Kapitel 12
Peter schlug völlig gerädert die brennenden Augen auf, als eine Hand unsanft seine Schulter rüttelte. Sein Rücken schmerzte, der Kopf dröhnte und die Zunge klebte ihm unangenehm am Gaumen. Er hatte die Nacht auf einem der Sitze in der vordersten Reihe der zweiten Klasse verbracht, um ihm Notfall schneller eingreifen zu können.
„Aufwachen, Schlafmütze“, rief ihm Nicole aufgesetzt fröhlich ins Ohr. „Sie schnarchen ja wie ein ganzes Sägewerk. Das weckt ja selbst die Toten auf.“
Sie verzog das Gesicht, als ihr Peter aufgrund des unangebrachten Scherzes einen bösen Blick zuwarf und hob entschuldigend die Hände.
„Es tut mir leid. War nicht so gemeint. Die Sonne geht auf und wir sollten uns auf den Weg machen. In der Nacht ist es zum Glück ruhig geblieben. Den Geräuschen nach zu urteilen, sind ein paar von den Dingern umhergewandert, haben aber das Flugzeug in Ruhe gelassen. Jetzt scheint die Luft rein zu sein und ich habe Annie und Mia gebeten, die Lebensmittel unter den verbliebenen Passagieren aufzuteilen.“
Sie sah in fragend an, doch Peter war um diese frühe Stunde noch nicht in der Lage, klar zu denken. Also brummelte er nur etwas und streckte mit einem lauten Knacken seinen verspannten Rücken.
„Aua“, rief Nicole und zog eine leidende Grimasse. „Das muss weh getan haben. Auf die Annehmlichkeiten eines weichen Bettes werden wir vermutlich eine Weile verzichten müssen“, seufzte sie theatralisch und sah ihn so unglücklich an, dass er lachen musste.
Ihr breites Grinsen verriet ihm, dass sie genau diese Reaktion beabsichtigt hatte und er musste noch lauter lachen. Mit Tränen in den Augen hielt er sich den schmerzenden Bauch und schnappte atemlos nach Luft. Die ganze Anspannung der letzten Stunden entlud sich in diesem Moment und er fühlte sich erleichtert und gestärkt. Die irritierten Blicke der anderen Menschen durch den Vorhang nahm er nur am Rande wahr und sie waren ihm im Moment auch herzlich egal.
Nicole beugte sich über ihn, um ihre Jacke zu holen und da roch er es. Schlagartig verstummte er, als mit dem Geruch auch die Erinnerung an seinen gewalttätigen Vater kam. Sie bemerkte seinen Stimmungsumschwung und sah ihn mit zusammen gekniffenen Augen scharf an. Peter schluckte trocken. Er war sich nicht sicher, ob es klug war, sie darauf anzusprechen. Aber er fühlte sich für die Sicherheit ihrer kleinen Gruppe verantwortlich und musste handeln, wenn er jemanden in Gefahr glaubte.
„Sie sollten die Finger vom Alkohol lassen“, begann er mit belegter Stimme und sah ihr fest ins Gesicht. „Das haben Sie nicht nötig.“
Nicole starrte ihm wütend und schockiert in die Augen. Bis dahin war ihr niemals der Gedanke gekommen, jemand könnte von ihrem kleinen Problem auch nur im Entferntesten etwas ahnen.
„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht“, blaffte sie ertappt und entrüstet. Doch ihm waren das traurige Funkeln und der Schmerz in ihrem Blick nicht entgangen. Er hielt sie am Arm fest, als sie sich abwenden wollte.
„Bitte“, begann er erneut. „Ich brauche Sie. Nüchtern. Wir schaffen das nicht allein.“ Er deutete auf den Vorhang, hinter dem der Rest der Passagiere beim Frühstück zusammen saß.
„Wenn sie es nicht für sich tun können oder wollen, dann vielleicht für die anderen. Denken Sie an die beiden kleinen Mädchen. Wir müssen sie in Sicherheit bringen.“ Er schluckte schwer.
„Was immer Sie für Probleme haben, der Alkohol wird sie nicht lösen. Und der Preis für seine vermeintliche Freundschaft ist viel zu hoch.“ Er sah sie bittend an und ließ ihren Arm los.
Nicole traten die Tränen in die Augen und sie wandte sich rasch ab. Sie schwankte zwischen Schock und Entrüstung und hätte am liebsten alles abgestritten. Letztendlich entschied sie sich dann aber für die Wahrheit. Die Welt war am Arsch, warum sollte sie jetzt noch eine Fassade aufrecht erhalten, die ihr noch nie gefallen hatte.
„Es ist nicht so einfach“, flüsterte sie mit rauer Stimme.
„Ich weiß“, erwiderte Peter und seufzte. „Ich bitte Sie trotzdem, es zu versuchen. Wir wissen nicht, was uns dort draußen erwartet und Sie haben gezeigt, dass Sie nicht nur in der Lage sind, Menschen zu führen, sondern auch zu beschützen. Sie sind eine starke Frau, die es schafft, auch in dieser Welt zu überleben. Machen Sie sich das mit dem Trinken nicht kaputt. Denken Sie einfach darüber nach und treffen Sie dann eine Entscheidung“, bat er sie und räusperte sich. „Ich möchte Sie nicht wegen einer Dummheit verlieren.“
„Ich kann Ihnen nichts versprechen“, wisperte sie tonlos. „Aber ich werde über Ihre Worte nachdenken.“
Mit zitternden Fingern schob sie den Vorhang zur Seite und ging zu den anderen in die erste Klasse, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.
Peter fuhr sich mit beiden Händen über sein müdes Gesicht und seufzte schwer. Dann stand er auf und gesellte sich zu der kleinen Gruppe um ebenfalls etwas zu frühstücken und die Lage zu besprechen.
Annie lächelte ihn zerknirscht an und reichte ihm ein paar Beutel mit Nüssen und eine Flasche Wasser. „Mehr haben wir leider nicht“, sagte sie entschuldigend.
„Immer noch besser, als zu hungern“, grinste Peter und schlang gierig die dürftige Ration hinunter. Als der gröbste Hunger gestillt war, blickte er sich suchend um.
„Wie geht es Marie?“, fragte er leise und befürchtete schon das Schlimmste. „Ich sehe sie hier nirgendwo.“
„Sie ist noch im Cockpit“, flüstere Annie ernst zurück. „Eingeschlossen. Ich hielt es für das Klügste, sie von den anderen zu trennen und ihr eine Schlaftablette zur Beruhigung zu geben. Ich habe vor einer Stunde nach ihr gesehen. Die Wunde sieht nicht gut aus. Sie hat viel Blut verloren und ich glaube, der Biss hat sich trotz des Desinfektionssprays entzündet. Sie hat hohes Fieber und phantasiert im Schlaf. Die Frau braucht dringend einen Arzt, sonst wird sie das Ganze nicht überleben.“
Peter nickte. „Ich werde nach ihr sehen“, seufzte er und drehte sich zum Cockpit um. Als er durch die Kabine zum Ende der ersten Klasse lief und sich der Tür zur Kanzel näherte, hörte er die Geräusche und das Blut schien in seinen Adern zu gefrieren.
Jemand kratzte unbeholfen mit den Fingernägeln an der Tür, schlug dagegen, rüttelte heftig daran und stöhnte dabei aus tiefer Kehle. Doch die Person war nicht in der Lage, den Sicherheitsmechanismus der Tür zu bedienen und sie damit zu öffnen.
„Nein“, dachte er entsetzt bei sich. „Nicht noch jemand.“
Doch er kannte diese Geräusche mittlerweile zur Genüge und wusste ohne nachzusehen, dass sich die junge gebissene Frau in eines dieser Dinger verwandelt hat.
Unschlüssig, was er jetzt tun sollte, blieb er stehen und überlegte verzweifelt, als Nicole neben ihm auftauchte und ebenfalls traurig und wissend die Tür anstarrte.
„Ich habe es befürchtet“, flüsterte sie tonlos. „Was wollen Sie jetzt tun?“
Peter schüttelte den Kopf. „Das leichteste wäre, sie hier einfach zurück zu lassen und zu verschwinden.“
„Und das menschlichste, sie von ihrem Leid zu erlösen“, ergänzte Nicole und griff nach ihrem Messer. Peter hielt sie am Arm fest.
„Nein. Das erledige ich. Als Kapitän war ich für ihre Sicherheit verantwortlich und habe kläglich versagt. Nun muss ich mit den Konsequenzen leben.“
Nicole nickte verstehend und sah zu, wie er die Axt in seiner Hand fester griff, zur Tür ging und sie beherzt öffnen wollte.
„Warten Sie einen Moment“, rief sie ihm zu. „Ich schicke die anderen aus dem Flugzeug. Vor allem die Kinder müssen das nicht mit ansehen.“
Peter blieb mit gesenktem Kopf stehen und drehte sich nicht um, während Nicole zu den anderen ging und ihnen leise erklärte, was geschehen war und was sie nun vorhatten. Er hörte das erschreckte Raunen in seinem Rücken und glaubte, von brennenden Blicken durchbohrt zu werden.
Annie und Mia übernahmen die Führung und versuchten, die Menschen zu beruhigen. Er hörte noch, wie Susan energisch darauf bestand, in der Maschine zu bleiben und war leicht irritiert. Wollte sie sich das wirklich ansehen oder verstand sie einfach den Ernst der Lage nicht?
Doch Mia ließ sich nicht beirren und bestand darauf, dass alle außer Kapitän Anderson das Flugzeug zügig verließen. Die beiden Stewardessen begleiteten die Passagiere nach draußen und es wurde still im Bauch der Maschine, was das unheimliche Stöhnen und Kratzen vor ihm nur noch verstärkte.
Schweiß lief ihm in Strömen den Rücken hinab und sein Herz schlug heftig gegen die Rippen. Er spürte die Anwesenheit einer anderen Person hinter seinem Rücken und drehte sich um. Dort standen Jeff und Nicole mit ihren Waffen, um ihm im Notfall beizustehen. Er war unendlich dankbar für ihre Unterstützung.
Ein letztes Mal holte er tief Luft, spannte die Muskeln an und betätigte mit erhobener Axt den Sicherheitsmechanismus der Tür zum Cockpit. Nur ein geistesgegenwärtiger Sprung zur Seite rettete ihn davor, direkt in den Armen des Dings zu landen, das gestern noch Marie Sattler aus New York gewesen war, als die Tür mit lautem Knall aufsprang.
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit war diese Kreatur auf ihn zugeschossen und lag nun zappelnd im Gang der Maschine. Ihre Gesichtshaut war schneeweiß und wächsern, die Zähne gefletscht und die Hände zu Klauen geformt.
Doch das Schlimmste waren ihre Augen. Sie schienen komplett schwarz zu sein und er hatte noch nie in seinem Leben so viel Boshaftigkeit in einem Blick gesehen. Ihm schien das Blut in den Adern zu gefrieren und er erstarrte, als sich das Ding umdrehte und ihn diabolisch angrinste.
Gerade, als sie wieder zu einem Sprung ansetzen wollte, durchbohrte sie Jeffs Speer von hinten. Das Ding ließ einen wütenden Schrei ertönen, der an das Fauchen einer Katze erinnerte und versuchte zornig, sich von der Waffe zu befreien.
Peter löste sich aus seiner Starre, sprang auf und hieb ihr seine Axt in den Schädel. Sofort sackte das Biest zusammen und blieb in einer Lache aus schwarz schimmerndem Blut liegen.
„Was zum Teufel war das?“, fragte Jeff noch immer voller Entsetzen und fixierte das Teil mit seinem Blick.
„Sie sah anders aus, als die Viecher, die uns in der Nacht angegriffen haben“, meinte auch Nicole und kam langsam näher. „Was immer aus ihr geworden ist, es war schnell, bösartig und tödlich. Die anderen gestern kamen mir langsam und dumm vor. Wesen, die nur von dem Verlangen und der unstillbaren Gier nach Nahrung geleitet wurden. Aber hier hatte ich das Gefühl, dass sie genau wusste, was sie tat. Sie hat hinter der Tür gelauert und auf den richtigen Augenblick zum Angriff gewartet.“
Peter nickte noch immer ungläubig und entsetzt. Gemeinsam standen sie um das Geschöpf herum und starrten es an. Entweder mutierte das Virus oder es löste bei jedem Menschen eine individuelle Veränderung aus.
Er hob den Kopf und sah Jeff und Nicole fest in die Augen. „Das bleibt erst einmal unter uns. Wir wollen die anderen nicht noch mehr und vielleicht vollkommen unnötig in Angst und Schrecken versetzen, bevor wir nicht sicher wissen, was hier los ist.“
Sie nickten und gingen langsam nach draußen zu der wartenden Gruppe.