SONNTAG 30. DEZEMBER
69
Der Stoiker Seneca hätte ein vernichtendes Urteil
über den Kriminalkommissar Kjell Cederström gefällt. Der schlich
sonst wie ein Pfadfinder mit einem eigenen Plan am Tatort herum und
schnappte die Zwischenberichte der Techniker mit nur einem Ohr auf.
Heute stand er lieber nur da und hörte genau zu, was Per und seine
Leute so glaubten, während er sich den Anblick einprägte. Die Luft
roch verbrannt von den summenden und knisternden Strahlern, die die
Techniker überall auf Stativen aufstellten.
Diesmal suchte er nicht nach Eingebungen, sondern
beteiligte sich am Wirken der Techniker, in der Hoffnung, dass ihre
unendliche Geduld auf ihn abfärbte. Zu allem Übel hatte ihn der
diensthabende Koordinator zum operativen Chef der schwedischen
Polizei bestimmt. Dabei hatte Kjell sich, weit abgeschlagen in der
Erbfolge, sicher vor dieser Bürde gewähnt, doch solange Kullgrens
Stellvertreter in Thailand hektisch die Koffer packte und
Reichskriminalchefin Viklund auf eine Art und Weise verschwunden
war, die ihm von Tag zu Tag unsympathischer wurde, ließ sich daran
nichts ändern.
Per Arrelöv kroch über den Boden. Mit seinen
abstehenden borstigen Haaren sah er in dem weißen Kittel aus, als
steckte er in einer Zwangsjacke. Er war seit einer halben Stunde
auf der Suche nach gelocktem Frauenhaar und würde den Schreibtisch
in sieben Minuten ganz umrundet haben, wie Kjell extrapolierte. Er
bewunderte den Techniker dafür, an jedem Tatort
neu beginnen zu können. Pers Erinnerung reichte nur bis zum
Aufklappen seines Koffers zurück.
Die Rechtsmedizinerin Suunaat Kjærgaard kniete
neben Ardelius. Seine Leiche lag noch in der Stellung, wie sie sie
gefunden hatten. Kjell wartete mit Ungeduld auf das Gesicht. Das
war bisher nur zu einem Drittel zu erkennen, dafür aber der
Hinterkopf mit dichtem dunklem Haar, das unterschiedlich stark von
grauen Strähnen durchzogen war. Durchwürkt, fabulierte Kjell vor
sich hin. Suunaat hatte die kahle Stelle von der Größe ihres
Handtellers untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass der
Haarausfall nicht altersbedingt, sondern eine Alopecia
areata war. Ardelius’ Hut, der am Haken neben der Tür hing,
hatte damit seinen Zauber verloren.
Sofi erschien neben ihm. Wegen der Plastikanzüge,
die alle tragen mussten, erkannte er sie erst, als sie neben ihm
stehenblieb. Die Anzüge erlaubten keinen Einblick darin, wie sich
die anderen fühlten. Aber Nils Kullgren war nicht irgendjemand für
Sofi. Von ihrer ersten Begegnung an hatten die beiden einen Draht
zueinander gehabt und führten seitdem eine Fernbeziehung, wobei das
romantische Hindernis nicht in der Distanz zwischen dem sechsten
und dem dritten Stock bestand, sondern im Konflikt zwischen
seelischer Nähe und dienstlicher Ferne. Sofi näherte sich anderen
Menschen nie ohne schützendes Handicap; auch bei diesem Karlsson
oder Karlström musste es eines geben.
Dennoch war Sofis Sorge um Kullgren nicht von einer
leichten Migräne zu unterscheiden. Wie in vorangegangenen Fällen
dieser Art war sie seit Stunden in völliges Schweigen verfallen und
kniff zudem alle fünf Minuten die Augen zusammen.
Sie zupfte ihn am Arm als Aufforderung, ihr hinüber
in das andere Zimmer zu folgen. Dort kniete sie sich vor die
Kommode neben dem Bett und deutete mit der Pinzette auf einen
Stapel Fotografien. Da er keine Handschuhe trug, hielt sie ihm den
Stapel vor Augen. Dass Sofi den Anblick nicht kommentierte, machte
es noch unheimlicher. Elin Gustafsson von vorne im
Liegestuhl.
»Sind das meine Fotos?«
Sofi starrte ihn durch ihren Sehschlitz an. Er kam
sich wie ein hilfloser Idiot vor, bis ihm der frappante Unterschied
auffiel. Es gab keinen Schnee auf dem Bild. Der Strand war
schwarz.
»Das ist von vorne fotografiert. Wie bei meinen
Bildern. Die Bilder müssen von einem Boot aus aufgenommen
sein.«
Sofi wackelte zweifelnd mit dem Kopf. Statt etwas
zu erwidern, zeigte sie ihm das nächste Bild. Elin Gustafsson von
vorne. Der Strand war weiß und voller Polizisten. Ein Idiot trieb
in einem Kajak im Wasser.
»Scheiße«, flüsterte Kjell. »Sind seine
Fingerabdrücke auf den Bildern?«
Sofi nickte. Sie gab noch immer keinen Ton von
sich, weil sie das Unbehagen liebte wie ein warmes Schaumbad. Sie
blätterte zum dritten Bild. Elin Gustafsson im Liegestuhl. Aber
diesmal war etwas anders. Nicht nur die Dämmerung, die als blauer
Streifen über den Wipfeln zu sehen war. Elin lebte.
»Der 21. Dezember?«
»Siehst du das alte Gefängnis? Es sieht aus, als
wäre die Wiese davor nur wenige Meter breit. Mindestens zweihundert
Millimeter Brennweite also. Vielleicht vom anderen Ufer aus
gemacht.«
Das vierte Bild. Judit Juholt. In Bewegung. Sie kam
in die Kirche. Das musste der 21. Dezember sein.
»Moment mal. Woher wusste der Fotograf, dass sie
die Kirche betreten würde?«
»Ich weiß es nicht.« Sofis Antwort hatte die
Melodie einer Frage.
Bild fünf. Judit war tot. Ein sechstes Bild mit der
Polizei gab es nicht.
Der enge Schlitz in der Gesichtsmaske machte Sofis
Blick nur noch stechender.
70
Kjell traf Henning in der Eingangshalle des
Söder-Krankenhauses. Er lungerte in einem schlafähnlichen Zustand
auf den Sesseln neben der Rezeption, dabei hatte ihn Kjell auf der
Station erwartet. Auf seinem Schoß lag die Sonntagsausgabe von
Svenska Dagbladet.
»Versuchst du, durch die Zeitung deiner
Chefredakteurin nahe zu sein?«, fragte Kjell zur Begrüßung und ließ
sich auf den Sessel daneben fallen.
»Ich muss meine intellektuelle Benchmark vor dem
nächsten Treffen deutlich anheben«, murmelte Henning und hielt die
Augen geschlossen. Es waren stets die Frauen, die Hennings Leben
auf die nächste Stufe brachten. Meist war es dabei natürlich
abwärts gegangen, aber Henning war auch bei Frauen ein
Spieler.
»Sei auf der Hut. Frauen können klüger schreiben,
als sie wirklich sind.«
Henning öffnete die Augen und nahm Haltung an. »Die
Fehlertoleranz habe ich bereits herausgerechnet. Die Zeitung tarnt
mich ausgezeichnet vor denen dort.«
Ein Dutzend Reporter war auf der anderen Seite der
Halle tief in die Plastikschalensitze gerutscht und behielt mit
einem Auge die Tür zu Station 12 im Blick. Die Sache war schon vor
dem Morgengrauen durchgesickert. Kullgrens Schicksal war kein
Geheimnis mehr.
Doch keiner der Reporter schickte sich an, Kjell
oder Henning
zu erkennen. Dabei saßen sie wie Sonderangebote vor ihnen.
»Sie sind darauf geeicht, dass ein unrasierter
Kommissar mit Trenchcoat durch die Tür dort kommt«, erklärte
Henning. »Auf etwas anderes reagieren sie nicht.«
Kjell und Henning wechselten in die Cafeteria. Sie
war nur ein durch Blumentöpfe eingezäunter Bereich in der Halle.
Durch die Blätter der Pflanzen hindurch hatte man einen herrlichen
Ausblick zum Eingang der Station.
»Die Kartei hat nichts ergeben«, sagte Henning.
»Nicht das Geringste. Immerhin ist das Phantombild ganz gut
geworden. Der Haftbefehl ist raus.«
»Hast du alle Frauen durchgesehen?«
Henning nickte erschöpft.
»Andererseits hat Kullgren sie erkannt.«
»Deshalb muss sie nicht in unserer Kartei sein. Die
Gegengruppe hat tagelang selbst ermittelt. Kullgren kann dabei auf
die Frau gestoßen sein, ohne ihr eine zentrale Rolle zuzumessen.
Und als er sie dann auf der Straße laufen sah, ist ihm ein Licht
aufgegangen.«
Kjell musterte seinen Streuselkuchen. Irgendetwas
daran sah verdächtig aus. »So kann es nicht gewesen sein, Henning.
Kullgren hätte nie das Feuer eröffnet.«
»Stimmt auch wieder.«
»Wie Theresa die Sache schildert, hat Kullgren
weder gerufen noch einen Warnschuss abgegeben. Er hat auf die Frau
gezielt und wollte sie treffen.«
»Das würde ein Polizist niemals tun«, sagte Henning
wieder, obwohl er es seit der Nacht schon dreißigmal gesagt
hatte.
»Wenn er sich an die Vorschrift hält.«
»Das ist bei Kullgren natürlich die Frage.«
»Es geht nicht um Vorschriften«, sagte Kjell. »Wie
er gehandelt
hat, steht im Widerspruch zu allen Prinzipien des Polizeiberufs.
Stell dir vor, er hätte getroffen und sie getötet. Dann hätte er
viel zu erklären gehabt. Man hätte ihn sofort entlassen und Anklage
gegen ihn erhoben. Und es wäre zu einem Urteil gekommen, da kannst
du sicher sein.«
An der Stationstür tat sich etwas. Die Reporter
sprangen auf und scharten sich um den Eingang. Ein Schatten wuchs
jenseits der Milchglastür und entpuppte sich dann als
Krankenschwester. Die Reporter setzten sich wieder.
»Was machen wir mit denen?«, fragte Henning.
Kjell reagierte nicht. Er hing mit seinen Gedanken
immer noch bei Kullgren. So sinnlos sein Verhalten in der
vergangenen Nacht auch schien: Kullgren hätte nicht zum ersten Mal
mit kühler Absicht gehandelt. »Ob die Frau verletzt wurde?«
»Es gibt keinen Hinweis darauf.«
Bisher hatte man Fußspuren im Schnee gefunden, doch
sie verloren sich ein Stück vom Haus entfernt, weil die Straße
vereist oder übersät mit anderen Abdrücken war. Von den
Einschlagstellen der Kugeln waren in der Dunkelheit erst drei
ausfindig gemacht.
»Es gibt außer Kullgren eine weitere Person, die
wissen muss, warum Kullgren geschossen hat.«
Hennings Augenbrauen hoben sich vor Erstaunen. Das
tat er stets mit Absicht und nie aus Reflex.
»Die Frau natürlich.«
»Da hast du recht. Die muss es wissen.«
»Und solange Kullgren lebt, ist sie mit ihrem
Wissen nicht allein.«
Henning warf einen Blick zur Station. »Glaubst du
etwa, Kullgren ist in Gefahr?«
»Polizisten schießen erst, wenn der Verfolgte unter
gewissen Umständen nicht aufgibt und das eigene Leben bedroht
ist. Das kann der einzige Grund für Kullgrens Verhalten sein. Er
wusste vorher, wie gefährlich die Frau ist und wie sie reagieren
würde. Und seine Einschätzung erwies sich als richtig. Sie hat
sofort geschossen. Im Gegensatz zu ihm traf sie sogar. Das ist der
Beweis.«
Die beiden schwiegen eine Weile. Sobald Kullgren
den Mund aufmachte, würde er ihnen mitteilen, wer diese Frau war.
Und nun war allgemein bekannt, dass der Säpo-Chef am Leben
war.
»Das lässt sich ganz einfach lösen«, sagte Henning.
»Wir erklären den Leuten dort drüben, er wäre tot.«
»Das kann nicht dein Ernst sein! Wir können doch
nicht der Presse erklären, der Generaldirektor der Säpo wurde
erschossen.«
»Könnte politisch ein bisschen heikel werden, das
gebe ich zu. Es tut mir bestimmt gut, jetzt Abonnent bei Svenska
Dagbladet zu sein.«
»Wir machen das Gegenteil. Und zwar jetzt
gleich.«
Sie standen auf und steuerten auf die Station zu.
Henning ließ sich zwei Schritte zurückfallen, unsicher darüber,
worauf Kjell aus war. So war er wenigstens nicht im Bild, als Kjell
seinen Ausweis zückte und der Kerl vor ihm die Fernsehkamera
schulterte. Generaldirektor Kullgren sei wohlauf, berichtete Kjell.
Er sei bei einem Schusswechsel an der Schulter getroffen worden,
jedoch bei Bewusstsein. Er wies auf die Gefährlichkeit der Frau
hin, verkniff sich aber die Lüge, die Polizei kenne ihre Identität.
Unter Umständen hätte ihr das bestätigt, dass alles nur ein Bluff
war. Zur Zeit suche man sie landesweit, ein Phantombild bekomme man
um die Mittagszeit beim Pressedienst.
Henning hatte die Redezeit genutzt, um auf die
Klingel zur Station zu drücken. So konnten sie gleich
verschwinden.
Ein farbiger Pfleger führte sie durch den
Gang.
»Das müsste reichen«, flüsterte Kjell auf dem Weg,
doch zur Sicherheit bestellte er telefonisch zwei ältere Polizisten
in die Cafeteria. Sie sollten ihre Morgenmäntel mitbringen. So
fielen sie nicht auf, wenn sie bei Kaffee und Kuchen den Eingang im
Auge behielten. »Man weiß nie«, fand Kjell nach dem Auflegen.
Henning hatte beim Gehen die Hände in den
Hosentaschen. Er konnte eine sehr provokante Passivität an den Tag
legen.
»Bist du anderer Ansicht?«
»Es kann uns Ärger bringen. Wir haben nichts mit
der Polizeileitung abgesprochen.«
Genau das war jedoch der Grund, warum Kjell nicht
gezögert hatte. Mit höherer Stelle musste er sich als
provisorischer Polizeichef nur absprechen, wenn er diesen Posten
lange behalten wollte. Er rechnete allerdings damit, noch vor dem
Mittagessen durch einen Funktionär ersetzt zu werden. Bis dahin
durfte er selbst entscheiden.
Im Flur vor der Intensivstation fanden sie Barbro
in ein Gespräch mit einem Arzt vertieft. Auch Theresa war da. Sie
stand am Ende des Ganges und starrte aus dem Fenster.
Was Kjell den Worten des Arztes entnahm, klang so
schlecht, wie er insgeheim befürchtet hatte. Kullgren war alles
andere als bei Bewusstsein. Aber sein Zustand war immerhin stabil.
Nach einer Operation über mehrere Stunden entschieden die kommenden
vierundzwanzig Stunden.
Warum immer vierundzwanzig Stunden, wunderte sich
Kjell. »Er ist also noch länger bewusstlos?«
Der Arzt nickte entschieden und verschwand wieder
durch die Tür, die sich wie von Geisterhand öffnete.
»Die Lage ist nicht gut«, erklärte Barbro, die den
Morgen hier bei Theresa verbracht hatte. »Sie sind sich nicht
sicher, welche Schäden er davonträgt. Die Sauerstoffzufuhr zum
Gehirn war beeinträchtigt.«
Kjell rief leise nach Theresa. Sie wandte sich um
und kam auf wackeligen Beinen herüber.
»Wie geht es dir?«
Sie hob die Schultern. »Die Interne war vorhin
hier. Sie wollen mich heimschicken.«
»War die Säpo schon hier?«
»Die Frau sagt ihnen nichts. Sie steht auf keiner
Liste.«
Kjell bot an, sie nach Hause zu bringen, aber
Theresa behagte die Vorstellung nicht, in ihrem Bett liegend an die
Decke zu starren. Geschlafen hatte sie vorhin ein bisschen auf der
Wartebank.
»Mitarbeiten kannst du nicht. Aber du kannst im
Büro herumlungern, wenn du nicht zu Hause sein willst.«
Sie nickte.
Kjell hatte wieder vor Augen, wie sie zwei Magazine
in die Dunkelheit abgefeuert hatte. Zum Glück hatte sie kein
drittes mehr dabeigehabt. »Kennst du den stellvertretenden
Direktor?«
»Nicht sehr gut.«
»Er landet morgen Mittag in Arlanda. Seine Familie
ist in Thailand geblieben. Am besten holst du ihn ab.«
»Okay.«
»Welchen Zugang hast du zu Kullgrens Büro?«
»Machst du Witze? Ohne Sicherheitsfreigabe schaffe
ich es gerade zur Toilette. Und selbst da sind Kameras. Nur sein
Stellvertreter hat Zugang. Niemand sonst.«
Kjell trat gegen den Abfalleimer. Theresa hatte im
letzten Halbjahr intensiv mit Kullgren zusammengearbeitet. Niemand
war näher dran.
71
Die Techniker beklagten sich nicht darüber, dass
Sofi sich über das Bett und die umstehenden Möbel hergemacht hatte,
solange sie dabei keinen Schaden anrichtete. Spuren am Tatort zu
sichern, beherrschte sie mittlerweile im Schlaf. Erst im Labor
folgte die Arbeit, die man jahrelang erlernen musste. Die Ecke mit
dem Bett war deshalb so interessant, weil es in der ganzen Wohnung
die einzige Stelle zu sein schien, wo sich persönliche Dinge von
Ardelius fanden. In der Kommode links waren aber nur die
Fotografien spannend gewesen. Nach zwei Stunden wechselte Sofi
hinüber auf die rechte Seite des Bettes. Zuerst griff sie nach dem
leeren Glas auf dem Nachttisch und schnupperte daran. Es roch nach
Torf. Daneben standen sieben Flaschen. Sofi hatte kein Näschen für
hochgeistige Getränke und musste jede einzelne Flasche
aufschrauben, bis sie sich sicher war, dass sich Ardelius von dem
Connemara bedient hatte. Die Flasche war zur Hälfte geleert,
außerdem saß der Verschluss locker. Sofi untersuchte Glas und
Flasche mit dem Scanner und fand daran nur die Fingerabdrücke von
Ardelius.
Sie zog die obere Schublade auf. Sie quoll über vor
Kreditkartenbelegen, Quittungen und alten Fahrkarten. Sofi begann,
alles nach dem Datum zu sortieren, als sie auf einen gelben Zettel
stieß. Es war eine Eintrittskarte für ein Streichkonzert in der
Sofiakirche. Das hatte am 2. März stattgefunden. Beethovens frühe
Streichquartette. Sofi wendete den Zettel. Die Rückseite war
unbedruckt, aber jemand hatte eine Telefonnummer darauf notiert.
Sofi zögerte nicht. Als sich am anderen Ende die Bandansage der
Reichsmord meldete, erkannte Sofi die Nummer als die von Judit
wieder. Nun war sie sogar ziemlich sicher, dass es ihre Handschrift
war. Sofi überlegte, wie sie am frühen Sonntag mehr darüber
herausfinden konnte.
Ihr fiel der Organist aus der Kirche ein. Er musste bereits
aufgestanden sein und etwas über die Konzerte in seiner Kirche
wissen. Er war über seine Antwort selbst erstaunt. Das Konzert
hatte die Musikhochschule gegeben. Judit hatte zum Ensemble
gehört.
Das war ja interessant! Ardelius und Judit kannten
sich seit zehn Monaten. Sofi blätterte die sortierten Quittungen
durch und entdeckte eine vom 3. März. Um 1 Uhr 07 hatte Ardelius
eine nicht geringe Menge an Getränken in einer Bar in der
Skånegatan bezahlt. Das konnte er nicht alleine getrunken
haben.
Sie hatten sich an jenem Abend kennengelernt, daran
ließ die Telefonnummer auf der Eintrittskarte keinen Zweifel.
Vom anderen Ende der Wohnung rief jemand Sofis
Namen. Sie sprang auf und eilte hinüber ins andere Zimmer, wo Per
und Suunaat noch immer neben der Leiche hockten. Inzwischen hatte
sie den Körper auf den Boden gelegt und entkleidet. Obwohl das
Fenster längst geschlossen und die Heizung aufgedreht war, spürte
man die im Boden sitzende Kälte durch die Schuhsohlen.
»Deine Deutung des Schneehaufens unter dem Fenster
trifft wohl zu«, sagte Per. »Das Fenster hat seit Donnerstag offen
gestanden. Er ist vom Schlafzimmer hierher und hat sich an den
Tisch gesetzt.«
»Saß er die ganze Zeit hier?«
Per nickte. »Füße und Gesäß sind schwarz. Außerdem
vermuten wir, dass die Frau erst kurz vor euch hergekommen ist. Sie
hat das Türschloss auf eigenartige Weise geknackt, so dass sich die
Tür nicht mehr verriegeln, sondern nur noch anlehnen ließ.«
»Also wurden die Frauenleichen hier nicht
aufbewahrt?«
Per und Suunaat sahen sich verwundert an und
schüttelten vereint den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
»Die Temperatur, die hier herrschte, entsprach
genau der Körpertemperatur der Leichen.«
»Kein Wunder. Es ist die in ganz Stockholm
herrschende Außentemperatur! Er ist nicht so lange tot wie die
Frauen, und dann ist da noch das Türschloss. Sie muss es kurz vor
eurer Ankunft geknackt haben, sonst wäre die Tür längere Zeit
angelehnt gewesen und hätte sich durch den Luftzug wohl
geöffnet.«
»Wir haben sie also überrascht.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Was meinst du damit?«
Per zog sich seine Gesichtsmaske herab bis zum
Kinn. »Der sitzt tagelang hier, und dann kommt ihr gleichzeitig an?
Mitten in der Nacht?«
»Willst du damit andeuten, dass wir ein Leck
haben?«
Per zuckte mit den Schultern und setzte sich seine
Maske wieder auf.
Sofi strich sich mit der Hand über die Wange, was
Per richtig als Zeichen deutete, ihr einen Moment zum Nachdenken zu
geben. Wenn es ein Leck gab, dann nicht bei der Säpo. Au- ßerdem
traute Sofi der Säpo nicht zu, Ardelius’ Adresse gekannt zu haben.
Und sie selbst hatte nach ihrem Besuch bei Joakim keine Zeit
verstreichen lassen. Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich ist diese
Wohnung doch kein Geheimnis. Wir haben nur lange gebraucht, seinen
Namen zu erfahren. Wenn die Frau erst kurz vor uns hier
eingebrochen ist, dann kann sie ihn nicht umgebracht haben.«
»Wir behaupten lediglich, sie habe die Tür kurz vor
euch geöffnet«, sagte Suunaat. »Das bedeutet nicht, dass sie zuvor
noch nie hier war.«
»Aber ihr habt keine Beweise dafür.«
Per lachte gequält auf. »Wir haben überhaupt keine
Spuren von ihr. Nirgendwo!«
»Was wollte sie dann noch einmal hier?«
»Siehst du das hier?« Suunaat deutete auf Ardelius’
Gesicht. Auf der Wange, die bei seinem Auffinden verdeckt gewesen
war, sah man eine sonderbare Verfärbung. Für einen biologischen
Prozess waren die Konturen viel zu gerade und standen zudem im
rechten Winkel zueinander. Die Spitze des Flecks zeigte zur Nase,
an den anderen Seiten bildeten Unterkiefer, Ohr und Haaransatz
natürlichere Grenzen. »Er lag mit dem Gesicht mitten auf der leeren
Tischplatte. Sie kann das nicht verursacht haben.«
»Also lag etwas auf dem Tisch, ja? Und darauf lag
sein Kopf? Worauf lag er?«
»Wir tippen auf einen tragbaren Computer«, sagte
Per. »Das käme von den Dimensionen her gut hin. Die Platzwunde
unter dem Auge deuten wir so, dass er irgendwann das Bewusstsein
verlor und erst dann vornüberkippte. Auf jeden Fall lag hier etwas,
was nicht mehr da ist.«
Hinter Sofi rutschte Pers Assistent Lasse auf
seinen Plastiksohlen ins Zimmer. »Kommt mal, schnell!«
Er führte sein Gefolge in den Flur. Dort war nach
Stunden jemand auf die Idee gekommen, einen Blick hinter das
einzige Bild in der ganzen Wohnung zu werfen.
72
Blasses Sonnenlicht fiel in die Büros der
Reichsmordkommission, als Barbro Setterlind dort nach der
Mittagszeit eintraf. Sofi hatte alle Heizungen aufgedreht und damit
die drückende Stimmung ins Unerträgliche gesteigert. Sie saß nicht
an ihrem Platz. Da ihr Computer eingeschaltet war, öffnete Barbro
die Tür zum Aktenzimmer und fand sie auf der Ruheliege. Sie
richtete sich sogleich auf.
Barbro setzte sich auf den Tritthocker vor dem
Regal. »Das Schlimmste ist vorüber, behaupten die Ärzte. Wäre der
Krankenwagen nicht sofort gekommen, hätte er es nicht
überlebt.«
Sofi strich sich das Haar aus dem Gesicht und
schwieg.
»Kjell und Henning sind für ein Nickerchen nach
Hause gefahren.«
»Er wird Monate brauchen, bis er sich erholt
hat.«
Ja, dachte Barbro, unter dem günstigen Umstand,
dass sein Gehirn keinen Schaden genommen hat. »Im Justizministerium
herrscht Alarmstimmung. Sie fragen sich, wie viele Geheimnisse er
mit in die Bewusstlosigkeit genommen hat.«
Sofi stand auf und ordnete ihre Kleidung. »Das ist
Theresas große Stunde.«
»Wie meinst du das?«
»Sie war ein halbes Jahr lang seine Assistentin.
Jetzt ist sie zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Wie
immer.«
»Dort ist sie deinetwegen. Wenn du dich besser mit
ihr verstehen würdest, hätte Kjell sie nicht versetzt.«
»Ja«, erwiderte Sofi knapp.
Barbro biss sich auf die Zunge. Theresa war Sofi
egal, es ging ihr um Nils Kullgren. »Kjell macht sich Vorwürfe. Er
zeigt es nicht, aber man sieht es ihm trotzdem an.«
»Komm mit. Ich zeige dir etwas.«
Barbro folgte Sofi hinüber zu ihrem Schreibtisch.
Darauf standen mehrere Kartons.
»Wir haben einen Tresor im Flur entdeckt. Hat
allerdings zwei Stunden gedauert, ihn aufzubekommen.«
»Er hatte einen Tresor?«
»In den hat er so ziemlich alles hineingestopft.«
Sofi nahm mehrere Notizbücher aus einem Karton. Außerdem gab es
Zettel unterschiedlicher Größe und sogar seine Brieftasche. »Die
ist aber nicht sehr interessant.«
»Sonst etwas Interessantes?«
»Ja. Das hier.« Sofi deutete auf einen kleinen
weißen Computer. Von dem führte ein Kabel zu Sofis Computer. »Ich
musste ihn zuerst klonen, damit es keinen Ärger mit dem Ankläger
gibt.«
Das Spiegeln war beendet. Während Sofi das Kabel
zog, warf Barbro einen Blick in ein Notizbuch. Offenkundig war
Ardelius ein Mensch mit reichem Innenleben gewesen. Zwischen
Gedankenfragmenten zu allerlei Themen tauchten immer wieder lange
Formeln auf. Seine Handschrift war jedoch ziemlich
unleserlich.
»Das kann ja heiter werden«, sagte sie und
verstaute die Bücher wieder im Karton. »Am besten geben wir es
Henning. Seine Schrift ist auch so klein.«
»Jetzt können wir ihn einschalten.«
Barbro rollte sich Kjells Sessel herüber und nahm
neben Sofi Platz.
Sofi startete den Computer. »Kjell ist übrigens
entmachtet«, murmelte sie. »Polizeichef Liljemark war vorhin hier.
Morgen endet Viklunds Urlaub. Mal sehen, ob sie kommt. Bis dahin
leitet Liljemark selbst die Reichskrim.«
»Kjell wird sich freuen, diese Bürde los zu sein.
Und die Säpo?«
»Ein Agent namens Jerker Tholander. Liljemark
wollte unbedingt, dass ein Interner die Säpo übernimmt, bis der
Stellvertreter eintrifft. Als Dienstältester steht er auf Platz
drei der Rangfolge … Mist!«
Der Computer verlangte ein Passwort.
Barbro behagten die vielen Sekunden nicht, die Sofi
auf die Anzeige starrte. Sonst zog sie ihre linke Schublade auf und
kramte in ihren CDs. Drei Minuten später war das Rennen dann meist
gelaufen. »Du könntest es mit einer deiner heißen Scheiben
probieren.«
»Die Festplatte ist mit Luks chiffriert.«
»Wie viele Versuche haben wir?«
»Billionen. Es ist dasselbe System wie auf unseren
Rechnern. Sieht nur ein wenig anders aus. Auch im organisierten
Verbrechen ist es sehr beliebt. Man kann die Chiffrierung nicht
unterlaufen und nicht mal schätzen, wie viele Daten darauf
sind.«
»Wir könnten einige Wörter probieren.«
»Ardelius ist Mathematiker. Wenn er seinen Computer
so absichert, hat er den Schlüssel bestimmt in zweiunddreißig
Hexziffern festgelegt. Das mache ich auch so.« Eine Minute saßen
sie ratlos da. »Wir sollten abbrechen und lieber die Frau
suchen.«
»Nein, warte mal.« Barbro eilte zu ihrem
Schreibtisch. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie gestern Abend alle
Akten durchforstet hatte. Sie fand das Protokoll mit einem Griff.
Mit der aufgeschlagenen Akte kehrte sie zu Sofi zurück. »Der Vater
von Elin Gustafsson behauptet, seiner Tochter einen kleinen, wei
ßen Computer geschenkt zu haben. Und der ist verschwunden.«
»Glaubst du, das hier ist der Computer von Elin?
Wie kommst du darauf?«
»Du behauptest doch immer, dass nur ahnungslose
Mädchen sich diese weißen Computer kaufen.«
»Und Eishockeyspieler.«
»Aber keine Mathematiker.«
»Da hast du recht. Das ändert leider nichts an dem
Passwort.«
»Kann man auch ein Wort eingeben? Oder
funktionieren nur diese Ziffern?«
»Das kann man auch. Sie werden dann in Zahlen
umgerechnet.«
»Darf ich etwas versuchen?«
Sofi schob den Computer zu Barbro. I’m good for
magic.
And magic is good for me! Barbro wusste nicht, woher die
Eingebung kam, aber sie gab das Grübeln auf, als sich die Eingebung
als richtig erwies. Während sich Sofi einen ersten Eindruck
verschaffte, stellte Barbro sich ans Fenster. Draußen hatte es
wieder zu schneien begonnen. Der Wind wehte winzige Eiskristalle
gegen das Fenster. Barbro lauschte dem Knistern und beobachtete die
Schemen zweier Hunde im Park. Das brachte sie auf eine weitere
Eingebung. Sie lief in ihr Büro und zog Ordner B12 aus dem Regal.
Darin waren alle Tatortfotos aus der Långholmsgatan 7 mitsamt den
Berichten der Tatorttechnik. Der Spruch war mit Lippenstift auf den
Spiegel geschrieben worden. Weil er aber nicht mehr ganz frisch
war, hatte Henning ihm keine Bedeutung zugemessen.
Lasse von der Kriminaltechnik hatte den Bericht
unterschrieben. Barbro wählte seine Nummer. Lasse war noch in
Ardelius’ Wohnung und musste sich erst wieder erinnern, bevor er
ihre Fragen beantworten konnte.
In der Zwischenzeit hatte Sofi sich in das
Mailprogramm vertieft.
»Der Lippenstift war nicht mehr der Jüngste«, gab
Barbro wieder, was sie soeben von Lasse erfahren hatte.
»Anscheinend hat Elin ihre Lippen meist der Natur überlassen. Auch
der Spiegel machte nicht den Eindruck, als diente er Elin
regelmäßig als Schreibfläche.«
Sofi sah auf. »Du meinst, das stand da nicht aus
Schrulligkeit, sondern als Botschaft?«
»Ich überlege nur. Vielleicht hat Elin den Satz
gerne gesagt. Und zur Sicherheit noch mal in ihrem Bad verewigt.
Ich frage mich jedoch, für wen.«
»Wie findest du das hier? ›Treffen uns alle um
acht. Bring Hampus mit!‹ Abgeschickt am 29. November von
elin.gustavsson@telia.se an fippan@gmail.com.«
»Hampus?«
»Hampus. Was hat der beim Verhör gesagt?«
Barbro schüttelte den Kopf, um die Frage
loszuwerden. »Elin kannte Filipa?«
»Anscheinend. Die Liste der Mails passt eigentlich
in unser Profil von ihrem Leben. So gut wie gar keine private
Kommunikation, aber seit einem halben Jahr ab und zu eine
E-Mail.«
»Hampus behauptet, nichts von den anderen Frauen
und von Ardelius zu wissen.«
»›Treffen uns alle um acht.‹ Wer ist damit
gemeint?«
»Auf jeden Fall noch eine dritte Person.«
»Ardelius oder Judit.«
»Oder beide. Immerhin wussten Elin und Filipa
anscheinend voneinander.«
»Das widerlegt Kjells Hypothese, dass er eine nach
der anderen flachgelegt und umgebracht hat. Wenn es kein Harem
war.«
Barbro sprang auf. Sie zögerte nicht, Kjells
Einkaufsliste von der Wandtafel zu wischen. »Vergiss das mit Mann
und Frau. Wir haben drei Frauen, alle sind tot. Sie sind alle auf
dieselbe Weise gestorben. Haben sie sonst irgendeine
Ähnlichkeit?«
»Na ja, sie wohnen im selben Stadtteil.«
»Das sagt alles und nichts. Ich spreche von den
seelischen Gemeinsamkeiten. Können sie Freundinnen gewesen
sein?«
»Schon allein wegen Filipa nicht. Nur
Vierzehnjährige können Vierzehnjährige ertragen. Und Judit und Elin
sind auch eher das Gegenteil voneinander.«
»So wie Yin und Yang?«
Sofi überlegte einen Augenblick, schließlich
schüttelte sie den Kopf. »Nein. Sie laufen zwar auf derselben
Straße. Aber in entgegengesetzte Richtungen. Und das ergänzt sich
nicht. Irgendwann laufen sie sich über den Weg, doch das ist nur
eine kurze Begegnung.«
»Und um eben die geht es hier. Wir müssen klären,
ob Ardelius
der Anlass dafür war. Sie können sich auch so getroffen
haben.«
»Er muss der Anlass sein. Wegen Filipa. Sonst
hätten sich alle drei über den Weg laufen müssen. Das ist
unwahrscheinlich.«
Barbro schrieb die Vornamen der drei Frauen an die
Tafel und dahinter ein X. »Das X steht für die vierte Frau, die von
heute Nacht. Es sind vier. Vielleicht auch mehr. Aber nur drei sind
nach unserem Wissen tot.«
»Dann musst du ein N schreiben und kein X.«
Barbro wischte das X mit dem Daumen weg und
ersetzte es durch ein N.
»Abgesehen vom Geschlecht gehört Ardelius eher zu
den drei Frauen als zu Frau N. Er ist auch tot, sie hingegen
lebt.«
»Das ist die entscheidende Frage. Warum ist
Ardelius tot, aber Frau N am Leben?«
»Sie ist die Mörderin. Das hat dein Psychiater
gesagt!«
Barbro steckte die Kappe zurück auf den Filzstift.
Die Wandmalerei lag ihr nicht. »Die Leute von der Säpo haben keine
Ahnung, wer sie sein könnte. Also hätte kein anderer sie heute
Nacht auf der Straße erkannt und so gehandelt wie Kullgren. Das
beschäftigt mich schon den ganzen Tag. Auch Theresa kannte sie
nicht. Kullgrens Erkenntnis kann nicht aus der Ermittlung der
Gegengruppe kommen, jedoch auch nicht aus der normalen Arbeit der
Säpo.«
»Er hat sie vielleicht gar nicht als Person
erkannt.«
»Wie meinst du das?«
»Spiel es in Gedanken durch«, sagte Sofi. »Er
erreicht mit dem Auto das Haus. Theresa sitzt neben ihm. Eine Frau
mit Kinderwagen kommt aus dem Haus. Mitten in der Nacht. Es war
zwei Uhr.«
»Warum schießt er gleich?«
»Er hat eine Struktur erkannt. Nicht am Gesicht der
Frau.
Sie trug ja eine Mütze und sah nicht sehr markant aus. Es war der
Kinderwagen! Etwas stimmte mit dem Kinderwagen nicht.«
»Und dass sie eine Frau war. Das hat er auch
erkannt.«
»Ja, vielleicht.«
»Ich fahre zu Hampus.« Barbro kleidete sich in
Windeseile in Jacke und Mütze und verschwand.
Sofi wollte sich gerade wieder dem Computer
zuwenden, als es draußen an der Tür klopfte. Sie lief in den Flur
und erkannte an den Anzügen, dass die beiden Kerle von der Säpo
sein mussten.
»Wir suchen Sofi Johansson«, sagte der
rechte.
»Das bin ich.«
Der linke überreichte ihr ein gefaltetes Papier.
Der Chefankläger des Bezirks Stockholm befahl ihre Festnahme, war
darin zu lesen.
73
Draußen begann es schon zu dämmern, als Kjell
seine Karte durch das Magnetschloss zog und die Glastür aufdrückte.
Geplärr schlug ihm entgegen. Eine Frauenstimme schluchzte. Kjell
ließ vor Schreck seine Handschuhe fallen und verharrte im
Flur.
Ein handfester Streit.
Snæfríður stand mit dem Rücken zur Tür und stemmte
ihre Hände in die Hüften. Durch das Dreieck aus Oberarm, Unterarm
und Hüfte sah man Henning in seinem Sessel kauern. Neben ihm
brannte eine Weihnachtskerze. Die Flamme flackerte im Sturm.
»Was ist denn los?«, fragte Kjell.
Snæfríður fuhr herum.
»Wie war die Reise?«
»Hulda ist weg«, brummte Henning.
»Was ist daran so außergewöhnlich?«, fragte Kjell
und sah Snæfríður an. Am unscharfen Rand des Bildes begrub Henning
sein Gesicht in den Händen.
»Ihr habt Fredrik gar nicht angerufen, wie ihr es
versprochen habt.«
Eigentlich war Snæfríður ein sanfter Geist, aber
auch anfällig für ausländische Leidenschaften wie Gefühlsausbrüche.
Dabei neigte sie zur Ungerechtigkeit. Kjell und Henning hatten
vorgehabt, ihr Huldas Verhaftung zu verschweigen. Dann hatte
Henning alles zugeben müssen, weil die Polizeiwache bereits am
Abend zuvor eine Nachricht auf Snæfríðurs Telefon hinterlassen
hatte.
»Ich habe es vergessen«, knurrte Henning und
knirschte mit den Zähnen. »Sofi kam mit der Telefonnummer, und wir
sind sofort aufgebrochen.«
Kjell nickte. »Hier war gestern Abend sehr viel
los. War Fredrik nicht zu Hause?«
»Das war er, aber er bekam keinen Anruf.« Snæfríður
fuhr wieder zu Henning herum. Ihren Blick sah Kjell deshalb nicht,
er tippte jedoch auf einen vorwurfsvollen.
Henning war deutlich anzusehen, dass er gerne von
dem dampfenden Kaffee getrunken hätte, der wahrscheinlich seit
einer kleinen Ewigkeit vor ihm stand. Aber er wagte es nicht.
Stattdessen stand er auf und ruckelte den Bund seiner Hose zurecht.
Er streckte sich nach dem Telefon und wählte eine Nummer aus dem
Gedächtnis. Das Gespräch dauerte nicht lange. »Wannfors hat sie bis
zur Haustür gebracht. Wie befohlen. Und es schien auch jemand da zu
sein. In eurer Wohnung brannte Licht.«
»Vielleicht solltest du lieber Fredrik anbrüllen«,
sagte Kjell.
Snæfríður verließ das Zimmer.
»Das wäre ohnehin mal Zeit«, rief Kjell ihr
hinterher.
Die Tür zu ihrem Büro knallte zu.
Henning taumelte rückwärts zu seinem Sessel.
»Anscheinend fehlen einige von Huldas Sachen. Fredrik muss die
ganze Nacht gewartet haben.«
»Sie muss wieder hinausgeschlichen sein. Lassen wir
sie suchen?«
Henning griff nickend zum Hörer.
Kjell versuchte, sich an all die Dinge zu erinnern,
die er erledigen wollte. Nun fiel ihm nichts mehr davon ein. Also
zog er erst einmal seine Jacke aus und setzte Kaffee auf.
»Sie ist ganz und gar überfordert mit dem Mädchen«,
sagte er zu Henning, nachdem sie die erste Tasse in völliger Stille
genossen hatten. »Ich begreife nicht, was in Huldas Kopf
vorgeht.«
»Ich schon.«
»Ach ja?«
»Ich habe einen guten Draht zu ihr. Hulda braucht
eine Bezugsperson, der sie nicht das Wasser reichen kann. Snæfríður
ist zögerlich und sprunghaft wie ein Geysir und ganz und gar auf
Fredrik fixiert.«
»Was ist eigentlich aus deiner Fixierung zu Lena
Axelsson geworden?«
»Sie kommt später vorbei.«
»Hierher?«
»Wir sind bei einem Plausch am Telefon darauf
gestoßen, dass sie Jon Ardelius kennt. Oder besser, kannte.«
»Kennt. Bei kürzlich Verstorbenen greift das
gnomische Präsens. Woher kennt sie ihn?«
»Durch einen gnomischen Zufall. Sie nahm vor
einigen Monaten an einer Radiosendung teil, bei der auch er zu Gast
war.«
In Kjells linker Hosentasche läutete das Telefon.
Die Anruferin war Sofi.
»Wo bist du?«, fragte er.
»Draußen. Kannst du vors Haus kommen?«
Eine Minute später stießen Kjell und Henning
beherzt die Türen des Haupteingangs auf. Sofi stand mit hängenden
Schultern auf dem Gehweg.
»Die Säpo hat mich suspendiert. Sie verdächtigen
mich, irgendeine dunkle Rolle in der Sache zu spielen.«
»In was für einer Sache denn?«
»Ardelius.«
»Warum stehen wir eigentlich hier draußen?«,
erkundigte sich Henning mit klappernden Zähnen.
Der Grund war einfach: Sofi durfte das Gebäude
nicht mehr betreten. »Sie wollten von mir wissen, wie ich an die
Telefonnummer von Ardelius gekommen bin.«
Sofi zitterte vor Kälte. Auf Hennings Vorschlag
gingen sie zu dem nahen Café in der Hantverkargatan.
»Ich habe denen erzählt, wie ich die Nummer
beschafft habe«, berichtete sie dort. Ihre Augen schienen vor
Schreck dauerhaft geweitet.
Kjell schlug vor, dass Sofi alles noch einmal
erzählte. Und so begann sie bei dem Abend, als sie Joakim Karlström
kennengelernt hatte. »Sie behaupten, ich hätte die Nummer längst
gekannt und meinen Einbruch bei Joakim nur vorgetäuscht. Auch dass
ich ihn erst seit einigen Tagen kenne, bestreiten sie.«
»Warum fragen sie ihn nicht einfach?«
»Das können sie nicht, wegen Ragnar.«
Kjell musste mehrmals nachfragen, bevor er Sofis
Problem wirklich durchschaute. Ihre Heimlichtuerei wurde ihr nun
zum Verhängnis. Die Säpo konnte mit Fotos aufwarten, die Sofi beim
Verlassen des Hotel Berns zeigten. Sie konnte also nicht leugnen,
ihn zu kennen und mehrmals getroffen zu haben.
Außerdem hatte sie eine Überwachungskamera für private Zwecke
veruntreut, und zwar an dem Tag, bevor man Judit Juholt fand.
»Tholander hat sogar versucht, mich verhaften zu
lassen. Aber der Anklägerin hat das natürlich nicht gereicht.
Nichts davon lässt sie als Beweis zu.«
Kjell kratzte sich am Kopf. »Dann kann es auch
keine Suspendierung geben.«
»Tholander kann jeden nach Hause schicken.« Sofi
schob den Jackenärmel hoch. Auf den Arm hatte sie mit Filzstift
eine Folge von Ziffern geschmiert. »Verordnung 2004:19182. Seit dem
Augenblick, als Kullgren verletzt wurde, kann Tholander sich auf
die akute Gefährdung des Reiches berufen und verordnen, was ihm
passt. Wie ein Diktator.«
»Also ist es überhaupt keine richtige
Suspendierung«, fand Henning und scharrte mit dem Stuhl über den
Holzboden. »Sondern eine Anti-Terror-Notverordnung mit einer
Haltbarkeit von vierundzwanzig Stunden. Und eine Stunde ist bereits
um. Bleiben noch dreiundzwanzig.«
Kjell überlegte eine Weile. »Dagegen lässt sich
vorgehen. Ich löse einfach die Gegengruppe auf.«
»Das ist sie längst«, wandte Henning ein. »Die Säpo
muss den Anschlag auf Kullgren aufklären. Wir können froh sein,
wenn wir nicht aufgelöst werden.«
»Aber damit beginnen sie doch schon.«
Sofi hob die Hände. »Hört auf damit.«
Die Männer verstummten.
Sie holte tief Luft. »Während des ganzen Verhörs
habe ich mich nur eines gefragt: Was soll das alles?«
»Das hast du doch selbst gesagt: Er hat sich in die
Sache mit dir verrannt und alles falsch gedeutet.«
»Das ist nicht alles. Sie behaupten, ich hätte
Ardelius schon vorher gekannt. Ich glaube, es ist umgekehrt. Sie
selbst haben
etwas mit ihm zu tun.« Sofi gab den Männern eine Pause, bevor sie
fortfuhr. »Auch sie haben erst heute Nacht erfahren, dass unser
Fall mit Ardelius zu tun hat. Kapiert ihr das? Die haben unsere
Ermittlung unterstützt, ohne zu begreifen, dass wir direkt auf sie
zu ermitteln.«
74
Kjell und Henning liefen mit hängenden Köpfen zum
Polizeigebäude zurück. Sofi hatte sich ein Taxi nach Hause
genommen. Am Ende hatte sie so erschöpft gewirkt, dass ein freier
Abend ihr sicher guttat. Nichts setzte Sofi Johansson so zu, wie in
Frage gestellt zu werden. Das war Kjell in der Vergangenheit schon
einige Male aufgefallen.
Im Aufzug postierte sich Henning mit seiner
auffälligen Arglosigkeit vor der Knopfleiste, damit Kjell nicht aus
Wut die Drei drücken und Tholander heimsuchen konnte. Ohne Hennings
massiven Körper hätte er die Drei gedrückt, das war beiden klar,
blieb aber ungesagt.
Inzwischen war Barbro eingetroffen. »Wo wart ihr?«,
fragte sie und hörte sich den Bericht dann mit wachsender Ungeduld
an. Sie hatte selbst Neuigkeiten. »Mit der Säpo gibt es immer
Scherereien«, war ihr einziger Kommentar zu den jüngsten
Ereignissen. »Wir stecken in ganz anderen Schwierigkeiten.«
Sie hielt sich ein Blatt Papier vor die Brust. Eine
Namensliste. Sie war alphabetisch geordnet. Auf halber Höhe blieb
Kjell hängen. Júpítersdóttir, Hulda.
»Was ist das?«
»Lies weiter.«
»Hysén, Hampus.«
»Eine Passagierliste. Sie sind vor zwei Stunden in
Island gelandet. Am besten bleibst du ganz ruhig.«
»Wo ist Snæfríður?«
»Sitzt in ihrem Zimmer und schluchzt. Ich habe die
beiden Polizisten angerufen, die die beiden gestern heimgebracht
haben. Sie können sich die Sache nicht erklären. Angeblich haben
die beiden kein Wort miteinander gewechselt. Hulda haben sie vorne
in der Hantverkargatan abgesetzt, und dann sind sie zu Hampus
gefahren.«
Henning lief zu Snæfríður. Kjell und Barbro folgten
ihm.
»Siehst du irgendeinen Grund, warum sie nach Island
geflogen ist?«, fragte Kjell. »Hatte sie Heimweh?«
Snæfríður und Henning schüttelten den Kopf. Sie
litt sicherlich an Heimweh, aber ihre Abenteuerlust konnte sich
dagegen mit der von Alexander dem Großen messen.
»Island kann für sie doch kein Abenteuer sein«,
wandte Kjell ein.
»Vielleicht aber Hampus«, überlegte Barbro.
Henning setzte sich auf Snæfríðurs Aktentisch. »Da
stimmt etwas nicht. Ich habe viel Zeit mit ihr verbracht und dabei
nie den Eindruck bekommen, Jungen könnten sie reizen. Sie schien
noch ein wenig zu jung dafür.«
Das fand Barbro auch. Hulda spazierte ungeschminkt
und in Gummistiefeln durch die Welt wie ein kleines Mädchen.
Dazu kam, wie schnell Hulda gehandelt hatte. Alle
schworen darauf, dass sich die beiden erst gestern Abend
kennengelernt hatten.
»Wie seid ihr an die Passagierliste
gekommen?«
»Snæfríður hat einen Bekannten bei der
Fluggesellschaft«, antwortete Barbro. »Dass sie sich ausgerechnet
Hampus ausgesucht hat, finde ich etwas verdächtig. Sein Name taucht
auch im Computer auf. Der gehört übrigens Elin Gustafsson.«
»Das wissen wir bereits«, sagte Kjell. »Sofi hat
uns davon erzählt. Alle kannten sich also?«
»Es sieht so aus.«
»Verständigen wir die isländische Polizei?«
Barbro warf einen vorsichtigen Blick zu Snæfríður.
Weil die still blieb, übernahm Barbro das Sprechen. »Das würde
Snæfríðurs Sorgerecht für Hulda ziemlich gefährden.«
»Ich habe wochenlang kämpfen müssen, bis ich Hulda
mit nach Schweden bringen durfte.« Nur weil Hulda bereits vierzehn
und Snæfríður Polizistin war, weil Schweden zum Norden gehörte und
das nordische Wohlfahrtsamt den Antrag unterstützt hatte, hatte das
Vormundschaftsgericht in Island eine Ausnahme gewährt. Unter der
Auflage, dass sich das Jugendamt einmal im Monat telefonisch nach
Huldas Wohlergehen erkundigte. »Nun ist sie ausgerechnet nach
Island getürmt. Das sehen sie als Beleg, dass sie
zurückwill.«
»Ins wunderbare Island«, sagte Henning. Seufzend
brachte er seine Hosenbeine in Form.
Kjell hatte eine Eingebung. Er verstand soeben,
warum Snæfríður noch mit diesem Versager Fredrik zusammen war.
Nicht aus Entscheidungsschwäche. »Fredrik ist Teil dieses Deals,
oder? Der hat dich in der Hand.«
Snæfríður nickte matt. Der Artikel 67 des
isländischen Kinderschutzgesetzes kannte das Wort
Pflegeeltern nur in der Mehrzahl. Sie war gerade einmal
Huldas Halbschwester, und die eigentliche Bedrohung verriet sie
erst jetzt: Huldas Eltern waren beide noch am Leben. Zwar kamen sie
nicht in Frage, für Hulda Sorge zu tragen, aber dennoch beantragten
sie das Sorgerecht unentwegt. Jedes halbe Jahr wurde neu
entschieden.
»Wir haben einen Interessenkonflikt, wie man so
schön sagt«, fasste Kjell die Lage zusammen. »Hampus bekommen wir
nur mit Polizeigewalt, Hulda nur ohne.« Er zeigte auf Snæfríður.
»Du solltest auf jeden Fall hinterher! Dann kannst du sie suchen
und zugleich die Sache so aussehen lassen, als machtet ihr einen
Familienausflug.«
»Ich begleite sie«, sagte Henning. »Und kümmere
mich um Hampus.«
»Die beiden werden ohnehin zusammenbleiben. Bekommt
ihr überhaupt einen Flug?«
Snæfríður nickte.
»Wir warten mit dem Haftbefehl, bis ihr angekommen
seid.«
»Das müsst ihr nicht«, sagte Snæfríður. »Ich lasse
seinen Namen auf die Sperrliste bei der Fluggesellschaft setzen.
Dann kommt er nicht mehr weg.«
Kjell war wenig erbaut von der Aussicht, dass seine
Ermittlungsgruppe bald nur noch aus ihm und Barbro bestehen sollte.
Gleich morgen früh wollte er bei Polizeichef Liljemark Beschwerde
gegen Sofis Suspendierung einlegen. Spätestens am Nachmittag, wenn
der Stellvertreter Kullgrens das Ruder bei der Säpo übernahm, würde
er Sofi zurückbekommen.
Ein Anruf aus dem rechtsmedizinischen Institut
unterbrach die Reisevorbereitungen.
75
Es roch nach Ammoniak. Per Arrelöv hatte sich mit
maskuliner Selbstverständlichkeit ein Labor auf Suunaats
Probentisch improvisiert und sah auf, als Kjell, Barbro und Henning
eintraten. Suunaat selbst umrundete mit dem Spülschlauch weiter
hinten im Raum den zweiten Seziertisch.
»Hätten wir nicht telefonieren können?«, fragte
Kjell.
Per schüttelte den Kopf. »Ihr müsst es sehen. Wir
haben versucht, ein Foto zu machen, aber das klappte nicht.«
Suunaat stellte das Wasser ab und schaltete den
Luftabzug aus. Es wurde still im Raum.
»Sofi hat ein Glas auf seinem Nachttisch gefunden«,
begann
Per. »Von dem Schlafmittel haben wir nichts gefunden. Sein Körper
ist zwar auch erfroren, aber mit so deutlichen Unterschieden zu den
Frauen, wie es ein Erfrierungstod zulässt.«
»Das Schlafmittel hat er aber wie die Frauen nicht
zu Hause, sondern irgendwo draußen eingenommen«, erkundigte sich
Kjell.
»Da sind wir sicher. In der Flasche fehlten nämlich
nur 4,3 Deziliter. Connemara-Whiskey enthält sechzig Prozent
Alkohol und wird zweimal destilliert. Was ihn ideal für den letzten
Drink des Lebens macht. Wir haben aber nicht nur die in der Flasche
fehlenden 4,3 Deziliter, sondern neun in seinem Magen gefunden.«
Suunaat stellte sich vorwurfsvoll dicht neben Per. »Das heißt,
Suunaat hat sie gefunden. Also ist die Flasche davor nicht nur voll
gewesen, es muss außerdem noch mehr Whisky gegeben haben. Er hat
doppelt so viel Whiskey derselben Marke getrunken, wie in der
Flasche gewesen sein kann.«
»Also war er irgendwo draußen«, konstatierte Kjell
und umrundete die Leiche. »Dann kam er heim, leerte noch eine
knappe Flasche und öffnete das Fenster. Daran ist er
gestorben?«
Barbro steckte sich eines ihrer Zitronendrops in
den Mund.
»Seid ihr euch da wirklich sicher?«, fragte
Henning. »Der hat sich selbst umgebracht?«
»Sicher«, antwortete Suunaat und lehnte das Bonbon
ab, das Barbro ihr anbot. Sie war mit der Weisheit aufgewachsen,
dass jede Lebenslage ihren eigenen Geschmack hat. Und diese
schmeckte gewiss nicht nach Zitrone.
Kjell spazierte nachdenklich zum Fenster. »Er kann
dennoch der Mörder sein«, sagte er nach seiner Rückkehr. »Und
nachdem seine Serie abgeschlossen war, hat er sich selbst
umgebracht.«
Henning beugte sein Gesicht tief über das des
Toten, als wollte er seine Fragen an ihn richten. »Warum nimmt er
dazu nicht das Schlafmittel, dessen Wirkung dreifach erprobt
ist?«
»Vielleicht hatte er nichts mehr.«
»Das ist doch Unsinn«, fand Barbro. »Man bringt
nicht mit kühler Planung zwei bis drei Frauen um und betrinkt sich
dann, um zu sterben. Ihr habt doch die Bilder in seiner Wohnung
gefunden. Er wusste, dass sie tot sind, und hat sich aus
Verzweiflung umgebracht.«
Kjell tauschte einen Blick mit Henning. Barbros
Szenario war einfach und bestechend. »Dann ist die Frau die
Mörderin?«
Barbro nickte. Der Psychiater McKenzie hatte sie
überzeugt.
»Unsicher«, glaubte dagegen Henning.
»Sie ist zumindest dringend tatverdächtig«,
erwiderte Barbro.
»Nehmen wir an, sie war es«, sagte Kjell. »Warum
hat sie ihn nicht umgebracht?«
Auch darauf wusste Barbro eine Antwort. »Er kam ihr
zuvor.«
»Das wirft erhebliche Fragen auf«, bemerkte
Henning.
»Welche denn?«
»Zuerst die, warum er nicht zur Polizei geht, wenn
er auf der Seite der Opfer steht. Auch sonst sieht es nicht so aus,
als hätte er den Kampf aufgenommen. Kann es nicht doch sein, dass
er den Whiskey nicht freiwillig getrunken hat?«
Suunaat wies darauf hin, niemand könne einen
zwingen, so viel Alkohol zu trinken. Außerdem schmecke Connemara
wie eine Torfgrube und eigne sich nicht für große Mengen.
»Lass es mich anders formulieren«, sagte Henning.
»Alle Frauen haben das Schlafmittel mit Flüssigkeit zu sich
genommen. Der typische Knockout-Trick. Wir wissen nicht, wo das
jeweils geschah, aber bestimmt nicht an den Stellen, an denen sie
verschwunden und als Leiche wieder aufgetaucht sind. Bei ihm war
das Mittel vielleicht gar nicht nötig. Er läuft die Straße entlang,
da kommt ihm eine junge Frau entgegen. Man landet in einer Bar, in
der er diesen Rachenputzer trinkt, bis die beiden hinausgeschmissen
werden.«
»Das klingt etwas hypothetisch«, fand Barbro. »Nach
dem Tagtraum eines einfältigen Mannes.«
»Mir ist neulich genau das passiert, Barbro. Man
geht also noch zu ihm und nimmt eine weitere Flasche in
Angriff.«
»Ist dir das auch passiert?«
»Das nicht. Bevor sie geht, muss sie nur das
Fenster öffnen. Es war bitterkalt.«
»Die Sache hat einen Haken«, erwiderte Kjell.
»Warum musste sie heute Nacht die Tür aufbrechen und warum kam sie
überhaupt zurück? Das ergibt nur einen Sinn, wenn sie ihn erst
heute Nacht dorthin gebracht hat. Dann wäre diese Auffindesituation
wie alle anderen: ein Arrangement mit großem Aufwand.«
Per hatte sich alles geduldig angehört, nun ging er
zur Anrichte mit den Analysegeräten. Darauf stand ein stabiler
Stuhl. Per schleppte ihn herüber und krempelte die Folie vom
Sitzpolster. »Seht ihr das? Sie hätte den Stuhl mitbringen müssen,
denn er hat seinen ganzen Tod darauf verbracht.«
Eine Männerleiche und eine sperrige Antiquität. Das
war ein bisschen viel für einen Kinderwagen. Außerdem hatte das
Haus keinen Aufzug.
»Es gibt eine weitere Entdeckung. Deshalb bat ich
euch her.«
Suunaat verstand ihr Stichwort. Sie drehte den Kopf
der Leiche und schwenkte die Sezierlampe dicht über die Haut.
»Er hat mit dieser Gesichtshälfte auf dem Tisch
gelegen. Ob es der Tisch in seinem Zimmer war, kann ich nicht mit
absoluter Sicherheit sagen, aber die Verkrümmung des Körpers
stimmt mit ihm überein. Die Tischplatte war jedoch nicht frei, so
wie wir sie später fanden. Die rote Verfärbung hier beweist, dass
der Kopf auf einem rechteckigen Gegenstand lag, der nicht höher als
ein bis zwei Zentimeter sein kann.«
»Was sind das für violette Flecken?«, wollte Kjell
wissen.
»Die sind von uns. Ein Kontrastmittel.«
»Den Maßen nach haben wir auf einen tragbaren
Computer getippt«, sagte Per. »Bis wir den Computer dann zu unserer
Überraschung im Tresor fanden.«
»Der gehört jedoch Elin Gustafsson.«
Pers Augen weiteten sich. »Ach, tatsächlich?«
»Vielleicht war der unter seinem Kopf ja sein
eigener«, rä tselte Kjell.
»Nein«, sagten Per und Suunaat ihm Chor. Sie
schaltete das Schwarzlicht ein. Ein Raunen ging durch die
Gruppe.
»Sind das Buchstaben?«, rief Henning.
»Drei.« Per war sichtlich stolz, dass er Ergebnisse
wie im Fernsehen liefern konnte. »Ihr fragt euch natürlich, wie
diese Buchstaben auf seine Wange gekommen sind.«
Henning brummte. So einfältig waren sie nun auch
wieder nicht. »Man kann aber nicht erkennen, was für Buchstaben das
sein sollen.«
Per verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wäre
auch ein bisschen viel, oder? Immerhin wisst ihr nun, dass es
bedrucktes Papier war, was unter seinem Kopf lag. Und zwar
selbstgedruckt. Es ist Druckertinte.« Per ließ die Schnallen seines
Vertreterkoffers aufspringen. Ein Blatt Papier in einer
durchsichtigen Plastiktüte. »Erhältlich bei Elin Gustafsson und Jon
Ardelius. Svenska Cellulosa der Sorte Björnlunda
Naturgebleicht. Achtzig Gramm, gelblich weiß. Die Sorte ist
nicht billig und ziemlich selten.«
76
Svenska Cellulosa, dachte Kjell während der
Rückfahrt nach Kungsholmen. Das Leben ist ein Steilhang. Kommt das
eine ins Rollen, kann das andere nicht liegenbleiben. Und alles
kennt nur noch eine Richtung.
Die Fahrt verlief schweigend. In jeder Ermittlung
gab es diesen Moment, wo sich die Waage der Erkenntnis zur anderen
Seite neigte. Nur einmal seufzte Henning laut und sagte: »Elin
Gustafsson.« Das war vor der roten Ampel am Sankt Eriksplan.
Bereits beim Betreten des Büros konnte Kjell sehen,
dass etwas nicht stimmte. Snæfríður kam beim ersten Geräusch in den
Flur geeilt.
»Die Säpo war hier. Ich konnte nichts
machen.«
Sofis Schreibtisch war leer. Henning fluchte, bis
er heiser klang.
»Sie haben den Computer ausgemacht und alles in die
Kiste geräumt.«
»Den Computer haben sie ausgemacht?«, fragte
Barbro.
»Ja«, antwortete Snæfríður irritiert.
Kjell sank in seinen Stuhl. »Was machen wir
jetzt?«
Barbro griff zum Telefon und wählte eine interne
Nummer. An der Begrüßung erkannten die anderen, dass sie mit Lasse
aus der Technik sprach. Sie erkundigte sich nach den
Tatortprotokollen. Henning kratzte sich am Kopf. Auch die anderen
verstanden nicht, worauf die Sache hinauslaufen sollte. »Die Säpo
hat aus den Inventarlisten von dem Computer erfahren«, erklärte sie
nach dem Auflegen. »Sie wollten sogar wissen, ob die Techniker
schon ein Backup für die Untersuchung des Inhalts erstellt
haben.«
»Und?«, fragte Kjell. »Haben sie?«
»Nein. Lasse hat darauf verwiesen, dass Sofi den
Inhalt des Tresors wegen der Dringlichkeit gleich selbst
mitgenommen hat.«
»Was bringt uns das?«
»Du musst die Frage anders stellen: Was bringt es
der Säpo?«
»Sie wollen wissen, was darauf gespeichert ist«,
vermutete Kjell.
»Vor allem wollen sie verhindern, dass auch wir
erfahren, was darauf ist. Sonst könnte es ihnen egal sein, ob die
Technik eine Kopie der Daten hat.«
»Das haben sie geschafft. Mit einer Aktion aus dem
Säpo-Lehrbuch.«
Eine kurze, ratlose Stille trat ein.
»Wir sollten mit dem Justizkanzler Kontakt
aufnehmen«, sagte Henning am Ende dieser Stille. »Wir haben es mit
einem eindeutigen Rechtsbruch zu tun.«
»Was willst du damit erreichen?«, fragte
Barbro.
»Der Justizkanzler soll die Daten einsehen und
entscheiden, ob sie für die Aufklärung unseres Dreifachmordes von
Belang sind. Dagegen können sie nichts einwenden.«
Barbro schnitt eine Grimasse. »Das wird nicht
klappen. Die Säpo ist nämlich gar nicht in der Lage, dem
Justizkanzler einen Blick auf die Daten zu gewähren.« Sie erzählte,
wie sie zuvor mit Sofi auf das Passwort gekommen war und warum sie
soeben gleich hatte wissen wollen, ob die Agenten den Computer
ausgeschaltet hatten. Wenn sie den Computer wieder einschalteten,
würde er wieder das Passwort verlangen. »Ich bezweifle, dass sie
darauf kommen.«
»Irgendwann werden sie das Passwort herausfinden«,
sagte Kjell. »Wenn auch nicht so schnell wie du und Sofi.«
»Zuerst müssen sie erkennen, dass es Elins Computer
ist. Und dann müssen sie darauf kommen, dass Elins Lebensmotto
zugleich ihr Passwort ist.«
»Trotzdem stecken wir ohne die Daten fest.«
»Glaubt ihr wirklich, Sofi hätte keine Kopie
gemacht? Sie fotokopiert ja sogar ihr Tagebuch. Wir müssen sie nur
fragen, wie wir in ihren Computer kommen.«
Kjell wählte Sofis Nummer und lauschte verwundert
ihrer Stimme als Bandansage. »Sie ist im Urlaub, sagt ihre
Stimme.«
Henning kniff die Augen zusammen. »Das ist ein
Code, oder?«
»Kein ausgemachter.«
»Dann ein selbsterklärender. Wenn sie gerade erst
suspendiert wurde, aber jetzt schon behauptet, im Urlaub zu sein,
dann will sie sagen, dass wir nicht versuchen sollen, sie zu
erreichen. Hat sie unseren Anruf vorausgesehen?«
Kjell versuchte, Sofis Gehirn in seinem Schädel zu
simulieren. Vorhin hatte sie darauf hingewiesen, mit der Säpo
stimme etwas nicht. Also ging sie davon aus, dass man ihr Telefon
überwachte. Und sie konnte mit einem Anruf ihrer Kollegen rechnen.
»Ich glaube, du hast recht. Sie will nicht, dass wir mit ihr über
den Computer sprechen.«
Die anderen ließen die Schultern sinken. Ohne Sofi
keine Daten.
»Macht ihren Computer an«, sagte Kjell und streckte
sich zur Fensterbank, wo alle Bücher in Reih und Glied standen, die
er in seinem Leben stets um sich haben wollte. Er zog eines heraus
und schlug Seite 13 auf. Die siebte Zeile von unten.
Inzwischen hatte Snæfríður ihre Hände auf die
Tastatur gelegt und wartete auf sein Diktat.
»Du gibst alles in einem Wort ein. Nur
Kleinbuchstaben. Bist du bereit?«
Sie nickte.
»Und dann geschah, was noch nie geschehen
war, seit der erste
Mumintroll sich zum Winterschlaf zusammengerollt hatte. Mumin
wachte auf und konnte nicht wieder einschlafen.«
Snæfríður war fertig und drückte auf Enter. Henning
und Barbro standen gebannt hinter ihr.
»Sieht aus, als hätte sie alles für einen Fall wie
diesen vorbereitet«, murmelte Henning.
»So ist sie.«
Sofi hatte eine eigene Benutzeroberfläche
erschaffen, die Kjells gespanntes Verhältnis zur Technik abfederte.
Vielleicht wollte sie ihren Computer auch nur vor Schaden bewahren.
Elins Daten waren noch verschlüsselt, ließen sich mit ihrem
Passwort aber öffnen.
»Ihre E-Mails haben wir uns schon vorgenommen«,
sagte Barbro.
Snæfríður stöberte in den Ordnern herum. Sie fanden
Briefe an die Hausverwaltung und das Finanzamt, ein bisschen Musik
und Bilder, die im Frühling in den Schären entstanden sein mussten.
»Hier ist ein Ordner mit dem Namen ›Artikel‹. Er enthält ziemlich
große Textdokumente.«
Kjell umrundete den Schreibtisch und warf selbst
einen Blick darauf.
»Welches soll ich öffnen?«
»Es scheinen verschiedene Fassungen ein und
desselben Textes zu sein. Nimm die neueste.«
»Elin Gustafsson«, wiederholte Henning, was er
schon vor der roten Ampel gebrummt hatte.
Und Jon Ardelius. Sein Name stand über ihrem.
»N größer gleich drei revisited«, las
Snæfríður alles andere als flüssig.
»Ein wissenschaftlicher Artikel«, sagte Kjell.
»Revisited bedeutet, dass der Artikel ein Thema behandelt,
das schon einmal behandelt wurde.«
»Was ist N?«, fragte Henning.
»Irgendeine Variable aus der Physik oder
Mathematik«, sagte Snæfríður. »Größer gleich ist als
mathematisches Zeichen geschrieben. Newton, vielleicht. Was kann
alles N sein?«
»Nein«, erwiderte Henning. »Newton kenne ich aus
meiner Zeit bei der Seefahrt. Das ergibt keinen Sinn. Natürliche
Zahlen!«
»Ich finde es interessanter, dass sowohl Jon als
auch Elin die Verfasser sein sollen«, sagte Kjell. »Beide Namen
stehen unter dem Titel.«
Snæfríður ließ den gesamten Text vorbeirauschen.
Nach einer kurzen Einführung, deren Inhalt niemand verstand, begann
eine lange Serie von Formeln und Diagrammen. Auf Seite 153 war die
Datei zu Ende.
»Ist euch das Datum aufgefallen?«, fragte Kjell.
Die erste Fassung stammte vom 12. September, die letzte vom 23.
Dezember, zwei Tage nach Elins Verschwinden.
77
Hennings Hand lag schon auf dem Gartentor, als er
innehielt und den Kopf in den Nacken legte. Milliarden winziger
Schneekristalle schienen knisternd und glitzernd in der Luft zu
stehen.
Das Tor öffnete sich lautlos. Henning klingelte und
klopfte sich den Schnee von der Brust, bis sich in der
rautenförmigen Milchglasscheibe im Türholz eine Gestalt
abzeichnete.
Jakob Gustafsson vergaß das Ausatmen und nickte zur
Begrüßung stumm.
»Bist du allein?«
Jakob Gustafsson nickte noch einmal.
»Gehen wir ein Stück?«, sagte Henning und deutete
mit dem Kinn auf die kristallverhangene Luft. Er wartete am
Gartentor, bis Gustafsson sich angezogen hatte und nachkam.
»Ich habe eine Bitte«, sagte Henning. »Könnte mein
Kollege dort im Auto mit dem Gerät, das er umklammert hält, einen
kurzen Streifzug durch euer Haus machen?«
Per Arrelöv musste bemerkt haben, dass über ihn
gesprochen wurde. Dennoch rührte sich nichts in seinem grimmigen
Gesicht.
Offenkundig hatte Henning Tonlage und
Gesichtsausdruck richtig getroffen, denn Jakob Gustafsson verstand
auf Anhieb. Er kramte in seiner Jackentasche nach dem
Schlüssel.
Henning winkte seinen Kollegen herbei. Per Arrelöv
kletterte aus dem Wagen und überquerte vorsichtig die rutschige
Fahrbahn. Das Gerät, das er vor sich hertrug, hatte zwei Antennen
und ließ ihn wie einen kleinen Jungen mit einer riesigen
Fernbedienung für ein Spielzeugboot aussehen. Als er den Schlüssel
übernahm, fragte er nach dem Mobiltelefon.
»Das liegt auf dem Küchentisch.«
Henning und Gustafsson machten sich auf durch den
quietschenden Schnee. Unter der nächsten Laterne zündete sich
Henning eine Prince Denmark an. »Ihr habt gar nicht
angerufen und euch nach dem Gang der Dinge erkundigt.«
»Die Psychologin hat uns alles erklärt.«
»Ist sie nett?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Psychologen so viel
Ahnung haben.«
»Wisst ihr schon, wie ihr den Jahreswechsel
verbringen wollt?«
»Wohl wie die letzten Tage. Einige Verwandte und
Nachbarn.«
»Ihr solltet es nicht ausfallen lassen. Das wäre
mein Ratschlag. Was auch immer aus dem Abend wird. Wenn man erst
in einer Zeitstarre gefangen ist, wird das mit der Dauer ziemlich
unangenehm. Nichts löst sich dadurch.«
Jakob Gustafsson stülpte seine Lippen ein und aus.
Da war wohl was dran.
»Hast du irgendetwas Außergewöhnliches im Haus
bemerkt? In den letzten Wochen? Das dich stutzig gemacht
hat?«
Gustafsson warf einen Blick über die Schulter
zurück zum Haus. »Nein«, sagte er nach einer Weile.
»Wir haben einige Dinge herausgefunden. Bevor ich
dir davon erzähle, hätte ich einige Fragen. Tu für den Augenblick
so, als wäre Elin nur auf Reisen und ich ein Nachbar, der in dem
Haus dort drüben wohnt.«
Jakob schmunzelte. Das Haus war so winzig, dass
Henning darin nur im Stehen wohnen könnte. So war er von der
Aufforderung abgelenkt, Elins Tod solle gar nicht stattgefunden
haben.
»Ich habe mir vorhin noch einmal die Akte von vorne
bis hinten durchgelesen. Meiner Kollegin hast du erzählt, euer
Kontakt sei in den letzten Monaten etwas lockerer geworden.«
»Das stimmt, ja.«
»Gab es einen äußeren Anlass dafür? Einen Streit
oder einen unterschwelligen Vorwurf?«
»Das hat es zwischen uns nie gegeben. Leider. Ich
war zu fürsorglich. Für anspornende Vorwürfe war Iris zuständig.
Das hat sich mit den Jahren eingefahren und kann kaum der Grund
gewesen sein. Es hätte Elin nicht ähnlich gesehen, sich
zurückzuziehen. Sie konnte viel mehr einstecken.«
»Wenn man ihre Krankenakte liest, drängt sich einem
eine Verbindung zwischen ihrer seelischen und körperlichen
Verfassung auf.«
»Das hat sie selbst erkannt. Im Sommer ging es ihr
oft schlechter als im Winter.«
Hennings Wangen waren steif von der angenehm
erfrischenden Kälte. »Sie war also kein Sommerkind?«
Jakob sah ihn fragend an.
»Das hat meine Kollegin an den Rand der Akte
geschrieben. Offenbar hat sie es verstanden. Einzelgänger fühlen
sich im Sommer plötzlich einsam. Die Sonne mahnt sie dazu, aus sich
selbst heraus und ins Freie zu treten.« Eine ganzjährige Variante
der Mittsommereinsamkeit, dachte Henning. Sofi hatte ein gutes
Gefühl für Elin gehabt.
Jakob stimmte zu. Elin hatte sich beim Winter
geborgener gefühlt. Der Winter drängte einen zu nichts.
»In diesem Sommer jedoch nicht«, sagte Henning. »Da
hatte sie keine Beschwerden. Die kamen erst vor kurzem.«
Jakob nickte entschieden. Das war wahr.
Henning fragte weiter. Jakob gestand sich ein, er
habe bereits im Frühling vergessen, sich um sie zu sorgen. Eine
Querstraße weiter konnte er den Grund in Worte fassen. Sie wirkte
nicht niedergeschlagen, wenn er mit ihr sprach. Ein Unterton in
ihrer Stimme war so unauffällig verschwunden, dass er es nicht
bemerkt hatte.
78
Das Mädchen, das neben ihm auf ihre Bahn wartete,
wippte unaufhörlich mit dem rechten Bein, das sie über das linke
Knie geschlagen hatte. Ihre gelb-schwarz geringelte Strumpfhose
machte alles nur schlimmer.
Kjell konnte sich herrlich unter nervösen Menschen
entspannen. Die Vierzehn nach Fruängen hatte er ausgelassen. Als
die Dreizehn nach Norsborg einfuhr, stieg er in den dritten Wagon
des Zuges ein und spazierte ohne Eile bis zum letzten Abteil. Dort
ließ er sich neben Theresa Julander in den Sitz fallen.
»Kluges Mädchen«, rief er gegen das Rattern des
Zuges an. Auf Kjells Linie setzten sie noch die alten Wagen ein.
Dahinter stand der Plan von Stockholms Lokaltrafik, ihn über die
Jahre zu zermürben.
Auf Theresa war immer Verlass. Er hatte erst spät
bemerkt, welch klarer Geist sich hinter ihren vollen Wangenknochen
und unter der Lockenpracht verbarg.
»Ich bin komplett aus dem Rennen«, sagte sie.
»Tholander schart jeden um sich. Alles läuft über die
Spionageabteilung.«
»Hat Kullgren keine anderen Vertrauten?«
»Vergiss ihn. Tholander hat ein eigenes Drehbuch.
Als hätte der nur auf seinen Einsatz gewartet.«
»Wieso war der überhaupt in der Gegengruppe?«
»Mir ist etwas eingefallen. Kullgren hat ihn wegen
seiner Erfahrung dazugenommen. Das ist bei einer so dringlichen
Sache ziemlich wichtig. Vor allem aber trieb er sich als Einziger
während der Feiertage im Büro herum. Das schien irgendwie ganz
natürlich, es passte zu ihm. Feiertage sind für ihn sinnloses
Warten wie an einer roten Ampel. Wir haben uns nichts dabei
gedacht, als er sich auf Sofi fokussierte. Sie war die einzige
unklare Figur bei der Reichsmord. Nur sie warf Fragen auf.«
»Ist Kullgren ihm dabei gefolgt?«
»Er hat es durchaus ernst genommen, jedoch nicht
zugelassen, dass Tholander sich auf sie stürzt. So richtig hat er
nicht an Sofis heimliche Zweitrolle geglaubt.«
Der Zug fuhr in die nächste Station ein. Kjell zog
ein Blatt Papier hervor. Es hatte in seiner Jackentasche ziemlich
gelitten. »Das hier schon mal gesehen?«
Theresa nahm das Deckblatt des wissenschaftlichen
Artikels.
»Sind über hundert Seiten. Alles Physik.«
»Hast du es Ida gezeigt?«, fragte sie.
»Sie nimmt es sich gerade vor, kann aber auf den
ersten Blick nichts dazu sagen. Es hat nicht viel mit den Dingen zu
tun, mit denen sie sich sonst beschäftigt, wenn man davon absieht,
dass es ein Haufen Zahlen ist. Leider ist es das einzig
Interessante auf Elins Computer. Und es muss sehr interessant sein.
Tholander hat alles beschlagnahmen lassen.«
Theresa seufzte. Nicht einmal davon hatte sie etwas
mitbekommen. Sie wedelte mit dem Blatt herum. »Sei dir da nicht zu
sicher! Er weiß nicht viel, das meiste reimt er sich zusammen. Er
besitzt eine reiche Einbildungsgabe, auch wenn er nicht so
aussieht. Vielleicht macht er nur Theater, um Kullgren zu
ersetzen.«
Daran glaubte Kjell überhaupt nicht. Er kannte
Tholander zwar nicht, aber niemand, der ihn kannte, traute ihm
Theater zu. Er steckte das Papier in die Tasche. »Gleich kommt
meine Station. Ich melde mich, wenn ich etwas von Ida weiß.«
Theresa nickte.
Kjell steckte ihr einen Fünfhunderter in die
Brusttasche. »Steig in Liljeholmen aus und nimm dir ein Taxi zurück
in die Innenstadt.«
79
Henning hatte sich den Kopf zerbrochen, ob er
hinunterstürmen sollte, um Lena Axelsson an der Rezeption
abzuholen. Das schien ihm eine Nuance zu eifrig. Sie sich bis zum
Schreibtisch bringen zu lassen, kam allerdings auch nicht in Frage.
Ein guter Kompromiss war, im Flur zu stehen, wenn sich für Lena die
Aufzugtür im Sechsten öffnete. Außerdem psychologisch
geschickt.
Beeindruckt war Lena anscheinend nicht. »Ich habe
noch versucht, einen Mitschnitt der Sendung aufzutreiben«, sagte
sie beim Aussteigen. »Aber am Sonntagnachmittag erreicht man da
keinen.«
»Das macht überhaupt nichts«, fand Henning. »Mir
reicht es, wenn du es erzählst.«
Er führte sie durch den Gang bis in sein Büro. Die
Wirkung der beiden Weihnachtskerzen hatte er mit seiner
Schreibtischlampe etwas gemildert und zudem die Birne gegen eine
schwächere ausgetauscht. Vorhin war ihm das Licht perfekt
erschienen, nun kam es ihm so übertrieben vor, als hätte er ein
Eisbärenfell auf dem Boden ausgebreitet.
Lena nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Sie wollte
nicht mehr als ein Glas Wasser, was Henning als schlechtes Zeichen
deutete.
»Habt ihr nur während der Sendung miteinander
gesprochen?«, fragte er zur Einstimmung.
»Nein, man sitzt ewig im Hinterzimmer, bevor es
losgeht. Zum Kennenlernen überlegt man gemeinsam, warum man zur
Sendung eingeladen ist.« Lena wurde als Chefredakteurin anscheinend
oft zu Sendungen im Radio und im Fernsehen eingeladen, aber bei Jon
Ardelius war die Redakteurin sehr aufgeregt gewesen. Er galt als
öffentlichkeitsscheu, und niemand hatte damit gerechnet, dass er
ausgerechnet eine Anfrage von P1 annehmen würde. »Wir haben selbst
mehrfach versucht, ein Interview mit ihm zu führen, zuletzt vor
vier Jahren, als er den Abelpreis annahm, während er sonst alle
Preise ablehnte.«
»Hast du ihn danach gefragt?«
»Er hat es in der Sendung offenbart. Die Anfrage zu
dieser Sendung war die erste, bei der nicht seine Person als
schrulliger Wissenschaftler das Thema sein sollte. Die Sendung
heißt ›Philosophisches Zimmer‹, und das Thema der Diskussion war,
ob es in unserer Zeit noch Wahrheiten gibt.«
»Das klingt nach Staatsrundfunk.«
»Haben wir uns auch gesagt. Ardelius sollte für die
Wissenschaft sprechen, eine Theologin für die Religion. Ich war als
Chefin von Schwedens langweiligster Zeitung eingeladen.«
»Das klingt noch mehr nach Staatsrundfunk.«
»Der erste Schock dann gleich in der ersten
Sendeminute: Der Moderator fragt, warum er den Abelpreis annimmt,
ein Jahr zuvor die Sonderauszeichnung der Fields-Gesellschaft
jedoch nicht. Er habe auch den Abelpreis nicht gewollt, aber die
sieben Millionen Kronen. Da wäre er doch blöd gewesen, wenn er die
nicht genommen hätte.«
»War das nur eine Replik?«
»Da bin ich nicht sicher. Er wirkte nicht
schlagfertig.«
»Das passt in das Bild, das wir von ihm haben.«
Henning zog den Bogen Papier unter seinem Notizblock hervor. Darauf
hatte Barbro alles skizziert, was sie bisher über Ardelius’
Unternehmergeist herausgefunden hatten. »Wir können leider seine
Steuererklärung nicht einsehen, weil er im Ausland lebte, aber was
er allein in Schweden verdiente, war nicht gerade wenig. Vom
staatlichen Wetteramt hat er 35 Millionen für ein Computerprogramm
bekommen, das die Strömung des Mälaren ausrechnet. Zehn Millionen
stammen aus einem Verkehrsleitprojekt. Außerdem zwei Millionen
Euro, also zwanzig Millionen Kronen, bei einem Projekt der
Europäischen Union. Da geht es um Klimaerwärmung und ihre Folgen
für die Landwirtschaft.«
Lena verschlug es die Sprache. »Klingt ziemlich
geschäftstüchtig.«
»Finde ich auch. Seine letzte wissenschaftliche
Veröffentlichung liegt elf Jahre zurück.«
»Man nimmt an, dass viele seiner Arbeiten aus
seinen jungen Jahren stammen.«
»Woher weiß man das?«
»Er bewegt sich außerhalb des Stroms. Seine Themen
waren
vor zwanzig, dreißig Jahren aktuell. An aktuellen Trends nimmt er
überhaupt nicht teil. Er muss sich damals einen Vorrat an
Erkenntnissen angelegt haben, die er über seine Lebenszeit
verteilt.«
Henning ließ seinen Sessel in die
Mittagspausenposition zurückkippen und sah Lena an. »Ich würde es
etwas anders formulieren. Ich glaube, er veröffentlicht nur das,
was sich vorher nicht zu Geld machen ließ. Wie findest du
das?«
Hennings Gedanke reichte noch viel weiter. Er war
sich sicher, dass Ardelius gar keine Fülle von Entdeckungen zur
Verfügung stand. Er forschte nicht am laufenden Band. Er hatte
irgendeinen Trick, den er seit Jahren immer wieder aufwärmte und
ständig neu zu Geld machte.
Lena konnte Henning bei seiner Vermutung nicht
helfen. Deshalb bat er sie, weiter von der Sendung zu erzählen. Für
den Moderator war es ziemlich schwierig gewesen, nahtlos von den
sieben Millionen zum Thema der Sendung überzuleiten, der Frage
nämlich, ob es heute noch Wahrheiten gebe.
80
Als sich die Aufzugtür öffnete, nahmen zwei
Soldaten Tholander in Empfang. Ohne ein Wort folgte er ihnen bis zu
der einzigen Tür in der Halle. Er musste alles ablegen, was
elektrisch war. Sogar seine Brillengläser wurden
durchleuchtet.
Tholander hatte den Generalmajor nie in einer
Uniform gesehen. Er trug graue Geschäftsanzüge, wobei sich das Grau
aus der Nähe als feines Muster aus schwarzen und weißen Linien
entpuppte. Wie immer im Leben. Wozu sich so hübsch machen, wenn man
am Ende aller Korridore sitzt, wunderte sich Tholander. Das galt
auch seiner Sekretärin, die bei jedem seiner Besuche am
Konferenztisch saß.
»Du bist jetzt der Chef des ganzen Ladens.
Glückwunsch!« Der Generalmajor war aufgestanden, um Tholander mit
einer einladenden Geste an den Tisch zu führen.
»Danke«, sagte Tholander gequält. Eigentlich hätte
er lieber nur genickt. Er nahm Platz.
»Um welche Art von Problem handelt es sich?«
Aus irgendeinem Grund stand immer eine Vase mit
Nelken auf dem Tisch.
»Um ein logisches. Kennt ihr den Bericht über den
Vorfall heute Nacht?«
Der Generalmajor deutete ein Nicken an.
»Sofi Johansson war bei dem Einsatz dabei. Auf
Seiten der Polizei.«
Der Generalmajor schob den Schreibblock ein Stück
von sich weg. Eine Geste, die sogar Tholander verstand. »Willst du
damit sagen, dass sie nicht die Frau sein kann?«
»Johansson stand oben am Fenster, als unten
geschossen wurde.«
Der Generalmajor war wie Tholander ein Mann der
Vernunft. »Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht. Wir stehen wieder
am Anfang.«