Afra
Meine Geschichte beginnt im Herbst des Jahres 939, als ich in meiner bis dahin sorglosen und heiteren Kindheit zum ersten Mal erfuhr, daß es Neid, Eifersucht und sogar Haß unter den Menschen gab, die mir von Geburt an vertraut waren. Damals zählte ich acht Lebensjahre, die ich nur in unserem kleinen Dorf mit seinen paar Häusern verbracht hatte, und ich fühlte mich immer sicher und geborgen in meiner Heimat und kann mich nicht erinnern, je etwas Böses erlebt zu haben.
Unser kleiner Weiler besteht aus dem mächtigen Meierhof mit seinen Scheunen, Vorratshäusern, dem Badhaus, der Schmiede und den Grubenkellern, ein hoher, zugespitzter Holzzaun mit zwei großen Toren umgibt das ganze Anwesen zu seinem Schutz, dichte Dornenhecken wachsen an allen Zäunen und Wällen. Dann sind da noch fünf etwas kleinere Höfe, auf denen Hörige leben, die an den Graf aus Altdorf genau wie meine Familie Abgaben zahlen müssen und ihm verschiedeneDienste leisten, und ein paar einfache Hütten als Unterkünfte für die unbehausten Leute und ihre Kinder. Wieviel Menschen wir damals waren, kann ich nicht mehr genau sagen, aber es werden mit den kleinen Kindern wohl so an die fünfzig oder sechzig gewesen sein. Mein Vater Wezilo war der Meier des Ortes, ein freier Mann, der den Hof bewirtschaftete und der Grafenfamilie ein treuer Gefolgsmann war, verantwortlich für alles, was sich im Gau ereignete. Mit ihm und meiner Mutter Rautgund, meiner Schwester Walburc, unserer Großmutter Ella und einigen Knechten und Mägden lebte ich auf dem großen Hof. Unser Dorf wird Pitengouua genannt, und es liegt drei Tagesmärsche oder einen scharfen Ritt von Sonnenaufgang bis zur Nacht südöstlich der altrömischen Stadt Augusburc zwischen den wilden Gebirgsflüssen Lecha und Ambra, in einem fruchtbaren Tal an einem Bach, den wir Pitenach nennen, umgeben von hohen Wäldern und dunklen Mooren.
Es war ein herrlicher Spätsommertag, voll Licht und Sonne und warmer Luft, und wir waren sehr früh am Morgen aufgebrochen, um das letzte Heu dieses Jahres von der Lindenau, einer großen Wiese weitab vom Dorf, trocken und sicher in die Heuschober einzubringen. Drei Holzwagen mit je zwei Ochsen davor und ihrem Treiber zur Seite, mehrere Frauen und Mädchen mit Tüchern und Strohhüten auf dem Kopf und hölzernen Rechen in den Händen, vier Graserinnen mit hohen, aus Weidenruten geflochtenen Körben auf dem Rücken, und über den Köpfen dieser ganzen Menschenschar mein Vater Wezilo, ruhig und sicher auf seinem Arbeitspferd, einem dickem, gutmütigen Schecken, so zogen wir los.
Vom Meierhof, meinem Zuhause, direkt an der breiten Furt der Pitenach gelegen, brachen wir auf, voran die Ochsenkarren und dann die lachenden und plaudernden Frauen, am kühlen Morgen noch kein bißchen müde und froh über die Gelegenheit, einen ausgiebigen Schwatz zu halten. Der holprige Weg führte zuerst immer den wilden, über Steine springenden und sich lebhaft schlängelnden Bach entlang Richtung Süden, und in einer Senke beim dritten großen Gumpen, einem tiefen Weiher, den das Wildwasser dort bildete, gabelte sich der Pfad. Wezilo trieb seinen Schecken an die Spitze der kleinen Kolonne, als die Ochsentreiber anhielten, unsicher, welchen Weg sie nehmen sollten.
„Nach links, fahrt nach links zum Schnaitberg,“ rief er ihnen laut zu, „warum sollten wir einen beschwerlichen Weg wählen, nur um den Haslachern nicht zu begegnen! Der Welfengraf hat´s erlaubt beim letzten Gericht, daß wir ihre Pfade benützen, um zu unseren Feldern zu gelangen, und Herr Eticho hat hier wohl mehr zu sagen als der alte Sigiboto.“
Lutold, einer der Knechte, grinste breit und lenkte seine Ochsen in die befohlene Richtung. „Wenn du dabei bist, soll´s mir recht sein, Meier, bloß alleine will ich dem alten Haslacher und seinen Söhnen auf ihrem Grund nicht unbedingt begegnen. Du weißt doch noch, wie sie den alten Poppo zugerichtet haben, als er die Schweine versehentlich durch ihr Feld laufen ließ, der Arme kann heute noch nicht wieder gerade gehen!“
Wezilos Stimme war ernst, als er antwortete. „Die Gesetze sind für alle Menschen gleich, und das werden wir den Haslachern schon auch noch beibringen, daß die Gerichtsbarkeit in Pitengouua liegt und sie mit ihren Händeln dorthin müssen und sich dem Grafen stellen. Wo kommen wir dahin, wenn jeder eingebildete Bauer meint, selber Recht sprechen zu dürfen."
Aufmerksam lauschte ich beim Weitergehen den Reden der Erwachsenen, denn alles, was im Dorf und seiner Umgebung vorging, wollte ich wissen, aber als Lutold und Wezilo gar nicht mehr aufhörten, über die Leute aus Haslach zu schimpfen, wurde es mir bald langweilig und ich sprang wieder wie ein Wirbelwind zwischen dem Trupp hin und her, voller Freude darüber, daß ich heute mit aufs Feld durfte; plauderte dort ein bißchen mit den Frauen, klatschte hier einem braven Ochsen auf die Flanke und strahlte meinen Vater an, wann immer ich ihn zu Gesicht bekam.
Wezilo lachte ob meines Eifers, und trotzdem versuchte er, mich zu mäßigen. „Dir wird die Luft bald ausgehen, Afra,“ rief er mir im Vorbeireiten zu, „das hier ist keine Vergnügungsreise, wir sind zum Arbeiten aufgebrochen!“ Und obwohl er dabei ein strenges Gesicht machte, sah ich doch ein Lächeln in seinen Augenwinkeln und ich spürte, daß er stolz auf seine flinke, kleine Tochter war.
Wir verstanden uns gut, mein Vater Wezilo, und ich, Afra, seine jüngste Tochter, obwohl er über meine Geburt vor acht Jahren nicht glücklich sein konnte, da er sich einen Sohn, der die lange, traditionsreiche Reihe der Meier in unserer Familie fortsetzen würde, mehr als alles andere wünschte. Außer mir hatte er nur Walburc, meine zwei Jahre ältere Schwester, sie war eher das Kind unserer Mutter Rautgund, fromm und ernsthaft wie sie, war Walburc heute lieber zu Hause geblieben, um dort ihren täglichen Pflichten nachzugehen; ein Tag auf dem Feld war unter ihrer Würde als älteste Meiertochter. „Das ist die Arbeit der Mägde, wir haben anderes zu tun,“ hatte sie mir am Vorabend geantwortet, als ich sie bedrängte, doch mitzukommen, und sie flocht ungerührt trotz meiner Bitten weiter ihr braunes Haar zu zwei langen, dicken Zöpfen und preßte ihre Lippen zu einer schmalen, mißbilligenden Linie. Walburc war sich mit ihren zehn Jahren sehr bewußt, daß unsere Eltern keine Söhne hatten und wohl auch keine mehr bekommen würden, und deshalb würde Walburcs zukünftiger Mann der Meier von Pitingow sein, wenn unser Vater tot oder zu alt für diese Aufgabe war. In den letzten Wochen hatte Walburc sich verändert, sehr zu meinem Mißfallen; sie fand unsere bisherigen Spiele kindisch und dumm und hatte vor allem an unseren altvertrauten Spielgefährten immer etwas auszusetzen, bezeichnete sie plötzlich als Häuslerkinder und Sklavenpack und als falschen Umgang für Meiertöchter wie uns. Auf einmal ging sie jeden Tag mit unserer Mutter in die kleine Holzkirche von Pitengouua, die oberhalb des Baches auf einer geraden Anhöhe lag, um sich dort nach der Messe mit Liutbirc, der zwölfjährigen Tochter des Burgvogts, zu treffen und wichtige, sehr geheime Dinge zu besprechen, von denen mich die beiden als zu jung und unerfahren einfach ausschlossen. Das tat mir weh, weil ich an meiner älteren Schwester sehr hing, obwohl wir völlig verschieden waren, und Liutbirc konnte ich überhaupt nicht leiden, weil sie falsch war und sehr eingebildet und ziemlich dumm. „Wie kannst du es nur immer mit dieser häßlichen, blöden Kuh aushalten,“ hatte ich Walburc gestern abend angeschrien, verbittert über ihre Weigerung, mit uns anderen Mädchen morgen aufs Feld zu gehen; und meine Mutter war über diesen Lärm so empört, daß sie mich wieder einmal mit nach draußen unter den Schopf des Langhauses nahm und ernsthaft ermahnte, endlich vernünftig zu werden und ein angemessenes Verhalten an den Tag zu legen. Zu meiner Strafe durfte keine meiner unfreien Freundinnen am nächsten Tag mit zur Heuarbeit, sondern sie wurden alle für andere Aufgaben eingeteilt, und die letzten scharfen Worte meiner Mutter, als sie wieder ins Haus zurückging, hallten den ganzen folgenden Tag in meinen Ohren. „Eine gute Christin schreit nicht laut herum!“
Während ich in Gedanken über den gestrigen Abend vertieft war, zogen wir immer weiter, durch dichten, dunklen Wald auf einem schlechten Weg, mit tiefen Radspuren, viel Gestrüpp und großen Löchern, so daß nicht nur einmal einer der Karren mit seinen hölzernen, eisenbeschlagenen Rädern hängenblieb und die Frauen hinten anschieben mußten, während der Treiber vorne auf die Tiere einbrüllte und mit einem stachligen Knüppel auf die Kruppe der Ochsen schlug, um sie dazu zu bewegen, noch stärker anzuziehen. Die unschuldigen Tiere taten mir leid, und sooft ein Wagen festsaß, sprang ich herbei, um mit meiner ganzen Kraft zu schieben und zu stemmen, damit die Ochsen nicht zu sehr geschunden würden.
Bald jedoch besserte sich der Zustand des Weges erheblich, denn jetzt waren wir auf dem Grund und Boden der reichen Familie, die am Haselbächel unterhalb des finsteren Schnaitbergs lebte, und die hielten nicht nur Haus und Hof in allerbester Ordnung, sondern auch alle Wege und Stege, die zu ihrem Land gehörten, zum Leidwesen ihrer Knechte, zu deren vielen anderen Aufgaben es auch gehörte, regelmäßig die Pfade abzugehen und in ordentlichem Zustand zu halten. Das war harte zusätzliche Arbeit, und auch sonst hatten es die Leute vom Haslacherhof nicht besonders leicht, wenn man den schlimmen Geschichten der Dienstboten Glauben schenken durfte. Ich sah den alten Sigiboto vor mir, mit seinem grimmigen Gesicht, den buschigen Augenbrauen und der tiefen, polternden Stimme, ich hatte mich schon immer ein wenig vor ihm gefürchtet und mied seine Nähe. Als die Haslacher das letzte Mal bei uns in Pitengouua waren und wir Kinder am Gumpen zusammen spielten, genügte ein kurzer, scharfer Pfiff des Alten, daß seine Söhne wie von einer Wespe gestochen aufsprangen und das Spiel abbrachen, um zu schauen, was der Vater wollte, so sehr hatte er auch die eigenen Kinder in der Zucht. Da kann man sich leicht vorstellen, wie es den Knechten und Mägden unter diesem Herrn erging, und ein Zusammentreffen mit dem alten Bauern an diesem schönen Tag erschien mir nicht gerade erstrebenswert.
Wezilo schien diese Gefahr nichts auszumachen, fröhlich pfeifend trabte er auf seinem Schecken voraus und trieb alle zur Eile an, immer wieder forschend nach oben in den blauen Himmel schauend, ob das gute Wetter wohl halten würde. Wir zogen jetzt nicht mehr durch düsteren Wald, sondern entlang abgemähter Wiesen und Felder auf einem weichen, grünen Grasweg, und hatten unser Ziel, die Lindenau, bald erreicht.
„Haimeran, he, Haimo, was sagen deine morschen Knochen? Bleibt uns die Sonne bis heute abend gewogen oder müssen wir mit Unwetter rechnen?“ Wezilo war mit einem Satz vom Rücken seines Pferdes gesprungen und gab die Zügel dem alten Knecht, der mit seinem Ochsenkarren neben ihm gehalten hatte. Der knochige Mann verzog seine Lippen zu einem zahnlosen Grinsen, nur ein paar braune Stummel hatten die langen Jahre in seinem Mund überstanden, und brummelte leise vor sich hin. „Heut´ bleibt´s noch schön, das spüren meine Gelenke, aber wie´s morgen wird, wer weiß das schon, wer weiß?“ Mein Vater lachte laut und begann, die Ochsen auszuspannen. Die Zugtiere und der brave Schecke blieben bei Haimeran zurück, der sie unter den großen Linden, die an der Längsseite des riesigen Feldes wuchsen, zur Weide führte und sich dann im Schatten der Bäume niederließ. Während die Tiere friedlich grasten, lehnte sich Haimeran zum Verschnaufen an einen mächtigen Baumstamm und war schon nach kurzer Zeit fest eingeschlafen.
Haimeran war von allen Knechten meines Vaters bei weitem der älteste, er war sogar der älteste Mann in unserem Dorf, und nur Ella, die Mutter von Wezilo, die bei uns lebte, konnte sich noch an die Zeit erinnern, als er jung und frisch war und mit Rumpold, unserem Großvater, mit Freuden in die Schlacht zog. Von diesen Geschichten aus einer guten, alten Zeit erzählte Haimo uns Kindern bereitwillig, wann immer sich Zeit dafür fand, und die wohl aufregendste von allen war der Bericht über den Kampf von unserem bairischen Herzog Arnulf gegen den deutschen König Konrad 918, bei dem es um die Unabhängigkeit der Baiern ging und in dem der König auf dem Schlachtfeld getötet wurde, diese Erzählung wollten wir immer wieder hören. Auch Rumpold, Wezilo´s Vater, wurde an diesem schrecklichen Tag schwer verletzt, und nur Haimo´s Umsicht war es zu verdanken, daß er lebend wieder nach Pitengouua zurück kam. An der Verwundung aber litt Rumpold sein Leben lang, und er starb früh, so daß sein Sohn Wezilo bereits mit 22 Jahren Meier des Dorfes wurde und die Verantwortung für viele Menschen auf ihm lastete. Durch die Geschichten von Haimeran erfuhren wir Kinder viel über die Vergangenheit unseres Dorfes, über seine Familien und Traditionen, und ich hatte das Gefühl, daß auch mein Vater gerne dabei zuhörte, wenn er sich auch immer den Anschein gab, mit irgend etwas anderem sehr beschäftigt zu sein. Eng aneinander gekuschelt saßen wir an langen Wintertagen auf der Ofenbank, Walburc, Richlint und ich, während Haimeran, das spärliche Licht des Herdfeuers nützend, gerissene Zügel und Sattelschlaufen und Maulriemen reparierte und dabei von den Helden vergangener Zeit und ihren großen Taten erzählte.
Dieser alte Mann, der jetzt friedlich unter der schattigen Linde schlief, war mir von allen Knechten und Hörigen unseres Dorfes der Liebste, und bei den Frauen war es wohl Folchaid, die mir eben zuwinkte und einen Rechen für mich bereithielt. „Komm, Afra, wir arbeiten zusammen auf der Seite bei den Bäumen,“ rief sie, und das war mir gerade recht, denn dort war es nicht so heiß wie in der Mitte des Feldes, wo sich die anderen bereits verteilt und mit der Arbeit begonnen hatten. Wir gingen nebeneinander bis zum Ende der langen Wiese, die hölzernen Rechen geschultert, über graugrünes, strohtrockenes Gras, das die Männer schon vor Tagen mit Sensen und Sicheln gemäht hatten, und Folchaid sagte mit ihrer leisen, sanften Stimme : „Wir müssen Gott danken für die Sonne der letzten Tage, mit ihrer Hilfe bringen wir in diesem Jahr die ganze Ernte und das Futter für die Tiere trocken und sicher in die Scheunen,“ und zweifelnd sah ich sie von der Seite an, denn bei Folchaid war ich mir nie ganz sicher, ob sie meinte, was sie sagte oder ob ein anderer, tieferer Sinn hinter ihren meist unschuldig klingenden Worten lag. Gottes Lob auszusprechen, unaufgefordert und ohne Anlaß, war sonst gar nicht ihre Art, das paßte besser zu meiner Mutter Rautgund, und Folchaid ging auch nur sonntags mit ihren Kindern zur Messe, und das war die mindeste Pflicht eines Christen. „Oder hätte ich Göttin sagen sollen?“ zwinkerte sie mir jetzt zu, und als mir ganz heiß wurde und die Röte ins Gesicht stieg, huschte ein Lächeln über ihre zarten Züge und sie drückte beruhigend meine Hand.
Folchaid wußte, daß Richlint und ich viel Zeit bei Justina, draußen im Weinland beim alten römischen Gutshof verbrachten, und daß meine Mutter dies gar nicht gern sah, denn Justina´s Mutter war eine Sklavin aus Etrurien gewesen und hatte ihrer Tochter Worte einer fremden Sprache und ein geheimes Wissen hinterlassen, das Rautgund heidnisch nannte und von dem sie nichts hören wollte. Wir Mädchen jedoch waren fasziniert von Justina´s Erzählungen aus diesem fernen, warmen Land und von einer Sicht der Dinge, die so ganz anders war als diejenige in unserem Dorf, und wie alles Verbotene hatten unsere Besuche in dem steinernen Haus einen besonderen Reiz.
Folchaid und ich begannen zu arbeiten, rechten das Heu in langen Bahnen zusammen und diese dann wiederum zu großen Haufen, an denen die Ochsenkarren später anhalten würden, um das gemähte Gras aufzuladen. Die Arbeit war schwer für ein Kind von acht Jahren wie mich, und schon bald schmerzten mein Rücken und meine Arme von den ungewohnten Bewegungen mit dem Rechen, und der Schweiß lief auf meiner Stirn und in meinem Nacken zusammen und zwischen meinen Schulterblättern den Rücken hinab. Immer wieder stützte ich mich auf meine hölzerne Harke, wischte mit einem Zipfel meines Kleides das Wasser vom Gesicht und beobachtete Folchaid, die unbeirrt und scheinbar nicht müde weiter arbeitete und kein einziges Mal aufsah. Trotz ihres unförmigen Körpers, denn sie erwartete in wenigen Wochen ihr viertes Kind, war Folchaid sehr schön, und alle Menschen, Männer und Frauen, hielten den Atem an, wenn sie Folchaid das erste Mal sahen. Mit ihrer zarten, elfenbeinfarbenen Haut, den verträumten, haselnußbraunen Augen mit dem Kranz aus dichten, dunklen Wimpern und ihren vollen, roten Lippen wirkte sie ungewöhnlich, wie eine Fee aus vergangenen Zeiten, die in alten Bäumen lebt und sich den Menschen nur im Traum zeigt. Ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen war fein und ebenmäßig, die dunkelbraunen, üppigen Brauen betonten in leichtem Bogen die Augen, ließen sie noch größer erscheinen, als sie ohnehin schon waren, und ihr maronenfarbenes Haar glänzte im Sonnenlicht wie die Federn einer Wasseramsel nach dem Auftauchen.
Graf Eticho aus der Welfenfamilie in Altdorf sah Folchaid zum ersten Mal, als sie zwölf Jahre alt war, und obwohl sie eine Unfreie war, die er niemals hätte beachten sollen, war er von der Anmut ihrer Bewegungen und ihrem Aussehen so hingerissen, daß er sie gegen den Willen seiner einflußreichen Familie zu seiner Friedelfrau nahm und schon drei Kinder mit ihr hatte. Meine Freundin Richlint war die Zweitgeborene aus dieser Verbindung, mit ihren sieben Jahren zwar jünger, aber trotz ihrer Lebhaftigkeit doch viel ernsthafter als ich, ihr Bruder Ratbod, den alle Rasso riefen, war fünf Jahre älter als Richlint und ein sehr gut aussehender, schweigsamer Junge. Der jüngste Bruder, noch ein Wickelkind, wurde nach seinem Vater Eticho getauft, und in Folchaid lebte deshalb wieder die Hoffnung auf, doch noch die rechtmäßige Frau des Grafen zu werden und ihre Kinder in Freiheit zu sehen, denn die Kinder einer Unfreien waren wie die Mutter Besitz ihres Herrn, ganz gleich, welchen Rang der Vater hatte.
Ich wurde immer müder, und während ich langsam weiter arbeitete, Folchaid´s Vorbild vor Augen, dachte ich an meine Freundin Richlint und die anderen Mädchen, die an diesem schönen Herbsttag von meiner Mutter den Auftrag bekommen hatten, mit den Torfstechern unter der Aufsicht von Wichard, dem Sohn des Burgvogts, zum Moorsee hinauszufahren und Beeren und Pilze zu sammeln, damit für den Winter genügend Vorräte beisammen waren. Vielleicht hätte mir das doch besser gefallen, als hier in der Hitze Heu zusammen zu rechen, und ich freute mich schon jetzt auf den Abend, wenn Richlint und ich wieder zusammen sein und über alles, was sich ereignet hatte, reden konnten.
Mitten hinein in die Stille meiner Gedanken dröhnte plötzlich ein fürchterlicher Schrei in meinen Ohren, laut und schmerzerfüllt klang er, ging in leises, langgezogenes Wimmern über und verhallte dann langsam in der Luft. Voller Unruhe ließ ich den hölzernen Rechen sinken und schaute mich um. Auf dem großen Feld waren alle bei der Arbeit, Frauen und Kinder rechten das Heu zusammen, schichteten große Häufen trockenen Grases, an denen die schweren Ochsenkarren vorbeifuhren und schwitzende Männer die Wagen damit beluden. Niemand außer mir schien diesen lauten Schrei gehört zu haben, keiner schaute auf und unterbrach seine Arbeit. Ich stützte mich auf die Harke und ließ meinen Blick langsam über das ganze Feld gleiten, sah all die vertrauten Gesichter, hörte Rufen und Lachen und das Poltern der Karren, die zum nächsten Heuhaufen fuhren. Die tiefe Unruhe, die der schmerzvolle Schrei in mir ausgelöst hatte, wich langsam, als ich sah, daß alles in Ordnung war und niemand sich verletzt hatte oder vom Wagen gefallen war. Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht, es könnte der Ruf eines Brachvogels gewesen sein, vom Winde verzerrt.
Die blaugrauen Augen meines Vaters, der ein Ochsengespann vorbei führte, trafen sich mit den meinen, forschend blickte er mich an, und schuldbewußt ob meines Müßiggangs senkte ich den Kopf und arbeitete weiter, fuhr mit dem Rechen ins trockene Heu, zog es zu mir heran und dann auf den schon recht großen Haufen an meiner Seite. Ich war zwar das erste Mal bei der Feldarbeit dabei, und ich war noch ein Kind, von dem man nicht zuviel erwarten konnte, aber meinen Vater wollte ich auf keinen Fall enttäuschen, er sollte stolz auf mich sein. Bisher hatte ich nur im Dorf mitgearbeitet, im Gemüsegarten der Mutter, beim Spinnen und Weben in den kühlen Grubenhäusern, beim Kochen, beim Beeren - und Kräutersammeln, bei allen Arbeiten eben, die Frauensache waren, und die unsere Mutter Walburc und mich lehrte, damit wir tüchtige Meiersfrauen würden. Meine Schwester gab sich damit zufrieden, und sie verlangte nicht nach anderen Aufgaben, aber ich wollte alles kennenlernen, was zu unserem Dorf und Leben gehörte, und war deshalb auf eigenen Wunsch mit zur Heuernte gegangen. „Du hättest ein Bub werden sollen, kleine Neugierige!“ scherzte mein Vater öfter, und meine Mutter schüttelte tadelnd den Kopf über mein oft vorwitziges Betragen, das nicht immer zu einem braven christlichen Mädchen paßte.
Den ganzen langen, warmen Tag verbrachten wir so auf dem Feld, unterbrochen nur von einer Brotzeit im Schatten der großen Linden, es gab kühles Wasser aus einer kleinen Quelle für den Durst, und Brot und harten Käse, den wir in feuchte Tücher gewickelt mitgebracht hatten. Gegen Abend waren die letzten Heuhaufen auf die Wagen geladen, die Mädchen hatten das grüne Gras vom Wegrand als frisches Futter für das Vieh in vollen Körben gesammelt, und müde und verschwitzt machten wir uns auf den Weg nach Hause. Jetzt hüpfte ich nicht mehr fröhlich voraus wie bei unserem Aufbruch am Morgen, sondern trottete langsam und todmüde mit den anderen Frauen und Mädchen hinter den Ochsenkarren einher; kein Mitleid mit den Ochsen, sondern nur noch für mich selbst verspürend. Der Rechen auf meiner Schulter war so schwer, als wenn er aus Eisen wäre, und die vielen Blasen an meinen Händen brannten wie Feuer. Auch Folchaid war langsamer geworden, sie sprach lange Zeit gar nichts mehr und ihr Gesicht war blaß und eingefallen. Als Wezilo sie so sah, am Ende des Trupps, mit schleppendem Schritt und müde hängenden Schultern, ließ er den letzten Karren anhalten. „Komm, steig´ auf den Wagen, Folchaid, du hast mit dem Kind in deinem Bauch ja doppelt zu tragen,“ sagte er leise zu ihr, und als sie abwehrend die Hand hob und den Kopf schüttelte, sprang er vom Pferd, packte sie an den Schultern und schob sie einfach so dicht an den Wagen, daß Folchaid gar nichts anderes übrig blieb, als hinauf zu klettern. Die anderen Frauen waren stehengeblieben und hatten das Geschehen genau beobachtet, aber als Wezilo wieder auf seinen Schecken stieg und ihnen dabei einen langen Blick zuwarf, senkten sie die Köpfe und gingen weiter. Der Ochsenkarren setzte sich erneut in Bewegung und mein Vater ritt ganz nach vorne, um den Anschluß wieder herzustellen. Kaum war Wezilo außer Hörweite, begannen die Frauen zu tuscheln. „Na, Hilde, hast schon zwei Kinder in deinem Bauch getragen und bist noch nie wie eine Herrin auf dem Karren mitgefahren!“ flüsterte Agnes, die als ledige Magd auf dem Meierhof lebte und gerne ratschte, der dicken, blonden Frau neben ihr zu, und die sonst so gemütliche Hilde antwortete gehässig: „Ich lieg´ja auch nicht mit dem Herrn Eticho im Bett, sondern bloß mit meinem alten Adalbert, so wie es sich gehört für anständige Leute, die sich rechtmäßig verheiraten.“ „Man macht einem Mann, der als Ehemann nicht in Frage kommt, weil er im Rang weit über der Frau steht, auch keine schönen Augen und lockt ihn nicht aufs Nachtlager!“ mischte sich die alte Schmiedin jetzt ein, mit einem bösen und neidvollen Blick auf Folchaid, die vor uns auf dem Karren saß und bestimmt merkte, daß über sie gesprochen wurde, denn sie senkte den Kopf und eine leichte Röte breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Ich verstand nicht, warum die Frauen auf einmal so böse auf Folchaid waren, so ein gehässiges Gerede hatte ich von ihnen noch nie vernommen, aber die alte Schmiedin konnte ich sowieso nicht leiden, weil sie zu uns Kindern immer so süß tat und uns über alles aushorchen wollte und dann die Leute ausrichtete. Deshalb schaute ich ihr jetzt fest ins Gesicht und sagte, daß mein Vater wohl wissen werde, was er zu tun habe, und daraufhin stieß Agnes Hilde mit dem Ellbogen in die Seite und alle blickten sich bedeutungsvoll an und schauten auf mich und sagten nichts mehr.
Wir hatten jetzt wieder den Wald erreicht und wanderten schon ein gutes Stück auf fremdem Grund, als der Zug plötzlich stoppte und Unruhe entstand. Meine Müdigkeit vergessend lief ich nach vorne zu meinem Vater, dem sich auf dem schmalen Waldpfad die Haslacher in den Weg gestellt hatten. Alle vier waren sie da, der alte Sigiboto mit seinen Söhnen Utz, Chuonrad und dem kleinen Leonhard, auf schönen, rassigen Pferden, keine Arbeitstiere, sondern richtige Schlachtrösser, damit jedermann gleich sah, mit was für einer reichen Familie er es zu tun hatte. Mit ledernem Wams, Helm und Wehrgehänge ausgerüstet, sahen sie aus wie auf dem Weg zu einem Gefecht, aber Wezilo ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern stieg bedächtig von seinem Pferd ab und ging mit ausgestreckter Hand auf Sigiboto zu.
„Gott zum Gruße, Sigiboto von Haslach, was für eine Freude, dich selber wieder einmal zu treffen!“ rief mein Vater dem grimmigen Alten zu, und bei dieser freundlichen Begrüßung blieb dem Haslacher nichts anderes übrig, als ebenfalls vom Pferd zu steigen und Wezilo die Hand zu reichen. „Wir kommen von der Lindenau und haben gerade das letzte Heu eingebracht,“ sagte Wezilo, „und wir sind froh, eure guten Wege benutzen zu dürfen, das erspart uns allen viel Mühe, dafür danken wir euch. Und ihr, seid ihr auf dem Weg zu einer Gerichtssitzung oder jagt ihr Räubern nach, da ihr euch so bewaffnet habt?“
Durch seinen Dank für die Wegbenutzung hatte Wezilo den Haslacher durcheinander gebracht, und ich fand die Rede meines Vaters sehr geschickt, mußte Sigiboto doch jetzt erst einmal auf Wezilo´s Frage antworten. Mit einer Handbewegung befahl er dem riesigen, hellbraunen Hund, der ihn überall hin begleitete und jetzt schwanzwedelnd um ihn herumsprang, sich ruhig auf die Erde zu legen, und suchte mürrisch nach den passenden Worten. „Wir, ja, wir sind nicht auf Räuberjagd, nein, nur nach dem Rechten schauen, das Land ist groß, wie du weißt, Wezilo, und es ist besser, wenn ein Mann weiß, wer auf seinen Wegen unterwegs ist. Das können meine Söhne nicht früh genug lernen, daß Wachsamkeit in diesen unruhigen Zeiten, in denen Barbaren unsere Heimat verwüsten und fremde Händler mit neuartigen Sitten und Gebräuchen uns heimsuchen, ja, daß Wachsamkeit nötig ist, um Heim und Hof zu erhalten.“
Mein Vater mußte ein Lächeln unterdrücken bei der aufwendigen Rede des sonst so wortkargen Haslachers, und er wandte sich freundlich den drei Söhnen zu, um ein paar Worte mit ihnen zu wechseln. Ich selber sprach keinen Ton, sondern beobachtete nur alles, denn von Sigiboto wußte ich, daß er auf die Meinung von Frauen oder gar Mädchen keinen Wert legte und sich nur mit Männern unterhielt, die Stimme seiner eigenen Frau Hedwig hatte ich bisher nur im Gespräch mit meiner Mutter Rautgund vernommen, aber auch nur, wenn keine Männer anwesend waren. Nach ein paar Höflichkeiten auf beiden Seiten stiegen die Männer wieder auf ihre Pferde, Leonhard, mit dem Richlint und ich schon oft gespielt hatten, zwinkerte mir noch zu, ohne daß sein Vater es bemerkte, und in entgegengesetzte Richtungen zogen wir auseinander, die Haslacher zu ihrem Anwesen am Fuße des Schnaitbergs und wir nach Hause, nach Pitengouua.
Die Sonne stand schon hoch im Westen, über dem mächtigen, langen Rücken des Burgbergs, der den wilden Gebirgsfluß Lecha und unseren Weiler trennte, als wir im Dorf eintrafen und alle zusammen das Heu in die Scheunen schichteten; die Männer warfen es von den Wagen herunter und die Frauen und Mädchen trugen es in dichten Bündeln in die staubigen Holzschuppen, wo es für den langen Winter als Viehfutter gelagert wurde. Die Graserinnen gingen mit ihren vollen Körben gleich zu den Ställen, die im hinteren Teil des Hauses lagen, um das schon laut muhende und meckernde Vieh zu füttern und dann auch zu melken. Folchaid sah nicht viel besser aus als vor unserer Abfahrt in der Lindenau, das Rütteln auf dem Karren bei all den tiefen Löchern und großen Steinen hatte ihr wohl doch nicht gut getan, sie winkte mir müde zu, als sie sich zu ihrer kleinen Hütte wandte. „Nach dem Abendmahl komme ich bei euch vorbei!“ rief ich ihr nach, nicht sicher, ob sie es noch gehört hatte, und dann machte ich mich selber auf den Heimweg, in den Meierhof, wo meine Mutter und Walburc mit dem Essen schon auf uns warteten.
Es dämmerte bereits, als ich mich von den Töpfen und Schüsseln am Herd davonschlich und die Arbeit Walburc überließ, schließlich hatte ich heute schon genug gearbeitet und aufs Töpfescheuern keine Lust. Auf dem großen Hofplatz war Ruhe eingekehrt, die Kühe, Ziegen und Schafe wohlbehalten in Stall und Gatter, das Federvieh versorgt, und Wezilo saß müßig unter dem hölzernen Schopf, der das ganze Haus umlief, unseren struppigen, wolfsgroßen Hofhund Ludo neben sich, der an einem alten Knochen nagte, zufrieden, den Herrn wieder zu Hause zu haben. „Na, Afra, noch nicht müde genug für die Bettstatt?“ lächelte mir mein Vater zu, und ich drückte ihm einen Kuß auf die Backe und streichelte kurz über Ludo, bevor ich mich auf den Weg zu Folchaid´s Hütte machte.
Das kleine Haus lag hinter der mächtigen Dorflinde, ein Stück die Pitenach hinab, neben einem dichten, schöngewachsenen Hollerbusch, und als ich die sperrige Holztür aufstemmte, kam mir der Rauch des Herdfeuers und das Greinen des kleinen Eticho´s entgegen. Eine alte Magd, die die Kleinkinder versorgte, wenn die Frauen bei der Feldarbeit mithalfen, stand am Herd und rührte in einem eisernen Topf; der beißende Rauch des Feuers hing im ganzen Raum und fand nur schwer seinen Weg nach draußen, hinauf in den First und durch das strohgedeckte Dach ins Freie. Ich mußte husten, und Folchaid, die gerade ihr jüngstes Kind wickelte und mit dem Rücken zu mir stand, wandte mir ihr besorgtes Gesicht zu.
„Afra! Rasso und Richlint sind noch nicht zurück, und es ist schon gleich dunkel!“ rief sie mir entgegen, und ich versuchte, sie zu beruhigen. „Da ist nichts passiert, Folchaid, mach´ dir keine Sorgen, es sind ja mehrere Leute dabei, auch Männer, was soll da schon sein!“ Folchaid setzte sich auf die hölzerne Bank am Herd, die Hände im Schoß, und seufzte. „Du weißt, wie leichtsinnig Richlint oft ist, wenn sie ihren eigenen Weg geht und nicht bei den Anderen bleibt, da sind giftige Schlangen im Filz und wilde Bären im Wald und sie träumt gerne vor sich hin und gibt auf nichts acht!“
Während Folchaid so über Richlint klagte, waren von draußen Rufe und das laute Poltern eines Wagens zu hören, das mußten sie sein, und ich lief erleichtert zur Tür, um sie für die Ankommenden aufzuhalten. Rasso kam zuerst herein, mit schmutziger Kleidung und verdreckten Händen, und sein mit brauner Erde beschmiertes, ganz schwarzes Gesicht war müde und sehr ernst. „Mutter,“ begann er zu sprechen, und da war Folchaid schon mit einem Aufschrei aufgesprungen, denn Richlint war hinter Rasso in die Hütte getreten, und ihr Anblick war erschreckend. Klein und mager stand sie da, in ihrem einfachen Hemd, sie zitterte am ganzen Leib, konnte kein Glied ruhig halten. Ihr rechtes Auge war geschlossen, die Lider dick und rot angeschwollen, und über der Augenbraue klaffte eine offene Wunde, aus der anscheinend Blut über ihr Gesicht gelaufen und jetzt getrocknet war. Sie brachte kein Wort heraus, stand nur bebend da und schaute uns an.
Folchaid packte Richlint an der einen Hand und ich an der anderen, so zogen wir sie auf die Herdbank, und während ich mich zu Richlint setzte und ihr ununterbrochen beruhigend über den Arm streichelte, holte Folchaid eine Schüssel mit warmem Wasser vom Herd, mischte eine Handvoll getrockneter Kräuter, die sie in einem Weidenkorb über ihrer Bettstatt aufbewahrte, darunter, und begann, die Wunde auf Richlint´s Stirn vorsichtig auszuwaschen.
„Was war los, Rasso?“ fragte sie in eindringlichem Ton ihren Sohn, über ihre Schulter hinweg warf sie ihm dabei einen dunklen Blick zu, der nichts Gutes verhieß. Der große, schlanke Rasso lehnte erschöpft mit dem Rücken an der Tür und schaute seiner Mutter zu, wie sie Richlint versorgte. „Es war ihre Schuld, Mutter, es war wirklich ihre Schuld, aber Wichard hat die Fassung verloren, du weißt doch, wie unbeherrscht er ist, er hat sie mit der Faust ins Gesicht geschlagen.“ Rasso wußte, daß Folchaid alles ganz genau wissen wollte, und so erzählte er der Reihe nach. „Wir sind kurz nach euch aufgebrochen, zum schwarzen Moorsee hinaus, Ternod, Eberolf und ich, und dann die Mädchen, die Beeren pflücken sollten, wie´s die Meierin befohlen hatte. Wiggo von der Burg hat uns angeführt, das tut er ja gern, Anführer spielen, und er hat jedem gesagt, was er zu tun hat und wo er hingehen soll. Wir Männer haben Torf gestochen, es war heiß und schwere Arbeit, und um die Mädchen haben wir uns nicht viel gekümmert. Als es dann höchste Zeit zum Aufbruch war, denn es ist ein gutes Stück nach Hause, waren die anderen Mädchen alle da, mit Körben voll roter und schwarzer Beeren, alle, nur Richlint war nirgends zu sehen. Wir haben nach ihr gerufen und gepfiffen und bestimmt eine ganze Weile gesucht, schon in Angst, daß ihr etwas geschehen sein könnte. Bis Wichard sie dann gefunden hat, im Wäldchen beim Moorsee, beim Beerenpflücken, aber mit völlig leerem Korb.“
Rasso holte tief Luft und fuhr fort. „Wichard war so aufgebracht, daß er sie am Arm hochgerissen und blindwütig auf sie eingeschlagen hat. Sie hat nichts getan, den ganzen Tag, weißt du, nichts gesammelt, nicht die kleinste Moosbeere! Und dann mußten wir sie auch noch suchen, weil sie nicht von selber zurückgekommen ist, und deshalb sind wir so spät wieder im Dorf und fast in die Dunkelheit geraten. Aber Wiggo hat seine Wut bedauert, glaube ich, auf dem Heimweg war er ganz still und hat kein Wort mehr gesprochen.“
Folchaid hatte sich den Bericht ihres Sohnes ganz ruhig angehört und dabei Richlint´s Gesicht gewaschen, und jetzt bat sie die alte Magd, ihr von den Schafpferchen ein paar frische Wegerichblätter zum Auflegen auf die Wunde zu holen, denn dort wuchs die Heilpflanze üppig. Kaum hatte die Alte die Hütte verlassen, drehte sich Folchaid herum, und in ihrem feinen Gesicht lag ein Ausdruck, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, ein tiefer, stummer Schmerz in den Augen wie bei einem schwer verletzten Tier. Die Worte brachen mit einer solchen Gewalt aus ihr heraus, daß wir alle, sogar der kleine Eticho, sie nur regungslos anstarrten.
„Ihr! Ihr alle! Habt ihr immer noch nicht verstanden, daß wir Sklaven sind in diesem Dorf, nichts als Dreck unter den Füßen der Herren! Wir müssen uns ducken, unsere Arbeit tun und nicht klagen über unser Leben, das sowieso nichts wert ist in den Augen der Reichen! Du, Richlint, und du vielleicht auch, Rasso, ihr meint wohl, weil der Graf Eticho aus Altdorf euer Vater ist, könnt ihr euch Freiheiten herausnehmen, die andere von Geburt an haben, Zeit vergeuden und spielen und nichts arbeiten! Ihr habt keine Knechte und Mägde, die für euch Brot und Bier und Wolle herbeischaffen, ihr seid selber Dienstboten, werdet nach nichts gefragt, euch wird befohlen.“
Folchaid´s Stimme brach ab, erschöpft ließ sie sich auf die Herdbank sinken. Leise fuhr sie fort, die Hände in ihrem Schoß ständig reibend vor Anspannung, den Blick jetzt mit Mitleid auf die zitternde Richlint gerichtet. „Du mußt das tun, was man dir aufgetragen hat, Richlint. Du darfst nicht irgendwo träumen und den Tag verstreichen lassen, Wichard war im Recht, dich zu bestrafen. Dich so hart zu schlagen, das hätte er nicht zu tun brauchen, das hätte er bei einer anderen auch nicht getan! Aber uns, mich und meine Kinder, uns hassen sie besonders, weil wir mit Eticho zusammen sind, und weil sie nicht wissen, ob ich nicht doch eines Tages seine Frau sein werde, und damit ihre Herrin. Aber diesen Traum habe ich noch nie wirklich geträumt, denn nie ist in meinem Leben das eingetreten, was ich mir erhofft habe!“ Folchaid sprach jetzt voll Bitterkeit. „Schön war ich, das schönste Mädchen im ganzen Gau, doch heute spucke ich auf diese Schönheit, denn sie hat mir nichts als Kummer gebracht! Ich bin nicht gefragt worden von Eticho, ob ich seine Friedelfrau werden will, er hat mich einfach genommen! Lieber wäre ich häßlich, und hätte einen Mann wie die anderen, einen, der jeden Abend in meine Hütte zurückkommt und dessen Kinder ich mich nicht zu schämen brauche.“
Es war ganz still im Raum nach den harten Worten von Folchaid, und als sie nach einer langen Weile wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme nur noch müde, aber so sanft, wie wir es von ihr kannten, und sie legte ihren Arm um Richlint und drückte sie fest an sich. „Nein, ich schäme mich nicht für euch. Ihr seid meine Kinder, und ganz gleich, wer euer Vater ist, ich liebe euch mehr als mein Leben. Nur bewahren, behüten will ich euch vor all dem Kummer, den ich erlitten habe. Es ist besser für euch, wenn ihr wißt, wo euer Platz im Dorf ist, wenn ihr keine Hoffnungen in diesem Leben habt, die doch nie in Erfüllung gehen. Ihr seid unfrei, Hörige in Pitengouua, und das werdet ihr bleiben, ihr und auch eure Kinder, genauso wie ich und meine Mutter vor mir.“
Rasso reckte seinen schmalen Jungenkörper hoch und antwortete trotzig: „Dann geh´ich eben weg von hier, und werde in einem anderen Gau ein freier Mann, wer für den Herzog tapfer kämpft, dem stehen alle Wege offen!“ Folchaid mußte über den Eifer ihres Sohnes lächeln, sie stand auf und ging zu ihm hin, um ihn in den Arm zu nehmen. „Du hast ja noch nicht einmal ein Pferd, um in den Kampf zu ziehen, Rasso, bleib´ doch noch eine Weile bei uns und behüte deine Mutter und deine Geschwister!“
Die Tür ging auf, und die alte Magd kam mit einigen Wegerichblättern zurück, die Folchaid kurz mit Wasser abspülte und dann fest auf die Wunde auf Richlint´s Stirn drückte. Erst jetzt schien sie zu bemerken, daß ich immer noch stumm auf der Herdbank hockte, ganz benommen von all dem, was ich eben gehört hatte. „Geh´ nach Hause, Afra,“ sagte Folchaid leise zu mir, „du hättest das alles gar nicht zu hören brauchen, dich betrifft es nicht, du bist ja eine freie Frau, eine Meiertochter noch dazu! Du wirst in deinem Leben einen ganz anderen Weg gehen als Richlint, aber deshalb könnt ihr euch doch morgen wieder treffen und den Tag zusammen verbringen, noch seid ihr ja bloß Kinder. Geh´ heim zum Meierhof, Afra, und Gott mit dir!“
Schweigend stand ich auf, drückte noch kurz Richlint´s Arm, warf einen Blick auf Rasso, der unschlüssig dastand, auf seiner Unterlippe herumkaute und mich gar nicht beachtete, und dann ging ich hinaus, die Türe leise hinter mir schließend. Der Weg nach Hause durchs Dorf war nicht weit, und im Meierhof angekommen, wo schon nächtliche Ruhe herrschte, schlüpfte ich neben Walburc, die bereits schlief, auf unsere gemeinsame Bettstatt, zog die wollene Decke über mich und wollte in Ruhe nachdenken über alles Befremdliche, das sich heute ereignet hatte. Doch der Tag war anstrengend gewesen, gegen die Müdigkeit meines Körpers konnten sich meine Gedanken nicht wehren, und ich glitt in einen unruhigen Schlaf mit wirren Träumen, in denen der grimmige Sigiboto Richlint und mich zu Pferd verfolgte und Folchaid so sehr und so viel weinte, daß sie in einem See von Tränen unterging und nur noch ihre verzweifelten, sich ringenden Hände aus dem Wasser herausschauten.
Ω