Afra
Seit diesem bitter kalten Wintertag im Februar des Jahres 954, als unser Burgvogt Wichard und Rasso, der Mönch vom Amberse, in unserer Stube in Streit geraten und in Unfrieden auseinander gegangen waren, hatte sich das Leben in unserem Dorf vollkommen verändert. Zu den gewohnten Sorgen um Wetter und Ernte, Nahrung und Unterkunft, um das Vieh und seine Krankheiten, die bisher unseren Tag bestimmt hatten, kam nun die Angst vor dem immer bedrohlicher werdenden Krieg und seiner Bedeutung für einfache Bauern wie uns. Wichard hatte recht behalten, denn Graf Roudolf von Altdorf hatte sich dem Herzog von Schwaben angeschlossen, genauso wie der Bruder des Königs, Herzog Heinrich von Baiern, und damit waren auch wir in Pitengouua als Abhängige und Untergebene der hohen Herren an dieser Auseinandersetzung beteiligt. Nicht alle Männer waren mit der Entscheidung unseres Grafen einverstanden, wie ich an den ernsten Gesichtern und den leisen und besorgten Gesprächen von Chuonrad und Leonhard erkennen konnte, und mein Vater Wezilo machte aus seinem Unwillen über diesen Aufstand keinerlei Hehl und schimpfte bei jeder Gelegenheit und vor allen Leuten so laut über Liudolf und seine Anhänger, daß ihn die anderen Männer dringend ermahnten, mit seinen aufrührerischen Reden vorsichtiger zu sein und nicht ein ganzes Dorf wegen solch unbedachter Äußerungen ins Unglück zu stürzen. Wir alle hatten unserem Herrn zu gehorchen und ihm zu folgen, und nicht einmal dem frommen und greisen Altmeier von Pitengouua stand eine abweichende Haltung zu.
Wie froh und glücklich war ich damals, daß mein Mann Leonhard als Vorstand unseres kleinen Weilers nicht selber in den Kampf zu ziehen brauchte, wie so viele freie Bauern und unfreie Knechte aus unserem Gau, die von den Truppen des Pfalzgrafen Arnulf abgeholt und zum Kriegsdienst verpflichtet wurden. Wer Besitzer eines Hofes oder einer Hütte mit Land war, konnte sich durch die Abgabe von Vorräten, eines Pferdes oder Waffen von der Kriegspflicht befreien, aber alle Bauernsöhne ohne eigenes Haus und alle Knechte, deren Arbeitskraft auf den Feldern oder im Dorf vielleicht entbehrlich war, mußten sich den bairischen Truppen anschließen. In Pitengouua blieben nur der Meier, der Schmied, der Müller und einige Knechte für die schwere Arbeit zurück, und daneben die alten und gebrechlichen Männer wie mein Vater Wezilo, alle anderen schlossen sich freiwillig oder gezwungen den Streitkräften des Pfalzgrafen und des Herzogs Heinrich an. Im Haslach stand es ähnlich wie in unserem Dorf, der Hausherr Chuonrad blieb mit wenigen Hörigen in dem kleinen Tal am Fuße des Schnaitbergs und mußte den Kohlenabbau im Weitenschoren und die Flößerei auf der Lecha in diesem Jahr ganz einstellen, weil viel zu wenig Männer für die schwere Arbeit zur Verfügung standen, und sein Bruder Utz, der sich schon vor einem Jahr dem Pfalzgraf Arnulf und seinem Sohn Perchtold angeschlossen hatte und bei der Belagerung von Mantahinga dabei gewesen war, ließ sich höchstens dann kurz in seiner Heimat blicken, wenn er ein frisches Pferd brauchte oder mit seinen Heldentaten prahlen wollte. Der Burgvogt Wichard stieß ohne Zögern zu seinem Herrn, dem Welfengraf Roudolf, und er nahm mehrere Knechte und alle gesunden Pferde mit, so daß seine Frau Eilika mit ihren Kindern, der alten Uoda, einigen Mägden und den Hirten der großen Schweineherde schutzlos und unbeweglich auf der nun unbewachten Befestigung auf dem Meierberg zurückblieb.
Als auch noch der Herr vom Dornauer Gut seine Hörigen versammelte und von seiner Frau Liutbirc Abschied nahm, um im Schwabenland zur Mannschaft von Herzog Liudolf zu stoßen, wie es sein Bruder Aistulf schon vor ihm getan hatte, da schlich sich die Angst um meine Kinder und um unsere Heimat wie kaltes Eis in mein Herz, denn es blieben kaum noch genügend wehrhafte Männer in unserem Gau zurück, um Frauen und Kinder, Hof und Vieh, Ernte und Vorräte gegen die Einfälle der ungarischen Barbaren zu verteidigen. Angeblich waren die Reiterkrieger nun unsere Verbündeten und würden uns verschonen, aber nicht für die Dauer des Flügelschlags einer Taube glaubte ich an die Aufrichtigkeit und Treue dieser Barbaren, und inbrünstig beteten die Frauen des Dorfes und mein alter Vater und ich, wie in all den vergangenen Jahren, jeden Sonntag auf unseren Knien in der kleinen Kirche des Dorfes. „Vor den Pfeilen der Ungarn errette uns, o Herr!“, das war unser aller Gebet, und es kam tief aus unseren Herzen.
Was den Menschen in Pitengouua in diesem Frühjahr und Sommer blieb, das war die Arbeit. Unsere Zugochsen hatten wir zusammen mit den drei Pferden und vielen Vorräten abgeben müssen, und nun galt es, mit zwei Maultieren und einer trächtigen Stute und den wenigen verbliebenen Händen die Felder zu bestellen, das Vieh zu versorgen und die Ernte einzubringen. Meinen Mann Leonhard sah ich in diesen Monaten nur noch spät am Abend, wenn er nach Einbruch der Dunkelheit todmüde und hungrig wie ein Wolf im Winter vom Eggen und Säen, vom Pflügen und Zäune richten, vom Holzfällen und Roden in die Stube kam und viel zu erschöpft war, um noch mit den Kindern zu scherzen oder mit mir über ein Anliegen zu sprechen. Die jungen und starken Mägde nahmen die Männer schon frühmorgens als Hilfskräfte mit auf die Felder oder in den Wald, sie ersetzten mit vereinter Kraft einen Ochsen, wenn es galt, den hölzernen Pflug durch die tiefen Ackerfurchen zu ziehen, oder sie lockerten mit der eisenbeschlagenen Hacke den Boden für das kostbare Saatgut und brachten den Männern Pfähle und Weidenruten und Werkzeug, um die Zäune auszubessern und das Vieh in seinen Grenzen zu halten. Im Dorf blieben tagsüber nur die Alten und Schwachen, die kleinen Kinder und Richlint und ich, denn nichts auf der Erde war so wichtig wie eine gute Ernte und wohlgenährtes Vieh, davon hing das Überleben aller Menschen im Dorf ab, und alles andere mußte dahinter zurückstehen. Es gab keine freie Zeit mehr für das Weben von Stoffen, für die Schnitzereien von Leonhard, für das Besuchen von Nachbarn und Freunden, für Richlint´s Färberei und für den Markt in Murnowe, und selbst die Kinder hatten Aufgaben zu erfüllen und wenig Zeit für ihre Spiele.
Mein blondlockiger Sohn Agilolf war noch zu klein, um wirklich von Nutzen zu sein, und so ließ ich ihn tagsüber unter der Aufsicht des alten Wezilo auf dem Hofplatz zurück, um das Federvieh vom Haus fernzuhalten. Mit bloßen Füßen und in einem schlichten, graubraunen Kittel sprang mein Bub den ganzen Tag von einem Ende des Schopfs zum anderen und verjagte mit einem Haselstecken in der kleinen Faust, an dem noch ein Bündel grüner Blätter hing, und mit lautem Geschrei die aufdringlichen Hühner und Enten, Gänse und Wachteln von den Stufen des Hauses, und er nahm mit seinen drei Jahren die ihm gestellte Aufgabe so ernst, daß er sich nur selten zu seinem Großvater in den Schatten hockte und ein wenig schlief. Einmal zwickte ihn eine der großen, weißen Gänse fest in seine strammen Waden, weil er ihr mit seinem Stecken zu nahe gekommen war, und von seinem Gebrüll erschreckt kam ich eilig aus dem Grubenkeller gelaufen, um meinen Sohn zu retten. Als aber seine Tränen getrocknet und die winzige Wunde am Bein mit Brunnenwasser gekühlt waren, mußte ich ihm nur noch fest versprechen, dem bösen Vogel am nächsten Feiertag den Hals lang zu ziehen und ihm seine weißen Federn für den Bratrost auszurupfen, und da zog er getröstet ab, den Haselzweig im Staub hinter sich herziehend.
Von den größeren Kindern hatte ein jedes seine ihm zugewiesene Arbeit, die Mädchen tränkten das Vieh mit Wasser vom Brunnen, hüteten die Schafe und Ziegen oder halfen Richlint und mir im Gemüsegarten oder in den Vorratsschuppen, und die älteren Buben trieben die Schweine zur Futtersuche in den Wald, arbeiteten mit den Knechten auf den Feldern oder gingen in der Schmiede am Bach dem bärenstarken Reimbold zur Hand, schürten mit dem Blasebalg die Glut in der Esse, zogen mit feinem Schleifmittel die fertigen Klingen ab oder schwangen als Vorschläger abwechselnd den schweren Hammer. Die Kunst des Schmieds von Pitengouua wurde über die Grenzen unseres Gaus hinaus gerühmt und bewundert, und adelige Herren und Krieger kamen von weit her, um bei Reimbold Waffen und Gürtelgarnituren, Brustpanzer und Helme zu bestellen. Das war auch der Grund, warum ein so kunstfertiger Schmied nicht zum Kriegsdienst gerufen wurde, seine Arbeit an der heißen Esse konnte von keinem anderen getan werden, und Pfeilspitzen und Schwerter wurden von den Kriegern dringend gebraucht.
Ella, das erstgeborene Kind von Leonhard und mir, lief still und genügsam wie ein kleiner Schatten den ganzen Tag meinem Rock hinterher, ohne Murren und Klagen trug sie die schweren Körbe mit Bohnen und Runkelrüben, die ich ihr auf den Rücken hob, und sie versuchte sich nützlich zu machen, wo sie nur konnte. Ihr ganzes Wesen glich dem meiner schon lange verstorbenen Mutter, ernst und in sich gekehrt wie einst Rautgund hörte Ella lieber zu, als daß sie selber sprach, und die himmelblauen Augen in dem schmalen, blassen Gesicht leuchteten erst spät am Abend auf, wenn sie auf dem Schoß ihres Vaters saß und er sie für ihren Fleiß und ihre Ausdauer lobte. Meine kleine Tochter sammelte am frühen Morgen in einem hölzernen Eimer die Milch aus den Tonschüsseln, in die Richlint und ich die Kühe und Ziegen gemolken hatten, sie trug mir den Weidenkorb nach, wenn ich Mangold, Bohnenkraut und Petersilie für unsere Suppe schnitt, und sie reichte mir meinen Grabstock, wenn ich mit hochgeschürztem Rock in den Furchen des Gemüsegartens kniete und die Strahlen der Sonne mich blendeten.
Meine beiden Kinder liebte ich über alles, und einzig die Sorge um ihr Wohlergehen bestimmte mein Handeln von früh bis spät, denn Ella und Agilolf sollten in Sicherheit aufwachsen und weder hungern noch frieren. Selbst in tiefer Nacht wachte ich oft schweißgebadet und zitternd auf und fand keinen Schlaf mehr, wenn ich auch todmüde war und meine Knochen von der harten Arbeit des Tages schmerzten, packte mich doch die Angst vor dem kommenden Winter und dem Ausgang dieses unseligen Krieges in unruhigen Nächten wie ein Adler mit seinen scharfen Krallen einen weichfelligen Hasen und ließ mich nicht mehr los. Keiner unter uns wußte, wieviel von unseren mühsam geernteten Vorräten wir noch an das Heer abgeben mußten, oder ob die Krieger aus dem Gau wieder lebendig und gesund in ihr Heim zurückkehren würden, und am wenigsten vertraute ich dem Bündnis unseres Pfalzgrafen mit den ungarischen Nomaden, denn diese heidnischen Barbaren konnten unseres Vertrauens niemals würdig sein und bedeuteten vielleicht den Untergang der christlichen Welt.
Richlint war mir in diesen Tagen und Monaten mehr als eine Freundin, sie war mir wie Mutter und Schwester zugleich, und wir teilten unsere Ängste genauso wie die Arbeit in Haus und Hof und das selten gewordene unbeschwerte Lachen. Schon vor dem ersten Hahnenschrei stand meine Freundin am Morgen unter dem Schopf des Meierhofes und wartete auf mich, und gemeinsam molken wir das Vieh und jäteten den Garten, wuschen im Bach die Wäsche und bereiteten das Essen, hüteten die Kinder und kümmerten uns um Alte und Kranke. Gemeinsam sorgten wir uns um den Ausgang des Krieges und beteten um den Frieden, und nie waren wir so einig wie in den Augenblicken, in denen wir die Ungarn verfluchten und uns feierlich schworen, niemals das gewaltsame und schreckliche Ende unserer Mütter zu vergessen oder gar zu vergeben. Diese dunkelblonde Frau mit den goldbraunen Augen und dem ernsten, selbstbewußten Wesen war mir so lieb und nah wie meine Kinder und mein Mann und mein Vater, sie war meine Familie, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß Menschen oder irgendeine andere Macht uns zu trennen vermochten.
Aber während wir in diesem Frühjahr und Sommer gemeinsam im Dorf unserer täglichen Arbeit nachgingen und die Verbindung zwischen uns Frauen eng und fest schien wie niemals zuvor, streifte schon ein ungarischer Krieger auf einem vollmähnigen, graubraunen Hengst durch Baiern und Schwaben, und dieser fremdartige Anführer eines grausamen und wilden Volkes schickte sich an, mir meine Freundin für immer zu nehmen.
Mitten im Sommer kehrten einige Männer unseres Gaus zurück, darunter der Burgvogt Wichard und der Herr von Dornau, und einen Tag nach ihnen folgte ein Trupp von ungarischen Kriegern, denen es Arbeo gestattet hatte, ihre Zelte gegenüber von seinem Gut am steinigen Ufer der Lecha aufzuschlagen. Mit vielen, schönen Worten beruhigte Arbeo den Meier von Pitengouua und den Haslachbauern Chuonrad, die keine fremden Krieger in ihren Wäldern und auf ihren Wegen dulden wollten, und schließlich überzeugte er sie davon, daß die Anwesenheit der verbündeten Ungarn im Gau Schutz und Sicherheit vor anderen Reiterscharen versprach und keinem von uns ein Leid geschehen werde.
„Der Anführer dieser Truppe ist ein gebildeter Mann, der unsere Sprache spricht und nichts von wahllosen Plünderungen und blinder Gewalt hält! Er nennt sich Arpad, weil er aus dem berühmten Fürstengeschlecht desjenigen stammt, der das ungarische Volk zusammengeführt und begründet hat, und er ist ein so guter Christ wie jeder von uns! Seine Krieger folgen ihm blind und werden seinen Anweisungen gehorchen, und wenn wir ihnen erlauben, in unseren Wäldern zu jagen und in unseren Seen und Flüssen zu fischen, dann werden sie uns nicht behelligen, solange sie sich an der Lecha aufhalten. Graf Arnulf von Baiern und sein Sohn Perchtold schenken diesem Arpad ihr Vertrauen, und diese Herren werden wohl wissen, was das Richtige ist!“
Das waren die Worte des Gutsherrn Arbeo, und den Pitengouuern blieb nichts anderes übrig, als in seinen Vorschlag einzuwilligen, weil die Ungarn schon unterwegs und durch nichts mehr aufzuhalten waren. Noch immer bestand die Fehde zwischen König Otto und seinem Sohn Liudolf und dessen Anhängern, wenn auch das Zusammentreffen der feindlichen Heere in Schwaben, als der König eindringende ungarische Reiterscharen von der bairischen Grenze vertreiben wollte, durch die Vermittlung der Bischöfe von Augusburc und Chur, Udalrich und Hartpert, ohne blutigen Kampf mit einem Waffenstillstand beendet worden war, und noch immer waren die Ungarn die Verbündeten der aufständischen Baiern und Schwaben und damit auch die Verbündeten von Pitengouua.
Um zu der hinter dem Weinland am Doswald gelegenen Furt der Lecha zu gelangen, mußten die Reiter entlang der Pitenach durch das Dorf, und unsere Männer begrüßten die Krieger und wurden von Arbeo ihrem Anführer Arpad vorgestellt. Der Altmeier Wezilo hatte sich streng geweigert, den ehemaligen Feinden irgendeinen Gruß zukommen zu lassen, und Richlint und ich schlossen uns mit meinem alten Vater in der Stube des Meierhofes ein, um nicht in die Augen der Mörder unserer Mütter sehen zu müssen. Bei den meisten Dorfleuten jedoch verdrängte die große Neugierde auf Aussehen und Gebaren der fremden Reiter die uralte Furcht in den Herzen, und sie drängelten entlang des Baches, einer hinter dem Rücken des anderen Schutz suchend, um einen Blick auf die in Staub gehüllte ungarische Kolonne zu werfen.
Voller Verachtung für die Vergeßlichkeit des gemeinen Volkes, saß Wezilo still betend neben der Feuerstelle, und Richlint und ich hielten uns schweigend an den Händen und horchten auf den von draußen dringenden Lärm, die aufgeregten Stimmen der Menschen, den Hufschlag vieler Pferde und den harten Klang von Lauten einer uns völlig fremden Sprache. Meine Tochter Ella saß verängstigt neben mir auf der Bank und schmiegte ihren Kopf an meine Seite, und ich legte meinen Arm um die schmalen Schultern und drückte mein Kind fest an mich. In diesem Augenblick erst bemerkte ich, daß mein kleiner Sohn nicht bei uns in der Stube war, und voller Schrecken rief ich laut seinen Namen und rannte ohne lange zu überlegen hinaus auf den Hofplatz, um nach Agilolf zu suchen.
Draußen am Bach entlang zogen in ungleichmäßigen Abständen Gruppen von ungarischen Kriegern, kleine und sehnige Männer mit sonnenverbrannten, bartlosen Gesichtern und meist langen, lose zusammengebundenen dunklen Haaren, ein jeder von ihnen hatte einen ledernen Köcher voller Pfeile auf dem Rücken und einen Bogen aus Holz und Horn am Sattel hängen, und ihre Füße steckten in hohen Stiefeln aus weichem Leder. Sie waren nicht halbnackt, so wie ich mir die Barbaren vorgestellt hatte, sondern trugen Kleider und Überwürfe aus kostbaren, bunten Stoffen, bei manchen mit goldenen Schellen und farbigen Borten bestickt, und darüber ein ledernes Wams oder das hochgebürstete Fell von einem Luchs oder Wolf. Ihre Sättel waren aus Holz und Leder gefertigt und mit farbigen Webdecken und weißen Schaffellen gepolstert, und diese Männer wirkten wie verwachsen mit ihren kurzbeinigen, stämmigen Pferden und schienen die Tiere nur mit den Schenkeln und kurzen, schnalzenden Lauten aus gespitzten Lippen zu lenken, denn die mit Kordeln und Beschlägen reich geschmückten Zügel hingen schlaff über dem Hals der Tiere und wurden nicht benutzt.
Als die Krieger mich allein und aufgelöst vor Sorge die Stufen des Meierhofes herunter stürmen sahen, tänzelten sie mit ihren Pferden um mich herum und johlten und schrien in einer Sprache, von der ich nicht eine Silbe verstand, und voller Angst vor den begehrlichen Blicken der fremden Männer krallte ich meine Finger in den Rock und wagte keinen einzigen Schritt mehr. Der Hofplatz war leer, denn die Knechte und Mägde des Dorfes drückten sich am anderen Ufer des Baches dicht aneinander, um in sicherem Abstand die Reiter anschauen zu können, und verzweifelt stand ich alleine da und wußte nicht, wohin ich mich wenden sollte. Da hörte ich die laute Stimme meines Mannes nach mir rufen, und ich sah Leonhard und unseren Sohn Agilolf mit Chuonrad und Arbeo zusammen beim Notstand der Schmiede. Bei ihnen stand ein dunkelhaariger Mann in prächtiger Kleidung, groß und aufrecht und voller Würde, und auf ein Handzeichen dieses Mannes hin hörten die ungebärdigen Reiter sofort auf, mich zu bedrängen, und gaben mir den Weg zur Schmiede frei. Erleichtert schloß ich meinen kleinen Sohn in die Arme und stellte mich mit ihm schutzsuchend hinter Leonhard, um nicht den scharfen Augen des fremdartigen Ungarnführers und den aufdringlichen Blicken seiner Leute ausgeliefert zu sein, und so geborgen hinter dem Rücken meines Mannes und mit Agilolf fest im Arm wagte ich dann doch, mir die Fremden genauer anzuschauen und das Gespräch der Männer unseres Gaus mit ihrem Anführer zu verfolgen.
Dieser Arpad sprach zu meiner Überraschung so deutlich und klar unsere Sprache, daß ihn jeder von uns verstehen konnte, und er versicherte Leonhard und Chuonrad, daß seine Leute im Lager an der Lecha bleiben und niemanden belästigen würden, solange der Trupp sich im Ambragau aufhielte. Sie würden für ein paar Wochen verweilen, um zu jagen und zu fischen und ihre Pferde zu weiden, und dann wollten sie nach Regnesburch zu Herzog Heinrich weiterziehen, um an seiner Seite gegen den König zu kämpfen. Ich schaute mir den großen und starken Mann mit seinen nackten Armen, die mit vielen Tätowierungen bedeckt und mit dicken Goldbändern behängt waren, während seiner Rede genau an, und ich sah, wie kostbar seine Kleider und Stiefel wirkten und wie kunstvoll gefertigt seine Waffen. Die langen Haare hatte er im Nacken locker zusammengebunden und im durchstochenen Ohr viele mit Edelsteinen besetzten Goldringe, und seine dunkelglänzenden Augen waren so unberührt und ausdruckslos wie die scharfen Augen eines Bussards oder Wanderfalken, blitzschnell und fast unmerklich streiften sie umher und ließen sich nicht die kleinste Bewegung in der Umgebung entgehen. Während die Männer miteinander redeten, starrte ich den Anführer der Ungarn unentwegt an, ganz gefangen von seiner beherrschten Erscheinung, doch weder die Miene noch die Gesten Arpad´s verrieten mir für einen Augenblick seine wahren Gedanken oder Gefühle.
Plötzlich jedoch hielten diese schillernden Raubvogelaugen still und weiteten sich fast unmerklich, und ich folgte dem Blick des fremden Mannes und sah Richlint über den Hofplatz auf uns zulaufen. Sie war barfuß und trug ihr geliebtes, leuchtendrotes Sommerkleid aus Leinenfasern, und von den dicken Flechten auf ihrem Kopf hatten sich einige Haarsträhnen gelöst und flossen nun um das schmale Gesicht mit den vor Aufregung weit aufgerissenen goldbraunen Augen. Sie war auf der Suche nach mir und Agilolf, voller Sorge um uns hatte sie den schützenden Meierhof verlassen und sich trotz der fremden Krieger ins Freie gewagt, und als sie mich hinter Leonhard bei der Schmiede entdeckte, rannte sie mit wehenden Röcken auf mich zu. Wie sie aber den dunklen Blick des Fremden auf sich spürte, blieb sie unvermittelt stehen und schaute ihm offen und herausfordernd in die Augen, und für eine winzige Spanne von Zeit schienen nur diese Frau und dieser Mann auf der Erde zu sein, und es herrschte unter den anderen ein so vollkommenes Schweigen, daß ich meinte, diese seltsame Stille sehen und mit den Händen greifen zu können.
Und doch war ich blind an diesem heißen und trockenen Sommertag und sah nicht die lodernde Liebe zwischen diesen beiden Menschen, und ich war taub und konnte das sanfte Flüstern ihrer Herzen nicht hören. Ich konnte diesen Augenblick voller Ewigkeit zwischen all den schweigenden Menschen bei unserer Dorfschmiede nicht erkennen und nicht begreifen, und ich war doch der Mensch, der Richlint am nächsten und ihr wie eine Schwester war. Und es dauerte eine lange Zeit, bis ich die Liebe zwischen Richlint und Arpad wirklich sah und verstand, daß meine Freundin von mir fortgehen wollte.
In den folgenden Tagen und Wochen hütete ich mich davor, das Dorf mit seinen schützenden Zäunen zu verlassen, und auch meinen beiden Kindern und den jüngeren Mägden erlaubte ich nicht, sich zu weit von Pitengouua zu entfernen, denn die ungarischen Krieger durchstreiften auf ihren schnellen Pferden den ganzen Gau, und ich vertraute den beruhigenden Worten von Arbeo und dem Anführer der Reiterschar über die Freundlichkeit der Fremden nicht. Zu oft schon hatte ich davon gehört, daß die Ungarn auch im Freundesland junge Frauen und Kinder einfingen und sofort als Sklaven auf dem nächsten Markt verkauften, und keiner aus meiner Familie sollte ein so grausames Schicksal erleiden.
Aber nicht alle Menschen im Ambragau hielten sich vom Lager an der Lecha fern, Arbeo, Chuonrad und Wichard besuchten den Ungarnführer des öfteren und luden Arpad sogar auf die Burg am Meierberg zu einem großen Fest mit ausgiebigem Essen und Trinken, und manche unserer Männer tauschten und handelten Waffen, Schmuck und Sattelzeug mit den ehemaligen Feinden und bewunderten deren Reiterkünste. Sogar der dicke Händler vom Bodinse, der einmal im Jahr mit seinem Karren voll Wein und Gewürzen durch unser Gebiet fuhr und eigentlich ein sehr vorsichtiger Mensch war, hatte das Lager der fremden Krieger besucht und dort seinen gesamten Vorrat verkauft, und als er an diesem Abend in der Dämmerung zusammen mit Richlint und seinen beiden Sklaven im Dorf eintraf, lobte Hildeger den ungarischen Anführer für seine Großzügigkeit und Gastfreundschaft über alles.
Es verwunderte mich nicht, daß Richlint den alten Händler bei Justina getroffen und mit ihm nach Pitengouua zurückgekehrt war, denn sie war in diesen Tagen sehr viel außerhalb unseres Weilers unterwegs und achtete nicht auf meine Ängste und Vorhaltungen. Entweder mußte sie bestimmte Kräuter sammeln, die sie unbedingt zum Färben benötigte, oder ihr dringendes Verlangen, unsere schwarzhaarige Heilerin Justina im alten Gut zu besuchen, war so übermächtig, daß es nicht aufgeschoben werden konnte, bis die Ungarn den Gau wieder verlassen hatten. Es nützte nichts, wenn ich ihr die mannigfaltigen Gefahren vorstellte, die auf dem Weg ins nahe der Lecha gelegenen Weinland auf eine einsame Frau warteten, und wenn ich sie davor warnte, einem dieser wilden Männer schutzlos in die Hände zu laufen und mißbraucht oder sogar getötet zu werden. Sie weigerte sich entschieden, einige Knechte zu ihrem Schutz mitzunehmen und lachte mich nur aus.
„Behüte du nur Ella und Agilolf, Afra!“ sagte sie zu mir, „ich bin eine erwachsene Frau und sorge selbst für meine Sicherheit! Bei Justina draußen wird mir nichts geschehen, denn die heidnischen Ungarn fürchten und verehren unsere Freundin wegen ihrer Heilkräfte und dem einsamen Leben, das sie mit ihren Tieren führt, und sie meiden das alte Gut und werden uns in Frieden lassen!“
Oft wartete ich jetzt am frühen Morgen umsonst auf meine Freundin und mußte allein zum Melken in den Stall oder zum Weben in den Grubenkeller gehen, denn ich konnte Richlint weder in der alten Hütte am Hollerbusch noch sonst irgendwo im Dorf finden, und wenn wir an manchen Abenden bei Most und süßen Fladen im Meierhof beisammen saßen und mein Vater Wezilo uns Geschichten von früher erzählte, dann wurde Richlint schon sehr bald müde und zog sich in ihre eigene Stube zurück.
Sie hatte sich in diesen Tagen sehr verändert, meine Richlint, und mir fehlte unser tägliches Beisammensein und die vertrauensvollen Gespräche zwischen uns Frauen, denn sie wich mir aus und wollte nicht einmal über die an der Lecha lagernden fremden Reiter mit mir reden. Mit wenigen Worten tat sie meine Befürchtungen über unser aller Zukunft ab und redete nur noch von alltäglichen Dingen wie der Färberei oder dem Gemüsegarten, und es schmerzte mich sehr, daß Richlint mir ihre wahren Gedanken und Gefühle nicht mehr anvertraute. Aber nicht nur das Verhalten meiner Freundin mir und den anderen Leuten gegenüber, sondern auch ihre Erscheinung hatte sich gewandelt, denn ihr Gang war aufrechter und dabei weicher geworden, geschmeidig und federnd wie der einer Lüchsin mit empfindsamen Pfoten, und ihre goldbraunen Augen glänzten so hell und strahlend in dem blassen, schönen Gesicht, als ob beständig eine Kerze darin flackerte.
Nicht nur der scharfäugige Wezilo, sondern auch Leonhard und die Mägde und Knechte bemerkten diese Verwandlung, und ich sah die verstohlenen Blicke, die sie meiner Freundin im Vorbeigehen nachschickten, und ich hörte in den Ecken und Winkeln des Hofes das Raunen und Tuscheln der Dorfleute. Doch ich war zu stolz, um mit meinem Mann oder mit einer einfachen Magd über Richlint zu sprechen und einzugestehen, daß ich nichts von meiner Freundin und ihren einsamen Wegen wußte, und so gab ich mich gelassen und gleichgültig, und tat so, als ob ich das heimliche Gerede und Geschau der Leute nicht bemerkte.
Die ungarischen Reiter verließen nach einigen Wochen das Zeltlager an der Lecha und zogen weiter nach Regnesburch, und wir alle konnten uns wieder frei im Land bewegen und fühlten uns wie von einer drückenden Last befreit. Nur Richlint war ernst und ungesellig, sie verließ zwar nicht mehr für ganze Tage und Nächte das Dorf und widmete sich in ihrer alten Hütte wieder den leinenen Stoffen und der Wolle der Schafe, aber sie wollte weder mit uns feiern und lachen noch die alte Vertrautheit zwischen uns Frauen erneuern, und ich konnte sie nicht dazu bewegen, ihre Zurückhaltung aufzugeben und wieder meine Freundin und Schwester zu sein. So vergingen Spätsommer und Herbst, ohne daß ich die Wahrheit über Richlint und Arpad erahnte, und erst kurz vor dem Einbruch des Winters, als eine Abordnung der Ungarn für ein paar Tage auf unserer Burg am Meierberg lagerte, hielt ich diese selbst auferlegte Zurückhaltung nicht mehr aus und fragte voller Neugier über das Gerede der Dorfleute die kleine Gisel aus.
Es waren nur wenige Krieger, die unter der Führung von Arpad bei Wichard auf der Burg eingezogen waren, um mit den Männern unseres Gaus noch einmal über diesen unseligen Bruderkrieg zu verhandeln, bevor sie für den langen Winter wieder in ihr eigenes Land zurückkehrten. Und wieder war Richlint kaum in Pitengouua zu sehen und ständig unterwegs, und wieder folgten ihr die scheelen Blicke und das geheimnisvolle Flüstern der Dorfleute. Als am Sonntag beim Kirchgang Liutbirc von Dornau ungewöhnlich liebenswürdig zu meiner Freundin war und sie sogar aufforderte, ganz vorne beim Altar in der hölzernen Bank neben ihr Platz zu nehmen, kam mir das mehr als seltsam vor, und ich zog die Kindsmagd Gisel nach der Messe auf die Seite und fragte sie, was die Leute denn über Richlint dachten und redeten.
„Sie sagen, daß die Frau Richlint eine heimliche Liebschaft hat, mit dem wichtigsten Mann unter diesen Ungarn, dem Anführer Arpad,“ gab mir die kleine Magd arglos Auskunft, „und daß sich die beiden schon im Sommer immer wieder im Lager an der Lecha unten getroffen haben! Eberolf hat dort aus der Ferne eine Frau im roten Kleid herumgehen sehen, und die Graserinnen schwören hoch und heilig, daß Richlint unten an der Ambra mit einem langhaarigen Mann zusammen geritten und erst sehr spät in der Nacht durch den Zaun wieder ins Dorf herein geschlüpft ist. Aber du weißt das sicher besser, Meierin, denn du bist ja ihre Vertraute und Freundin! Ich denke mir, daß die Herrin von Dornau sich nun auch gut stellen will mit einer Frau, die mit einem reichen Mann und berühmten Krieger zusammen ist, und deshalb ist Liutbirc so ausnehmend freundlich zur Frau Richlint und sorgt vor für die Zeit, wenn der Krieg vorbei und die Friedelfrau des Barbaren vielleicht eine mächtige Frau ist!“
Ich stand so betroffen vor der schmächtigen Gisel, als ob sie mir einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf geschüttet hätte. Es war undenkbar für mich, daß Richlint eine Liebesverbindung mit einem dieser wilden Reiterkrieger eingegangen war, mit einem dieser heidnischen Ungarn, die doch unsere beiden Mütter und den kleinen Bruder von Richlint getötet hatten und das schlimmste Ungeziefer unter den Menschen waren, und ich beteuerte der Magd und mir selbst voller Inbrunst und Überzeugung, daß die Leute dummes und böses Zeug über meine Freundin reden und sich in dieser Sache vollkommen täuschen würden. So aufgebracht und empört war ich an diesem Sonntag hinter der Kirche, daß die junge Gisel mir nicht weiter zu widersprechen wagte und schließlich mit gesenktem Kopf zu den Kindern schlich, und ich selbst wollte niemand in die Augen schauen und ging für den Rest des Tages allen aus dem Weg, ganz besonders der redseligen Liutbirc und meiner Freundin Richlint.
Wenn ich sie damals einfach auf das Gerede der Leute und die Gerüchte über ihre Liebschaft angesprochen und sie mir dann die Wahrheit gesagt hätte, wäre der Riß in unserer Freundschaft vielleicht nicht so tief und der Stachel des Mißtrauens in meinem Herzen nicht so spitz gewesen, aber ich deckte die Befürchtungen und Sorgen in mir zu und gab mich ahnungslos, und Richlint war beherrscht und verschwiegen wie in all den vergangenen Monaten und öffnete sich mir nicht.
Die kurzen Tage und die langen Nächte dieses Winters reihten sich scheinbar endlos aneinander, und durch Eis und Schnee drangen kaum Neuigkeiten über den Stand der Fehde zwischen Herzog Liudolf und dem König oder über den Verbleib der Ungarn bis zu uns nach Pitengouua. Wie immer in den Wintermonaten waren wir von der kalten Witterung eingeschlossen und ganz auf uns gestellt, und nur selten kam ein Reiter aus dem Haslach oder von der Dornau ins Dorf und brachte etwas Abwechslung in die eintönige Zeit nach dem Weihnachtsfest und den Rauhnächten. Richlint und ich sahen uns kaum in die Augen und hatten wenig miteinander zu reden, und mein Vater lag mit seinen alten Knochen siech und krank auf dem Strohlager und spürte schon den Tod. Statt gemeinsamer Feiern im Meierhof mit warmem Kräuterwein und lustigen Geschichten von früher knieten wir auf Geheiß des frommen Wezilo betend in der Stube, und unsere Fürbitten an den Allmächtigen um Frieden und eine gute Ernte und um Gesundheit für den Altmeier erklangen bald jeden Abend.
Doch in den letzten Wochen des Februar wurde das Wetter endlich milder und der Schnee begann zu tauen, und wir bereiteten alle miteinander nach uraltem Brauch ein lautes und fröhliches Fest, mit dem der kalte Winter unwiderruflich ausgetrieben und der milde Frühling herbei gelockt werden sollte. Meinem alten Vater ging es dank unserer Gebete und der warmen Witterung wieder besser, und als Justina´s Sohn Riwin auf einem Pferd seines Vaters Arbeo am frühen Morgen ins Dorf geritten kam und Richlint und mir mitteilte, daß seine Mutter uns dringend zu sehen wünschte, kamen wir dieser Aufforderung gerne nach und waren froh, Pitengouua für einen ganzen Tag verlassen zu können und endlich ein anderes Gesicht zu sehen. Der elfjährige Riwin war ein sehr selbständiger und kräftiger Junge, mutig und ganz allein machte er sich über die alte Römerbrücke auf den beschwerlichen Weg nach Dornau, weil die breite Furt der Lecha unterhalb des Weinlandes wegen des Schmelzwassers der Gletscher nur im Sommer benutzt werden konnte, und Richlint und ich bestiegen zusammen die brave Stute des Meierhofes und ritten in die andere Richtung zum welschen Gut hinaus.
Als ich Justina´s schmale Gestalt wartend bei der Mauer stehen sah und in ihre schwarzen Augen blickte, die dunkel und geheimnisvoll wie ein abgrundtiefer Brunnen waren, da spürte ich so deutlich ihre Liebe für Richlint und mich, daß mir ganz warm ums Herz wurde und ich wie ein kleines Kind meine beiden Hände suchend und fordernd zugleich nach den ihren ausstreckte, um für immer geborgen zu sein. Ich wußte in diesem Augenblick, daß sie uns nur zu sich gerufen hatte, um meiner Freundin und mir zu helfen und uns wieder miteinander zu versöhnen, und es verwunderte mich nicht, denn immer schon hatte Justina genau gespürt, was zwischen uns vorging, und immer schon hatte ihr Verständnis und ihre Liebe für uns beide gereicht. Obwohl sie mittlerweile eine ältere Frau mit aschgrauen Strähnen in den tiefschwarzen, fast bodenlangen Haaren war, hielt Justina sich aufrecht und biegsam, und nur ihr magerer Körper wirkte unter der Last der schweren Haarpracht noch zerbrechlicher als früher. Um die dunklen Augen hatten sich im Lauf der vergangenen Jahre viele, kleine Falten eingegraben, wie zwei lose gebundene Kränze lagen sie in ihrem Gesicht, und die steile Furche auf ihrer Stirn, die ihre Miene früher so lebendig erscheinen ließ, hatte sich vertieft und wirkte zuweilen ernst und streng.
Ohne viel Worte geleitete Justina uns zum römischen Badhaus in der Mitte des Hofes, wo sie nach einem alten und liebgewordenen Ritual ein warmes Bad mit duftenden Kräutern vorbereitet hatte, und ich sah die Freude in ihren Augen glänzen, nach dem langen, einsamen Winter wieder mit uns beisammen zu sein. In den letzten Jahren hatte es nicht viele Zusammenkünfte von uns drei Frauen gegeben, denn als Meierin von Pitengouua und Mutter von zwei Kindern konnte ich mich nicht weiter so frei und ungebunden verhalten wie ein junges Mädchen und ganze Tage im welschen Hof verbringen, und nur Richlint hatte unsere alte Freundin manchmal besucht und ihr bei der Arbeit mit der Ziegenherde geholfen.
Justina´s Sohn Riwin verbrachte Wochen und Monate bei seinem Vater auf der Dornau, und für seine Mutter war es zu anstrengend, zu Fuß bis in weit entfernte Dörfer oder zu entlegenen Höfen zu wandern, um dort zu helfen und zu heilen, und auch die sonntäglichen Kirchgänge zum Dorf fanden immer seltener statt. So war ihr Leben im verfallenen welschen Gutshof einsam und still geworden, nur die geliebten Tiere waren ständig bei ihr, und wie so häufig bei älteren Leuten erzählte Justina jetzt viel von vergangenen Zeiten und erinnerte sich lebhaft an die Jahre, in denen sie selbst ein kleines Kind gewesen war und ihre italische Mutter noch gelebt hatte. Sogar Worte aus ihrer Kinderzeit fielen ihr wieder ein, weich und sanft klingende Silben der uralten Muttersprache aus einem fernen, warmen Land jenseits des schneebedeckten Gebirges, und Justina murmelte mit ihren Tieren nur noch in dieser Sprache und summte versonnen fremdartige Wiegenlieder vor sich hin.
An diesem letzten Wintertag des Jahres 955 aber, an dem schon warme Winde wehten und der kommende Frühling sich erahnen ließ, an diesem Tag sprach Justina im Badhaus in unserer Sprache, und sie redete ernst und eindringlich mit Richlint und mir und bat uns, die alte Freundschaft zu erneuern und zu festigen. „Du mußt Afra endlich die Wahrheit erzählen, Richlint, und du mußt ihr alles berichten von Arpad und deiner Liebe zu ihm, und von euren gemeinsamen Plänen für die Zukunft! Und du, Afra, du wirst zuhören und schließlich dein Herz öffnen für die Worte deiner Freundin, wenn es dich auch schmerzt und du nicht alles verstehst, was sie dir sagt! Die Zeit des Schweigens und der Kälte zwischen euch soll heute zuende gehen, für immer und ewig, und mit dem reinen Wasser in dieser steinernen Wanne soll alle Eifersucht und Trauer von euren Körpern weggespült und vergessen werden, denn wir drei Frauen brauchen all unsere Kraft und weibliche Stärke, um gemeinsam dieses Jahr voller Wandlungen zu bestehen!“
Und als wir ausgestreckt im warmen Wasser lagen, tief den Duft von Justina´s Blüten und Kräutern atmeten und unsere Glieder sich langsam entspannten, da erzählte mir Richlint alles über ihre Liebe, und endlich war ich nicht mehr blind und taub wie in den vergangenen Monaten, sondern begann meine Freundin zu erkennen und zu verstehen.
Während meine Augen die bunten Fische und die seltsamen Fabelwesen an den über und über bemalten Wänden des Baderaums betrachteten, ging meine Seele mit Richlint´s leisen Worten auf Wanderschaft, und ich erlebte den Augenblick, an dem sie Arpad gegenüber stand und ihn als ihren einzigen Mann erkannte, und ich ritt mit ihr und dem Geliebten heimlich in der Nacht zu den Ambrahöhlen und erfuhr dort von einer Liebe, die trunken vor Glück und schwindelig machte und die restliche Welt vergessen ließ. Mit Trauer im Herz und einer Lüge auf den Lippen verließ ich mit meiner Freundin am frühen Abend die warme Meierstube und die geliebten Menschen dort, und ich schlich mit ihr still und leise aus dem Dorf, um in die starken Arme von Arpad zu sinken und darin die Einsamkeit meines bisherigen Lebens zu vergessen. Hinter meinem Rücken und dem von Richlint fühlte ich die anzüglichen Blicke der Knechte und Mägde auf unseren Körpern, ihr neugieriges Geraune und boshaftes Getratsche tönte überlaut und schmerzhaft in ihren und meinen Ohren, und die süßlichen und falschen Worte von Liutbirc klebten wie lästiges Harz auf uns und ließen sich nicht abwaschen. Ich spürte die grausame Verzweiflung von Richlint über den Verrat an unseren toten Müttern, weil sie sich trotz unserer feierlichen Gelübde mit einem ungarischen Feind eingelassen hatte, und ich wußte doch, daß nur dieser fremde Mann ihrer Liebe würdig war und sie nicht anders handeln konnte. Die heißen Tränen in meinen Augen waren zugleich die in vielen einsamen Nächten geweinten Tränen meiner Freundin, und als Richlint im Wasser aufstand und mich in ihre Arme schloß, naß und nackt und unschuldig, da erkannte ich endlich, daß sie ein Kind dieser Liebe unter ihrem Herzen trug und sich und das Ungeborene mit dieser Umarmung meiner Freundschaft anvertraute.
Die Frau an meiner Seite war schöner als je zuvor, mit ihren vollen, empfindsamen Brüsten und den durch die helle Haut schimmernden wasserblauen Adern, mit ihren leicht gerundeten Hüften und dem schmalen Gesicht mit den strahlenden Augen voller Zärtlichkeit, und ich erkannte eine neue und sanfte Richlint, die nicht mehr aufbegehrte, sondern ihr Glück und ihre Liebe gefunden hatte. Eine feine, braune Linie lief vom Nabel bis zur dunklen Scham herunter über ihren schon zart gewölbten Leib und verkündete deutlich die Schwangerschaft, und ich versprach Richlint und ihrem ungeborenen Kind meine Liebe und Fürsorge für alle Zeiten dieser Welt.
„Aber ich werde nicht in Pitengouua bleiben, Afra! In der Mitte des Sommers wird mein Kind geboren werden, und dann ziehe ich mit Arpad nach Osten zu seinem Volk und beginne dort ein neues Leben!“ Ich spürte wieder den Stachel der Eifersucht und dunkle Schatten der Angst in meinem Innern, doch Richlint packte mich fest an den Schultern und zwang mich, in ihre goldbraunen Augen zu schauen.
„Im Lager an der Lecha habe ich mich wohl gefühlt, obwohl ich dort die einzige Frau unter lauter barbarischen Kriegern war, und ich bin von diesen wilden und ungestümen Männern mit Hochachtung und Ergebenheit wie eine richtige Herrin behandelt worden. Es macht mich unendlich traurig, Afra, dich und Justina für immer zu verlassen und in ein fremdes Land zu gehen, aber hier im Ambragau bin und bleibe ich die geschiedene Frau des Haslachbauern und die uneheliche Tochter eines Welfengrafen, von vielen verachtet und mit Spott bedacht, und dort in den herrlichen Weiten der ungarischen Steppe werde ich eine Königin sein und brauche mich vor niemand mehr zu fürchten!“
Und mit begeisterten Worten erzählte uns Richlint von ihrem einflußreichen Mann und der zukünftigen Heimat, und mit jedem Satz und jeder Silbe von ihr erkannte ich, wie sehr sie Arpad vertraute und sich auf ein anderes Leben freute. Sie berichtete uns vom unendlichen grünen Grasland und den tiefblauen Seen der ungarischen Steppe, von riesigen Viehherden und den gleichmäßigen Wanderungen zwischen Sommer- und Winterweiden, von den Hirten, die durch das Treiben und Zusammenhalten des Viehs und die nächtlichen Wachdienste zu den besten Kriegern unter der Sonne erzogen wurden, und vom schier unglaublichen Reichtum ihrer neuen Sippe, die durch unzählige Kriegszüge nach Italien, Baiern und ins Frankenreich Gold und Sklaven zuhauf erbeutet hatte. Sie sprach von der Offenheit und Liebenswürdigkeit der ungarischen Menschen, von ihrem unbedingten Gehorsam und der gänzlichen Ergebenheit bis in den Tod hinein den Führern des Volkes gegenüber, von uralten Ritualen und Zeremonien mit magischer Bedeutung, vom heidnischen Glauben an das blutige Opfer der weißen Pferde und den sagenumwobenen Riesenhabicht Turul, und von den längst vergangenen Zeiten der Stammutter Emese und dem göttergleichen Fürstenhaus der Arpaden, das aus deren Schoß hervorgegangen war und dem auch Richlint´s Geliebter angehörte.
Das Wasser im steinernen Becken war während Richlint´s lebhafter Erzählung kalt geworden, und ich stieg mit steifen Gliedern aus der Wanne und zog meine Kleider wieder an. „Und wenn Herzog Liudolf und mit ihnen die ungarischen Reiter den Krieg gegen König Otto verlieren?“ fragte ich leise, „die Rache des Königs wird keinen der Aufständler verschonen, und schon gar nicht die wilden Barbaren, die seit alters her unsere Feinde gewesen sind! Dann ist Arpad´s Leben und auch das deine in höchster Gefahr, denn die Pitengouuer werden wieder ihrem früheren Herrscher gehorchen und keinen einzigen Feind verschonen, der sich im Ambragau aufhält, und auch du und dein Kind werden dann zu ihren Feinden gehören und vom Tode bedroht sein.“
Im Baderaum mit den farbenfrohen, wie lebendig wirkenden Malereien an den Wänden herrschte plötzlich eine atemlose Stille, und Richlint und ich saßen mit gesenktem Kopf und wollten uns nicht ins Gesicht schauen.
Da ergriff Justina unsere Finger der linken Hand und legte sie aufeinander, umschloß sie eng mit ihren beiden Händen und sprach mit leiser, aber fester Stimme zu uns. „Keine von uns dreien weiß, wie dieser unselige Krieg enden wird, und keine unter uns kann am heutigen Tag sicher sein, auf der Seite der Sieger zu stehen. Aber jede von uns Frauen hat ihre eigene Entscheidung getroffen und besitzt auch die Kraft, sie zu tragen. Es ist zu spät für Richlint, um noch einen anderen Weg einzuschlagen, denn die Verbindung zwischen Arpad und ihr ist vollzogen, und das ungeborene Kind ihrer Liebe bewegt sich schon in ihrem Leib und will geboren werden. Es ist zu spät, um über vergangene Gelegenheiten oder Hoffnungen für die Zukunft nachzudenken, denn wir Menschen lenken nicht das Schicksal dieser Welt, und was geschehen soll, das wird auch geschehen, denn alles steht unter einem göttlichen Stern. Aber es ist niemals zu spät für Freundschaft und Liebe, denn sie überdauern unser irdisches Leben und den Tod und wirken darüber hinaus, und deshalb nehme ich eure linken Hände, die dem Herzen am nächsten sind, und ich lege sie ineinander, damit ihr die Verbindung zwischen euch spürt und euch dieser Stärke immer bewußt seid, und nicht das Leben und nicht der Tod werden euch jemals trennen!“
Den ganzen Sinn von Justina´s Rede habe ich an diesem letzten gemeinsamen Nachmittag im Badehaus des welschen Gutshofs nicht verstanden, und auch noch lange nach Richlint´s Tod und dem Ende des Krieges bedeuteten mir ihre Worte nicht mehr als viele andere. Doch heute weiß ich, daß unsere schwarzhaarige Heilerin und Freundin die seltene Gabe des Vorausschauens hatte und daß sie schon damals spürte, wie das Schicksal über uns drei Frauen entscheiden würde, und der Sinn ihrer Gedanken und Worte war rein und wahr.
Im Laufe der folgenden Monate fiel ein rebellischer Graf und Herzog nach dem anderen von den Aufständischen um den Schwabenherzog Liudolf wieder ab und kehrte mit seinen Mannen zum König zurück, und als ein großes ungarisches Heer sich auf den Weg nach Baiern machte, um König Otto endgültig zu besiegen und zu vernichten, versöhnte sich auch sein Sohn Liudolf und sein Bruder Heinrich wieder mit dem Herrscher unseres Landes und schloß sich reumütig dem Reichsheer an. Vereint und mit all ihrer Macht wollten sie diesmal die Heiden schlagen und in die Flucht jagen, auf daß diese Reiterkrieger nie wieder einen Fuß auf unseren Boden zu setzen wagten, und in dem kleinen Dorf Pitengouua im Ambragau wurde dies mit Jubel und Erleichterung begrüßt.
Meine Freundin Richlint stand vollkommen allein, aber ich folgte den Worten von Justina und behielt ihre Hand in der meinen.
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