Am Fuße des breitrückigen Schnaitberges mit seinen dichten Eibenwäldern und dem schier undurchdringlichen Gestrüpp von Beerensträuchern und stacheligen Büschen floß mit kristallklarem Wasser das Haselbächlein in einem schmalen Bett aus Sand und Kieselsteinen. Vom Berg herab schlängelte es sich in unzähligen Krümmungen und Windungen durch Wälder und Wiesen bis zum weiten Sumpfgebiet im Osten, kurz vor der tiefen Ambraschlucht, und verströmte sich dort in den flachen Wassern eines spiegelglatten Sees. Die Quelle des kleinen Baches lag weit oben auf dem Berg, in einem geheimnisvollen Moorgebiet, das sich auf der Hälfte der Hochfläche ausdehnte, umsäumt von kleinwüchsigen Spirken mit ihren weißrindigen Stämmen, spitznadeligen Krüppelkiefern und buschigen Wacholdersträuchen, und von dem die Menschen in den Tälern ringsum viele sagenumwobene Geschichten zu erzählen wußten. Ein leichtsinniger, wagemutiger Bursche sei dort verschwunden, auf der Suche nach den drei Saligen Frauen habe er das dunkle Moor auf dem Schnaitberg durchforscht und sei nie wieder heimgekehrt. Einem übermütigen Mädchen aus der Haslacher Sippe war es genauso ergangen, beim Beerensammeln verstieg sie sich in ihrem Eifer hinauf durch den dichten Wald bis zum finsteren Moor, und dort soll ein heidnischer Zauberer sie in einer schwarzen Höhle mit einem festen Netz aus Spinnenfäden gefangen halten bis zum jüngsten Tag, und bis dahin muß das unschuldige Kind dem Unhold zur Hand gehen und Magddienste für ihn verrichten.

Dem Bach war sein dunkler Ursprung voller Geheimnisse unten im Tal nicht anzusehen, heiter plätschernd floß er über kleine Steine und große Felsbrocken, die sich vom steilen Berghang gelöst hatten und nun wild verstreut im Bachbett lagen, und sein Wasser war klar und kühl, durchsichtig bis zum Grund, und es tränkte die Viehherden der Haslachhöfe genauso wie ihre Menschen. Seinen Namen hatte der kleine Fluß von den vielen hohen und niedrigen Haselsträuchern, die den ganzen Bachlauf säumten, an beiden Ufern wuchsen sie eng beieinander stehend und verhießen den Menschen Nahrung und Heilmittel.

An diesem herbstkühlen Morgen lagen die Höfe am Bach noch still und ohne Laut von Mensch oder Tier im dichten Nebel der Senke, und es dämmerte gerade erst vom Osten her, als die Holztür des großen Haupthauses leise und behutsam aufgestemmt wurde und eine junge, kräftige Frau in einem roten Wollumhang und mit bloßen Füßen heraus schlüpfte und zum Bach hinunter lief. Zwischen den dicht beieinander stehenden Haselsträuchern bahnte sie sich einen Weg ans Ufer und kniete dann nah am Rand auf einem großen, flachen Stein, mit beiden Händen schöpfte sie das frische, kalte Wasser des Flusses und tauchte ihr verschlafenes Gesicht ganz hinein. Die blasse Haut der Frau färbte sich rosig, als sie vom kühlen Naß berührt wurde, und erneut schöpfte sie aus dem Bach und spülte ihren Mund und die Zähne, trank einen tiefen Schluck und setzte sich dann auf einen am Ufer liegenden, grauen Felsbrocken. Sie löste den dicken Zopf, in dem ihre goldbraunen Haare zusammengehalten wurden und schüttelte heftig die langen Flechten über die Schultern herab, und dann nestelte sie einen beinernen Kamm vom Gürtel und fuhr damit immer wieder durch das widerspenstige Haar. Mit ihren nassen Händen und dem Kamm versuchte sie die Locken zu glätten und einen neuen, ordentlichen Zopf zu flechten, und als dies endlich geschehen und er sauber um den Kopf herum aufgesteckt war, sprang sie mit einem Satz auf die Füße und lief zwischen den Häusern und über den Hofplatz auf eine kleine, grasbedeckte Anhöhe im Westen des Anwesens, von der aus sie bei klarem Wetter den Meierberg und das Dorf Pitengouua sehen konnte. An diesem Herbsttag aber hingen die Morgennebel noch zu tief und zu undurchdringlich über dem Land und versteckten die Höfe des Weilers an der Pitenach vor dem suchenden Blick der jungen Frau, und enttäuscht ließ sie die Schultern sinken, drehte sich um und schlenderte langsam auf den freien Platz zwischen den Häusern zurück.

Dort lagerte unter einer knorrigen, alten Eiche ein Rudel braun- und weißgefleckter Hunde, die Jagdmeute der Haslachherren, und mitten zwischen ihnen eine besonders große und kräftige, pechschwarze Hündin, die jetzt aufstand und ihre Glieder lang und genüßlich dehnte und streckte, dabei gähnte sie mit offenem Rachen, zog die roten Lefzen weit zurück und zeigte ihre schneeweißen, gefährlichen Reißzähne. Das war die Hofhündin, die Wächterin des Anwesens, an der kein Fremder unbemerkt vorbei kam und die weit über Haslach und Pitengouua hinaus für ihre Bissigkeit und Schärfe bekannt war. Die junge Frau tätschelte ihr im Vorbeigehen den breiten Schädel, und die Hündin wedelte dankbar mit der langen Rute und trottete dann der Frau wie jeden Morgen auf ihrem Weg zum Kräutergarten hinterher. Die Jagdhunde hoben nur vereinzelt müde den Kopf und blieben ausgestreckt und entspannt liegen, denn die anderen Bewohner der Höfe lagen zu dieser frühen Stunde noch in tiefem Schlaf und verlangten nichts von ihnen, und das morgendliche Herumwandern der jungen Herrin waren die Tiere nun schon gewohnt.

Jeden Morgen wachte die Frau eine gute Zeitlang früher auf als die anderen Leute, im Sommer wie im Winter, und immer stand sie sofort auf und stahl sich leise aus der Stube, um draußen am Bach oder im Garten mit ihren Gedanken für sich zu sein. Diese Zeit gehörte nur ihr, ihr allein, und sie betrachtete diese Einsamkeit und morgendliche Stille als das Kostbarste, was sie besaß. Wie bei einem liebgewonnenen Ritual handelte sie jeden Morgen und bei jedem Wetter in derselben Reihenfolge, zuerst das Waschen und Kämmen am Bach, dann der sehnsüchtige Blick vom Grashügel nach Pitengouua, und dann ging sie in ihren gepflegten und sorgfältig angelegten Kräutergarten, wandelte gemächlich auf den schmalen Wegen zwischen den verschiedenen Beeten und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Der umschlossene Garten lag zwischen einem kleinen, lichten Wäldchen und dem Bach, seitlich der grasbedeckten Anhöhe und ein gutes Stück hinter dem mittleren Langhaus. Im Gegensatz zu den dichten Flechtzäunen aus Haselruten, die überall auf dem Anwesen die Gatter für die Schweine und das Kleinvieh, die verschiedenen Gemüsebeete und das Gehege der Hühner und Enten umgaben, hatte der Kräutergarten eine Einfriedung aus Steinen, eine richtige, hohe Mauer mit einem kleinen Einlaß an der Südseite, der mit einer festen Tür aus Holzbohlen verschlossen werden konnte. So waren die Pflanzen und Beete vor dem oft sehr heftigen Westwind, den Samen des Unkrauts und vor scharrendem Geflügel oder Löcher grabenden Hunden geschützt, und die freien Vögel des Himmels wurden von einem wild aussehenden Butzengeigel vertrieben, einer aus Stroh und löchrigem Wollstoff gefertigten Vogelscheuche, die am anderen Ende des Gärtleins einen wichtigen Platz hatte. Der Garten war zu jeder Tageszeit ein Ort der Ruhe und des Friedens, und außer der jungen Frau, die ihn seit ihrer Heirat mit dem Hoferben vor vier Jahren hegte und pflegte, betrat kaum einer das stille Geviert mit den sechzehn großen Beeten. Es war genau nach alten Regeln für einen nützlichen und sinnvollen Heilkräutergarten angelegt, links und rechts des Eingangs die Beete für Rosen und Lilien, daneben Schlafmohn und Rettich, am Beginn des breiteren Mittelweges rechts die Salbei, dann Gartenraute, Schwertlilien und die Poleiminze, und links der Platz für Kerbel, Sellerie, Liebstöckel und Fenchel. An der Mauer gegenüber der kleinen Holztür wuchsen in großen Beeten Muskatellersalbei, Frauenminze, Andorn und Wermut, und an den beiden Längsseiten des Gartens, direkt an der Wand, wurde gerade Platz für jeweils vier weitere Kräuterbeete geschaffen, das braune, satte Erdreich war bereits umgepflügt und gelockert worden und ein großer Haufen gleichmäßig großer Bachkiesel zur Umrandung der einzelnen Beete lag in einer Ecke bereit.

Jetzt im Herbst bot der Garten kein so buntes, farbenprächtiges Bild wie im Frühsommer, wenn die hohen Blütenstände der Salbei rosig aufleuchteten neben den gelben Kronblättern der grünen Raute, wenn die Schwertlilien sich in dunklem Veilchenblau entfalteten und emsige Bienen zu Hunderten über den blühenden Kräutern und Blumen schwärmten und deren Nektar sammelten. Nur die dichten Rosenstöcke links vom Eingang trugen noch ihre karmesinroten Blütenköpfe, die Dolden des Fenchels ihren gelben Samen und der Mohn seine schwarzen Fruchtkapseln, und der grünblättrige Liebstöckel wuchs so hoch, daß er alle anderen Pflanzen überragte und schon von draußen zu sehen war.

Die junge Frau wickelte sich fester in ihren wollenen Umhang, denn der Morgen war noch kühl und feucht, und gemächlich ging sie auf dem sandigen mittleren Weg von Beet zu Beet, zupfte hier ein welkes Blättchen ab und strich dort sanft über ein grünes Blatt, kniete einmal nieder und nahm etwas von der frisch aufgelockerten Erde auf die Handfläche, zerrieb sie prüfend zwischen den Fingern und ließ sie dann langsam wieder auf den Boden rieseln. So ging sie bedächtig von einer Anpflanzung zur anderen, von der Salbei zur Raute, vom Andorn zu Minze und Muskatellersalbei und von dort weiter zu Fenchel und Liebstöckel, und es war ihr kein Ziel und keine Eile anzumerken. Die schwarze Hündin jedoch, die sie jeden Morgen begleitete, hatte sich gleich neben dem üppigen Rosenstrauch links von der Tür niedergelegt, denn sie wußte genau, daß die purpurne Rose das eigentliche Ziel der Wanderung war und die Herrin dort am längsten verweilen würde. Der dichte Strauch mit den kräftigen Zweigen trug zahlreiche, borstige Stacheln, ungleich in ihrer Länge und zum Teil gekrümmt und gebogen konnte man sich leicht an ihnen die Haut bis aufs Blut aufreißen und verletzen, und trotzdem fuhr die Frau jeden Morgen sachte mit ihren bloßen Fingern an den dornigen Zweigen entlang bis hinauf zu den Blüten, nahm einen vollen Kopf mit seinen herzförmigen Blättern in beide Hände und berührte damit zart und vorsichtig ihr Gesicht. Sie liebte die seidensamtige Glätte der Rosenblätter, den süßen, betörenden Duft dieser herrlichen Blume, und ihre kluge Art, sich mit Dornen und Stacheln vor zuviel Aufdringlichkeit und Nähe von Mensch und Tier zu wehren. Tief sog die junge Frau den ganz einzigartigen Geruch dieser Blüten in ihre Nase, berauschte sich fast daran, und als sie endlich den Kopf der Rose aus ihren Händen wieder frei gab, hatte sie Tränen in den braungoldenen Augen stehen.

Die Hündin hatte die Frau genau beobachtet, und als sie jetzt deren Trauer spürte und ein leises Schluchzen die schmalen Schultern schüttelte, stand das Tier auf und stieß zart, aber beharrlich immer wieder mit seinem breiten Schädel gegen die Schenkel der Herrin, wie um sie zu trösten oder daran zu erinnern, daß es noch andere Lebewesen gab, die ihrer Liebe bedurften. Unter Tränen lächelte nun die junge Frau, und sie kniete sich neben die Hündin auf den Sandboden und schlang beide Arme fest um das massige Tier, drückte ihren Kopf an seine Flanken und murmelte sanfte, beruhigende Worte in sein aufmerksames Ohr. Eine ganze Zeitlang saßen die Frau und der schwarze Hund nebeneinander auf der Erde, ohne sich zu bewegen, wie aus Stein, und erst als sie die Geräusche von Menschen aus den Häusern und Ställen vernahmen, standen sie beide langsam und fast widerwillig auf und verließen den Garten.

 

Das Anwesen der reichen Bauernsippe am Haselbach bestand aus drei großen, behäbigen Langhäusern mit Stube und Stallungen, die rings um einen kreisförmigen Platz aufgestellt waren, der von allen Bewohnern der kleinen Siedlung als gemeinsamer Hofgrund genutzt wurde. Ein mannshoher, mit spitzen Pflöcken bewehrter Zaun umschloß neben den Häusern auch mehrere Grubenkeller, einen von groben Steinmauern umfriedeten Kräutergarten und hölzerne, auf Pfählen gebaute Vorratsschuppen für Getreide und Viehfutter. Mitten durch diesen runden Platz plätscherte unentwegt der klare Bach über Kieselsteine und felsige Brocken, eine breite, aber niedrige Holzbrücke verband seine Ufer, und dicht neben dem Steg spendete eine uralte Eiche mit ihrer ausladenden Krone Schatten und Schutz. Diese mächtige Eiche war vor vielen hundert Jahren der eigentliche Grund dafür gewesen, daß sich die Ahnen der Haslachbauern in dem kleinen Tal zwischen dem dunklen Schnaitberg und dem niedrigeren, breitflächigen Rücken des Weitenschoren niedergelassen hatten, denn die Eiche war für sie der wichtigste Baum, der Sitz ihrer Hausgötter und ein Fruchtbaum, der die gedeihliche Ernährung und den Fortbestand der Sippe förderte.

„Wenn wir auch heute redliche Christen sind und nicht mehr dem heidnischen Aberglauben unserer Vorfahren anhängen,“ hatte der alte Sigiboto zu Richlint gesagt, als sie nach der Hochzeit in Pitengouua zu ihrem Mann Chuonrad ins Haslach zog, „so schätzen wir unsere alte Eiche doch nicht weniger, denn sie ist ein Zeichen für die Stärke und die Kraft der Männer aus unserer Sippe. So hat es bei uns in jeder Generation gesunde und kräftige Söhne gegeben, mehrere Söhne zumeist, und ich weiß, daß auch du meinem Sohn Chuonrad unter dem Schutz dieses Lebensbaums männliche Erben und Nachfolger gebären wirst!“

An diese jeden Zweifel oder Widerspruch ausschließenden Worte des selbstsicheren und herrischen Sigiboto dachte Richlint, als sie an einem grauen Novembermorgen am rissigen Stamm des Baumes lehnte und den Männern zuschaute, die lärmend zur Jagd aufbrachen. Der gestrenge, alte Hofherr war nicht mehr dabei, denn er war vor zwei Jahren im Winter bei einem Sprung über einen gefrorenen Bachlauf so unglücklich mit seinem Pferd gestürzt, daß er sich ein Bein und die Hüfte brach und durch die mit Eisen verstärkten Hufe des verletzt am Boden strampelnden Tieres, die ihn heftig in Bauch und Brust trafen, schwere Schäden im Innern seines Körpers erlitt. Nachdem er die Hilfe der Heilerin Justina widerwillig annahm, aber nur das Bein von ihr schienen ließ und ansonsten ihre lindernden und stärkenden Mittel gänzlich verweigerte, starb er unter großen Schmerzen im Bett, langsam dahin siechend und nicht schnell und heldenhaft bei der Jagd oder im Kampf gegen Feinde, wie es eigentlich sein Wunsch und eines tapferen Mannes würdig gewesen wäre. Jetzt lag er auf dem kleinen Friedhof in Pitengouua, neben der Grabstätte der Meierfamilie an der hölzernen Kirchenwand hatten die reichen Bauern aus dem Weiler Haslach ihren angestammten Platz, denn es wurde nicht mehr wie in früheren Zeiten in der Nähe der Höfe bestattet, damit die verstorbenen Ahnen ihre Nachfahren beschützen und ihr Leben verfolgen konnten, sondern bei der Kirche des Gaus, damit die Toten nahe bei Gott waren.

Das Oberhaupt der Familie und aller Hörigen und Leibeigenen des Anwesens am Haselbach war jetzt Sigibotos ältester Sohn Chuonrad, ein mittelgroßer, kräftiger Mann mit bedächtigen Bewegungen und einer tiefen, befehlsgewohnten Stimme, die laut und weithin hörbar über den Hofplatz schallte. Er saß bereits mit der vollständigen Jagdausrüstung auf seinem unruhig tänzelnden Pferd, einem stämmigen braunen Hengst mit dichter, blonder Mähne und bodenlangem Schweif, und die bunt gefleckten Hunde der Meute sprangen jaulend vor Aufregung um den Reiter herum, die treuen Augen aufmerksam immer auf ihren Herrn und jede seiner Bewegungen gerichtet, um ja keinen Befehl zu versäumen und damit seinen Unwillen und einen Schlag mit der langen, ledernen Peitsche in seiner Faust auf sich zu ziehen. Ungeduldig wartete Chuonrad auf seinen jüngeren Bruder Utz, der eben erst sein Pferd gesattelt hatte und noch an den verschiedenen langen und kurzen Messern in seinem Gürtel nestelte.

„Nun komm endlich, Bruder, der Bär wartet nicht auf uns! Bestimmt hat er den Lärm der Hunde schon vernommen und sich auf den Berg verzogen, und die Treiber werden alle Mühe haben, ihn wieder ausfindig zu machen und uns vor die Speere zu bringen! Es liegt Schnee in der Luft, ich kann es deutlich riechen, und damit ist das unsere letzte Möglichkeit vor dem Winter, auf Bärenjagd zu gehen, denn wenn sie sich erst in ihren Höhlen einschneien lassen, sind sie bis zum Frühjahr schwer aufzustöbern!“

Der schlanke Utz mit seinem strohfarbenen, wirren Haar und dem offenen Wesen war ein ganz anderer Mann als sein älterer Bruder, und er ließ sich auch jetzt vom aufgebrachten Ton Chuonrads nicht einschüchtern, sondern stieg in aller Ruhe auf sein Pferd und lächelte fröhlich in die Runde. „Wenn wir den Bär heute nicht mehr erwischen, dann jagen wir eben die vielen Graubärte in der Wolfsgrube drunten, denn eine echte Plage sind sie allemal, ganz besonders in der kalten Jahreszeit! Und auch ihr dichtes Winterfell ist nicht zu verachten, das gäbe einen schönen, warmen Umhang für die Hausfrau des Hofes, wenn sie am Sonntag nach Pitengouua zur Kirche reitet, da hätten die Burgleute was zum Schauen, nicht wahr, Richlint!“

Utz kannte die besondere Vorliebe der Frau seines Bruders für schöne, farbige Kleidung und auffallende Tierhäute, und ein Pelzumhang stand ihr als Herrin vom Haslach auch zu. Chuonrad aber schaute seinen Bruder mißmutig an. „Bärenjagd war ausgemacht für diesen Tag, nach Wölfen können wir den ganzen Winter über jagen, und dazu brauchen wir nicht jeden einzelnen Mann vom Haslach! Schluß jetzt mit dem unnützen Gerede, wir brechen auf!“

Ein flüchtiges Nicken zu seiner Frau unter der Eiche, und dann drückte er dem Hengst die Schenkel kurz und kräftig in die Flanken und trabte über die Brücke aus dem Hofplatz, durch das offenstehende Holztor und auf den Schnaitberg zu, hinter ihm zu Fuß mehrere Knechte und Hörige, bewaffnet mit langen Speeren aus Holz und aufgesetzten, eisernen Spitzen, mit Köchern voll spitzer Pfeile auf dem Rücken und um den Leib gehängten Bögen aus biegsamem Eibenholz. Die Hundemeute lief laut kläffend voran, begierig auf die Hatz schnüffelten die Tiere eifrig am Boden herum und hechelten mit weit heraushängenden, roten Zungen nach Luft. Utz lächelte Richlint noch einmal zu und zuckte kurz und bedauernd mit seinen Schultern, so als ob er das rüde Verhalten von Chuonrad entschuldigen wollte, und dann preschte er mit einem Satz dem Trupp hinterher und setzte sich neben seinen Bruder an die Spitze der Jäger.     

Trotzdem die drei Söhne des Sigiboto im Haslach unter derselben strengen Zucht eines herrischen und alles nach seinen eigenen Werten bestimmenden Vaters aufgewachsen waren, unterschieden sie sich doch sowohl im Aussehen wie in ihrem Wesen deutlich voneinander, und sie waren auf den ersten Blick für einen Fremden nicht als Brüder zu erkennen. Chuonrad, der Älteste, hatte die gleichen dunkelbraunen Haare und den verfilzten, dichten Bart wie sein Vater in jungen Jahren, bevor er grau und schütter geworden war, und genau wie beim verstorbenen Sigiboto war ihm das Ansehen der gesamten Familie mit den Knechten und Mägden und die Vermehrung des Reichtums der Haslacher Sippe das wichtigste Anliegen. Dabei wurde er dem Alten im Lauf der Zeit immer ähnlicher, ernst und wortkarg ging er durch den Tag, übernahm den Platz des Hofherrn ganz selbstverständlich und bestimmte und ordnete an, ohne daß ihn auch nur der leiseste Zweifel an seinem Verhalten und an seinen Entscheidungen überkam oder er sich um die Gefühle von Anderen bekümmerte. Utz, der zweite Sohn, kam mehr nach seiner Mutter Hedwig, dieselben hellblonden Kraushaare und der schmale Körper mit den zierlichen Gliedern, dieselben blauen Augen und das freundliche, gelassene Wesen, mit dem sie ihr Leben einfach so hinnahmen, wie es war. Seit er vor vier Jahren im Gefolge des Bischofs Udalrich von Augusburc und anderer Edelleute auf langer und beschwerlicher Reise nach Rom gepilgert war und dabei fremde Sitten und Gebräuche der verschiedensten Völker und das Benehmen der Adeligen kennengelernt hatte, war Utz seinem älteren Bruder an Erfahrung über die Welt voraus und ließ ihn nicht mehr so leicht und ohne Widerspruch über sich bestimmen.

Der jüngste Sohn des Sigiboto war der liebenswürdigste der drei Brüder, ein kleiner und wendiger Mann mit warmen, braunen Augen und langem Haar, und mit seinem offenen Gesicht voller Herzlichkeit war Leonhard bei den Leuten von Pitengouua, deren Meier er seit seiner Heirat mit Afra war, überaus beliebt und angesehen. Seine Art, Menschen zu führen, unterschied sich sehr von der harten Art seines Bruders Chuonrad und des verstorbenen Sigiboto, er glich mehr dem alten Meier Wezilo, dem Vater seiner Frau, und wie dieser pflegte er gemeinsam mit den Hörigen und Knechten zu arbeiten und sich um ihr Wohl und das ihrer Frauen und Kinder zu sorgen.        

Richlint lehnte mit dem Rücken am Stamm der alten Eiche und sah den Jägern noch nach, als sie schon längst nicht mehr zu sehen waren, und ganz in Gedanken über die drei so ungleichen Brüder zupfte sie unentwegt lose, graue Rindenstücke vom borkigen Baum und zerbröckelte sie ohne hinzuschauen zwischen ihren Fingern. Die schwarze Hündin hatte sich stöhnend zu Füßen der jungen Frau niedergelegt, den kantigen, schweren Kopf auf den Vorderpfoten und die breite Stirn in wulstigen Falten, und aus den umliegenden Ställen ertönten die vertrauten morgendlichen Laute, das dumpfe Aneinanderschlagen von Holzeimern und Melkschemeln, das laute Muhen und Meckern des Viehs, und dazu das fröhliche Lachen und Plaudern der Stalldirnen, die ihren gestrengen Herrn auf der Jagd wußten und sich heute freier als sonst fühlten. Auch Richlint war froh darüber, die Männer alle auf der Jagd zu wissen, denn ein Tag ohne die anklagenden und fordernden Blicke ihres Mannes war für sie leichter zu ertragen, und bestimmt kehrten die Jäger erst zur Dämmerung zurück, müde und hungrig, und bis dahin würde niemand etwas von ihr verlangen.

„Nur die alte Hedwig,“ dachte sie, „um die muß ich mich noch kümmern, und dann den Mägden ihr Tagwerk zuteilen, arbeiten können sie heute auch ohne mich in den Kellern, außer Spinnen und Weben ist nichts zu tun, denn die Schlachtzeit ist vorbei und die Vorräte sind untergebracht.“ Richlint beugte sich zu der dösenden Hündin hinunter und tätschelte den massigen Kopf. „Ob die Zeit wohl für mich ausreicht, um auf dem alten, lahmen Gaul, den die Männer dagelassen haben, hinüber zu Afra zu reiten, was meinst du?“ flüsterte sie mehr zu sich selbst als zu dem Tier, und das Bild ihrer Freundin in Pitengouua tauchte vor ihrem inneren Auge auf, sie lächelte, warf die restlichen Rindenstücke auf den Boden und war für einen Moment versucht, zum Grashügel zu laufen und einen Blick auf den Meierberg und den darunter liegenden Weiler zu werfen. Eine barfüßige Magd in einem fleckigen, grauen Kittel, tief gebeugt vom Gewicht zweier Eimer voll sahnigweißer Milch, schaute auf ihrem Weg über die Holzbrücke verstohlen, aber sehr neugierig und erstaunt auf Richlint, als sie die Herrin so lächeln und mit sich selbst reden sah, und bei diesem Blick erinnerte sich Richlint an ihre Pflichten als Herrin und Hausfrau des Haslachhofes, die nicht aufgeschoben werden konnten, und so raffte sie nach kurzem Zögern ihr Kleid und ging mit schnellen Schritten zum größten der drei Langhäuser, in dem sie mit ihrem Mann, seiner alten und kränklichen Mutter, seinem Bruder Utz und zwei jungen Mägden zusammen wohnte.

In den vier Jahren, die Richlint jetzt schon als verheiratete Frau im Haslach lebte, war sie außer der alten Hedwig keinem Menschen näher gekommen, und sie fand hier niemanden, dem sie ihr Vertrauen oder ihre Freundschaft schenken konnte. Die abhängigen Bauern und die Leibeigenen des großen Hofes hatten vor dessen Besitzern gehörige Furcht und hielten voller Scheu einen reichlichen Abstand zu ihrer strengen Herrschaft ein, was früher von Sigiboto und jetzt von seinem Sohn Chuonrad durchaus erwünscht war und als angemessen gesehen wurde, ganz im Gegensatz zu den lockeren und freundlichen Sitten in Pitengouua. Die vornehme Abstammung von Richlint als Tochter eines Grafen, ihre verschlossene und abweisende Art allem und jedem im Haslach gegenüber und ihr Betragen und Aussehen, das ganz anders als das der gewöhnlichen Leute war, trugen nicht dazu bei, sie bei den Menschen dort beliebt zu machen. Sie redete nicht viel und erzählte niemandem von sich und ihrer Familie, und ihre stets sauber und schön gekleidete Gestalt mit dem reichlichen, dunkelblonden Haar, aufgesteckt mit einer kostbaren Schmucknadel, unterschied sie deutlich von den einfachen Menschen in graubraunen Kitteln. Ihre enge Freundschaft mit der Heilerin vom alten Gut erregte Argwohn und Mißtrauen, denn Justina war den meisten Leuten mit ihrer einsamen Lebensweise und ihrem geheimnisvollen Wissen nicht geheuer und sie ängstigten sich in ihrer Anwesenheit, obwohl sie bei Krankheit und Geburt von Mensch und Vieh ihre Hilfe brauchten und auch bereitwillig annahmen. Und ausgerechnet mit dieser fremdartigen, dunklen Frau sahen die Haslachleute die sonst so stille Richlint laut lachen und plaudern, und ihr einsames Herumwandern zu nachtschlafender Zeit bekam durch die enge Freundschaft mit der Heilerin in den Augen der Leute eine besondere Bedeutung. Denn manch eine verschlafene Magd hatte die Herrin schon im frühen Morgennebel, wenn alle anderen noch auf ihrem Strohlager ruhten, am Bach oder im Kräutergarten wie eine traumhafte Erscheinung wandeln sehen, mit einem in weite Fernen gerichteten Blick und leise vor sich hin summend, die schwarze Hündin wie einen dunklen Schatten immer dicht neben sich, und sie machten dann hastig das Kreuzzeichen über Stirn und Brust, nicht sicher, ob sie ihren Augen trauen konnten oder ob ein Geist sie narrte, und sie schwiegen zu den Männern über das Gesehene und tuschelten nur mit den anderen Frauen darüber. Deshalb waren die Mägde und Bauersfrauen Richlint gegenüber scheu und zurückhaltend, und obwohl sie zu allen freundlich und gerecht war und selbst von der frühen Stallarbeit am Morgen bis zur Finsternis der Nacht beim Melken, im Gemüsegarten oder beim Weben in den Kellern dabei war und mit anpackte, wurde sie doch keine von ihnen, sondern war und blieb eine Fremde im Haslach.

Als sie jetzt vor der Tür des Langhauses kurz verharrte, spürte sie die forschenden Blicke der Magd, die auf dem Hofplatz stehengeblieben war und ihr nachschaute, deutlich im Rücken, und kalte Wut stieg in ihr empor. „Auch wenn Chuonrad auf der Jagd ist, lassen sie mich nicht aus den Augen! Sicher hat er ihnen befohlen, jeden Schritt von mir zu überwachen, er traut mir nicht, er will nicht, daß ich ins Dorf zu Afra reite oder mich wieder mit Justina treffe! Und ich mache doch, was ich will, er wird mich nicht beugen!“ Ein bitteres Lächeln verzog ihre Lippen, und entschlossen stemmte sie die Holztür auf und trat in die dämmrige, von beißendem Rauch durchzogene Stube.

Hedwig, die Mutter von Chuonrad, Utz und dem jungen Meier Leonhard, war bei weitem die älteste Frau auf dem Haslachhof. Müde und gebeugt von der strengen Herrschaft ihres verstorbenen Mannes und ausgebrannt von harter, lebenslanger Arbeit und der Geburt etlicher Kinder, von denen nur drei Söhne das Säuglingsalter überlebten, war sie kränklich und schwach geworden, und sie lag meist den ganzen Tag und die ganze Nacht klaglos auf ihrer Bettstatt nah bei der Herdstätte, angewiesen auf die Hilfe der Sohnesfrau oder der Hausmägde. Als sie jetzt im Halbdunkel der Stube die Gestalt von Richlint erkannte, erhellte ein freudiges Lächeln ihr faltiges Gesicht mit der feinen, durchscheinenden Haut, und die wasserblauen, hellwachen Augen suchten die Stimmung ihrer Schwiegertochter zu erkennen. „Richlint! Wie schön, daß du zu mir kommst!“ rief sie ihr entgegen, und die Bitterkeit und der Zorn der jungen Frau vergingen, als sie so herzlich begrüßt wurde. „Ich habe dich nicht vergessen, Hedwig, wollte nur den Männern beim Aufbruch zuschauen, und jetzt kümmere ich mich um dich! Du hast sicher Durst und Hunger nach der langen Nacht, und vielleicht kannst du ein wenig aufsitzen, wenn ich dich gewaschen und dir ein frisches Hemd gebracht habe.“

Geduldig und liebevoll war Richlint um die alte Frau bemüht, wusch ihr sanft den Schlaf aus den Augen, kämmte das schüttere, weiße Haar und flocht es sorgsam zu einem dünnen, langen Zopf, der beim Liegen nirgends drückte. Dann brachte sie Hedwig mit Wasser verdünnten Wein zum Trinken, der sollte die Kranke stärken, und sie wärmte über der glimmenden Feuerstätte etwas dünnflüssigen Getreidebrei vom Vorabend, denn die Greisin hatte keinen einzigen gesunden Zahn mehr in ihrem Mund und konnte die Nahrung nicht beißen.

„Ich werde Trudhild rufen, sie soll mir helfen, dich nach draußen unter den Schopf zu setzen, ein wenig frische Novemberluft wird dir sicher gut tun, hier drinnen kannst du ja kaum atmen.“ Die abwehrende Handbewegung von Hedwig, die niemand zusätzliche Arbeit machen wollte, wies Richlint entschieden zurück. „Denk´ nur daran, wie krank sogar ich als Junge und Gesunde im letzten Winter von der dicken und rauchigen Luft in der Stube geworden bin, wochenlang mußte ich im Bettkasten liegen und bekam keine Luft mehr, die ganze Brust hat geschmerzt und das Fieber wollte nicht vergehen! Keine Widerrede, wir tragen dich für kurze Zeit nach draußen, schwer bist du ja wirklich nicht, und das ist kein Wunder bei dem wenigen Essen, das du verlangst.“

Nachdem Richlint mit Hilfe der Magd den hochlehnigen Stuhl des Hofherrn unter das umlaufende Dach getragen und die alte Frau, warm eingepackt in wollene Webdecken und Filztücher, sicher darauf gesetzt hatte, hockte sie sich auf die Holzstufen daneben, wickelte sich gegen die Kälte der Novemberluft fest in ihren auffälligen, leuchtend rot gefärbten Umhang aus Schafwolle und streichelte die schwarze Hündin, die ihr wie immer auf Schritt und Tritt gefolgt war und jetzt entspannt neben den beiden Frauen lag.

Richlint konnte die Mutter ihres Mannes gut leiden, denn Hedwig hatte sie vom ersten Tag an mit offenen Armen aufgenommen, froh über eine junge und gesunde Schwiegertochter, der sie die Frauenarbeit auf dem Hof übergeben konnte und die ihr viele Enkelkinder gebären würde. Die alte Frau sprach nicht viel und war gerne allein, genau wie Richlint, aber sie war freundlich und voller Verständnis für die Sohnesfrau, die ja trotz ihrer vornehmen Abstammung als unfreie Magd aufgewachsen war und nicht gelernt hatte, einen großen Hof und Haushalt zu leiten. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte Richlint zwar auf dem Meierhof gelebt und dort zusammen mit Walburc und Afra gearbeitet, aber es waren nach dem Überfall der Ungarn karge Jahre gewesen, in denen es nur ums Überleben ging und jeder überall mit anpackte, die Zeit für eine ausführliche Unterweisung der beiden Mädchen in Haushaltsführung hatte Walburc nicht gehabt. Und so konnte Richlint zwar die Tiere versorgen und melken, die Gärten pflegen und Vorräte anlegen, auch das Weben und Spinnen war ihr ein wenig vertraut, aber noch nie vorher hatte sie die Arbeit für die Knechte und Mägde eingeteilt oder wichtige Entscheidungen getroffen. Dazu kam, daß jeder Hof und jedes Dorf seine eigene Art hatte, Fleisch zu pökeln und Wolle zu färben oder auch nur Getreidebrei zu kochen, und was auf dem Meierhof richtig war, mußte deshalb noch lange nicht das Richtige für die Haslacher sein.

Hedwig, die in den ersten beiden Jahren von Richlint´s Ehe schon kränklich, aber nicht bettlägerig war, lehrte die junge Frau geduldig alles über den Haslachhof und seine Gewohnheiten. Sie ging mit ihr in jeden Vorratsschuppen und stieg in jeden feuchtkühlen Grubenkeller mit seinen Webstühlen hinab, sie zeigte ihr die Felder, die zum Anwesen gehörten und führte sie durch die Gemüsegärten, sie wies ihr in der nahen Umgebung die besten Plätze für Beeren und Pilze und legte Richlint den Grund für den ständig steigenden Reichtum der Sippe seit zwei Generationen dar, den Kohlenabbau am Weitenschoren. Dort am Berg hatte Sigiboto als junger Mann auf dem Land seines Vaters ein in der Mittagssonne glänzendes, offen aus der Erde tretendes Pechkohleflöz entdeckt, und seitdem schlugen die Knechte der Haslacher mit eisernen Hacken und Beilen tiefschwarze Klumpen aus dem Hügel und verschifften sie auf breiten Holzflößen auf der Lecha bis nach Augusburc, um die Kohle dort gegen harte Goldmünzen zu verkaufen. Das alles war reine Männerarbeit, Utz und Chuonrad führten die Aufsicht und überwachten den Transport und das Verladen an der Floßlände, und den Frauen auf dem Hof, Freien und Unfreien, blieb nur das bange Warten und Hoffen, daß die Flößer wieder gesund ins Haslach zurück gelangten. Nach Augusburc dauerte die Fahrt auf der wilden und ungestümen Lecha gut einen halben Tag, dabei kenterte so manches Floß in den Strudeln und Strömungen des Gebirgsflusses und begrub dabei einen Knecht für immer in den eiskalten und reißenden Fluten. Auch der Rückweg zum Hof war nicht ungefährlich für den kleinen Trupp, denn die Männer waren zu Fuß unterwegs, mit dem Gold vom Kohlehandel in den Beuteln und Taschen, und gemeine Strauchdiebe und Räuberbanden lauerten auf den Wegen und Trampelpfaden um die Städte auf leichte Beute.

Richlint war klug und geschickt, von schneller Auffassungsgabe, und bereits nach dem ersten Ehejahr leitete sie die Mägde bei allen Arbeiten an, kochte das Essen im Langhaus genau so, wie sie es von Hedwig gelernt hatte und wie es den Männern mundete, und wenn Chuonrad und Utz tagelang mit den Flößern unterwegs oder auf Märkten und Gerichtssitzungen in den Nachbargemeinden waren, dann verteilte sie die Aufgaben auch an die Knechte und trieb ihre Forderungen bei den Hörigen gerecht und nach alter Sitte ein. Sie arbeitete jeden Tag fast bis zur Grenze ihrer Kraft, doch niemals kam ein Wort der Klage oder des Unwillens über ihre Lippen, wenn sie auch selten lächelte und fröhlich war. Chuonrad hätte mit seiner Frau zufrieden sein können, denn sie war geschickt und fleißig, aber nach vier langen Jahren hatte sie noch immer kein Kind geboren, und für den Haslachbauern war ein männlicher Erbe das wichtigste Ziel seiner Heirat, seine Frau bedeutete ihm nichts.              

Die alte Frau in ihren Decken und Tüchern seufzte laut, und Richlint, die neben ihr auf den Stufen hockte und gedankenverloren über den Hofplatz schaute, wußte genau, was jetzt wieder zur Sprache kommen würde. Hedwig war sehr unglücklich darüber, daß sie noch keine Enkelkinder hatte, und den ganzen Tag und die halbe Nacht auf ihrem Bett zerbrach sie sich darüber den Kopf. „Richlint, du solltest im kommenden Frühling eine Wallfahrt machen, vielleicht nach Eichstat zur heiligen Walburc oder ins Kloster nach Burin! Dort bringst du dann ein reiches Opfer dar, mehr als Wachs oder feine Tuche, vielleicht einen Kerzenhalter und sogar einige Goldmünzen, und dann bittest du inständig um den Segen und die Fürsprache der Heiligen, damit dir ein Kind geschenkt werde.“ Aufgeregt packte Hedwig die junge Frau am Arm. „Ja, das ist ein guter Gedanke von mir, diese Fürbitten helfen doch immer! Daß ich nicht schon viel früher darauf gekommen bin! Gleich heute noch werde ich mit Chuonrad darüber sprechen, er wird dir schöne Opfergaben mitgeben und dich sicher begleiten, du wirst gesegneten Leibes ins Haslach zurückkehren!“

Richlint hielt den Kopf gesenkt und schaute die alte Frau nicht an, sondern strich nur besänftigend über die dünnhäutige, mit blauen Adern überzogene Hand. „Und noch etwas will ich dir sagen, Richlint, wenn wir beide gerade allein sind und kein Mann uns hören kann! Du bist eine sehr fromme Frau und eine gute Christin, das schätze ich wohl an dir, aber vielleicht bist du doch zu gewissenhaft und gründlich mit deiner strengen Einhaltung der Keuschheit an den Feiertagen und während der Fastenzeiten! Die Gesetze unserer Kirche sind sicher richtig und von Gott bestimmt, daran will ich nicht zweifeln, aber die wichtigste Aufgabe einer Frau in der Ehe ist es doch, Kinder zu empfangen und zu gebären, und die Enthaltsamkeit ist dazu nicht der richtige Weg. Diese lange Fastenzeit vor dem Osterfest, der Advent, die Sonntage, die Pfingstwoche, die Mittwoche und Freitage und all die vielen Festtage zu Ehren der Heiligen, dein häufiger Gang zu den Sakramenten, wo du am Tag davor und am Tag danach nicht mit deinem Mann beisammen sein darfst, ihr liegt ja kaum mehr als eine Nacht im Monat wie Eheleute beieinander, du und Chuonrad!“ Hedwig war von den eigenen Worten so aufgewühlt, daß ihr blasses Gesicht rote Flecken bekam und die wollenen Decken durch eine heftige Bewegung zu Boden rutschten. Richlint stand auf und stopfte die Tücher wieder sorgsam um die alte Frau, denn die Novemberluft war kalt und schneidend, aber sie vermied es dabei, ihrer Schwiegermutter in die Augen zu sehen, und sie sprach noch immer kein Wort.

„Und die Tage, an denen dein Blut fließt, Richlint, und an denen du dich von deinem Ehemann fernhalten mußt, diese Tage dauern bei dir fast doppelt so lange wie bei den anderen Frauen oder bei mir in meiner Jugend! Ich will nicht hoffen, daß dies eine Krankheit ist oder den Grund dafür darstellt, daß du kein Kind in deinem Leib trägst, aber du solltest dir bei Justina einen Rat holen, du bist doch viel mit ihr beieinander und sie kennt sich mit heilenden Mitteln für die Leiden von Frauen besonders gut aus. Chuonrad ist ein sehr ungeduldiger Mann, er wird nicht mehr lange hinwarten, sondern eine andere Frau nehmen, wenn du ihm keinen Sohn schenkst, und ich selber möchte noch den ersten Schrei meines Enkels hören, bevor ich sterbe!“

Hedwig warf die Wolldecke von ihren Schultern und faßte nach dem Kinn von Richlint, die sich wieder auf die Stufen gesetzt hatte, und sie drehte den Kopf ihrer Sohnesfrau so fest und bestimmt zu sich, daß die Junge ihr in die hellen, wachsamen Augen schauen mußte und nicht mehr ausweichen konnte. „Du willst meinem Sohn doch Kinder gebären, Richlint, nicht wahr, du willst doch die Mutter der Haslacherben werden?“

Unergründlich war der Blick aus den braunen, im trüben Winterlicht fast schwarz wirkenden Augen von Richlint, und die alte Frau fand darin nicht die Antwort, nach der sie suchte. „Welche Frau würde sich das nicht wünschen, Hedwig,“ gab Richlint leise zur Antwort, „ich werde bald mit Justina reden und ihre Heilmittel einnehmen! Laß´ uns jetzt über das Färben reden, du weißt doch, daß ich morgen eine neue Mischung aus Walnußwurzeln und gekochten Wacholderbeeren versuchen möchte, um bei der Schafwolle endlich ein tiefes, warmes Braun zu erreichen. Dieser Umhang von mir, den ich mit Krapp so leuchtend rot gefärbt habe, ist wirklich sehr schön gelungen, und mit den Stauden des Waid, die ich neulich vom Händler Hildeger erstanden habe, will ich ein feines, leinenes Gewebe blau einfärben, ein neuer Sommerkittel für dich und ein Hemd für Utz soll es werden, zu euren Augen wird es sicher gut stehen, denn sie haben die gleiche Farbe! Du wolltest mir auch noch sagen, wie ich die Rinde und die Blätter des Eichenbaums behandeln muß, damit die Wolle in ihrem Sud wirklich schwarz wird, und du weißt, daß ich sehr froh darüber bin, von dir soviel über das Färben zu lernen!“

Hedwig zog fröstelnd die Decke wieder über ihre Schultern und steckte die Arme darunter, um sich zu wärmen. Es war sinnlos, mit Richlint über die erhoffte Schwangerschaft zu reden, sie hatte es schon so oft vergeblich versucht. Immer wieder wich die junge Frau ihren Ratschlägen und Vorhaltungen aus und lenkte freundlich, aber unnachgiebig von diesem Thema ab. Die Alte seufzte schwer, denn sie konnte Richlint gut leiden und wünschte ihr nichts Böses, aber sie kannte ihren harten und ehrgeizigen Sohn, Chuonrad würde seine Frau verstoßen, wenn sie ihm keine Kinder gebar, und Richlint wäre alleine, denn wer wollte schon ein unfruchtbares Weib auf seinem Hof!

„Rufe jetzt nach Trudhild, ich möchte auf meine Bettstatt zurück, es ist zu kalt hier draußen für eine kranke und alte Frau wie mich, ich bin müde und erschöpft!“ Undeutlich und leise kamen die Worte aus dem zahnlosen Mund der alten Frau, aber Richlint spürte doch den Vorwurf. Sie stand sofort auf, um nach der Magd zu sehen, doch im selben Augenblick kam Trudhild atemlos über den Hofplatz gerannt, mit wehenden Zöpfen und roten Backen vor lauter Aufregung. „Ein Mann, Herrin, ein riesiger, fremder Mann auf einem pechschwarzen Pferd reitet direkt auf unseren Hof zu! Was sollen wir bloß tun, wo doch alle Männer auf der Jagd und wir Frauen alleine und ohne Schutz sind?“ Die Viehmägde drängten sich neugierig hinter den Stalltüren, und die übrigen Frauen stiegen vom Grubenkeller und ihren Webstühlen herauf, durch das laute Geschrei von Trudhild aufgeschreckt und beunruhigt.

Voller Hohn über diesen Tumult verzog Richlint die Lippen. „So macht doch das Tor auf und heißt ihn willkommen, ein einzelner Mann am hellichten Tag wird uns schon nicht gefährlich werden! Es kann nur ein Händler oder ein Pilgerfreund von Utz sein, wer sollte denn sonst im Haslach vorbei kommen!“

Ein sehr großer, dunkel gekleideter Mann führte einen heftig schnaubenden, schwarzen Hengst unter gutem Zureden vorsichtig über die flache Brücke und dann auf das Langhaus der herrschaftlichen Familie zu, nachdem die Mägde auf den Befehl der Herrin das mächtige Holztor geöffnet hatten, und das Erstaunen von Richlint war groß, als sie in dem fremden Reiter ihren Bruder Rasso erkannte. Die Geschwister begrüßten sich herzlich und voller Freude über das Wiedersehen, und nachdem der höfliche, junge Mann auch der alten Hedwig seine Aufwartung gemacht hatte, stellten sie das unruhige Pferd in den Stall zu den Ochsen, gaben ihm Heu und Wasser und schlenderten dann zum Kräutergarten mit seinen steinernen Mauern, um in Ruhe miteinander zu reden. Im Haus oder auf dem Hof war das nicht möglich, denn die Frauen und Mädchen konnten ihre Augen nicht von dem gutaussehenden und hochgewachsenen Mann aus Andehsa lassen, von dem sie schon so viel Erstaunliches gehört hatten, und sie drängelten sich neugierig um Richlint und Rasso, um etwas über den Grund seines Kommens zu erfahren. 

Im Garten aber schloß Richlint die Tür, und Bruder und Schwester waren allein. „Du mußt die Aufdringlichkeit der Mägde verstehen und darfst ihnen nicht böse sein, Rasso, du bist ein berühmter Mann geworden in den letzten Jahren! Überall in den Dörfern erzählt man sich von deinen tapferen Kämpfen gegen die Feinde der Baiern und von deinen Erfolgen auf den Turnieren des Königs, und seit du von der zweiten Pilgerreise nach Rom und ins Heilige Land so kostbare Reliquien mitgebracht hast, wirst du von den einfachen Leuten richtiggehend verehrt!“ Richlint lachte fröhlich und stieß ihren Bruder in die Seite. „Du sollst sogar in Konstantinopel das Schweißtuch unseres Herrn Jesu erhalten haben, was ich nicht wirklich glauben kann, denn wie der schlaue Händler Hildeger habe auch ich meine Zweifel an der Echtheit der vielen Heiltümer landauf und landab!“

Rasso stimmte nicht in das Lachen seiner Schwester ein, sondern runzelte die hohe Stirn unter den dunklen Locken, und sein schönes Gesicht blieb ernst. „Spotte nicht über meinen Glauben, Schwester, denn in ihm habe ich endlich den Sinn meines Lebens gefunden! Wie ich sehe, hast du dich nicht verändert in den letzten Jahren, in denen wir uns so selten getroffen haben, und du bist immer noch voller Argwohn gegenüber der Lehre unserer heiligen Kirche und den Menschen, die an sie glauben. Unsere selige Mutter hätte dir nicht soviel Freiheiten lassen, sondern dich besser in der Liebe zu Jesus unterweisen sollen, und deine Freundschaft mit der heidnischen Sklavin Justina vom alten Gutshof hat deiner Seele wohl mehr geschadet, als dir bewußt ist!“

Voller Verwunderung schaute Richlint ihren Bruder an. „Du aber hast dich sehr verändert, Rasso! An deinen Gedanken und Sehnsüchten hast du mich zwar nie teilhaben lassen, du warst immer schon lieber für dich allein, aber daß du so ernst und gläubig geworden bist, habe ich nicht gewußt. Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld, ein tapferer Held des Herzogs und des Königs, das waren doch deine Ziele während unserer Kindheit und Jugend in Pitengouua, dafür hast du doch die letzten Jahre gekämpft!“

Rasso nahm die Hand seiner Schwester und schaute ihr tief in die goldbraunen Augen. „Deshalb bin ich heute zu dir ins Haslach geritten, Richlint, denn du bist meine Schwester, vom gleichen Fleisch und vom gleichen Blut, und du sollst als erste von meiner Entscheidung erfahren. Unser kleiner Bruder Eticho lebt in Altdorf und hat seine Geschwister und seine Heimat und Herkunft wohl schon vergessen, und deshalb bist du die Familie, die mir noch geblieben ist, und du sollst meinen Weg verstehen und gutheißen. Wenn ich auch erst zweiundzwanzig Jahre zähle, so habe ich doch schon vieles erlebt und erfahren in diesem Leben. Unfrei bin ich geboren worden, als unterdrückter Knecht habe ich mit unserer schönen, unschuldigen Mutter Folchaid und mit dir, Eticho und Roudolf zusammengelebt, und kaum habe ich meinen Vater erkannt, wurde er mir wieder genommen. Nach irdischem Reichtum und Heldenhaftigkeit habe ich gestrebt, als ich endlich ein freier Mann war, und nichts schien mir verlockender, als mit dem Herzog in wilde Schlachten und mit dem König in ferne Länder zu ziehen. Paläste und Burgen von unglaublicher Pracht und großem Reichtum habe ich gesehen, wohlhabende Menschen in seidener Kleidung mit goldenem Schmuck und Zierat um den Hals, und es war das Ziel meiner Träume, genauso reich zu werden wie sie. Kämpfen wollte ich wie kaum ein anderer Held vor mir, so daß mein Name für immer durch die Lieder der herumziehenden Musikanten im Gedächtnis der Menschen bestehen bliebe, und mein Andenken und das meiner Familie hochverehrt würden. Doch eines Tages habe ich plötzlich die Toten auf dem Schlachtfeld mit anderen Augen gesehen, wie sie da lagen, verstümmelt in ihrem Blut, hingemetzelt von meiner eigenen Hand, und die Schreie der gefangenen Frauen und Kinder tönten in schlaflosen Nächten grauenvoll in meinen Ohren. Ich sah, wie hart die Bauern schufteten für ein kleines Stück Brot, um ihre Kinder zu nähren, ich sah die Armen und Aussätzigen, wie sie an den Wegrändern und auf den Märkten bettelten, mit zerlumpter Kleidung und ohne Obdach für die Nacht, und ich wußte nicht mehr, was gut und was böse ist, und ich verzweifelte schier an meinem Leben. Da erschien mir im Traum eine Engelsgestalt, hell und klar wie der Mond, und sie wies mir das Paradies, so wie Jesus es uns nach dem Tode verheißen hat, ein Leben ohne Arm und Reich, ohne Tod und Hunger, ohne Krankheit und Einsamkeit, ein Leben voller Freude und Glück für alle Menschen! Und wie wenn ein strahlender Blitz mich getroffen hätte, erkannte ich auf einmal, daß es falsch ist, zu töten, falsch, nach Reichtum und Ruhm zu streben, falsch, nur nach dem eigenen Nutzen zu handeln und Andere zu vergessen. Glaube mir, Richlint, dieses Leben hier auf Erden hat nur dann einen Sinn, wenn wir in Demut Jesus Christus folgen und nach seinen Worten leben und handeln!“

Rasso atmete tief ein. „Ich werde mit meinem Vermögen ein Kloster gründen, auf der kleinen Insel Werth im Fluß Ampra habe ich den richtigen Ort dafür gefunden, und dort werden die Heiltümer, die ich von meinen Pilgerfahrten mit nach Baiern gebracht habe, aufbewahrt und angebetet werden, und sie sollen unserem ganzen Volk, vor allem den armen und abhängigen Leuten, Hilfe und Erleuchtung bringen.“

Der junge Mann senkte den Kopf und schwieg für einen Augenblick. Dann hob er das Gesicht und schaute mit so innigem Ausdruck in den grauen Novemberhimmel, als ob es in der Ferne etwas Schönes und Wunderbares zu sehen gäbe, und mit ergriffener Stimme fuhr er fort. „Dort in diesem Kloster werde ich selbst leben, als einfacher Mönch, in Armut und in Liebe zu meinen Nächsten, nur zum Lobe des einzigen und wahren Gottes, und ich bin sicher, daß ich dann den inneren Frieden erreiche, den ich schon mein ganzes Leben lang so sehr suche und bis jetzt nirgends in der Welt gefunden habe.“

Richlint starrte ihren Bruder fassungslos an und fand keine Worte. Rasso lächelte und legte den Arm um die Schultern seiner Schwester. „So wie du, meine Richlint, so werden wohl die meisten Menschen erstaunt sein, wenn sie von meinem Entschluß erfahren! Aber glaube und vertraue mir, diese meine Entscheidung ist keine leichtfertige oder unüberlegte Angelegenheit, sondern das Ergebnis von jahrelangem Nachdenken und Beten, und gemeinsam mit meiner Frau Kunissa habe ich alles sehr gründlich durchdacht, auf daß weder Mensch noch Gut durch mein Weggehen Schaden entstehe. Den Hof am Amberse wird Kunissa´s Bruder verwalten, Arnold und seine Frau sind brave und ehrsame Christen, und sie werden die Erziehung unserer beiden Kinder in meinem Sinne fortführen. Denn auch Kunissa fühlt sich immer mehr zu Gott hingezogen, nachdem sie viele, lange Gespräche mit meinem Freund und Vertrauten Bischof Udalrich geführt hat, und sie wird in Keuschheit und Armut die Grabstätte und die Kirche der heiligen Afra vor den Toren von Augusburc betreuen und den vielen Wallfahrern ein leuchtendes Vorbild sein.“

Richlint konnte sich nicht daran erinnern, daß ihr Bruder jemals soviel zu ihr gesprochen hatte, und auch seine Offenheit und das heitere Lächeln, das sein Gesicht jetzt erhellte, war sie von ihm nicht gewohnt. Sein tiefer christlicher Glaube und seine Entscheidung, auf das weltliche Leben zu verzichten und nur noch für Gott zu leben, war ihr völlig fremd, und während sie noch nach Worten suchte, um ihm ihre Gedanken mitzuteilen, ertönte vom Hof das Bellen der Hunde und die barsche Stimme von Chuonrad, der nach seiner Frau rief.

Die Jäger waren zurückgekehrt, früher als erwartet, und Richlint eilte sofort zur Gartentür, um dem Ruf ihres Mannes zu gehorchen. Doch ihr Bruder hielt sie am Umhang fest und drehte sie zu sich. „Richlint, ich will dir noch etwas sagen! Du bist bis heute kinderlos geblieben, und es geht das Gerücht, daß Chuonrad dich verstoßen wird, wenn du ihm nicht bald einen Erben gebärst! Du sollst wissen, daß dir ein Leben im Kloster jederzeit offen steht, Bischof Udalrich und ich werden uns darum kümmern und dir geistlichen Beistand schenken, wenn es soweit kommen sollte. Geh´ nach Augusburc, wenn dein Mann sich von dir scheiden läßt, bei Kunissa und ihren Gefährtinnen bist du sicher!“

Richlint schüttelte den Kopf. „Du bist mein Bruder, Rasso, und ich danke dir für deine Fürsorge, aber du weißt nichts von dem, was ich fühle oder was ich will. Hier im Haslach bin ich gefangen von Chuonrad und seinen Leuten, und wenn ich ins Kloster gehe, stehe ich in der Willkür des Bischofs! Ich aber will frei sein von den Männern und ihrem Willen, und der Tag, an dem Chuonrad mich verstößt, wird ein Jubeltag für mich sein, und ich werde mich nie wieder einem anderen Mann beugen!“

„Du hast dich nicht geändert, Richlint, seit wir Kinder in Pitengouua waren, und du bist immer noch das eigensinnige Mädchen von früher, das einen anderen Weg gehen will, als ihm befohlen ist! Du wirst wieder geschlagen werden, so wie dich damals im Moor Wichard geschlagen hat, aber heute hast du keine Mutter und keinen Vater mehr, die dir helfen können, genauso wenig wie ich als Mönch im Kloster dir dann noch helfen kann! Vergiß´ nicht, daß du nur eine Frau bist, dein Mann ist dein Muntwalt und kann über dich bestimmen, so wie es ihm paßt. Nur Gott und seine Kirche können dir helfen, und nur dort wirst du Ruhe und Frieden finden!“

Richlint machte sich heftig von Rasso´s Griff an ihrer Schulter los und sah ihn nur lange an, die Augen dunkel vor Empörung. Dann drehte sie sich um und lief durch das Gartentor auf den Hofplatz, um die Jäger zu empfangen, und Rasso blieb allein im Kräutergarten zurück und schaute seiner Schwester traurig und verständnislos nach.

Die Männer aus Haslach hatten die erhoffte Beute gemacht, mehrere Knechte schleppten eine dicke Stange mit dem daran festgebundenen toten Bär zwischen sich, der massige Schädel mit der langen und gefährlichen Schnauze und den erstarrten, kleinen Augen hing nach unten zur Erde, die dunkelrot war vom Blut des Raubtieres, und der Bär war so groß und schwer wie drei ausgewachsene Rinder zusammen. „Heijo!“ rief Chuonrad seiner Frau entgegen, berstend vor Stolz auf sich und seine Mannen, „nun haben wir ihn doch noch erwischt, den pelzigen Räuber! Es war ein harter Kampf, und der arme Tammo hat einen so derben Hieb mit der Pranke abbekommen, daß sein ganzer Schenkel aufgerissen ist! Laufen kann er nicht mehr, der Unglücksrabe, die Männer tragen ihn auf zusammengeschnürten Ästen zurück, und du sorgst dich am besten gleich um die Wunde, Richlint, und wäscht und verbindest sie!“

Rasso war seiner Schwester langsam aus dem Garten gefolgt und ging mitten durch den Trupp der Jäger und Pferde auf den Herrn des Hofes zu, um ihn zu begrüßen. Chuonrads Erstaunen war groß, als er den hochgewachsenen Mann erblickte, und er zögerte nur für einen kurzen Moment, unsicher darüber, was den berühmten Bruder seiner Frau an einem Wintertag in diese Einöde führte. Dann aber übergab er die Zügel seines Rosses einem Knecht und reichte seinem Schwager beide Hände zum Willkommen. „Sei gegrüßt, Rasso von Andehsa, du hast dir den Tag für deinen seltenen Besuch gut ausgewählt, denn heute abend gibt es frisches Bärenfleisch im Haslach, und du bist herzlich eingeladen, mit uns zu schmausen! Bei Braten und Bier kannst du uns dann erzählen, was dich hierher führt, und was es sonst noch an Neuigkeiten draußen in der weiten Welt gibt!“

In den nächsten Stunden gab es für Richlint keine Gelegenheit mehr, mit ihrem Bruder zu sprechen, denn sie war lange Zeit mit dem verletzten Knecht und seiner offenen Wunde beschäftigt, und als die Jäger endlich den riesigen Bären ausgeweidet und zerlegt und alle Männer ihren gerechten Anteil an der Beute erhalten hatten, bereiteten die Frauen unter der Anleitung der Hofherrin das übrige Fleisch zur Aufbewahrung vor, es wurde gesalzen und mit Kräutern eingerieben und in der kleinen Räucherkammer neben dem Badhaus aufgehängt. Ein saftiges Stück vom Rücken und die Leber und das Herz des Tieres briet Richlint dann auf dem eisernen Rost über dem Herdfeuer, und Chuonrad, Utz und Rasso saßen am breiten Holztisch daneben und tranken reichlich vom süffigen Met, während sie auf das Essen warteten. Die Haslachbrüder führten das große Wort mit der Geschichte ihrer Bärenjagd, sie wurde immer wilder und dramatischer, je öfter sie Chuonrad erzählte, und die alte Hedwig auf ihrer Bettstatt hörte mit Schaudern von der Heldentat ihrer Söhne.

„Nun soll uns Rasso aber von seiner Reise ins Heilige Land und vom Papst in Rom berichten!“ rief Utz dazwischen, als sein Bruder zum drittenmal davon anfing, wie schlau sie das fürchterliche Raubtier eingekreist und in die Enge getrieben hatten. „War nicht der junge Liudolf von Schwaben dabei mit seinen Mannen, und einige Verwandte von Udalrich?“ Utz war begierig auf Neuigkeiten von den adeligen Herren, mit denen er selbst schon auf Pilgerfahrt gewesen war, und das Gespräch der Männer am Tisch drehte sich bald um die Lage in Baiern, den sächsischen König und das Machtgerangel der Herzöge.

„König Otto verteilt Würden und Besitztümer, die von Rechts wegen anderen zustehen, recht eifrig unter seinen Verwandten! Arnulf sollte Herzog in Baiern sein wie sein Vater vor ihm, und nicht der Sachse Heinrich, wenn er auch der Bruder des Königs ist!“ ereiferte sich Utz, „und obwohl ich Liudolf gut leiden kann und er ein tapferer Kämpfer ist, so hat doch einer aus der Familie von Rasso und Richlint mehr Anspruch auf das Herzogtum in Schwaben als der Sohn des Sachsenkönigs!“

Chuonrad wiegte bedächtig seinen Kopf. „Aber er ist ein kluger Mann, unser König, das mußt du gestehen, Utz! Seinen Bruder Heinrich hat er letztes Jahr als Herzog in Baiern eingesetzt, aber er hat ihn mit Judith, der Tochter von Herzog Arnulf  und Schwester des bairischen Pfalzgrafen verheiratet, und seinem Sohn Liudolf gab er Ida von Schwaben zur Frau und seine Tochter Leutgard dem roten Konrad von Lothringen. So sitzen seine Verwandten durch geschickte Heirat im ganzen Land und er festigt seine Macht!“

Rasso hatte den Haslachbrüdern zugehört und bisher wenig gesagt, aber als er jetzt das Wort ergriff, war sein Standpunkt deutlich. „Otto ist unser aller gesalbter König und er handelt nur zum Wohle der Menschen dieses Landes, sein Königtum ist ihm von Gott gegeben! Und Herzog Heinrich hat doch schon bewiesen, daß er ein würdiger Mann für diese Stellung ist, immer wieder schlägt er die blutdürstigen Heiden zurück, und in diesem Sommer drang er bis ins ungarische Feindesland vor und lieferte ihnen dort ein grausames Gefecht!“

Chuonrad schaute seinen Schwager erstaunt an. „Ja, von der Schlacht bei Lövö haben wir hier im Haslach auch schon gehört, aber Ruhm für den Herzog kann ich dabei nicht erkennen, denn viele Tote und Verletzte hat es bei den Baiern gegeben, zuviele Männer aus den Dörfern ringsum sind nicht mehr heimgekehrt! Mich wundert, daß du selbst nicht mitgekämpft hast in den Reihen der Krieger, und lieber wie ein Mönch nach Rom gezogen bist, wo du doch sonst den Kampf mit dem Schwert suchst wie keiner von uns!“

Richlint war mit dem Bärenfleisch an der Feuerstelle beschäftigt, aber sie hörte der Unterhaltung aufmerksam zu, und als Rasso jetzt von ihrem Mann angesprochen worden war, hob sie den dunkelblonden Kopf und trat einen Schritt näher, denn sie wollte kein Wort ihres Bruders versäumen.           

Rasso spürte den Vorwurf in der Rede von Chuonrad, in diesen schwierigen Zeiten auf Pilgerfahrt zu gehen und nicht Seite an Seite mit dem Herzog und seinen Männern zu kämpfen, und er versuchte freundlich, aber bestimmt, den Brüdern seine Beweggründe zu erklären. „Bischof Udalrich hat mich nach Rom gesandt, mit wichtigen Briefen vom König für den Papst, und er bat mich, so viele Reliquien zu beschaffen und mit nach Baiern zu bringen, wie es mir nur irgend möglich sei. Diese Heiltümer sind für den Frieden unseres Volkes genauso wichtig wie die Schlachten des Herzogs!“

Utz erkannte den tiefen Ernst in den Augen des jungen Andehsers und fragte höflich nach dem Erfolg der Pilgerreise. Voll Begeisterung erzählte Rasso nun davon, wie der heilige Vater ihn empfangen und auf Geheiß des König Otto die Grablege der Apostel geöffnet hatte. „Von allen Gliedern und Gebeinen der Jünger Jesu hat er mir gegeben, von Petrus und Paulus, von Simon, Jakobus und Bartholomäus und allen anderen, und in Konstantinopel erhielt ich noch den Leichnam des Propheten Symeonis und den von Timothei dazu. Einige der heiligen Knochen habe ich dem Bischof übergeben, für seine Kirche in Augusburc, und mit den anderen werde ich im Frühling auf der Werth ein Kloster gründen zum Lobe Gottes!“

„Ha, Richlint,“ rief Utz überrascht aus und stieß seine Schwägerin neckend in die Seite, „reich und berühmt ist dein Bruder schon, und jetzt wird er auch noch ein Klostergründer wie der selige Herzog Tassilo!“ Richlint aber lachte nicht bei diesem Scherz, sondern drehte sich still um und ging zum Herd zurück.

„Meine Schwester hat kein Verständnis für meine Entscheidung,“ sagte Rasso mit tiefem Bedauern in der Stimme, „sie läßt Jesus Christus nicht in ihr Herz. Jeden Tag auf der Insel werde ich für sie und ihre Seele beten! Ja, ihr habt richtig gehört, Chuonrad und Utz, ich selber werde in diesem meinem Kloster leben und wirken, als einfacher Mönch ohne Reichtum und Vermögen, und nie wieder werde ich eine Waffe erheben gegen Mensch oder Tier!“

Die Haslachbrüder waren sprachlos, mit offenem Mund saßen Utz und Chuonrad da und fanden keine Worte. Daß ein reicher Mann fromm war und ein Kloster gründete oder der Kirche Land und Vermögen überließ, das konnten sie verstehen, denn damit sicherte er das Heil seiner Seele und das seiner Angehörigen. Aber daß ein mutiger und starker Kämpfer wie Rasso, von schöner Gestalt und blitzendem Verstand, ein mit allen Gaben und Tugenden ausgestatteter Mann, ein Freund hoher Herren und Anhänger des Herzogs, ein Gutsbesitzer mit ausgedehnten Ländereien, daß so ein Mann alles Irdische aufgeben wollte, um Gott als einfacher Mönch zu dienen, das ging über den Verstand der Brüder, und sie starrten ihn mit großen Augen an und wußten nichts dazu zu sagen.

Rasso stand auf und öffnete die Tür, schaute eine Weile in den sich langsam verdunkelnden, steingrauen Himmel hinauf und drehte sich dann wieder zu den Männern am Tisch. „Ihr werdet mich jetzt entschuldigen, Chuonrad und Utz, ich will mich auf mein Nachtlager im Stall zurückziehen. Es beginnt bereits zu schneien, und schon am frühen Morgen führt mein Weg nach Pitengouua zu Meier und Burgvogt, das wird kein leichter Ritt werden, wenn dieser erste Schnee liegen bleibt und die Pfade bedeckt! Laßt uns jetzt Abschied nehmen und seid versichert, daß ich eurer Familie immer eingedenk sein und euch in meine täglichen Gebete aufnehmen werde, und es wäre eine große Freude für mich, euch alle als Pilger zu den heiligen Reliquien auf meiner Insel wiedersehen zu dürfen!“ Nach diesen Worten verneigte sich Rasso höflich, zuerst vor Chuonrad, seinem Schwager und Herrn des Hofes, dann vor Utz und der alten Hedwig auf ihrem Lager, und mit wenigen Schritten war er bei seiner Schwester neben der Feuerstelle, umfaßte liebevoll Richlint, die mit herabhängenden Armen und gesenktem Kopf dastand und seine Umarmung nicht erwiderte, und flüsterte ihr zu. „Denke daran, was ich dir vorgeschlagen habe, Schwester! Unser aller Leben liegt in der Hand des Allmächtigen, begib dich vertrauensvoll in seine Obhut!“