Kapitel 11
Es begann langsam zu dämmern und David hatte endlich sein Zuhause erreicht. Er hielt es aber für unklug, einfach durch die Haustür ins Innere zu stürmen und so hockte er jetzt bestimmt schon eine halbe Stunde hinter einem Busch und beobachtete das Haus und die Umgebung. Bisher rührte sich nichts Verdächtiges und alles blieb ruhig.
„Fast so, als sei nichts geschehen“, dachte er betrübt. Die Vögel zwitscherten und die Nachmittagssonne tauchte alles in ein warmes Licht. Die Schatten der Gebäude und Bäume zogen sich lang auf dem ausgetrockneten Gras dahin und die Luft schien zu flirren.
Diese Tageszeit fand seine Mutter immer am schönsten. Doch jetzt war sie fort und würde nie wieder zurück kommen. Hoffentlich hatte sie nicht allzu sehr gelitten. Oder sich in eines dieser Dinger verwandelt. Bei dem Gedanken daran, lief es ihm trotz der Hitze eiskalt über den Rücken. Egal was geschehen war, er konnte es nicht mehr ändern. Jetzt musste er sich darauf konzentrieren, zu überleben und zu seiner Frau und seinen Kindern zu gelangen.
Also entschloss er sich, seine Deckung zu verlassen und ins rettende Haus zu gehen. Geduckt humpelte er über die Wiese zur Hintertür, öffnete sie leise und betrat die Küche. Auch hier war nichts Besorgnis erregendes zu sehen oder zu hören.
Sein Kaffeebecher und das Besteck lagen noch in der Spüle, die Zeitung zusammengefaltet auf dem Küchentisch. Alles sah genauso aus, wie er es heute Morgen verlassen hatte. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Es schien Lichtjahre her zu sein, dass er ein normales und größtenteils sorgenfreies Leben führte und jetzt war alles mit einem Schlag vorbei.
Er lief zur Spüle und ließ sich ein großes Glas Wasser einlaufen, das er gierig trank. Dann suchte er im Schrank nach einem Schmerzmittel und schluckte die Tablette mit noch mehr Wasser herunter. Er würde auch einen Verband für den Knöchel brauchen.
Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass seine letzte Mahlzeit Stunden zurück lag und er machte sich schnell ein Sandwich mit der letzten Scheibe Schinken.
„Verdammt“, dachte er fluchend bei sich. „Das war der eigentliche Grund, warum ich in die Stadt gefahren bin. Ich habe kaum noch Lebensmittel.“ Dieses Problem musste er dringen lösen, wenn er nicht verhungern wollte.
Dann machte er sich auf die Suche nach einem Rucksack und überlegte fieberhaft, welche Dinge er dringend brauchte und einpacken sollte.
Nach einer Stunde war er soweit und auf dem Küchentisch stapelten sich Wasserflaschen, ein paar Konserven, Messer, die beiden Äxte aus Misses Brestons Gartenschuppen, der Erste-Hilfe-Kasten, Wechselsachen, Waschzeug und seine Zahnbürste. Und natürlich sein Revolver und die Schrotflinte nebst aller Munition, die er im Haus finden konnte.
Er kratzte sich nachdenklich am Kopf. Es war unklug, soviel mitzunehmen, wenn er sich zu Fuß durchschlagen wollte. Doch er konnte sich auch nicht entschließen, etwas von den Dingen hier zu lassen. Im Moment erschien ihm alles überlebenswichtig.
Die andere Alternative war, mit einem Auto zu versuchen sich durchzuschlagen. Sein Pickup stand aber noch vor Marie Brestons Haus und seine Frau hatte ihr Auto mit genommen. Zu seinem Nachbarn Dave würde er mit Sicherheit nicht noch einmal gehen. Er fuhr sich in Gedanken versunken durch die wuscheligen verschwitzten Haare und starrte auf seine Sammlung auf dem Küchentisch.
Es gab noch die Möglichkeit zur Straße zu gehen und sich dort nach einem verlassenen Fahrzeug umzuschauen. In die Stadt bekamen ihn keine zehn Pferde mehr, doch es gab in der Umgebung noch mehr Farmen. Es konnten sich doch nicht alle in solche Dinger verwandelt haben. Das war doch nicht möglich, oder?
David entschloss sich, erst einmal nur das Nötigste in den Rucksack zu packen und sich dann auf die Suche nach einem fahrbaren Untersatz zu begeben. Wenn er etwas Passendes fand, konnte er zurück kommen und die restlichen Sachen holen.
Jetzt würde er erst einmal duschen, sich umziehen, seinen Knöchel verbinden und dann versuchen, ins Internet zu gehen. Das Telefon hatte er ausprobiert: es funktionierte nicht. Weder mit dem Handy noch dem Festnetz war ein durchkommen. Er starrte nach draußen in die Dunkelheit. Noch war nichts Verdächtiges zu sehen und doch hatte er das ungute Gefühl, nicht allein zu sein.
Es war sicher das Klügste, die Nacht im Haus zu verbringen und morgen weiter zu sehen. Auf keinen Fall wollte er im Dunkeln auf eines dieser Dinger treffen. Er fragte sich, ob diese Biester auch schliefen. Was hielt sie am Leben?
Vorsichtig ging er mit dem Revolver in der Hand die Treppe hinauf in das kleine Bad im ersten Stock und zog sich leise die verschwitzten und mit getrocknetem Blut übersäten Sachen aus. Dabei hielt er immer wieder inne und lauschte angestrengt.
Die Haustür war verschlossen, der Revolver lag geladen und entsichert auf dem Waschbecken neben der Duschkabine. David entschloss sich, es zu riskieren, für ein paar Minuten unter der Dusche zu stehen und den Dreck und Gestank des Tages abzuwaschen.
Auch wenn er durch das Wasser nicht viel hören würde, war die Wahrscheinlichkeit gering, dass jemand ins Haus eindrang und sich ihm unbemerkt näherte. Zumal er die ganze Zeit darauf achtete, keinen Lärm und kein Licht zu machen. Und er musste einfach den ganzen Schmutz und die Erinnerungen weg spülen.
Als er nach nicht einmal fünf Minuten die Dusche verließ, lauschte er wieder nervös, doch außer dem leisen Platschen der Wassertropfen aus seinen nassen Haaren auf die kühlen Fliesen unter seinen nackten Füßen, konnte er kein ungewöhnliches Geräusch ausmachen.
Die Dusche hatte ihn belebt und erfrischt und ihm neuen Mut und Zuversicht verliehen. Schnell zog er sich frische Kleidung an und verband seinen Knöchel. Die Haut war dunkel verfärbt und das Gelenk immer noch dick angeschwollen, wenn auch nicht mehr ganz so schlimm, wie heute Nachmittag. Das kühle Wasser und die Tablette hatten die Schmerzen gelindert und er fühlte sich fast wieder wie der Alte. Langsam lief er mit dem Revolver in der Hand lauschend die Treppe nach unten. Dort war ebenfalls alles ruhig und friedlich.
Fast bekam er einen Herzinfarkt, als die alte Standuhr im Wohnzimmer den Gong zur vollen Stunde ertönen ließ. Es fehlte nicht viel und er hätte aus lauter Panik wild um sich geschossen. Sein Herz raste und er hatte Mühe, sich wieder zu beruhigen.
Durch die Ereignisse des Tages lagen seine Nerven mehr als blank und er musste sich dringend beruhigen und etwas Ruhe finden. Kurz entschlossen ging er zu der alten Uhr, die schon seinem Großvater gehörte und hängte das Pendel aus.
Leise schlich er sich im Dunkeln in sein Arbeitszimmer, nahm den Laptop vom Tisch und verzog sich damit in den Keller. Hier war es nicht nur angenehm kühl, sondern er konnte auch gefahrlos das Licht einschalten, da der einzelne kleine Raum keine Fenster besaß.
Früher wurde er genutzt, um Kartoffeln, Marmelade und eingewecktes Obst und Gemüse zu beherbergen. Doch seine Frau hielt nicht viel von Vorratshaltung und daher stand er schon seit Jahren mehr oder weniger leer.
Er hockte sich auf eine leere Kiste in die Ecke und fuhr das Gerät hoch. Dann öffnete er das Internet und hätte fast laut aufgejubelt, als sich die Seite aufbaute.
Die Telefonleitung war tot, doch das Internet funktionierte noch. Er öffnete seine E-Mails und sein Herz machte einen Sprung in seiner Brust. Dort war eine Nachricht von seiner Frau Jenny und den Kindern. Hastig öffnete er sie und las mit gerunzelter Stirn.
Offenbar handelte es sich um einen Virus, der die Menschen zu einer Art Zombie mutieren ließ. Sie hatten schreckliche Dinge mit ansehen müssen, waren aber unverletzt. Das ganze Land schien betroffen und alle anderen Staaten hatten sofort ihre Grenzen nach Amerika abgeriegelt. Sie waren im eigenen Land gefangen.
Die Behörden teilten jedoch mit, es sei alles unter Kontrolle und es diene nur der Sicherheit, dass niemand mehr ausreisen konnte.
„Seltsam“, dachte er bei sich. „Noch vor wenigen Wochen waren die Einwanderer das Problem und wir haben die Grenzen mit Argusaugen bewacht, damit niemand unbefugt einreist. Und nun wollen alle Amerika so schnell wie möglich verlassen und die angrenzenden Staaten lassen niemanden mehr hinein.“
Merkwürdig, wie sich die Dinge innerhalb kürzester Zeit so umdrehen konnten. David war sich sicher, dass dieser Virus sich von Verboten oder Staatsgrenzen nicht aufhalten lassen würde und seinen Weg über die Erde fand.
Seine Frau versicherte ihm, dass es ihr gut ginge und sie mit den Kindern und ihrer Mutter in ein neu eingerichtetes Quarantänezentrum auf einem nahe gelegen Militärstützpunkt fahren wolle. Vielleicht konnten sie sich dort treffen, wenn sich die Lage etwas beruhigt hatte.
David wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und schrieb seiner Frau ebenfalls ein paar Zeilen. Ihm ginge es gut und sie solle die Jungs von ihm drücken. Er würde sich ebenfalls auf den Weg in eines der Quarantänezentren begeben und von dort versuchen, zu ihnen zu gelangen. Sie solle nie vergessen, dass er sie und die Kinder über alles liebte. Was mit seiner Mutter geschehen war, verschwieg er.
Dann suchte er im Internet nach weiteren Informationen, fand aber nichts wirklich Beruhigendes. Nur nichts sagende allgemeine Informationen der Behörden und schockierende Fotos. Menschen mit zerrissener Kleidung, blutigen Gesichtern und schrecklichen Wunden, die übereinander her fielen und sich zerfleischten. Brennende Häuser und Fahrzeuge. Dazwischen Panzer, Soldaten mit Gewehren und Hubschrauber, die über der grausigen Szenerie schwebten.
Laut den Meldungen schoss das Militär mittlerweile auf die eigene Bevölkerung.
Auf anderen Bildern waren von Fahrzeugen verstopfte Straßen und Autobahnen zu sehen. Menschenmassen, die verzweifelt versuchten, die Flughäfen zu stürmen, obwohl sämtliche Flüge gestrichen wurden. Es schien, als sei das ganze Land in Bewegung und außer Kontrolle.
Kanada und Mexiko hatten, kurz nachdem die ersten Nachrichten über die Epidemie sich verbreiteten, ihre Grenzen nach Amerika geschlossen. An den Zäunen stand schwer bewaffnetes Militär.
Als die Menschen trotzdem versuchten das Land zu verlassen und einzureisen, wurden sie niedergeschossen. Es war sogar die Rede davon, dass Bomben fielen. Auf unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder, die doch nur Sicherheit und Hilfe suchten.
Geschockt schlug er die Hand vor den Mund. Das war schlimmer, als er es sich jemals hätte vorstellen können. In diesem Chaos gab es keine Menschlichkeit oder Hilfsbereitschaft mehr und jeder war sich selbst der nächste. Jetzt ging es nur noch um das nackte Überleben.
Es schien wirklich die beste Idee zu sein, sich zu einem der Zentren oder einer Militärbasis durchzuschlagen. Er informierte sich, welche in seiner Nähe eingerichtet waren. Morgen würde er sich dann auf die Suche nach einem Fahrzeug begeben und die hundertfünfzig Meilen zum nächsten Zentrum fahren.
David wunderte sich, dass er bisher nichts vom Militär in seiner Gegend gehörte hatte. Nach dem, was er eben erfahren hatte, lag die Vermutung nahe, dass sie sich erst einmal um die Sicherheit der größeren Städte kümmerten. Also war er auf dem Land und seiner Farm auf sich allein gestellt.
Er fuhr sich mit der Hand über die rot geränderten Augen und die Müdigkeit überfiel ihn schlagartig. Das Beste war, jetzt erst einmal zu schlafen und neue Kraft zu tanken. Auch wenn er bezweifelte, dass ihm das nach den Ereignissen des heutigen Tages gelang, doch er musste es versuchen. Für seine Familie. Sie waren alles, was ihm geblieben war und er wollte verdammt sein, wenn er es nicht schaffte, sie wieder zu sehen.
Zur Sicherheit würde er sein Nachtlager hier im Keller aufschlagen, ein Nachtlicht seiner Söhne aufstellen und sämtliche Türen abschließen. Wer wusste schon, was da draußen alles unterwegs war.