Ein leuchtender, tiefblauer Himmel, hier und da mit flockigen, schneeweißen Wolken durchsetzt, wölbte sich an diesem warmen Herbsttag über dem kleinen Dorf Pitengouua an der Pitenach. Die Luft war so klar und rein, daß man von dem niedrigen Hügel aus, auf dem die hölzerne Dorfkirche stand, weit hinein in die wild gezackte, auf den hohen Gipfeln schon mit Schnee und Eis bedeckte scheinbar endlose Kette der Berge im Süden des Landes sehen konnte. Die dichten, artenreichen Mischwälder ringsumher, auf dem Bühlach, dem nördlichen Meierberg, dem hohen Bisenberg und an den Hängen der Ambraschlucht, mit ihren mächtigen Buchen und Eichen, immergrünen Fichten und Eiben, und dem großblättrigen Ahorn dazwischen glühten und leuchteten im Licht der milden Sonne in feurigem Kupferrot und sattem Orange, in warmen Brauntönen, in Grün- und Gelbschattierungen und in einem dunklen, tiefen Rot von der Farbe frischen Blutes. Die weiten Felder rings um den Weiler waren bereits abgeerntet und umgepflügt, dunkelbraune, reichhaltige Erdbrocken lagen auf den mit Dung und Mist bedeckten Böden, und auf den von Flechtzäunen umgebenen Wiesen rupften sich die Kühe und Schafe das magere Gras der letzten schönen Tage, bevor der Winter einbrach.
Im Dorf selber herrschte das laute, lustige Treiben von vielen geschäftigen Menschen, dessen Mittelpunkt sich auf dem geräumigen Hof des Meieranwesens befand. Dort stellten die Knechte unter Rufen und Lachen schwere Holztische und einfache Bänke auf, und die Mägde bedeckten die rauhen Tische mit weiß gebleichten Tüchern aus Leinen und schleppten unermüdlich Platten und Schüsseln mit Rüben und Kohl, Äpfeln und Birnen, Zwetschgen und Waldbeeren, gepökeltem und geräuchertem Fleisch, Getreidebrei und frischem Brot herbei und stellten alles auf den Tischen ab. In der Mitte des Hofplatzes war ein hölzernes Gerüst aufgebaut, an dem an eisernen Ketten eine schwere Stange mit einem aufgespießten ganzen Ochsen hing, und direkt unter dem gehäuteten Tier brannte ein glutvolles Feuer, das von einem erfahrenen, älteren Mann bewacht und angefacht wurde. Dieser gab auch den jungen Kerlen, die zu seiner Hilfe eingeteilt waren und von dem Alten reichlich oft barsch angefahren wurden, genaue Anweisungen, wie sie das schwere Tier auf dem riesigen Spieß hin und wieder drehen mußten, damit es rundherum gleichmäßig braun und knusprig gebraten wurde. Das machte ihm so leicht keiner recht, und das gelegentliche Bestreichen des Ochsen mit einer Mischung aus Kräutern, Salz und Fett aus einem Tontopf zelebrierte der Alte wie der Dorfpriester die heilige Messe.
Ein junges Mädchen lehnte mit dem Rücken am breiten Stamm der uralten Linde in der Mitte des Weilers, raschelte und spielte mit den Füßen in den gelben, herzförmigen Laubblättern am Boden und beobachtete dabei mit freudigem Glanz in ihren bernsteinfarbenen Augen die zum Meierhof eilenden, festlich gekleideten Menschen. Sie selber trug ebenfalls ihr bestes Gewand, eine Tunika aus feiner, blaugefärbter Wolle über einem hellen Unterkleid aus Leinen und darüber einen kunstvoll aus Bast geflochtenen Gürtel mit allerlei Zierat. Die Kleider waren für eine erwachsene Frau geschnitten und noch etwas zu groß für die Zwölfjährige, der Saum reichte ihr bis zu den Fersen hinab, und der selbstgefertigte Gürtel hatte in der Leibesmitte reichlich Stoff zusammenzuhalten, denn die Hüften waren schmal und zierlich und die winzigen Brüste füllten das Kleid vorne nicht im mindesten. Das dichte, lange Haar war mit gewebten Bändern zu zwei aufwendigen Zöpfen gebunden, in denen kleine, gelbe Blumen steckten, die sehr gut zu den blond melierten Locken des Kindes paßten und dem eher herben, jungenhaften Mädchen etwas Weiches und Zartes gaben.
„Endlich haben die Leute wieder etwas zum Feiern!“ dachte sie, und ein kleines Lächeln erschien auf ihrem blassem Gesicht, als sie unter all den Menschen ihre Freundin erblickte, die am Bach entlang ging und anscheinend nach ihr suchte. Das ältere Mädchen trug die gleiche blaue Tunika und denselben geflochtenen Gürtel um den Leib wie das Kind unter der Linde, aber durch ihren kleinen, festen Busen und die sanft gerundeten Formen ihres Körpers sah sie wie eine erwachsene Frau aus. Während sie am Ufer entlang schlenderte und nach ihrer Freundin Ausschau hielt, schäkerte sie fröhlich mit den jungen Männern, die müßig unter den Weidensträuchern am Bachrand herumsaßen und auf den Beginn des Festes warteten, und immer wieder warf sie von der Seite einen schnellen Blick aus ihren leuchtend blauen Augen auf einen großen, schlanken Jungen mit dunklen Locken, der abseits von den anderen am Ufer saß, in seine Gedanken versunken kleine Kieselsteine aufhob und nacheinander ins Wasser warf und das hübsche Mädchen nicht beachtete. „Er merkt gar nicht, daß sie in ihn verliebt ist,“ flüsterte das Kind unter dem Baum vor sich hin, und als ob sie die leisen Worte gehört hätte, schaute von der anderen Seite des Baches eine schwarzhaarige Frau in einem grauen, einfachen Kittel von ihrer Arbeit auf und winkte dem Mädchen unter der Linde zu.
Ein stürmisches Gedränge und Gerangel setzte jetzt unter den vielen Leuten ein, denn die Brautleute waren mit ihren Familien auf den Dorfplatz gekommen, und alle Bewohner von Pitengouua und auch jeder fremde Gast dieser Feier wollte ganz vorne stehen und zusehen, wie die Hochzeit abgehalten wurde. Das junge Mädchen raffte ihr überlanges Kleid zusammen, wickelte es einmal um ihren Arm und kletterte geschickt wie ein Eichhörnchen mit nackten Füßen auf einen starken Ast des Baumes, und von dort aus hatte sie die beste Übersicht und konnte alles genau verfolgen.
Mit feierlichen, ernsten Mienen standen sich die Familien des jungen Paares jetzt in der Mitte des Platzes gegenüber, und die Freundin in dem blauen Kleid hatte sich dicht hinter der Braut aufgestellt, denn es war ihre ältere Schwester, die heute heiratete, in einem langen, dunkelroten Wollkleid und mit einer bunt bestickten Haube aus Filz auf den aufgesteckten, braunen Haaren. Die wichtigen freien Männer des Gaus, Wicpert von der Burg und der alte Haslachbauer Sigiboto, Severin von Dornau mit seinem Sohn Arbeo und der alte Priester des Dorfes umringten als Zeugen der Zeremonie das Hochzeitspaar. Der Meier von Pitengouua war der Vater der Braut, und als der kräftige Mann mit den frühzeitig ergrauten Haaren und dem von Kummer und Leid gegerbten Gesicht voll Furchen und Falten vortrat, um seine geliebte Tochter einem Fremden zu übergeben, standen Tränen in seinen Augen und er schämte sich derer nicht. Er nahm die Hand der jungen Braut und gab sie vor den Augen aller Gäste in die Hand des Bräutigams, und dieser legte der jungen Frau eine glitzernde Kette aus schwerem Gold und bunten Edelsteinen um den Hals, das war seine Brautgabe. Damit war der Bund geschlossen, denn Zeugen der Übergabe vom Vater an den Ehemann gab es genug, und die Brautleute waren Mann und Frau.
Das Mädchen auf dem Ast der Linde beobachtete, wie die Menschen nun alle jubelten und lachten, und wie die älteren Männer sich gegenseitig auf die Schultern klopften und zu dieser Verbindung beglückwünschten. Nur die junge Braut stand mit ernstem Gesicht etwas verloren inmitten der lauten Gesellschaft, und als sich jetzt alles anschickte, hinüber in den Meierhof zum Feiern und Essen zu ziehen, zupfte sie ihren jungen Mann vorsichtig am Ärmel, denn sie wollte mit ihm und ihrer Familie in die kleine Kirche gehen, um dort vom Priester auch den Segen Gottes für diese Ehe zu erhalten. Unwillig schüttelte der Mann die Hand seiner Frau ab, denn ihm stand der Sinn nach Trinken und Feiern, als er aber sah, daß der Meier und mit ihm Sigiboto und Severin bereits auf dem Weg zur Kirche waren, gab er nach und folgte seinem Weib. „Was ist das nur für ein unguter Mensch!“ dachte sich das Kind auf dem Baum, „niemals will ich so verheiratet werden, daß es nur die anderen freut und mich selber unglücklich macht!“
Als der Abend dämmerte, war das Fest im Hof des Meieranwesens auf seinem Höhepunkt angelangt. Beim gebratenen Ochsen auf seinem eisernen Spieß konnte man durch die hohen, weißen Rippen hindurch schauen, und nur noch an manchen Knochen hingen Haut und Sehnenstücke, denn das würzige Fleisch hatte allen Gästen gemundet. Unter der Anleitung der müden, ernsten Braut und Hausherrin räumten einige Mägde im letzten Tageslicht die leeren Schüsseln und Platten von den mit Abfällen, Schalen und Knochenstücken übersäten Tischen, und sie stolperten dabei immer wieder über die Dorfhunde, die gierig unter Bänken und Tischen nach einem heruntergefallenen Bissen schnappten, oder sie wurden von weinseligen Kerlen am Rockzipfel festgehalten und hatten alle Mühe, sich der aufdringlichen Männerhände zu erwehren.
Am größten Tisch saßen die freien und vermögenden Männer des Gaus beieinander und unterhielten sich angeregt über den Herzog und den König, über bedeutende Kriegszüge der Vergangenheit und das Wetter und die reiche Ernte, die ihnen dieser herrliche Sommer und Herbst beschert hatte. Sie hatten trotz des vielen Trinkens ihre Sinne noch beieinander und erhoben nur manchmal lautstark ihre Stimmen, wenn sie gegensätzlicher Meinung waren, und nur der Bräutigam, der jüngste Mann in dieser Runde, war bereits stark betrunken und schlief unter lautem Schnarchen mit schwerem Kopf auf dem Tisch.
Das dunkelblonde Kind im blauen Kleid saß im Schutz der Dämmerung allein unter dem Schopf des Hauses und beobachtete die jungen Mädchen und Männer, die sich in einer anderen Ecke des großen Hofs zusammen gefunden hatten und dort zum Lautenspiel und Gesang eines reisenden Spielmannes munter tanzten und miteinander alberten. Ihre hübsche Freundin mit den kastanienfarbenen Zöpfen wirbelte lachend mit einem Sohn des Haslachbauern umher, und beim gemeinsamen Reigen aller jungen Mädchen schürzte sie keck den Rock und ließ ihre langen, schön geformten Beine sehen. Immer mehr Leute, junge und alte, setzten sich in diesen heiteren Kreis und hörten den Liedern zu, und dankbar für diese Aufmerksamkeit sang der fremde Mann mit aller Inbrunst. Das Instrument des Musikers war aus sorgsam ausgehöhltem Eichenholz mit einer Deckplatte aus dünnem Ahorn gefertigt, und die sechs Saiten aus fein gedrehten Tierdärmen verstand er wunderbar zu seinen anzüglichen und frechen Liedern anzuschlagen. Als es richtig dunkel geworden war und nur noch das Licht der offenen Feuer und in den Boden gesteckter Pechfackeln flackernde Helligkeit gaben, wurden die Melodien des Spielmannes leiser und besinnlicher, und er sang mit weicher Stimme ein trauriges Lied vom fröhlichen, warmen Sommer, der nun vorüber war, und von dem kalten Winter, der vor der Tür stand. Er sang von der verbotenen Liebe zwischen einer jungen Frau und einem Mann, die nie ihre Erfüllung fand, und das einsame Mädchen unter dem Giebel des Meierhofs wickelte frierend eine Wolldecke um sich und weinte.