum Absteilen der Hügelhänge verwendet.

Wichard und Berno hatten das große Holztor erreicht, und gaben sich dem Turmwächter, der sie im Dunkeln nicht so ohne weiteres hereinlassen wollte, durch laute Zurufe zu erkennen. “Ihr seid spät dran, der Herr hat schon mehrfach nach euch gefragt,“ rief der stämmige Mann beim Öffnen des Tores, und wieder beschlich Wichard das ungute Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Vor seinem Vater Wicpert, der von Graf Eticho zum Herrn der Burg eingesetzt worden war, hatte Wichard gehörigen Respekt, ja fast Angst, denn dem von Ehrgeiz und eisernen Willen beherrschten Vater konnte er es nie wirklich recht machen. Als zweiter Sohn eines freien Bauern hatte Wicpert seine Zukunft im Kampf für die Angelegenheiten des Grafen gesehen, und als er sich dort ausgezeichnet hatte und dann auch noch eine reiche Frau aus guter Familie gewann, machte ihn Eticho zum Verwalter seiner Burg Pitengouua und schenkte ihm sein Vertrauen.

Wichard scheute die Begegnung mit seinem Vater an diesem Abend, und um sich seine Ängste nicht anmerken zu lassen, kehrte er ganz besonders den Sohn des Burgverwalters heraus und herrschte den Turmwächter an. „Schwatz´ nicht soviel, du Esel, schließ´ lieber das Tor fest hinter uns!“ Der Wagen polterte laut auf der kleinen Bohlenbrücke, die über den tiefen Wallgraben hinter dem Zaun führte, und durch die grüne Viehweide ging es schräg nach oben zum Burgplateau.

Dieser Pfad war nur auf der Talseite durch einen spitzen Pflockzaun befestigt, und an den Hängen zu beiden Seiten des Weges sicherten immer wieder niedrige Flechtwerkzäune die Erde vor dem Abrutschen. Auf einer kleinen Anhöhe links unterhalb der mit einem hohen, festen Zaun ringsum befestigten Burg lagen dichtgedrängt mehrere Wohnhäuser, auf Pfählen gebaute Vorratshütten, Ställe für das Vieh, vertiefte Grubenhäuser und ein aus Weidenruten geflochtener Pferch für die riesige Schweineherde von Pitengouua, die tagsüber von den Hirten zum Mästen in den Doswald, der am Hochufer der Lecha lag, getrieben wurde. Diesen wertvollen Mischwald mit den vielen alten Bäumen, in dem die Schweine genug Eicheln fanden, um im November zur Schlachtzeit rund und fett zu sein, hatte Graf Heinrich, ´der mit dem goldenen Wagen´, ein Großvater des heutigen Herrn Eticho, seiner Gemahlin Atha von Hohenwart als Brautgabe, als Dos gegeben; und seit dieser Zeit hieß der mächtige Lechawald bei den Menschen des Gaus einfach Doswald.

Oben auf der Burg stand das Tor für die Männer mit ihrem Wagen bereits offen, denn der Turmwächter hatte von unten ihr Kommen mit einem vereinbarten Pfiff angekündigt, und auf dem mit groben Steinen gepflasterten Platz vor dem mächtigen Haupthaus der Burg stand Wicpert, eine brennende Fackel in der Hand und erwartete ungeduldig seinen Sohn. „Du hast dir viel Zeit gelassen, Wichard, deine Mutter war in großer Sorge! Geh´ rein zu ihr, damit sie sich wieder beruhigt, wir haben auch Neuigkeiten, ein Händler aus St. Gallen ist heute gekommen mit Berichten aus Altdorf, die wohl auch uns hier in Pitengouua angehen werden. Ich kümmere mich schon um das Abladen!“ Damit du Berno ungestört über mich ausfragen kannst, dachte Wichard, von schlechtem Gewissen geplagt, aber ohne ein Wort der Widerrede machte er sich auf den Weg zum Haus.

Wicpert war ein Mann von eindrucksvoller Statur, sehr groß, mit breiten Schultern und mächtigen Muskeln an Armen und Schenkeln, ein gefürchteter Krieger, wenn er mit dem Grafen hoch zu Pferd in den Kampf zog. Viele kleinere Narben an seinen bloßen Unterarmen und ein roter, wulstiger Strang, der von seiner Stirn über die Wange bis zum Kinn lief, zeugten von harten Auseinandersetzungen. Ein dichter Bart und sein langes blondes Haupthaar, das er im Nacken mit einer Lederschnur zusammengebunden trug, verstärkten den kriegerischen Eindruck genauso wie die befehlsgewohnte, tiefe Stimme, die ihm zu eigen war. Sein Wort war Gesetz auf der Burg, alles sprang gehorsam, wenn er befahl, die eigenen Kinder, Wichard und Liutbirc genauso wie die Leibeigenen. Hinter seinen wasserblauen Augen verbarg sich der unbedingte Wille, für sich und seine Familie mehr im Leben zu erreichen, als das Wenige, was einem zweitgeborenen Sohn allgemein beschieden war, und in seinem ehrgeizigen Weib Uoda, die aus einer wohlhabenden Familie des niederen Adels aus Kembeduno im Herzogtum Schwaben stammte, hatte er die richtige Frau für sein Lebensziel gefunden. Die Zucht und Strenge, mit der die beiden ihre Kinder behandelten, diente nur dazu, ihnen später Platz und Rang in der Gesellschaft zu sichern, sie sollten durch heldenmütige Taten und vorteilhafte Heiraten das Ansehen und Vermögen der ganzen Familie vermehren.

Leider entsprachen weder Liutbirc noch Wichard ganz den anspruchsvollen Vorstellungen der Eltern, die eine war ein dickliches, farbloses Mädchen von zwölf Jahren, bis jetzt ohne jeden körperlichen Reiz und ohne ersichtliche Fähigkeiten im Weben, Sticken oder Führen eines herrschaftlichen Hauses, wie man es doch von der Tochter eines Burgvogts erwartete. Und Wichard, untersetzt und eher stämmig wie seine Mutter, gab zwar bei der Dorfjugend den Ton an und befahl anderen gerne und viel, aber der drei Jahre jüngere Rasso konnte bei weitem besser reiten, mit dem Kurzschwert fechten und mit Pfeilen auf feste Ziele schießen als der etwas träge Wichard, der doch in seinem Vater einen Meister für diese männlichen Tugenden vor den Augen hatte.

Der junge Knecht hatte das erschöpfte Pferd mittlerweile in den Stall, der hinter dem Haupthaus direkt an den hohen Zaun gebaut war, geführt und schüttete gerade Wasser aus einem mit Weidenruten zusammengehaltenen, hölzernen Eimer in die steinerne Pferdetränke, als der Burgherr dazu kam. „Was war los, Berno, wieso habt ihr solange gebraucht heute?“ fragte Wicpert ohne Umschweife, und Berno, der wußte, daß langes Herumreden oder ausweichende Antworten bei seinem Herrn nicht viel Sinn ergaben, erzählte von ihrer langen Suche nach Richlint und dem Schlag, den ihr Wichard versetzt hatte. Zwei ältere Männer, die im spärlichen Licht der Kienspäne die getrockneten Torfwäsen in der hinteren Ecke des Stalls aufschichteten, sprachen kein Wort und spitzten ihre Ohren, damit ihnen von Berno´s Geschichte ja nichts entging. Wicpert stieg das Blut ins Gesicht, als er alles gehört hatte, das konnten die Männer sogar in diesem dürftigen Licht sehen, und er herrschte sie streng an, gefälligst schneller mit ihrer Arbeit fortzufahren, als er eilig den Stall verließ.

Das Hauptgebäude der Burganlage war ein großes Haus mit hohem First, aus Holz, mit dicken Pfosten befestigt, das Dach strohgedeckt und die Wände aus Flechtwerk mit Lehm gefüllt und weiß gekalkt. Wie bei den Bauernhäusern unten im Dorf lief eine Art hölzerne Laube, der Schopf, unter dem vorstehenden Dach rings ums Haus, aber im Gegensatz zu den Bauern teilten die Burgleute ihren Wohnraum nicht mit dem Vieh, das in mehreren Ställen am Zaun entlang untergebracht war. Das Haus war in drei Räume unterteilt, im größten wurde gegessen und getrunken, gespielt und musiziert, die Hausfrau verrichtete dort ihre Handarbeiten und der Hausherr empfing Händler und Gäste. Die zwei kleinen Zimmer hinter dem großen Raum dienten als Schlafkammern, mit jeweils einem Bett aus Holz mit schönen, gedrechselten Stäben und verzierten Docken an der Stirnseite, im Schlafraum der Eltern gab es noch eine große, deckellose Truhe aus Buchenholz, in der Uoda Kleider und ihren schönen Schmuck aufbewahrte. In der anderen Kammer schlief Liutbirc mit einer oder zwei Mägden; wenn allerdings der Besitzer des Hauses, Graf Eticho, im Lande weilte, mußten die Schlafräume für ihn und seine Begleiter geräumt werden, und die Familie drängte sich in einem der kleineren Gebäude der Anlage zusammen, in dem sonst auch Wichard seinen Schlafplatz hatte. Dies rief bei Uoda jedesmal großen Unmut hervor, und sie beklagte sich immer wieder bei ihrem Mann, daß er kein eigenes herrschaftliches Haus besitze und doch nur ein minderer Vasall sei, nicht gut genug für eine vornehme Frau von besserem Herkommen wie sie.

Als Wichard jetzt den großen Raum betrat, saß seine Mutter auf einem der drei mit Schnitzereien verzierten, wertvollen Hocker, die sie besaßen, und spielte mit Liutbirc, die auf ihrem alten einfachen Kinderschemel zu Uoda´s Füßen hockte, ein Brettspiel, das sie Wurfzabel nannten. Brennende Kienspäne, an den Wänden in eisernen Halterungen angebracht, spendeten genügend Licht, so daß das Zimmer auch bei Dunkelheit genutzt werden konnte, und auf dem langen, schmalen Buchenholztisch in der Mitte des Raumes standen zwei gedrechselte Leuchter, in denen Kerzen aus Bienenwachs brannten, die zusätzlich für Helligkeit sorgten. Uoda legte das Spiel sofort beiseite, als sie Wichard sah, stand auf und umarmte ihren Liebling heftig. „Gott sei Dank! Als es dämmerte, fing ich an, mir Sorgen um dich zu machen. Dein Vater hätte dich nicht soweit weg zum Arbeiten schicken sollen, das hab´ ich ihm immer wieder gesagt, was da alles passieren kann, ich mag es mir gar nicht vorstellen!“ Wichard schob die liebkosenden Hände seiner Mutter ungeduldig beiseite. „Mutter, ich bin ein erwachsener Mann! Daran solltest du wirklich denken!“

Unruhig begann er, im Zimmer auf und ab zu gehen. „Luitbirc, was ist das für ein Gast vom Bodinse, von dem Vater gesprochen hat? Wo ist er denn jetzt?“ Die Angesprochene hob den Kopf und schaute ihren Bruder forschend an. „Hat wohl Ärger gegeben, Wiggo, nicht wahr? Du rennst umher, als ob die wilden Ungarn hinter dir wären! Der Mann aus St.Gallen ist Gewürzhändler, wollte nur noch mal nach seinem Pferd schauen und dann den Abend mit uns verbringen. Er nennt sich Hildeger und zieht von Ort zu Ort, um seine Pulver und auch Wein von weither zu verkaufen, und natürlich erfährt er da mancherlei aufregende Neuigkeiten, die er weiter tragen kann. Es scheint, als ob der Graf bald wieder zu uns nach Pitengouua kommen will, gegen den Wunsch seiner Familie, die schon wieder eine standesgemäße Gemahlin für ihn gefunden hat, die er nicht zu heiraten bereit ist!“

Liutbirc lachte höhnisch. „Das wäre ein Schlag für die freche Richlint, wenn die vornehme Grafenfamilie sich doch durchsetzt und Eticho sich endlich anständig vermählt! Da möcht´ ich dabei sein, wenn das Häuslerpack davon erfährt, dann können sie ihre Träume begraben, das wär´ sicher ein Mordsspaß!“

Uoda setzte sich wieder auf ihren Hocker und lächelte bei den Überlegungen ihrer Tochter. „Nicht mehr als recht und billig, das wäre es, Liutbirc! Dann müßten wir unsere Bettstatt nicht mehr räumen für eine schmutzige Unfreie, die der Graf zu sich holt, sondern würden gerne Platz machen für eine wirkliche Dame, die bestimmt auch für uns von großem Nutzen wäre. Denk´ doch nur an die vielen Möglichkeiten, Liutbirc, es ist schon bald Zeit für uns, nach einem angemessenen Ehemann für dich Ausschau zu halten, und mit einer adeligen Frau auf der Burg ergeben sich doch ganz andere Aussichten!“ Die Frauen waren bei ihrem derzeitigen Lieblingsthema, der zukünftigen Heirat von Liutbirc, und das plumpe und gewöhnliche Mädchen bekam glänzende Augen bei den ehrgeizigen Vorstellungen der Mutter.

Wichard hörte den beiden nicht mehr zu, sonder achtete gespannt auf jedes Geräusch von draußen, und als er die barsche Stimme des Vaters vernahm, der auf dem Vorplatz noch Anweisungen für die Unterbringung des Gastes gab, zog er einen der Hocker neben den Stuhl seiner Mutter und setzte sich eben, als Wicpert hereinkam. Mit einem Blick versicherte sich dieser, daß außer den Familienangehörigen niemand im Raum war, und ging dann mit schnellen, entschlossenen Schritten auf seinen Sohn zu. Er packte Wichard am Hemd, zog ihn vom Hocker hoch und ohrfeigte seinen Sohn links und rechts so gewaltig, daß dieser zu heulen begann und hinter dem Rücken seiner entsetzten Mutter Schutz suchte. „Du bist ein Trottel! Die Tochter Eticho´s zu schlagen, ein paar Tage, bevor der Graf kommt, dazu gehört reichlich Blödheit! Was willst du dem Grafen erklären, ha, du ausgemachter Idiot von einem Sohn, wieso du seine geliebte Tochter geschlagen hast? Kannst du nicht einmal denken, bevor du so unsinnig zuschlägst!“

Uoda, die sich zwischen ihren weinenden Sohn und den aufgebrachten Gatten gestellt hatte, mischte sich aufgeregt ein. „Er wird schon einen guten Grund gehabt haben, Herr, dieses Mädchen zu züchtigen, sie wird es verdient haben, da bin ich mir ganz sicher!“

„Sie hat nichts gearbeitet, Vater, nichts hat sie getan den ganzen Tag,“ schluchzte Wichard, „und darüber war ich so wütend, daß mir die Hand ausgerutscht ist!“ Liutbirc wollte etwas sagen, aber ein strenger Blick ihres Vaters hieß sie den Mund halten.

„Das kann sein, Wichard, das kann gut sein, aber du hättest sie trotzdem niemals anrühren dürfen! Eticho´s Tochter zu schlagen! Sag´ dem Meier Bescheid, wenn so etwas vorkommt, soll der sie züchtigen, seine Sklavin ist sie schließlich, er ist für sie dem Grafen gegenüber verantwortlich!“ Müde ließ sich Wicpert auf einen Sitz fallen und stützte seinen Arm auf dem Tisch auf.

„Dem Meier Bescheid sagen! Der behandelt diese Leute doch so vorsichtig wie rohe Hühnereier, Wicpert, das weißt du, der würde das unverschämte Ding niemals richtig bestrafen! Immer nimmt Wezilo Rücksicht auf die Friedelfrau und ihre Kinder, läßt ihr Freiheiten, die ihr nicht zustehen, jetzt hat sie sogar eine Magd, die ihr bei der Hofarbeit hilft, damit sie sich auf die faule Haut legen und die gnädige Frau Graf sein kann. Der geht es besser als mir und meinen Kindern, obwohl wir doch freie Leute von Ansehen und Rang sind und viel mehr wert als die! Ich finde, daß unser Sohn richtig gehandelt hat, er war schließlich für die Arbeit heute im Filz zuständig, und er hat nicht mehr getan, als was jeder Anführer zu tun hat, wenn seine Leute nicht gehorchen. Das Mädchen muß wissen, wo ihr Platz ist, je früher sie das lernt, desto besser für sie. Dieser Hildeger aus St.Gallen hat erzählt, daß Eticho eine Herzogstochter aus dem Frankenland heiraten soll, und dann werden Folchaid und ihre Brut Leibeigene bleiben und keine Rolle mehr spielen, vielleicht werden sie dann sogar weit weg verkauft und wir brauchen nie wieder mit ihnen zu tun haben.“ Zufrieden mit sich ob ihrer langen Rede und die rosigen Zukunftsaussichten für ihre eigene Familie vor Augen, ordnete Uoda ihren Gürtel mit den vielen Anhängern, den sie über dem langen Kleid trug, und setzte sich erwartungsvoll auf ihren Platz, den Arm fürsorglich um Wichard legend, der immer noch schutzsuchend neben ihr stand.

Der Burgherr ließ ein leichtes Stöhnen vernehmen, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und knurrte seine selbstherrliche Frau an. „Weib, du bist genauso dumm wie deine Kinder es sind! Noch ist Eticho nicht mit einer angemessenen Frau verheiratet, und ich bezweifle, ob er es jemals sein wird, noch sind die Kinder der Hure da drunten seine einzigen Kinder, noch ist er der Herr im Gau, dem wir alle zu gehorchen haben! Und wenn doch eintreten sollte, was ihr alle anscheinend nicht in Betracht gezogen habt, daß Eticho´s Vater Roudolf diese Frau frei gibt und Eticho sie zum rechtmäßigen Eheweib nimmt, dann werden sie es uns schwerlich danken, wie wir sie behandelt haben, und es werden wohl wir sein, die dann weit weg ziehen müssen, um noch ein bißchen Glück und Frieden zu finden.“

Empört über Wicpert´s Rede sprang Uoda wieder auf und wollte gerade ihrem Gatten heftig antworten, als sie draußen Schritte und Stimmen vernahmen. „Der Händler! Kein Wort vor ihm zu dieser unseligen Sache, habt ihr verstanden! Und du, Wichard, du reitest morgen früh hinunter ins Dorf, mit einer kleinen Gabe für Folchaid, und bittest um Entschuldigung für deine Unbesonnenheit!“ Der Ton von Wicpert war so bestimmend, daß keiner ein Widerwort wagte, und Wichard senkte ergeben den Kopf, obwohl ihm vor dieser Abbitte, die er morgen leisten mußte, wahrlich graute.

Der Gewürzhändler Hildeger aus St.Gallen, ein rundlicher, kleiner Mann mittleren Alters mit rötlicher Gesichtsfarbe und spärlichen, braunen Haaren auf dem Kopf, bemerkte sofort, daß die Stimmung im Wohnraum nicht die Beste war, obwohl Wicpert ihm freundlich den Ehrenplatz angewiesen hatte und Uoda jetzt zusammen mit ihrer Tochter aus der Kuchl, einer kleinen Hütte am Rande des Burgplatzes, in der für alle Bewohner der Burg gekocht wurde, tönerne Schüsseln und Platten voll leckerer Dinge vor den Gast auf den Tisch stellte.

Gemütlich und leutselig, wie ein tüchtiger Händler sein sollte, fing Hildeger sofort zu erzählen an, und so erfuhr die Familie sozusagen aus erster Hand, denn Hildeger hatte die Gewürze und den Wein für das Hochzeitsmahl geliefert, von dem rauschenden Fest, das anläßlich der Hochzeit von Eticho´s jüngerem Bruder Roudolf mit der zarten Itha von Öhningen in Altdorf im Schussengau gefeiert worden war. Viele vornehme Gäste aus nah und fern waren dazu angereist, wohl an die hundert Menschen, und wie der Händler berichtete, kamen auch die einfachen Leute des Gaus, die Knechte, Mägde und Leibeigenen bei der großartigen Feier nicht zu kurz.

„Da gab´s gute und feine Sachen zum Essen, Frau Uoda, das dürft Ihr mir glauben! Auf der großen Tafel, an der das junge Paar mit dem Herzog in der Mitte der Halle saß, sah ich ganze Fische mit offenen Mündern, gesotten und gebraten, Karpfen, Salm und Neunaugen, und jede Art von Geflügel, die ihr euch vorstellen könnt, Rebhühner, Fasane und Trappen, sogar ein Kranich und ein Pfau waren gebraten und auf einer riesigen Platte kunstvoll mit ihren bunten Federn angerichtet. Wildbret aus den reichen Wäldern des Gaus gab es zuhauf, dunkles, würziges Fleisch von Rothirsch, Wildschwein und Bär, dazu eingelegtes Obst und süßsaure, rote Beeren. Und natürlich gefüllte Pasteten und frisches, noch warmes Brot, verschiedene Gemüse und Getreide, Obst aller Art, Kirschen, Zwetschgen, Weintrauben, Pfirsiche, Äpfel und Birnen. Wenn ich Euch alles aufzählen sollte, würde wohl der ganze Abend darüber vergehen! Aber auch das gemeine Volk kam nicht zu kurz bei diesem Fest, ganze Rinder und Schweine drehten sich am Stock über großen Feuern, und jeder durfte davon essen, soviel er wollte, und Wein und Met trinken, soviel er vertrug. Ja, das war ein Feiern, wie ich es vorher nie erlebt habe, und ein so gutes Essen, daß mir das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn ich daran denke! Obwohl Eure Küche dem wohl in nichts nachsteht, wie ich heute die schöne Gelegenheit habe, zu erfahren,“ schmeichelte der geschickte Händler jetzt der aufmerksamen Hausfrau, das Gesicht glänzend von Fett hielt er ein großes Stück gebratenes Schweinefleisch in den Händen, von dem er zwischen seinen Worten immer wieder genüßlich abbiß. Nachdem er ein zähes Teil voll Sehnen und Flachsen zwischen seinen Zähnen heraus gepopelt und den auf dem Boden liegenden Hunden vorgeworfen hatte, fuhr er geschäftstüchtig fort. „Aber die seltenen und wertvollen Gewürze, die machen eine Speise doch erst zum Hochgenuß, da werdet ihr mir recht geben! Dill und Sellerie sind schon recht für jeden Tag und einen einfachen Haushalt, aber Safran, Nelken, Koriander und die wundervollen Pfefferkörner gehören einfach in ein herrschaftliches Haus! Ein kleines Beutelchen voll davon hab´ ich noch für Euch, Frau Uoda, und dazu ein Fläschchen mit Öl, feinstem Olivenöl, noch sonnenwarm von den Hängen rund um die Ewige Stadt!“

Uoda hörte begierig zu, und war innerlich längst bereit, bei dem geschickten Hildeger zu kaufen, denn was in hochherrschaftlichen Haushalten gepflogen wurde, war ihr ganzer Maßstab. Den Hausherrn aber konnte er nicht so leicht für sich gewinnen, das merkte der tüchtige Händler bald, denn Wicpert saß einsilbig am Tisch und wollte nicht so recht einstimmen in die Begeisterung der Frauen über die fremden Würzen und die feine Lebensart.

„Wir haben immer reichlich und schmackhaft zu essen, dafür sei Gott gedankt, denn nicht allen Menschen geht es so gut, und auch ich habe schon andere Zeiten erlebt! Wenn ich an die harten Winter meiner Jugend denke, als das Futter fürs Vieh nicht reichte und wir im Frühling die geschwächten Tiere aus dem Stall tragen mußten, weil sie keine Kraft mehr hatten, sich aufzurichten! Da haben wir kaum Fleisch gekannt, das kann ich euch sagen, Getreidemus jeden Tag und das, was die Mutter im Wald gesammelt oder im Garten mehr schlecht als recht gezogen hat! Und das hat uns Jungen nicht geschadet, sondern hat uns hart und zäh gemacht! Dieses ganze feine Zeug, Gewürze und Öl und der süße Wein, das verweichlicht doch nur und obendrein ist es viel zu teuer für einfache Burgleute wie uns, sollen es die feinen Herren fressen, die haben auch mehr Gold!“

Der Hausfrau standen schon die Tränen in den Augen, als sie ihren Gatten so sprechen hörte, und die Hoffnung auf ein paar Pfefferkörner und wenige Tropfen Öl, die doch ihrem Ansehen so sehr genutzt hätten, schwand mit jedem seiner Worte etwas mehr dahin. Doch für einen erfahrenen Mann wie Hildeger, der weit herumkam bei seinen vielen Reisen und mancherlei Leute kennengelernt hatte in seinem Leben, war der brave Wicpert mit seinen biederen Ansichten ein leichter Fall. Der gewitzte Händler hörte dem Hausherrn ruhig zu und nickte nur ein paarmal bestätigend bei dessen Schilderung einer harten, entbehrungsreichen Jugend, und als Wicpert mit seiner Rede fertig war, versicherte ihm Hildeger, daß er eigentlich der gleichen Meinung war.

„Ihr habt ganz recht, Herr Wicpert, das seh´ ich genauso! Erst gestern war ich auf dem schönen Gutshof in der Dornau, oberhalb der wilden Lechaschleife, und führte ein ähnliches Gespräch mit dem edlen Herrn Severin und seinem Sohn und Erben Arbeo, der ein stattlicher junger Mann geworden ist, seit ich ihn das letzte Mal sah! Über vergangene, rauhe Zeiten haben wir gesprochen, und darüber, wie gut es uns heute geht! Felder und Wiesen oben auf der Dornau stehen ja prächtig, und sogar eine eigene Hofkirche mit Grablege für die Familie haben sie dort. Aber der edle Herr wollte meine Ansicht über Bescheidenheit nicht teilen, sondern meinte, daß es für hochgestellte Häuser sogar notwendig sei, sich abzuheben von einfachen Bauern, die man doch zu leiten hatte! Auch für die eigenen Söhne sei es von Nutzen, die höfische Art kennenzulernen, damit sie später im Dienst des Herzogs nicht wie Bauerntrampel behandelt würden. Ich muß sagen, der edle Severin hat mich überzeugt, und er kaufte einiges an Gewürzen für die Kuchl seiner Gattin und mehrere Krüge des guten Weins aus dem südlichen Frankenreich, um sie angesehenen Gästen vorzusetzen.“

Hildeger nahm zum Abschluß des Mahls ein paar Haselnüsse und eine saftige Birne aus der hölzernen Schale, die eine junge Magd gerade hereingebracht hatte, und trank aus seinem Tonbecher einen Schluck des sauren, einheimischen Weins dazu, den man stark gewürzt und gesüßt hatte, damit er trinkbar wurde. Ruhig wartete der Händler die Wirkung seiner Worte ab, denn daß sich Wicpert jetzt Gedanken machte und seinem Nachbarn Severin von Dornau nicht nachstehen wollte in herrschaftlicher Lebensweise, war an seinem nachdenklichem Gesicht deutlich abzulesen.

„Siehst du, Vater, wenn die Dornauer sogar Gewürze kaufen....“ platzte Liutbirc vorlaut dazwischen, wurde jedoch durch eine Handbewegung ihrer Mutter, die wieder Hoffnung geschöpft hatte, zum Schweigen gebracht. „Nun,“ begann nach reiflicher Überlegung der Hausherr, „du hast uns doch erzählt, Hildeger, daß der Graf sich mit der Absicht trägt, bald nach Pitengouua zu kommen. Da wäre es ganz recht, ihm süßen Wein statt des sauren Zeugs da vorzusetzen, denn er ist ja die feine Art gewohnt und soll sich hier wohl fühlen. Morgen früh, bevor du weiter reitest, werde ich mir deine Waren in Ruhe anschauen, denn jetzt ist es zu spät und dunkel dazu und außerdem höchste Zeit für die Nachtruhe, ich bin müde nach diesem langen Tag und dem vielen fetten Essen!“