Kapitel 9

 

Langsam begann es dunkel zu werden und noch immer war niemand bei dem Flugzeug erschienen. Peter glaubte jetzt nicht mehr daran, dass ihnen irgendjemand zu Hilfe kam. Was immer mit der Welt geschah, es war so schlimm, dass sie allein auf sich gestellt blieben.

Nachdenklich fuhr er sich mit der Hand durch das schüttere braune Haar und sah auf die bunt zusammen gewürfelte Truppe, die von seinen Passagieren noch übrig geblieben war.

Männer, Frauen und zwei Kinder. Menschen auf Geschäftsreise, Urlaub oder unterwegs zu Verwandtschaftsbesuchen. Vor kurzem standen sie noch mitten in einem normalen Leben und nun brach das Chaos ungefiltert über ihnen zusammen. Sie konnten nicht hier bleiben, dass stand fest.

Da die anderen sich zur Stadt durchschlagen wollten und weder zurück gekommen noch Hilfe geschickt hatten, beschloss er, dass die Stadt ebenfalls nicht mehr sicher war. Es gab die Möglichkeit, auf einer der Farmen Hilfe zu suchen. Er entschloss sich, noch einmal ins Cockpit zu gehen und zu versuchen, irgendjemand per Funk zu erreichen. Das war immer noch besser, als hier herum zu sitzen und zu warten.

Dann konnten sie Kissen und Decken aus dem Flieger holen und fürs erste hier auf der Straße ein Nachtlager aufschlagen. Im Schatten der großen Maschine sollten sie sicher sein. Er bezweifelte, dass einer von ihnen die Nacht im Flugzeug verbringen wollte. Vielleicht sah morgen im Sonnenschein alles viel besser aus. Etwas anderes fiel ihm im Moment einfach nicht ein.

Schlagartig kam ihm ein Gedanke und er schlug sich heftig mit der Hand gegen die Stirn. Er könnte sich ohrfeigen, dass er daran nicht früher gedacht hatte. Warum hielt er nur wie ein Trottel an der guten alten Technik fest und vergaß dabei die Errungenschaften der letzten Jahre? Schnell lief er zu den müden Passagieren.

„Hat jemand von Ihnen ein Handy oder einen Laptop dabei?“, fragte er aufgeregt.

„Hier, ich“, rief die junge Frau mit den beiden kleinen Mädchen und wühlte in ihrer überdimensionalen Handtasche.

„Ich habe auch ein Handy. Und einen Laptop mit Internetzugang“, kam es von einem schwarzhaarigen Mann Mitte Dreißig, den er als denjenigen erkannte, der das Ding, das einmal sein Copilot gewesen war, zur Strecke gebracht hatte. „Die Sachen sind in meinem Aktenkoffer im Flugzeug.“

Peter winkte ihn zu sich. „Mia, Sie lassen sich das Handy von Cynthia geben und versuchen den Notruf zu wählen oder wenigstens die Airline zu erreichen. Ich und …“, er schaute den Mann fragend an.

„Jeff. Jeff Silver, Handelsvertreter für Teppichreiniger aus Pennsylvania“, kam prompt die Antwort.

„Also ich und Jeff gehen noch einmal ins Flugzeug und suchen seinen Aktenkoffer.“ Mia nickte erleichtert und zufrieden stellte Peter fest, dass die gedrückte Stimmung langsam in Geschäftigkeit umschlug. Es war immer besser, etwas zu tun und sich von den schlimmen Geschehnissen abzulenken, als nur wartend herum zu sitzen. Und jetzt hatten sie die Hoffnung, Hilfe rufen zu können oder wenigstens Informationen zu bekommen, was hier los war.

Er kletterte mit Jeff mühsam die Rettungsrutsche hinauf. Als sie das Innere der Maschine betraten, hielten beide kurz inne und sahen sich an. Der Gestank war einfach erbärmlich. Doch sie hatten keine andere Wahl.

„Wo war ihr Sitzplatz?“, fragte Peter gepresst und Jeff zeigte es ihm. Sie mussten über Erbrochenes, Fleischstücke, Blutlachen und zwei Leichen klettern, fanden den Koffer aber zum Glück unversehrt unter einem der Sitze. Jeff öffnete ihn, sah hinein, nickte zufrieden und verschloss ihn wieder fest.

„Scheint alles in Ordnung zu sein. Ich nehme ihn mit nach draußen, dann versuche ich eine Internetverbindung her zu stellen und wir können Hilfe holen. Vielleicht erfahren wir auch, was zum Teufel los ist“, erklärte Jeff mürrisch und lief so schnell es ging aus dem Flugzeug und zur Notfallrutsche. Peter folgte ihm auf den Fersen. Keiner wollte länger als unbedingt nötig in dieser Horrorkiste mit dem ganzen Blut und den in der Hitze verwesenden Leichen bleiben.

Unten angekommen versammelten sich alle aufgeregt um Jeff und sahen ihm zu, wie er den Laptop startete. Peter suchte Blickkontakt zu Mia, die mit dem Handy am Ohr leicht den Kopf schüttelte. Telefonisch konnten sie also keine Hilfe erwarten.

Ihre einzige Hoffnung bestand zurzeit darin, im unendlichen World Wide Web Informationen zu finden und vielleicht Kontakt mit den Behörden aufzunehmen. Es konnte doch nicht alles den Bach runter gehen. Der Bildschirm erwachte langsam und rauschend zum Leben und zeigte den Lasagne fressenden Kater Garfield schlafend in seinem Körbchen, was einige zu verhaltenem Gelächter provozierte und Jeff einen hochroten Kopf bescherte.

Schnell klickte er auf das Internetsymbol und zu Aller Erstaunen öffnete sich zwar unendlich langsam, aber sichtbar eine Nachrichtenseite. Um Jeff herum applaudierten die Menschen euphorisch und er fühlte sich großartig. Fast so, als habe er den Jackpot gewonnen.

„Seid bitte mal still Leute und lasst Jeff nach Informationen suchen, die uns weiterhelfen“, versuchte Peter ihre kleine Gruppe zu beruhigen.

Jeff scrollte auf der Seite nach unten und während er las, wurde sein Gesichtsausdruck immer ungläubiger und fassungsloser.

„Was ist denn los?“

„Steht dort etwas, das uns weiter hilft?“

„Kann ich meine E-Mails checken und meiner Familie sagen, dass es mir gut geht?“, bestürmten die Menschen Jeff.

Der hob langsam den Kopf und blickte schockiert in die Runde.

„Hier steht, dass in ganz Amerika eine Epidemie ausgebrochen ist. Irgendein Virus, der die Leute dazu bringt, über ihre Mitmenschen herzufallen. Scheinbar ist dieser Virus fast zeitgleich in allen größeren Städten ausgebrochen, beschränkt sich im Moment aber nur auf Amerika. Die Regierung rät, Ruhe zu bewahren, Vorräte aufzustocken, große Menschenansammlungen zu vermeiden, die Wohnungen gut zu verschließen und nicht zu verlassen. In verschiedenen Gebieten wird versucht, Quarantänezentren einzurichten. Wer keine sichere Bleibe hat, soll sich auf den Weg in ein solches Zentrum begeben oder den nächstgelegenen Militärstützpunkt aufsuchen. Angeblich besteht aber kein Grund zur Sorge oder Panik, da das Militär und die Seuchenschutzbehörde die Lage unter Kontrolle haben.“

Die anschließende Ruhe war fast unheimlich, als der Inhalt dieser Informationen zu den Menschen durchdrang. Ein Virus, das in der Lage war, ein so fortschrittliches Land wie die USA lahm zu legen?

„Und was sollen wir jetzt tun?“, fragte Cynthia, während sie ihren beiden Kindern beruhigend über das blonde Haar strich. Ihre Augen waren auf Peter gerichtet, der sich entmutigt durch das Haar strich und angestrengt nachdachte.

„Ich glaube es ist nicht sicher, wenn wir im Freien übernachten. Wir sollten vielleicht versuchen in einem der Farmhäuser Unterschlupf zu finden. Vielleicht wissen die Menschen dort mehr und helfen uns, in das nächstgelegene Quarantänezentrum oder eine der Militärbasen zu gelangen. Wenn wir erst einmal dort sind, sehen wir weiter.“

Mia und Annie traten an seine Seite. „Kapitän Anderson hat recht. Wir sollten die Stadt fürs erste meiden und entgegengesetzt zur nächsten Farm laufen“, bekräftige Mia seinen Vorschlag. Sie war unendlich müde und erschöpft, doch hielt sie es für ihre Pflicht, den Menschen Trost und Hoffnung zu spenden und ihren Chef zu unterstützen.

„Halten Sie es für klug, hier im Dunkeln auf der Straße herum zu laufen?“, fragte Jeff. „Ich bin der Meinung, wir sollten die Nacht im Flugzeug verbringen. Wir können in der Kabine der Ersten Klasse schlafen und uns mit einer Nachtwache abwechseln. Morgen früh machen wir uns dann ausgeruht und bei Tageslicht auf den Weg.“

Nicole erhob sich schwerfällig von ihrem Platz. Ihre Intuition fand diese Idee weit annehmbarer, als den ungewissen Marsch durch die Nacht.

„Ich bin auch seiner Meinung. Wir sollten bis morgen früh warten, bevor wir uns auf den Weg machen. Dann packen wir etwas zu Essen, Getränke und Decken ein. Vielleicht finden wir noch etwas im Flugzeug, dass von uns als Waffe zur Verteidigung eingesetzt werden kann. Wenn da draußen noch mehr Menschen sich in solche Dinger, wie wir sie im Flieger erleben mussten, verwandeln, dann sollten wir besser vorbereitet sein. Außerdem haben wir keine Ahnung, ob uns die Farmbewohner mit offenen Armen empfangen oder für eine Bedrohung halten. Da ist es besser, wenn wir ihnen bei Tageslicht begegnen.“  

Nicht eine Sekunde glaubte sie daran, dass irgendjemand diese Lage unter Kontrolle hatte. Egal was die Politiker in ihren immer gleichen Reden von sich gaben. Insgeheim hoffte sie auch auf ein paar Flaschen Alkohol, nach dem ihr Körper immer stärker und gieriger verlangte. „Nur um die angespannten Nerven zu beruhigen“, versicherte sie sich insgeheim und hoffte, dass niemand etwas von ihrem Zustand bemerkte.

Peter nickte zustimmend. „Einverstanden. Wir verbringen die Nacht im Flugzeug und wechseln uns mit der Wache ab. Vorher durchsuchen wir den Frachtraum nach Gegenständen, die wir als Waffe verwenden können. Ich bin mir sicher, dass wir fündig werden.“

Er war einfach lange genug Pilot, um zu wissen, dass die Leute alles Mögliche mit dem Flugzeug verschicken. Dinge, auf die ein normal denkender Mensch niemals kommen würde.

Anerkennend schaute er zu Nicole, die auffallend nervös wirkte. Vielleicht war diese Karrierefrau doch nicht so dumm und versnobt, wie er angenommen hatte und stellte in diesen Tagen eine echte Hilfe dar.