DIENSTAG 1. JANUAR

94

Gleich neben der Uferstraße ragten schwarze Felswände bis in den Himmel. Auf der anderen Seite reichte das Meer bis zum Nordpol. Obwohl Henning auf der Rückbank vom Dröhnen des Motors nicht verstand, was Snæfríður mit dem Polizisten aus Ísafjörður sprach, hörte er durch das Fenster die Wellen rauschen. Es war wirklich die Kante der Welt, an der sie entlangfuhren. Er schloss für ein Weilchen die Augen. Plötzlich hielt der Wagen nach langer Fahrt.
Snæfríður beugte sich zu ihm nach hinten. »Wir sind da. Das ist das Djúp.«
Zwei Landzungen von unfassbarer Höhe schlossen einen Fjord ein, genannt ›die Tiefe‹. Das war Huldas Heimat. Der Wind dröhnte gegen die Vorderscheibe des Wagens. Das Wasser war eine schwarze Fläche, nur hin und wieder zeigten sich helle Striche auf den Wellenkämmen.
»Wo ist denn das Haus?«
»Da hinten an der Spitze. Man könnte es sehen, aber wegen der Felswand nimmt man es nicht wahr. Schon gar nicht in der Dämmerung.«
»Der Weg scheint befahren worden zu sein«, sagte Pétur, der seit Ísafjörður den Wagen der Polizei lenkte.
Wann hier jemand gefahren war, konnte man wegen des Windes nicht sagen.
Langsam setzte sich der Jeep in Bewegung.
Hulda Júpítersdóttir drehte am Rädchen, bis die Gasflamme erlosch. Sie kniff die Augen zusammen und starrte auf das Ende des Fjords. Sie begann zu zählen. Bei neunzehn tauchte das Flackern erneut auf. Scheinwerfer.
Sie wandte sich vom Fenster ab. »Wir müssen los. Da kommt jemand.«
»Sollen wir nicht lieber warten, bis wir erfahren, wer das ist?« Hampus war in zwei Jacken eingepackt und konnte sich kaum rühren.
»Nein.« Hulda schulterte den Rucksack und stemmte die Tür auf. Sogleich wehte Schnee in die Stube.
»Und wenn sie uns weiter folgen?«, sagte er hinter ihr.
»Hier sind schon viele gestorben. Bist du bereit?«
Er nickte zögernd.
Hulda drückte mit der Schulter gegen die Tür und schloss den Riegel. Es erleichterte sie, von hier wegzukommen. Das Haus war ohne Großvater tot. Das Einzige, was hier spukte, war die diesige Leere.
Sie schlugen den Pfad hinauf auf die Höhe ein. Nach wenigen Metern lösten sich ihre Umrisse in der Dunkelheit auf, und das Fauchen des Windes übertönte ihre Schritte.

95

Die Morgendämmerung war noch weit entfernt, als ein himmelblauer Ford Zephyr die Straße entlangschlich. Dort, wo der Laugavegur nach vielen Kilometern und Windungen auf den letzten fünfzig Metern vor seinem Ende plötzlich stark hinab zur Lækjargata abfiel, an der Stelle also, wo der Laugavegur plötzlich Bankastræti hieß, dort hielt der Zephyr an der linken Straßenseite. Die Scheinwerfer erloschen.
Die Straße lag völlig verlassen da. Die Menschenmassen, die bis vor kurzem in den Lokalen und auf der Straße gefeiert hatten, lagen inzwischen im Bett.
Die Insassen des Zephyrs waren: Gísli, 22, Birta Kristín, 18, Sindri Lárus, 23, Rakel, 17, und Fjóla, 15.
Gísli, der am Steuer saß, schaltete den Motor aus und spähte durch die Scheibe. Bis zur Ruine des neuen Konzerthauses war kein Mensch zu sehen.
Sindri Lárus klappte den Computer auf seinem Schoß auf. Der Zephyr stand gleich neben der ›Kaffeetasse‹, einem der wenigen Cafés auf dem Laugavegur, das um sechs Uhr am Abend zumachte und sich nicht in eine Tanzhölle verwandelte. Und obwohl die ›Kaffeetasse‹ nach sechs Uhr dunkel und verriegelt war, lief irgendwo in einem Hinterzimmer ein Computer und sendete weiterhin ein Netzwerk aus für Gäste, die es gar nicht gab.
»Du hattest recht«, sagte Sindri Lárus. »Es ist nicht verschlüsselt und aktiv.« Er öffnete das E-Mail-Programm. Die beiden hatten die ganze Nacht gebraucht, um alle Seiten einzuscannen und dann die Größe der Datei so zu reduzieren, dass man sie versenden, aber noch gut lesen konnte.
Sindri Lárus drehte den Kopf nach hinten. Dort saßen die drei Damen schweigend auf der Rückbank. »Darf ich jetzt um die Daten bitten?«
Birta Kristín hielt den Speicherstift so fest in der Hand, dass ihre Fingerknöchel rot anliefen. »Bist du sicher? Sollen wir das wirklich tun? Wir wissen doch gar nicht, was das ist.«
Die drei auf der Rückbank hatten noch mehr Arbeit gehabt. Sie hatten alle E-Mail-Adressen von der Liste abgetippt.
Sindri Lárus zuckte mit den Schultern. Alle blickten zu Fjóla, die sich in die Ecke des Sitzes drückte.
»Sie tut immer, was Hulda ihr sagt«, sagte Rakel. »So ist es doch, Fjóla.«
»Jetzt gibt das Ding schon her!«, rief Gísli vorne. »Ihr habt die Adressen doch gesehen. Die meisten stammen von Universitäten. Was kann da schiefgehen!«
»Es sind auch andere dabei. Die NSA zum Beispiel. Weißt du Schlappschwanz, was das ist?«
Gísli fuhr herum und legte seinen Arm auf die Lehne. »Es sind alle. Alle, die etwas damit anfangen können. Keiner kommt zu kurz.«
Mit einer abgehackten Bewegung streckte Birta Kristín den Arm aus.
Sindri Lárus nahm den Speicherstift und steckte ihn in den Computer. Er kopierte die Adressen in einem Block in die Empfängerzeile. »Kann losgehen.«
»Dann los.«

96

Madame Lacroix nahm um neun Uhr am Morgen ihre Sitzposition auf dem Hocker hinter der Kasse ein. Diese Position würde sie für den Rest des Jahres beibehalten, jedenfalls sah sie aus, als verbrächte sie auch die Nächte auf diesem Hocker. Über die Jahre waren Madame Lacroix und der Hocker zu einer ergonomischen Einheit verschmolzen. Niemand in La Rochelle konnte sich Madame Lacroix oder den Hocker einzeln vorstellen. Von ihrer Stelle aus blickte sie geradewegs auf den januargrauen Parkplatz vor dem Geschäft. Der Januar dauerte schon ganz schön lange, obwohl heute erst der Zweite war.
Am besten rauche ich noch eine, sagte sie sich.
Da geschah etwas. Ein alter Fiat bog von der Straße auf den Parkplatz und steuerte geradewegs auf den Eingang zu. Der Hocker wankte sanft vor und zurück. Madame Lacroix setzte ihre Brille auf und versuchte, das Departement aus dem Nummernschild abzulesen. Doch daraus wurde nichts.
Die junge Frau, die aus dem Wagen stieg und die breite Fassade des Ladens von links nach rechts musterte, stammte aus der Ferne. Das kann ja heiter werden, murmelte Madame Lacroix.
»Guten Tag! Haben Sie zufällig CDs von Jean Ferrat?«
»Aber natürlich, Mademoiselle. Franc, komm her und bring die Mademoiselle in die Jean-Ferrat-Abteilung.«
»Abteilung?«
»Gewiss.«
Franc kam angetrottet und führte die Kundin nach hinten.
»Vielen Dank«, sagte sie noch.
»Ich bitte Sie, Mademoiselle.«
Es dauerte nicht lange, da kehrte sie zurück. Mit einem Stapel CDs. Sie wirkte jetzt weniger zielstrebig als zuvor. Beinahe erleichtert.
»Machen Sie Urlaub hier?«, fragte Madame Lacroix deshalb.
»Hm.«
Das wäre ohnehin unwahrscheinlich gewesen, bei dem Wetter fuhr niemand an den Atlantik.
»Dann sind Sie geschäftlich hier?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Ausländer hatten selten Lust auf ein Schwätzchen. Die Frau lächelte zum Abschied. Oder auch aus Freude. Dann ging sie zu ihrem Wagen.
Madame Lacroix sah dem Wagen hinterher, bis er nach rechts auf die Hauptstraße abbog. Sehr verwunderlich, dachte sie.

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Bæjarins besta
Westfjordische Nachrichten, 19. April - Am Morgen wurde bei Jökuldalir die Leiche einer Frau geborgen. Þórgeir Hávarson von der Polizei in Ísafjörður hatte in einer ersten Stellungnahme noch keine Erklärung, wie die Frau, die etwa dreißig Jahre alt gewesen sein muss, einen Meter achtundsechzig groß ist und eine schlanke Figur und lockiges Haar hat, zu Tode gekommen sein könnte. Kreditkarten und unterschiedliche Devisen, die die Frau bei sich trug, deuten jedoch darauf hin, dass sie keine isländische Reichsangehörige ist. Wegen des Zustands ihrer Leiche könnte sie bereits seit der letzten Saison dort gelegen haben, denn der Körper wurde nach der Schneeschmelze der letzten Woche entdeckt. Þórmóður Bessason vom Fremdenverkehrsbüro Ísafjörður wies darauf hin, dass ausländische Wanderer bei ihrer Ankunft in den Westfjorden stärker vor den Gefahren gewarnt werden sollten, die in den Hornstränden und am Djúp lauern können. Ohne die empfohlenen Sicherheitsmaßnahmen und Ortskenntnisse sei es in der menschenleeren Gegend leicht, sich zu verirren.