SONNTAG 30. DEZEMBER

69

Der Stoiker Seneca hätte ein vernichtendes Urteil über den Kriminalkommissar Kjell Cederström gefällt. Der schlich sonst wie ein Pfadfinder mit einem eigenen Plan am Tatort herum und schnappte die Zwischenberichte der Techniker mit nur einem Ohr auf. Heute stand er lieber nur da und hörte genau zu, was Per und seine Leute so glaubten, während er sich den Anblick einprägte. Die Luft roch verbrannt von den summenden und knisternden Strahlern, die die Techniker überall auf Stativen aufstellten.
Diesmal suchte er nicht nach Eingebungen, sondern beteiligte sich am Wirken der Techniker, in der Hoffnung, dass ihre unendliche Geduld auf ihn abfärbte. Zu allem Übel hatte ihn der diensthabende Koordinator zum operativen Chef der schwedischen Polizei bestimmt. Dabei hatte Kjell sich, weit abgeschlagen in der Erbfolge, sicher vor dieser Bürde gewähnt, doch solange Kullgrens Stellvertreter in Thailand hektisch die Koffer packte und Reichskriminalchefin Viklund auf eine Art und Weise verschwunden war, die ihm von Tag zu Tag unsympathischer wurde, ließ sich daran nichts ändern.
Per Arrelöv kroch über den Boden. Mit seinen abstehenden borstigen Haaren sah er in dem weißen Kittel aus, als steckte er in einer Zwangsjacke. Er war seit einer halben Stunde auf der Suche nach gelocktem Frauenhaar und würde den Schreibtisch in sieben Minuten ganz umrundet haben, wie Kjell extrapolierte. Er bewunderte den Techniker dafür, an jedem Tatort neu beginnen zu können. Pers Erinnerung reichte nur bis zum Aufklappen seines Koffers zurück.
Die Rechtsmedizinerin Suunaat Kjærgaard kniete neben Ardelius. Seine Leiche lag noch in der Stellung, wie sie sie gefunden hatten. Kjell wartete mit Ungeduld auf das Gesicht. Das war bisher nur zu einem Drittel zu erkennen, dafür aber der Hinterkopf mit dichtem dunklem Haar, das unterschiedlich stark von grauen Strähnen durchzogen war. Durchwürkt, fabulierte Kjell vor sich hin. Suunaat hatte die kahle Stelle von der Größe ihres Handtellers untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass der Haarausfall nicht altersbedingt, sondern eine Alopecia areata war. Ardelius’ Hut, der am Haken neben der Tür hing, hatte damit seinen Zauber verloren.
Sofi erschien neben ihm. Wegen der Plastikanzüge, die alle tragen mussten, erkannte er sie erst, als sie neben ihm stehenblieb. Die Anzüge erlaubten keinen Einblick darin, wie sich die anderen fühlten. Aber Nils Kullgren war nicht irgendjemand für Sofi. Von ihrer ersten Begegnung an hatten die beiden einen Draht zueinander gehabt und führten seitdem eine Fernbeziehung, wobei das romantische Hindernis nicht in der Distanz zwischen dem sechsten und dem dritten Stock bestand, sondern im Konflikt zwischen seelischer Nähe und dienstlicher Ferne. Sofi näherte sich anderen Menschen nie ohne schützendes Handicap; auch bei diesem Karlsson oder Karlström musste es eines geben.
Dennoch war Sofis Sorge um Kullgren nicht von einer leichten Migräne zu unterscheiden. Wie in vorangegangenen Fällen dieser Art war sie seit Stunden in völliges Schweigen verfallen und kniff zudem alle fünf Minuten die Augen zusammen.
Sie zupfte ihn am Arm als Aufforderung, ihr hinüber in das andere Zimmer zu folgen. Dort kniete sie sich vor die Kommode neben dem Bett und deutete mit der Pinzette auf einen Stapel Fotografien. Da er keine Handschuhe trug, hielt sie ihm den Stapel vor Augen. Dass Sofi den Anblick nicht kommentierte, machte es noch unheimlicher. Elin Gustafsson von vorne im Liegestuhl.
»Sind das meine Fotos?«
Sofi starrte ihn durch ihren Sehschlitz an. Er kam sich wie ein hilfloser Idiot vor, bis ihm der frappante Unterschied auffiel. Es gab keinen Schnee auf dem Bild. Der Strand war schwarz.
»Das ist von vorne fotografiert. Wie bei meinen Bildern. Die Bilder müssen von einem Boot aus aufgenommen sein.«
Sofi wackelte zweifelnd mit dem Kopf. Statt etwas zu erwidern, zeigte sie ihm das nächste Bild. Elin Gustafsson von vorne. Der Strand war weiß und voller Polizisten. Ein Idiot trieb in einem Kajak im Wasser.
»Scheiße«, flüsterte Kjell. »Sind seine Fingerabdrücke auf den Bildern?«
Sofi nickte. Sie gab noch immer keinen Ton von sich, weil sie das Unbehagen liebte wie ein warmes Schaumbad. Sie blätterte zum dritten Bild. Elin Gustafsson im Liegestuhl. Aber diesmal war etwas anders. Nicht nur die Dämmerung, die als blauer Streifen über den Wipfeln zu sehen war. Elin lebte.
»Der 21. Dezember?«
»Siehst du das alte Gefängnis? Es sieht aus, als wäre die Wiese davor nur wenige Meter breit. Mindestens zweihundert Millimeter Brennweite also. Vielleicht vom anderen Ufer aus gemacht.«
Das vierte Bild. Judit Juholt. In Bewegung. Sie kam in die Kirche. Das musste der 21. Dezember sein.
»Moment mal. Woher wusste der Fotograf, dass sie die Kirche betreten würde?«
»Ich weiß es nicht.« Sofis Antwort hatte die Melodie einer Frage.
Bild fünf. Judit war tot. Ein sechstes Bild mit der Polizei gab es nicht.
Der enge Schlitz in der Gesichtsmaske machte Sofis Blick nur noch stechender.

70

Kjell traf Henning in der Eingangshalle des Söder-Krankenhauses. Er lungerte in einem schlafähnlichen Zustand auf den Sesseln neben der Rezeption, dabei hatte ihn Kjell auf der Station erwartet. Auf seinem Schoß lag die Sonntagsausgabe von Svenska Dagbladet.
»Versuchst du, durch die Zeitung deiner Chefredakteurin nahe zu sein?«, fragte Kjell zur Begrüßung und ließ sich auf den Sessel daneben fallen.
»Ich muss meine intellektuelle Benchmark vor dem nächsten Treffen deutlich anheben«, murmelte Henning und hielt die Augen geschlossen. Es waren stets die Frauen, die Hennings Leben auf die nächste Stufe brachten. Meist war es dabei natürlich abwärts gegangen, aber Henning war auch bei Frauen ein Spieler.
»Sei auf der Hut. Frauen können klüger schreiben, als sie wirklich sind.«
Henning öffnete die Augen und nahm Haltung an. »Die Fehlertoleranz habe ich bereits herausgerechnet. Die Zeitung tarnt mich ausgezeichnet vor denen dort.«
Ein Dutzend Reporter war auf der anderen Seite der Halle tief in die Plastikschalensitze gerutscht und behielt mit einem Auge die Tür zu Station 12 im Blick. Die Sache war schon vor dem Morgengrauen durchgesickert. Kullgrens Schicksal war kein Geheimnis mehr.
Doch keiner der Reporter schickte sich an, Kjell oder Henning zu erkennen. Dabei saßen sie wie Sonderangebote vor ihnen.
»Sie sind darauf geeicht, dass ein unrasierter Kommissar mit Trenchcoat durch die Tür dort kommt«, erklärte Henning. »Auf etwas anderes reagieren sie nicht.«
Kjell und Henning wechselten in die Cafeteria. Sie war nur ein durch Blumentöpfe eingezäunter Bereich in der Halle. Durch die Blätter der Pflanzen hindurch hatte man einen herrlichen Ausblick zum Eingang der Station.
»Die Kartei hat nichts ergeben«, sagte Henning. »Nicht das Geringste. Immerhin ist das Phantombild ganz gut geworden. Der Haftbefehl ist raus.«
»Hast du alle Frauen durchgesehen?«
Henning nickte erschöpft.
»Andererseits hat Kullgren sie erkannt.«
»Deshalb muss sie nicht in unserer Kartei sein. Die Gegengruppe hat tagelang selbst ermittelt. Kullgren kann dabei auf die Frau gestoßen sein, ohne ihr eine zentrale Rolle zuzumessen. Und als er sie dann auf der Straße laufen sah, ist ihm ein Licht aufgegangen.«
Kjell musterte seinen Streuselkuchen. Irgendetwas daran sah verdächtig aus. »So kann es nicht gewesen sein, Henning. Kullgren hätte nie das Feuer eröffnet.«
»Stimmt auch wieder.«
»Wie Theresa die Sache schildert, hat Kullgren weder gerufen noch einen Warnschuss abgegeben. Er hat auf die Frau gezielt und wollte sie treffen.«
»Das würde ein Polizist niemals tun«, sagte Henning wieder, obwohl er es seit der Nacht schon dreißigmal gesagt hatte.
»Wenn er sich an die Vorschrift hält.«
»Das ist bei Kullgren natürlich die Frage.«
»Es geht nicht um Vorschriften«, sagte Kjell. »Wie er gehandelt hat, steht im Widerspruch zu allen Prinzipien des Polizeiberufs. Stell dir vor, er hätte getroffen und sie getötet. Dann hätte er viel zu erklären gehabt. Man hätte ihn sofort entlassen und Anklage gegen ihn erhoben. Und es wäre zu einem Urteil gekommen, da kannst du sicher sein.«
An der Stationstür tat sich etwas. Die Reporter sprangen auf und scharten sich um den Eingang. Ein Schatten wuchs jenseits der Milchglastür und entpuppte sich dann als Krankenschwester. Die Reporter setzten sich wieder.
»Was machen wir mit denen?«, fragte Henning.
Kjell reagierte nicht. Er hing mit seinen Gedanken immer noch bei Kullgren. So sinnlos sein Verhalten in der vergangenen Nacht auch schien: Kullgren hätte nicht zum ersten Mal mit kühler Absicht gehandelt. »Ob die Frau verletzt wurde?«
»Es gibt keinen Hinweis darauf.«
Bisher hatte man Fußspuren im Schnee gefunden, doch sie verloren sich ein Stück vom Haus entfernt, weil die Straße vereist oder übersät mit anderen Abdrücken war. Von den Einschlagstellen der Kugeln waren in der Dunkelheit erst drei ausfindig gemacht.
»Es gibt außer Kullgren eine weitere Person, die wissen muss, warum Kullgren geschossen hat.«
Hennings Augenbrauen hoben sich vor Erstaunen. Das tat er stets mit Absicht und nie aus Reflex.
»Die Frau natürlich.«
»Da hast du recht. Die muss es wissen.«
»Und solange Kullgren lebt, ist sie mit ihrem Wissen nicht allein.«
Henning warf einen Blick zur Station. »Glaubst du etwa, Kullgren ist in Gefahr?«
»Polizisten schießen erst, wenn der Verfolgte unter gewissen Umständen nicht aufgibt und das eigene Leben bedroht ist. Das kann der einzige Grund für Kullgrens Verhalten sein. Er wusste vorher, wie gefährlich die Frau ist und wie sie reagieren würde. Und seine Einschätzung erwies sich als richtig. Sie hat sofort geschossen. Im Gegensatz zu ihm traf sie sogar. Das ist der Beweis.«
Die beiden schwiegen eine Weile. Sobald Kullgren den Mund aufmachte, würde er ihnen mitteilen, wer diese Frau war. Und nun war allgemein bekannt, dass der Säpo-Chef am Leben war.
»Das lässt sich ganz einfach lösen«, sagte Henning. »Wir erklären den Leuten dort drüben, er wäre tot.«
»Das kann nicht dein Ernst sein! Wir können doch nicht der Presse erklären, der Generaldirektor der Säpo wurde erschossen.«
»Könnte politisch ein bisschen heikel werden, das gebe ich zu. Es tut mir bestimmt gut, jetzt Abonnent bei Svenska Dagbladet zu sein.«
»Wir machen das Gegenteil. Und zwar jetzt gleich.«
Sie standen auf und steuerten auf die Station zu. Henning ließ sich zwei Schritte zurückfallen, unsicher darüber, worauf Kjell aus war. So war er wenigstens nicht im Bild, als Kjell seinen Ausweis zückte und der Kerl vor ihm die Fernsehkamera schulterte. Generaldirektor Kullgren sei wohlauf, berichtete Kjell. Er sei bei einem Schusswechsel an der Schulter getroffen worden, jedoch bei Bewusstsein. Er wies auf die Gefährlichkeit der Frau hin, verkniff sich aber die Lüge, die Polizei kenne ihre Identität. Unter Umständen hätte ihr das bestätigt, dass alles nur ein Bluff war. Zur Zeit suche man sie landesweit, ein Phantombild bekomme man um die Mittagszeit beim Pressedienst.
Henning hatte die Redezeit genutzt, um auf die Klingel zur Station zu drücken. So konnten sie gleich verschwinden.
Ein farbiger Pfleger führte sie durch den Gang.
»Das müsste reichen«, flüsterte Kjell auf dem Weg, doch zur Sicherheit bestellte er telefonisch zwei ältere Polizisten in die Cafeteria. Sie sollten ihre Morgenmäntel mitbringen. So fielen sie nicht auf, wenn sie bei Kaffee und Kuchen den Eingang im Auge behielten. »Man weiß nie«, fand Kjell nach dem Auflegen.
Henning hatte beim Gehen die Hände in den Hosentaschen. Er konnte eine sehr provokante Passivität an den Tag legen.
»Bist du anderer Ansicht?«
»Es kann uns Ärger bringen. Wir haben nichts mit der Polizeileitung abgesprochen.«
Genau das war jedoch der Grund, warum Kjell nicht gezögert hatte. Mit höherer Stelle musste er sich als provisorischer Polizeichef nur absprechen, wenn er diesen Posten lange behalten wollte. Er rechnete allerdings damit, noch vor dem Mittagessen durch einen Funktionär ersetzt zu werden. Bis dahin durfte er selbst entscheiden.
Im Flur vor der Intensivstation fanden sie Barbro in ein Gespräch mit einem Arzt vertieft. Auch Theresa war da. Sie stand am Ende des Ganges und starrte aus dem Fenster.
Was Kjell den Worten des Arztes entnahm, klang so schlecht, wie er insgeheim befürchtet hatte. Kullgren war alles andere als bei Bewusstsein. Aber sein Zustand war immerhin stabil. Nach einer Operation über mehrere Stunden entschieden die kommenden vierundzwanzig Stunden.
Warum immer vierundzwanzig Stunden, wunderte sich Kjell. »Er ist also noch länger bewusstlos?«
Der Arzt nickte entschieden und verschwand wieder durch die Tür, die sich wie von Geisterhand öffnete.
»Die Lage ist nicht gut«, erklärte Barbro, die den Morgen hier bei Theresa verbracht hatte. »Sie sind sich nicht sicher, welche Schäden er davonträgt. Die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn war beeinträchtigt.«
Kjell rief leise nach Theresa. Sie wandte sich um und kam auf wackeligen Beinen herüber.
»Wie geht es dir?«
Sie hob die Schultern. »Die Interne war vorhin hier. Sie wollen mich heimschicken.«
»War die Säpo schon hier?«
»Die Frau sagt ihnen nichts. Sie steht auf keiner Liste.«
Kjell bot an, sie nach Hause zu bringen, aber Theresa behagte die Vorstellung nicht, in ihrem Bett liegend an die Decke zu starren. Geschlafen hatte sie vorhin ein bisschen auf der Wartebank.
»Mitarbeiten kannst du nicht. Aber du kannst im Büro herumlungern, wenn du nicht zu Hause sein willst.«
Sie nickte.
Kjell hatte wieder vor Augen, wie sie zwei Magazine in die Dunkelheit abgefeuert hatte. Zum Glück hatte sie kein drittes mehr dabeigehabt. »Kennst du den stellvertretenden Direktor?«
»Nicht sehr gut.«
»Er landet morgen Mittag in Arlanda. Seine Familie ist in Thailand geblieben. Am besten holst du ihn ab.«
»Okay.«
»Welchen Zugang hast du zu Kullgrens Büro?«
»Machst du Witze? Ohne Sicherheitsfreigabe schaffe ich es gerade zur Toilette. Und selbst da sind Kameras. Nur sein Stellvertreter hat Zugang. Niemand sonst.«
Kjell trat gegen den Abfalleimer. Theresa hatte im letzten Halbjahr intensiv mit Kullgren zusammengearbeitet. Niemand war näher dran.

71

Die Techniker beklagten sich nicht darüber, dass Sofi sich über das Bett und die umstehenden Möbel hergemacht hatte, solange sie dabei keinen Schaden anrichtete. Spuren am Tatort zu sichern, beherrschte sie mittlerweile im Schlaf. Erst im Labor folgte die Arbeit, die man jahrelang erlernen musste. Die Ecke mit dem Bett war deshalb so interessant, weil es in der ganzen Wohnung die einzige Stelle zu sein schien, wo sich persönliche Dinge von Ardelius fanden. In der Kommode links waren aber nur die Fotografien spannend gewesen. Nach zwei Stunden wechselte Sofi hinüber auf die rechte Seite des Bettes. Zuerst griff sie nach dem leeren Glas auf dem Nachttisch und schnupperte daran. Es roch nach Torf. Daneben standen sieben Flaschen. Sofi hatte kein Näschen für hochgeistige Getränke und musste jede einzelne Flasche aufschrauben, bis sie sich sicher war, dass sich Ardelius von dem Connemara bedient hatte. Die Flasche war zur Hälfte geleert, außerdem saß der Verschluss locker. Sofi untersuchte Glas und Flasche mit dem Scanner und fand daran nur die Fingerabdrücke von Ardelius.
Sie zog die obere Schublade auf. Sie quoll über vor Kreditkartenbelegen, Quittungen und alten Fahrkarten. Sofi begann, alles nach dem Datum zu sortieren, als sie auf einen gelben Zettel stieß. Es war eine Eintrittskarte für ein Streichkonzert in der Sofiakirche. Das hatte am 2. März stattgefunden. Beethovens frühe Streichquartette. Sofi wendete den Zettel. Die Rückseite war unbedruckt, aber jemand hatte eine Telefonnummer darauf notiert. Sofi zögerte nicht. Als sich am anderen Ende die Bandansage der Reichsmord meldete, erkannte Sofi die Nummer als die von Judit wieder. Nun war sie sogar ziemlich sicher, dass es ihre Handschrift war. Sofi überlegte, wie sie am frühen Sonntag mehr darüber herausfinden konnte. Ihr fiel der Organist aus der Kirche ein. Er musste bereits aufgestanden sein und etwas über die Konzerte in seiner Kirche wissen. Er war über seine Antwort selbst erstaunt. Das Konzert hatte die Musikhochschule gegeben. Judit hatte zum Ensemble gehört.
Das war ja interessant! Ardelius und Judit kannten sich seit zehn Monaten. Sofi blätterte die sortierten Quittungen durch und entdeckte eine vom 3. März. Um 1 Uhr 07 hatte Ardelius eine nicht geringe Menge an Getränken in einer Bar in der Skånegatan bezahlt. Das konnte er nicht alleine getrunken haben.
Sie hatten sich an jenem Abend kennengelernt, daran ließ die Telefonnummer auf der Eintrittskarte keinen Zweifel.
Vom anderen Ende der Wohnung rief jemand Sofis Namen. Sie sprang auf und eilte hinüber ins andere Zimmer, wo Per und Suunaat noch immer neben der Leiche hockten. Inzwischen hatte sie den Körper auf den Boden gelegt und entkleidet. Obwohl das Fenster längst geschlossen und die Heizung aufgedreht war, spürte man die im Boden sitzende Kälte durch die Schuhsohlen.
»Deine Deutung des Schneehaufens unter dem Fenster trifft wohl zu«, sagte Per. »Das Fenster hat seit Donnerstag offen gestanden. Er ist vom Schlafzimmer hierher und hat sich an den Tisch gesetzt.«
»Saß er die ganze Zeit hier?«
Per nickte. »Füße und Gesäß sind schwarz. Außerdem vermuten wir, dass die Frau erst kurz vor euch hergekommen ist. Sie hat das Türschloss auf eigenartige Weise geknackt, so dass sich die Tür nicht mehr verriegeln, sondern nur noch anlehnen ließ.«
»Also wurden die Frauenleichen hier nicht aufbewahrt?«
Per und Suunaat sahen sich verwundert an und schüttelten vereint den Kopf. »Wie kommst du darauf?«
»Die Temperatur, die hier herrschte, entsprach genau der Körpertemperatur der Leichen.«
»Kein Wunder. Es ist die in ganz Stockholm herrschende Außentemperatur! Er ist nicht so lange tot wie die Frauen, und dann ist da noch das Türschloss. Sie muss es kurz vor eurer Ankunft geknackt haben, sonst wäre die Tür längere Zeit angelehnt gewesen und hätte sich durch den Luftzug wohl geöffnet.«
»Wir haben sie also überrascht.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Was meinst du damit?«
Per zog sich seine Gesichtsmaske herab bis zum Kinn. »Der sitzt tagelang hier, und dann kommt ihr gleichzeitig an? Mitten in der Nacht?«
»Willst du damit andeuten, dass wir ein Leck haben?«
Per zuckte mit den Schultern und setzte sich seine Maske wieder auf.
Sofi strich sich mit der Hand über die Wange, was Per richtig als Zeichen deutete, ihr einen Moment zum Nachdenken zu geben. Wenn es ein Leck gab, dann nicht bei der Säpo. Au- ßerdem traute Sofi der Säpo nicht zu, Ardelius’ Adresse gekannt zu haben. Und sie selbst hatte nach ihrem Besuch bei Joakim keine Zeit verstreichen lassen. Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich ist diese Wohnung doch kein Geheimnis. Wir haben nur lange gebraucht, seinen Namen zu erfahren. Wenn die Frau erst kurz vor uns hier eingebrochen ist, dann kann sie ihn nicht umgebracht haben.«
»Wir behaupten lediglich, sie habe die Tür kurz vor euch geöffnet«, sagte Suunaat. »Das bedeutet nicht, dass sie zuvor noch nie hier war.«
»Aber ihr habt keine Beweise dafür.«
Per lachte gequält auf. »Wir haben überhaupt keine Spuren von ihr. Nirgendwo!«
»Was wollte sie dann noch einmal hier?«
»Siehst du das hier?« Suunaat deutete auf Ardelius’ Gesicht. Auf der Wange, die bei seinem Auffinden verdeckt gewesen war, sah man eine sonderbare Verfärbung. Für einen biologischen Prozess waren die Konturen viel zu gerade und standen zudem im rechten Winkel zueinander. Die Spitze des Flecks zeigte zur Nase, an den anderen Seiten bildeten Unterkiefer, Ohr und Haaransatz natürlichere Grenzen. »Er lag mit dem Gesicht mitten auf der leeren Tischplatte. Sie kann das nicht verursacht haben.«
»Also lag etwas auf dem Tisch, ja? Und darauf lag sein Kopf? Worauf lag er?«
»Wir tippen auf einen tragbaren Computer«, sagte Per. »Das käme von den Dimensionen her gut hin. Die Platzwunde unter dem Auge deuten wir so, dass er irgendwann das Bewusstsein verlor und erst dann vornüberkippte. Auf jeden Fall lag hier etwas, was nicht mehr da ist.«
Hinter Sofi rutschte Pers Assistent Lasse auf seinen Plastiksohlen ins Zimmer. »Kommt mal, schnell!«
Er führte sein Gefolge in den Flur. Dort war nach Stunden jemand auf die Idee gekommen, einen Blick hinter das einzige Bild in der ganzen Wohnung zu werfen.

72

Blasses Sonnenlicht fiel in die Büros der Reichsmordkommission, als Barbro Setterlind dort nach der Mittagszeit eintraf. Sofi hatte alle Heizungen aufgedreht und damit die drückende Stimmung ins Unerträgliche gesteigert. Sie saß nicht an ihrem Platz. Da ihr Computer eingeschaltet war, öffnete Barbro die Tür zum Aktenzimmer und fand sie auf der Ruheliege. Sie richtete sich sogleich auf.
Barbro setzte sich auf den Tritthocker vor dem Regal. »Das Schlimmste ist vorüber, behaupten die Ärzte. Wäre der Krankenwagen nicht sofort gekommen, hätte er es nicht überlebt.«
Sofi strich sich das Haar aus dem Gesicht und schwieg.
»Kjell und Henning sind für ein Nickerchen nach Hause gefahren.«
»Er wird Monate brauchen, bis er sich erholt hat.«
Ja, dachte Barbro, unter dem günstigen Umstand, dass sein Gehirn keinen Schaden genommen hat. »Im Justizministerium herrscht Alarmstimmung. Sie fragen sich, wie viele Geheimnisse er mit in die Bewusstlosigkeit genommen hat.«
Sofi stand auf und ordnete ihre Kleidung. »Das ist Theresas große Stunde.«
»Wie meinst du das?«
»Sie war ein halbes Jahr lang seine Assistentin. Jetzt ist sie zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Wie immer.«
»Dort ist sie deinetwegen. Wenn du dich besser mit ihr verstehen würdest, hätte Kjell sie nicht versetzt.«
»Ja«, erwiderte Sofi knapp.
Barbro biss sich auf die Zunge. Theresa war Sofi egal, es ging ihr um Nils Kullgren. »Kjell macht sich Vorwürfe. Er zeigt es nicht, aber man sieht es ihm trotzdem an.«
»Komm mit. Ich zeige dir etwas.«
Barbro folgte Sofi hinüber zu ihrem Schreibtisch. Darauf standen mehrere Kartons.
»Wir haben einen Tresor im Flur entdeckt. Hat allerdings zwei Stunden gedauert, ihn aufzubekommen.«
»Er hatte einen Tresor?«
»In den hat er so ziemlich alles hineingestopft.« Sofi nahm mehrere Notizbücher aus einem Karton. Außerdem gab es Zettel unterschiedlicher Größe und sogar seine Brieftasche. »Die ist aber nicht sehr interessant.«
»Sonst etwas Interessantes?«
»Ja. Das hier.« Sofi deutete auf einen kleinen weißen Computer. Von dem führte ein Kabel zu Sofis Computer. »Ich musste ihn zuerst klonen, damit es keinen Ärger mit dem Ankläger gibt.«
Das Spiegeln war beendet. Während Sofi das Kabel zog, warf Barbro einen Blick in ein Notizbuch. Offenkundig war Ardelius ein Mensch mit reichem Innenleben gewesen. Zwischen Gedankenfragmenten zu allerlei Themen tauchten immer wieder lange Formeln auf. Seine Handschrift war jedoch ziemlich unleserlich.
»Das kann ja heiter werden«, sagte sie und verstaute die Bücher wieder im Karton. »Am besten geben wir es Henning. Seine Schrift ist auch so klein.«
»Jetzt können wir ihn einschalten.«
Barbro rollte sich Kjells Sessel herüber und nahm neben Sofi Platz.
Sofi startete den Computer. »Kjell ist übrigens entmachtet«, murmelte sie. »Polizeichef Liljemark war vorhin hier. Morgen endet Viklunds Urlaub. Mal sehen, ob sie kommt. Bis dahin leitet Liljemark selbst die Reichskrim.«
»Kjell wird sich freuen, diese Bürde los zu sein. Und die Säpo?«
»Ein Agent namens Jerker Tholander. Liljemark wollte unbedingt, dass ein Interner die Säpo übernimmt, bis der Stellvertreter eintrifft. Als Dienstältester steht er auf Platz drei der Rangfolge … Mist!«
Der Computer verlangte ein Passwort.
Barbro behagten die vielen Sekunden nicht, die Sofi auf die Anzeige starrte. Sonst zog sie ihre linke Schublade auf und kramte in ihren CDs. Drei Minuten später war das Rennen dann meist gelaufen. »Du könntest es mit einer deiner heißen Scheiben probieren.«
»Die Festplatte ist mit Luks chiffriert.«
»Wie viele Versuche haben wir?«
»Billionen. Es ist dasselbe System wie auf unseren Rechnern. Sieht nur ein wenig anders aus. Auch im organisierten Verbrechen ist es sehr beliebt. Man kann die Chiffrierung nicht unterlaufen und nicht mal schätzen, wie viele Daten darauf sind.«
»Wir könnten einige Wörter probieren.«
»Ardelius ist Mathematiker. Wenn er seinen Computer so absichert, hat er den Schlüssel bestimmt in zweiunddreißig Hexziffern festgelegt. Das mache ich auch so.« Eine Minute saßen sie ratlos da. »Wir sollten abbrechen und lieber die Frau suchen.«
»Nein, warte mal.« Barbro eilte zu ihrem Schreibtisch. Jetzt zahlte es sich aus, dass sie gestern Abend alle Akten durchforstet hatte. Sie fand das Protokoll mit einem Griff. Mit der aufgeschlagenen Akte kehrte sie zu Sofi zurück. »Der Vater von Elin Gustafsson behauptet, seiner Tochter einen kleinen, wei ßen Computer geschenkt zu haben. Und der ist verschwunden.«
»Glaubst du, das hier ist der Computer von Elin? Wie kommst du darauf?«
»Du behauptest doch immer, dass nur ahnungslose Mädchen sich diese weißen Computer kaufen.«
»Und Eishockeyspieler.«
»Aber keine Mathematiker.«
»Da hast du recht. Das ändert leider nichts an dem Passwort.«
»Kann man auch ein Wort eingeben? Oder funktionieren nur diese Ziffern?«
»Das kann man auch. Sie werden dann in Zahlen umgerechnet.«
»Darf ich etwas versuchen?«
Sofi schob den Computer zu Barbro. I’m good for magic. And magic is good for me! Barbro wusste nicht, woher die Eingebung kam, aber sie gab das Grübeln auf, als sich die Eingebung als richtig erwies. Während sich Sofi einen ersten Eindruck verschaffte, stellte Barbro sich ans Fenster. Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen. Der Wind wehte winzige Eiskristalle gegen das Fenster. Barbro lauschte dem Knistern und beobachtete die Schemen zweier Hunde im Park. Das brachte sie auf eine weitere Eingebung. Sie lief in ihr Büro und zog Ordner B12 aus dem Regal. Darin waren alle Tatortfotos aus der Långholmsgatan 7 mitsamt den Berichten der Tatorttechnik. Der Spruch war mit Lippenstift auf den Spiegel geschrieben worden. Weil er aber nicht mehr ganz frisch war, hatte Henning ihm keine Bedeutung zugemessen.
Lasse von der Kriminaltechnik hatte den Bericht unterschrieben. Barbro wählte seine Nummer. Lasse war noch in Ardelius’ Wohnung und musste sich erst wieder erinnern, bevor er ihre Fragen beantworten konnte.
In der Zwischenzeit hatte Sofi sich in das Mailprogramm vertieft.
»Der Lippenstift war nicht mehr der Jüngste«, gab Barbro wieder, was sie soeben von Lasse erfahren hatte. »Anscheinend hat Elin ihre Lippen meist der Natur überlassen. Auch der Spiegel machte nicht den Eindruck, als diente er Elin regelmäßig als Schreibfläche.«
Sofi sah auf. »Du meinst, das stand da nicht aus Schrulligkeit, sondern als Botschaft?«
»Ich überlege nur. Vielleicht hat Elin den Satz gerne gesagt. Und zur Sicherheit noch mal in ihrem Bad verewigt. Ich frage mich jedoch, für wen.«
»Wie findest du das hier? ›Treffen uns alle um acht. Bring Hampus mit!‹ Abgeschickt am 29. November von elin.gustavsson@telia.se an fippan@gmail.com.«
»Hampus?«
»Hampus. Was hat der beim Verhör gesagt?«
Barbro schüttelte den Kopf, um die Frage loszuwerden. »Elin kannte Filipa?«
»Anscheinend. Die Liste der Mails passt eigentlich in unser Profil von ihrem Leben. So gut wie gar keine private Kommunikation, aber seit einem halben Jahr ab und zu eine E-Mail.«
»Hampus behauptet, nichts von den anderen Frauen und von Ardelius zu wissen.«
»›Treffen uns alle um acht.‹ Wer ist damit gemeint?«
»Auf jeden Fall noch eine dritte Person.«
»Ardelius oder Judit.«
»Oder beide. Immerhin wussten Elin und Filipa anscheinend voneinander.«
»Das widerlegt Kjells Hypothese, dass er eine nach der anderen flachgelegt und umgebracht hat. Wenn es kein Harem war.«
Barbro sprang auf. Sie zögerte nicht, Kjells Einkaufsliste von der Wandtafel zu wischen. »Vergiss das mit Mann und Frau. Wir haben drei Frauen, alle sind tot. Sie sind alle auf dieselbe Weise gestorben. Haben sie sonst irgendeine Ähnlichkeit?«
»Na ja, sie wohnen im selben Stadtteil.«
»Das sagt alles und nichts. Ich spreche von den seelischen Gemeinsamkeiten. Können sie Freundinnen gewesen sein?«
»Schon allein wegen Filipa nicht. Nur Vierzehnjährige können Vierzehnjährige ertragen. Und Judit und Elin sind auch eher das Gegenteil voneinander.«
»So wie Yin und Yang?«
Sofi überlegte einen Augenblick, schließlich schüttelte sie den Kopf. »Nein. Sie laufen zwar auf derselben Straße. Aber in entgegengesetzte Richtungen. Und das ergänzt sich nicht. Irgendwann laufen sie sich über den Weg, doch das ist nur eine kurze Begegnung.«
»Und um eben die geht es hier. Wir müssen klären, ob Ardelius der Anlass dafür war. Sie können sich auch so getroffen haben.«
»Er muss der Anlass sein. Wegen Filipa. Sonst hätten sich alle drei über den Weg laufen müssen. Das ist unwahrscheinlich.«
Barbro schrieb die Vornamen der drei Frauen an die Tafel und dahinter ein X. »Das X steht für die vierte Frau, die von heute Nacht. Es sind vier. Vielleicht auch mehr. Aber nur drei sind nach unserem Wissen tot.«
»Dann musst du ein N schreiben und kein X.«
Barbro wischte das X mit dem Daumen weg und ersetzte es durch ein N.
»Abgesehen vom Geschlecht gehört Ardelius eher zu den drei Frauen als zu Frau N. Er ist auch tot, sie hingegen lebt.«
»Das ist die entscheidende Frage. Warum ist Ardelius tot, aber Frau N am Leben?«
»Sie ist die Mörderin. Das hat dein Psychiater gesagt!«
Barbro steckte die Kappe zurück auf den Filzstift. Die Wandmalerei lag ihr nicht. »Die Leute von der Säpo haben keine Ahnung, wer sie sein könnte. Also hätte kein anderer sie heute Nacht auf der Straße erkannt und so gehandelt wie Kullgren. Das beschäftigt mich schon den ganzen Tag. Auch Theresa kannte sie nicht. Kullgrens Erkenntnis kann nicht aus der Ermittlung der Gegengruppe kommen, jedoch auch nicht aus der normalen Arbeit der Säpo.«
»Er hat sie vielleicht gar nicht als Person erkannt.«
»Wie meinst du das?«
»Spiel es in Gedanken durch«, sagte Sofi. »Er erreicht mit dem Auto das Haus. Theresa sitzt neben ihm. Eine Frau mit Kinderwagen kommt aus dem Haus. Mitten in der Nacht. Es war zwei Uhr.«
»Warum schießt er gleich?«
»Er hat eine Struktur erkannt. Nicht am Gesicht der Frau. Sie trug ja eine Mütze und sah nicht sehr markant aus. Es war der Kinderwagen! Etwas stimmte mit dem Kinderwagen nicht.«
»Und dass sie eine Frau war. Das hat er auch erkannt.«
»Ja, vielleicht.«
»Ich fahre zu Hampus.« Barbro kleidete sich in Windeseile in Jacke und Mütze und verschwand.
Sofi wollte sich gerade wieder dem Computer zuwenden, als es draußen an der Tür klopfte. Sie lief in den Flur und erkannte an den Anzügen, dass die beiden Kerle von der Säpo sein mussten.
»Wir suchen Sofi Johansson«, sagte der rechte.
»Das bin ich.«
Der linke überreichte ihr ein gefaltetes Papier. Der Chefankläger des Bezirks Stockholm befahl ihre Festnahme, war darin zu lesen.

73

Draußen begann es schon zu dämmern, als Kjell seine Karte durch das Magnetschloss zog und die Glastür aufdrückte. Geplärr schlug ihm entgegen. Eine Frauenstimme schluchzte. Kjell ließ vor Schreck seine Handschuhe fallen und verharrte im Flur.
Ein handfester Streit.
Snæfríður stand mit dem Rücken zur Tür und stemmte ihre Hände in die Hüften. Durch das Dreieck aus Oberarm, Unterarm und Hüfte sah man Henning in seinem Sessel kauern. Neben ihm brannte eine Weihnachtskerze. Die Flamme flackerte im Sturm.
»Was ist denn los?«, fragte Kjell.
Snæfríður fuhr herum.
»Wie war die Reise?«
»Hulda ist weg«, brummte Henning.
»Was ist daran so außergewöhnlich?«, fragte Kjell und sah Snæfríður an. Am unscharfen Rand des Bildes begrub Henning sein Gesicht in den Händen.
»Ihr habt Fredrik gar nicht angerufen, wie ihr es versprochen habt.«
Eigentlich war Snæfríður ein sanfter Geist, aber auch anfällig für ausländische Leidenschaften wie Gefühlsausbrüche. Dabei neigte sie zur Ungerechtigkeit. Kjell und Henning hatten vorgehabt, ihr Huldas Verhaftung zu verschweigen. Dann hatte Henning alles zugeben müssen, weil die Polizeiwache bereits am Abend zuvor eine Nachricht auf Snæfríðurs Telefon hinterlassen hatte.
»Ich habe es vergessen«, knurrte Henning und knirschte mit den Zähnen. »Sofi kam mit der Telefonnummer, und wir sind sofort aufgebrochen.«
Kjell nickte. »Hier war gestern Abend sehr viel los. War Fredrik nicht zu Hause?«
»Das war er, aber er bekam keinen Anruf.« Snæfríður fuhr wieder zu Henning herum. Ihren Blick sah Kjell deshalb nicht, er tippte jedoch auf einen vorwurfsvollen.
Henning war deutlich anzusehen, dass er gerne von dem dampfenden Kaffee getrunken hätte, der wahrscheinlich seit einer kleinen Ewigkeit vor ihm stand. Aber er wagte es nicht. Stattdessen stand er auf und ruckelte den Bund seiner Hose zurecht. Er streckte sich nach dem Telefon und wählte eine Nummer aus dem Gedächtnis. Das Gespräch dauerte nicht lange. »Wannfors hat sie bis zur Haustür gebracht. Wie befohlen. Und es schien auch jemand da zu sein. In eurer Wohnung brannte Licht.«
»Vielleicht solltest du lieber Fredrik anbrüllen«, sagte Kjell.
Snæfríður verließ das Zimmer.
»Das wäre ohnehin mal Zeit«, rief Kjell ihr hinterher.
Die Tür zu ihrem Büro knallte zu.
Henning taumelte rückwärts zu seinem Sessel. »Anscheinend fehlen einige von Huldas Sachen. Fredrik muss die ganze Nacht gewartet haben.«
»Sie muss wieder hinausgeschlichen sein. Lassen wir sie suchen?«
Henning griff nickend zum Hörer.
Kjell versuchte, sich an all die Dinge zu erinnern, die er erledigen wollte. Nun fiel ihm nichts mehr davon ein. Also zog er erst einmal seine Jacke aus und setzte Kaffee auf.
»Sie ist ganz und gar überfordert mit dem Mädchen«, sagte er zu Henning, nachdem sie die erste Tasse in völliger Stille genossen hatten. »Ich begreife nicht, was in Huldas Kopf vorgeht.«
»Ich schon.«
»Ach ja?«
»Ich habe einen guten Draht zu ihr. Hulda braucht eine Bezugsperson, der sie nicht das Wasser reichen kann. Snæfríður ist zögerlich und sprunghaft wie ein Geysir und ganz und gar auf Fredrik fixiert.«
»Was ist eigentlich aus deiner Fixierung zu Lena Axelsson geworden?«
»Sie kommt später vorbei.«
»Hierher?«
»Wir sind bei einem Plausch am Telefon darauf gestoßen, dass sie Jon Ardelius kennt. Oder besser, kannte.«
»Kennt. Bei kürzlich Verstorbenen greift das gnomische Präsens. Woher kennt sie ihn?«
»Durch einen gnomischen Zufall. Sie nahm vor einigen Monaten an einer Radiosendung teil, bei der auch er zu Gast war.«
In Kjells linker Hosentasche läutete das Telefon. Die Anruferin war Sofi.
»Wo bist du?«, fragte er.
»Draußen. Kannst du vors Haus kommen?«
Eine Minute später stießen Kjell und Henning beherzt die Türen des Haupteingangs auf. Sofi stand mit hängenden Schultern auf dem Gehweg.
»Die Säpo hat mich suspendiert. Sie verdächtigen mich, irgendeine dunkle Rolle in der Sache zu spielen.«
»In was für einer Sache denn?«
»Ardelius.«
»Warum stehen wir eigentlich hier draußen?«, erkundigte sich Henning mit klappernden Zähnen.
Der Grund war einfach: Sofi durfte das Gebäude nicht mehr betreten. »Sie wollten von mir wissen, wie ich an die Telefonnummer von Ardelius gekommen bin.«
Sofi zitterte vor Kälte. Auf Hennings Vorschlag gingen sie zu dem nahen Café in der Hantverkargatan.
»Ich habe denen erzählt, wie ich die Nummer beschafft habe«, berichtete sie dort. Ihre Augen schienen vor Schreck dauerhaft geweitet.
Kjell schlug vor, dass Sofi alles noch einmal erzählte. Und so begann sie bei dem Abend, als sie Joakim Karlström kennengelernt hatte. »Sie behaupten, ich hätte die Nummer längst gekannt und meinen Einbruch bei Joakim nur vorgetäuscht. Auch dass ich ihn erst seit einigen Tagen kenne, bestreiten sie.«
»Warum fragen sie ihn nicht einfach?«
»Das können sie nicht, wegen Ragnar.«
Kjell musste mehrmals nachfragen, bevor er Sofis Problem wirklich durchschaute. Ihre Heimlichtuerei wurde ihr nun zum Verhängnis. Die Säpo konnte mit Fotos aufwarten, die Sofi beim Verlassen des Hotel Berns zeigten. Sie konnte also nicht leugnen, ihn zu kennen und mehrmals getroffen zu haben. Außerdem hatte sie eine Überwachungskamera für private Zwecke veruntreut, und zwar an dem Tag, bevor man Judit Juholt fand.
»Tholander hat sogar versucht, mich verhaften zu lassen. Aber der Anklägerin hat das natürlich nicht gereicht. Nichts davon lässt sie als Beweis zu.«
Kjell kratzte sich am Kopf. »Dann kann es auch keine Suspendierung geben.«
»Tholander kann jeden nach Hause schicken.« Sofi schob den Jackenärmel hoch. Auf den Arm hatte sie mit Filzstift eine Folge von Ziffern geschmiert. »Verordnung 2004:19182. Seit dem Augenblick, als Kullgren verletzt wurde, kann Tholander sich auf die akute Gefährdung des Reiches berufen und verordnen, was ihm passt. Wie ein Diktator.«
»Also ist es überhaupt keine richtige Suspendierung«, fand Henning und scharrte mit dem Stuhl über den Holzboden. »Sondern eine Anti-Terror-Notverordnung mit einer Haltbarkeit von vierundzwanzig Stunden. Und eine Stunde ist bereits um. Bleiben noch dreiundzwanzig.«
Kjell überlegte eine Weile. »Dagegen lässt sich vorgehen. Ich löse einfach die Gegengruppe auf.«
»Das ist sie längst«, wandte Henning ein. »Die Säpo muss den Anschlag auf Kullgren aufklären. Wir können froh sein, wenn wir nicht aufgelöst werden.«
»Aber damit beginnen sie doch schon.«
Sofi hob die Hände. »Hört auf damit.«
Die Männer verstummten.
Sie holte tief Luft. »Während des ganzen Verhörs habe ich mich nur eines gefragt: Was soll das alles?«
»Das hast du doch selbst gesagt: Er hat sich in die Sache mit dir verrannt und alles falsch gedeutet.«
»Das ist nicht alles. Sie behaupten, ich hätte Ardelius schon vorher gekannt. Ich glaube, es ist umgekehrt. Sie selbst haben etwas mit ihm zu tun.« Sofi gab den Männern eine Pause, bevor sie fortfuhr. »Auch sie haben erst heute Nacht erfahren, dass unser Fall mit Ardelius zu tun hat. Kapiert ihr das? Die haben unsere Ermittlung unterstützt, ohne zu begreifen, dass wir direkt auf sie zu ermitteln.«

74

Kjell und Henning liefen mit hängenden Köpfen zum Polizeigebäude zurück. Sofi hatte sich ein Taxi nach Hause genommen. Am Ende hatte sie so erschöpft gewirkt, dass ein freier Abend ihr sicher guttat. Nichts setzte Sofi Johansson so zu, wie in Frage gestellt zu werden. Das war Kjell in der Vergangenheit schon einige Male aufgefallen.
Im Aufzug postierte sich Henning mit seiner auffälligen Arglosigkeit vor der Knopfleiste, damit Kjell nicht aus Wut die Drei drücken und Tholander heimsuchen konnte. Ohne Hennings massiven Körper hätte er die Drei gedrückt, das war beiden klar, blieb aber ungesagt.
Inzwischen war Barbro eingetroffen. »Wo wart ihr?«, fragte sie und hörte sich den Bericht dann mit wachsender Ungeduld an. Sie hatte selbst Neuigkeiten. »Mit der Säpo gibt es immer Scherereien«, war ihr einziger Kommentar zu den jüngsten Ereignissen. »Wir stecken in ganz anderen Schwierigkeiten.«
Sie hielt sich ein Blatt Papier vor die Brust. Eine Namensliste. Sie war alphabetisch geordnet. Auf halber Höhe blieb Kjell hängen. Júpítersdóttir, Hulda.
»Was ist das?«
»Lies weiter.«
»Hysén, Hampus.«
»Eine Passagierliste. Sie sind vor zwei Stunden in Island gelandet. Am besten bleibst du ganz ruhig.«
»Wo ist Snæfríður?«
»Sitzt in ihrem Zimmer und schluchzt. Ich habe die beiden Polizisten angerufen, die die beiden gestern heimgebracht haben. Sie können sich die Sache nicht erklären. Angeblich haben die beiden kein Wort miteinander gewechselt. Hulda haben sie vorne in der Hantverkargatan abgesetzt, und dann sind sie zu Hampus gefahren.«
Henning lief zu Snæfríður. Kjell und Barbro folgten ihm.
»Siehst du irgendeinen Grund, warum sie nach Island geflogen ist?«, fragte Kjell. »Hatte sie Heimweh?«
Snæfríður und Henning schüttelten den Kopf. Sie litt sicherlich an Heimweh, aber ihre Abenteuerlust konnte sich dagegen mit der von Alexander dem Großen messen.
»Island kann für sie doch kein Abenteuer sein«, wandte Kjell ein.
»Vielleicht aber Hampus«, überlegte Barbro.
Henning setzte sich auf Snæfríðurs Aktentisch. »Da stimmt etwas nicht. Ich habe viel Zeit mit ihr verbracht und dabei nie den Eindruck bekommen, Jungen könnten sie reizen. Sie schien noch ein wenig zu jung dafür.«
Das fand Barbro auch. Hulda spazierte ungeschminkt und in Gummistiefeln durch die Welt wie ein kleines Mädchen.
Dazu kam, wie schnell Hulda gehandelt hatte. Alle schworen darauf, dass sich die beiden erst gestern Abend kennengelernt hatten.
»Wie seid ihr an die Passagierliste gekommen?«
»Snæfríður hat einen Bekannten bei der Fluggesellschaft«, antwortete Barbro. »Dass sie sich ausgerechnet Hampus ausgesucht hat, finde ich etwas verdächtig. Sein Name taucht auch im Computer auf. Der gehört übrigens Elin Gustafsson.«
»Das wissen wir bereits«, sagte Kjell. »Sofi hat uns davon erzählt. Alle kannten sich also?«
»Es sieht so aus.«
»Verständigen wir die isländische Polizei?«
Barbro warf einen vorsichtigen Blick zu Snæfríður. Weil die still blieb, übernahm Barbro das Sprechen. »Das würde Snæfríðurs Sorgerecht für Hulda ziemlich gefährden.«
»Ich habe wochenlang kämpfen müssen, bis ich Hulda mit nach Schweden bringen durfte.« Nur weil Hulda bereits vierzehn und Snæfríður Polizistin war, weil Schweden zum Norden gehörte und das nordische Wohlfahrtsamt den Antrag unterstützt hatte, hatte das Vormundschaftsgericht in Island eine Ausnahme gewährt. Unter der Auflage, dass sich das Jugendamt einmal im Monat telefonisch nach Huldas Wohlergehen erkundigte. »Nun ist sie ausgerechnet nach Island getürmt. Das sehen sie als Beleg, dass sie zurückwill.«
»Ins wunderbare Island«, sagte Henning. Seufzend brachte er seine Hosenbeine in Form.
Kjell hatte eine Eingebung. Er verstand soeben, warum Snæfríður noch mit diesem Versager Fredrik zusammen war. Nicht aus Entscheidungsschwäche. »Fredrik ist Teil dieses Deals, oder? Der hat dich in der Hand.«
Snæfríður nickte matt. Der Artikel 67 des isländischen Kinderschutzgesetzes kannte das Wort Pflegeeltern nur in der Mehrzahl. Sie war gerade einmal Huldas Halbschwester, und die eigentliche Bedrohung verriet sie erst jetzt: Huldas Eltern waren beide noch am Leben. Zwar kamen sie nicht in Frage, für Hulda Sorge zu tragen, aber dennoch beantragten sie das Sorgerecht unentwegt. Jedes halbe Jahr wurde neu entschieden.
»Wir haben einen Interessenkonflikt, wie man so schön sagt«, fasste Kjell die Lage zusammen. »Hampus bekommen wir nur mit Polizeigewalt, Hulda nur ohne.« Er zeigte auf Snæfríður. »Du solltest auf jeden Fall hinterher! Dann kannst du sie suchen und zugleich die Sache so aussehen lassen, als machtet ihr einen Familienausflug.«
»Ich begleite sie«, sagte Henning. »Und kümmere mich um Hampus.«
»Die beiden werden ohnehin zusammenbleiben. Bekommt ihr überhaupt einen Flug?«
Snæfríður nickte.
»Wir warten mit dem Haftbefehl, bis ihr angekommen seid.«
»Das müsst ihr nicht«, sagte Snæfríður. »Ich lasse seinen Namen auf die Sperrliste bei der Fluggesellschaft setzen. Dann kommt er nicht mehr weg.«
Kjell war wenig erbaut von der Aussicht, dass seine Ermittlungsgruppe bald nur noch aus ihm und Barbro bestehen sollte. Gleich morgen früh wollte er bei Polizeichef Liljemark Beschwerde gegen Sofis Suspendierung einlegen. Spätestens am Nachmittag, wenn der Stellvertreter Kullgrens das Ruder bei der Säpo übernahm, würde er Sofi zurückbekommen.
Ein Anruf aus dem rechtsmedizinischen Institut unterbrach die Reisevorbereitungen.

75

Es roch nach Ammoniak. Per Arrelöv hatte sich mit maskuliner Selbstverständlichkeit ein Labor auf Suunaats Probentisch improvisiert und sah auf, als Kjell, Barbro und Henning eintraten. Suunaat selbst umrundete mit dem Spülschlauch weiter hinten im Raum den zweiten Seziertisch.
»Hätten wir nicht telefonieren können?«, fragte Kjell.
Per schüttelte den Kopf. »Ihr müsst es sehen. Wir haben versucht, ein Foto zu machen, aber das klappte nicht.«
Suunaat stellte das Wasser ab und schaltete den Luftabzug aus. Es wurde still im Raum.
»Sofi hat ein Glas auf seinem Nachttisch gefunden«, begann Per. »Von dem Schlafmittel haben wir nichts gefunden. Sein Körper ist zwar auch erfroren, aber mit so deutlichen Unterschieden zu den Frauen, wie es ein Erfrierungstod zulässt.«
»Das Schlafmittel hat er aber wie die Frauen nicht zu Hause, sondern irgendwo draußen eingenommen«, erkundigte sich Kjell.
»Da sind wir sicher. In der Flasche fehlten nämlich nur 4,3 Deziliter. Connemara-Whiskey enthält sechzig Prozent Alkohol und wird zweimal destilliert. Was ihn ideal für den letzten Drink des Lebens macht. Wir haben aber nicht nur die in der Flasche fehlenden 4,3 Deziliter, sondern neun in seinem Magen gefunden.« Suunaat stellte sich vorwurfsvoll dicht neben Per. »Das heißt, Suunaat hat sie gefunden. Also ist die Flasche davor nicht nur voll gewesen, es muss außerdem noch mehr Whisky gegeben haben. Er hat doppelt so viel Whiskey derselben Marke getrunken, wie in der Flasche gewesen sein kann.«
»Also war er irgendwo draußen«, konstatierte Kjell und umrundete die Leiche. »Dann kam er heim, leerte noch eine knappe Flasche und öffnete das Fenster. Daran ist er gestorben?«
Barbro steckte sich eines ihrer Zitronendrops in den Mund.
»Seid ihr euch da wirklich sicher?«, fragte Henning. »Der hat sich selbst umgebracht?«
»Sicher«, antwortete Suunaat und lehnte das Bonbon ab, das Barbro ihr anbot. Sie war mit der Weisheit aufgewachsen, dass jede Lebenslage ihren eigenen Geschmack hat. Und diese schmeckte gewiss nicht nach Zitrone.
Kjell spazierte nachdenklich zum Fenster. »Er kann dennoch der Mörder sein«, sagte er nach seiner Rückkehr. »Und nachdem seine Serie abgeschlossen war, hat er sich selbst umgebracht.«
Henning beugte sein Gesicht tief über das des Toten, als wollte er seine Fragen an ihn richten. »Warum nimmt er dazu nicht das Schlafmittel, dessen Wirkung dreifach erprobt ist?«
»Vielleicht hatte er nichts mehr.«
»Das ist doch Unsinn«, fand Barbro. »Man bringt nicht mit kühler Planung zwei bis drei Frauen um und betrinkt sich dann, um zu sterben. Ihr habt doch die Bilder in seiner Wohnung gefunden. Er wusste, dass sie tot sind, und hat sich aus Verzweiflung umgebracht.«
Kjell tauschte einen Blick mit Henning. Barbros Szenario war einfach und bestechend. »Dann ist die Frau die Mörderin?«
Barbro nickte. Der Psychiater McKenzie hatte sie überzeugt.
»Unsicher«, glaubte dagegen Henning.
»Sie ist zumindest dringend tatverdächtig«, erwiderte Barbro.
»Nehmen wir an, sie war es«, sagte Kjell. »Warum hat sie ihn nicht umgebracht?«
Auch darauf wusste Barbro eine Antwort. »Er kam ihr zuvor.«
»Das wirft erhebliche Fragen auf«, bemerkte Henning.
»Welche denn?«
»Zuerst die, warum er nicht zur Polizei geht, wenn er auf der Seite der Opfer steht. Auch sonst sieht es nicht so aus, als hätte er den Kampf aufgenommen. Kann es nicht doch sein, dass er den Whiskey nicht freiwillig getrunken hat?«
Suunaat wies darauf hin, niemand könne einen zwingen, so viel Alkohol zu trinken. Außerdem schmecke Connemara wie eine Torfgrube und eigne sich nicht für große Mengen.
»Lass es mich anders formulieren«, sagte Henning. »Alle Frauen haben das Schlafmittel mit Flüssigkeit zu sich genommen. Der typische Knockout-Trick. Wir wissen nicht, wo das jeweils geschah, aber bestimmt nicht an den Stellen, an denen sie verschwunden und als Leiche wieder aufgetaucht sind. Bei ihm war das Mittel vielleicht gar nicht nötig. Er läuft die Straße entlang, da kommt ihm eine junge Frau entgegen. Man landet in einer Bar, in der er diesen Rachenputzer trinkt, bis die beiden hinausgeschmissen werden.«
»Das klingt etwas hypothetisch«, fand Barbro. »Nach dem Tagtraum eines einfältigen Mannes.«
»Mir ist neulich genau das passiert, Barbro. Man geht also noch zu ihm und nimmt eine weitere Flasche in Angriff.«
»Ist dir das auch passiert?«
»Das nicht. Bevor sie geht, muss sie nur das Fenster öffnen. Es war bitterkalt.«
»Die Sache hat einen Haken«, erwiderte Kjell. »Warum musste sie heute Nacht die Tür aufbrechen und warum kam sie überhaupt zurück? Das ergibt nur einen Sinn, wenn sie ihn erst heute Nacht dorthin gebracht hat. Dann wäre diese Auffindesituation wie alle anderen: ein Arrangement mit großem Aufwand.«
Per hatte sich alles geduldig angehört, nun ging er zur Anrichte mit den Analysegeräten. Darauf stand ein stabiler Stuhl. Per schleppte ihn herüber und krempelte die Folie vom Sitzpolster. »Seht ihr das? Sie hätte den Stuhl mitbringen müssen, denn er hat seinen ganzen Tod darauf verbracht.«
Eine Männerleiche und eine sperrige Antiquität. Das war ein bisschen viel für einen Kinderwagen. Außerdem hatte das Haus keinen Aufzug.
»Es gibt eine weitere Entdeckung. Deshalb bat ich euch her.«
Suunaat verstand ihr Stichwort. Sie drehte den Kopf der Leiche und schwenkte die Sezierlampe dicht über die Haut.
»Er hat mit dieser Gesichtshälfte auf dem Tisch gelegen. Ob es der Tisch in seinem Zimmer war, kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, aber die Verkrümmung des Körpers stimmt mit ihm überein. Die Tischplatte war jedoch nicht frei, so wie wir sie später fanden. Die rote Verfärbung hier beweist, dass der Kopf auf einem rechteckigen Gegenstand lag, der nicht höher als ein bis zwei Zentimeter sein kann.«
»Was sind das für violette Flecken?«, wollte Kjell wissen.
»Die sind von uns. Ein Kontrastmittel.«
»Den Maßen nach haben wir auf einen tragbaren Computer getippt«, sagte Per. »Bis wir den Computer dann zu unserer Überraschung im Tresor fanden.«
»Der gehört jedoch Elin Gustafsson.«
Pers Augen weiteten sich. »Ach, tatsächlich?«
»Vielleicht war der unter seinem Kopf ja sein eigener«, rä tselte Kjell.
»Nein«, sagten Per und Suunaat ihm Chor. Sie schaltete das Schwarzlicht ein. Ein Raunen ging durch die Gruppe.
»Sind das Buchstaben?«, rief Henning.
»Drei.« Per war sichtlich stolz, dass er Ergebnisse wie im Fernsehen liefern konnte. »Ihr fragt euch natürlich, wie diese Buchstaben auf seine Wange gekommen sind.«
Henning brummte. So einfältig waren sie nun auch wieder nicht. »Man kann aber nicht erkennen, was für Buchstaben das sein sollen.«
Per verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wäre auch ein bisschen viel, oder? Immerhin wisst ihr nun, dass es bedrucktes Papier war, was unter seinem Kopf lag. Und zwar selbstgedruckt. Es ist Druckertinte.« Per ließ die Schnallen seines Vertreterkoffers aufspringen. Ein Blatt Papier in einer durchsichtigen Plastiktüte. »Erhältlich bei Elin Gustafsson und Jon Ardelius. Svenska Cellulosa der Sorte Björnlunda Naturgebleicht. Achtzig Gramm, gelblich weiß. Die Sorte ist nicht billig und ziemlich selten.«

76

Svenska Cellulosa, dachte Kjell während der Rückfahrt nach Kungsholmen. Das Leben ist ein Steilhang. Kommt das eine ins Rollen, kann das andere nicht liegenbleiben. Und alles kennt nur noch eine Richtung.
Die Fahrt verlief schweigend. In jeder Ermittlung gab es diesen Moment, wo sich die Waage der Erkenntnis zur anderen Seite neigte. Nur einmal seufzte Henning laut und sagte: »Elin Gustafsson.« Das war vor der roten Ampel am Sankt Eriksplan.
Bereits beim Betreten des Büros konnte Kjell sehen, dass etwas nicht stimmte. Snæfríður kam beim ersten Geräusch in den Flur geeilt.
»Die Säpo war hier. Ich konnte nichts machen.«
Sofis Schreibtisch war leer. Henning fluchte, bis er heiser klang.
»Sie haben den Computer ausgemacht und alles in die Kiste geräumt.«
»Den Computer haben sie ausgemacht?«, fragte Barbro.
»Ja«, antwortete Snæfríður irritiert.
Kjell sank in seinen Stuhl. »Was machen wir jetzt?«
Barbro griff zum Telefon und wählte eine interne Nummer. An der Begrüßung erkannten die anderen, dass sie mit Lasse aus der Technik sprach. Sie erkundigte sich nach den Tatortprotokollen. Henning kratzte sich am Kopf. Auch die anderen verstanden nicht, worauf die Sache hinauslaufen sollte. »Die Säpo hat aus den Inventarlisten von dem Computer erfahren«, erklärte sie nach dem Auflegen. »Sie wollten sogar wissen, ob die Techniker schon ein Backup für die Untersuchung des Inhalts erstellt haben.«
»Und?«, fragte Kjell. »Haben sie?«
»Nein. Lasse hat darauf verwiesen, dass Sofi den Inhalt des Tresors wegen der Dringlichkeit gleich selbst mitgenommen hat.«
»Was bringt uns das?«
»Du musst die Frage anders stellen: Was bringt es der Säpo?«
»Sie wollen wissen, was darauf gespeichert ist«, vermutete Kjell.
»Vor allem wollen sie verhindern, dass auch wir erfahren, was darauf ist. Sonst könnte es ihnen egal sein, ob die Technik eine Kopie der Daten hat.«
»Das haben sie geschafft. Mit einer Aktion aus dem Säpo-Lehrbuch.«
Eine kurze, ratlose Stille trat ein.
»Wir sollten mit dem Justizkanzler Kontakt aufnehmen«, sagte Henning am Ende dieser Stille. »Wir haben es mit einem eindeutigen Rechtsbruch zu tun.«
»Was willst du damit erreichen?«, fragte Barbro.
»Der Justizkanzler soll die Daten einsehen und entscheiden, ob sie für die Aufklärung unseres Dreifachmordes von Belang sind. Dagegen können sie nichts einwenden.«
Barbro schnitt eine Grimasse. »Das wird nicht klappen. Die Säpo ist nämlich gar nicht in der Lage, dem Justizkanzler einen Blick auf die Daten zu gewähren.« Sie erzählte, wie sie zuvor mit Sofi auf das Passwort gekommen war und warum sie soeben gleich hatte wissen wollen, ob die Agenten den Computer ausgeschaltet hatten. Wenn sie den Computer wieder einschalteten, würde er wieder das Passwort verlangen. »Ich bezweifle, dass sie darauf kommen.«
»Irgendwann werden sie das Passwort herausfinden«, sagte Kjell. »Wenn auch nicht so schnell wie du und Sofi.«
»Zuerst müssen sie erkennen, dass es Elins Computer ist. Und dann müssen sie darauf kommen, dass Elins Lebensmotto zugleich ihr Passwort ist.«
»Trotzdem stecken wir ohne die Daten fest.«
»Glaubt ihr wirklich, Sofi hätte keine Kopie gemacht? Sie fotokopiert ja sogar ihr Tagebuch. Wir müssen sie nur fragen, wie wir in ihren Computer kommen.«
Kjell wählte Sofis Nummer und lauschte verwundert ihrer Stimme als Bandansage. »Sie ist im Urlaub, sagt ihre Stimme.«
Henning kniff die Augen zusammen. »Das ist ein Code, oder?«
»Kein ausgemachter.«
»Dann ein selbsterklärender. Wenn sie gerade erst suspendiert wurde, aber jetzt schon behauptet, im Urlaub zu sein, dann will sie sagen, dass wir nicht versuchen sollen, sie zu erreichen. Hat sie unseren Anruf vorausgesehen?«
Kjell versuchte, Sofis Gehirn in seinem Schädel zu simulieren. Vorhin hatte sie darauf hingewiesen, mit der Säpo stimme etwas nicht. Also ging sie davon aus, dass man ihr Telefon überwachte. Und sie konnte mit einem Anruf ihrer Kollegen rechnen. »Ich glaube, du hast recht. Sie will nicht, dass wir mit ihr über den Computer sprechen.«
Die anderen ließen die Schultern sinken. Ohne Sofi keine Daten.
»Macht ihren Computer an«, sagte Kjell und streckte sich zur Fensterbank, wo alle Bücher in Reih und Glied standen, die er in seinem Leben stets um sich haben wollte. Er zog eines heraus und schlug Seite 13 auf. Die siebte Zeile von unten.
Inzwischen hatte Snæfríður ihre Hände auf die Tastatur gelegt und wartete auf sein Diktat.
»Du gibst alles in einem Wort ein. Nur Kleinbuchstaben. Bist du bereit?«
Sie nickte.
»Und dann geschah, was noch nie geschehen war, seit der erste Mumintroll sich zum Winterschlaf zusammengerollt hatte. Mumin wachte auf und konnte nicht wieder einschlafen.«
Snæfríður war fertig und drückte auf Enter. Henning und Barbro standen gebannt hinter ihr.
»Sieht aus, als hätte sie alles für einen Fall wie diesen vorbereitet«, murmelte Henning.
»So ist sie.«
Sofi hatte eine eigene Benutzeroberfläche erschaffen, die Kjells gespanntes Verhältnis zur Technik abfederte. Vielleicht wollte sie ihren Computer auch nur vor Schaden bewahren. Elins Daten waren noch verschlüsselt, ließen sich mit ihrem Passwort aber öffnen.
»Ihre E-Mails haben wir uns schon vorgenommen«, sagte Barbro.
Snæfríður stöberte in den Ordnern herum. Sie fanden Briefe an die Hausverwaltung und das Finanzamt, ein bisschen Musik und Bilder, die im Frühling in den Schären entstanden sein mussten. »Hier ist ein Ordner mit dem Namen ›Artikel‹. Er enthält ziemlich große Textdokumente.«
Kjell umrundete den Schreibtisch und warf selbst einen Blick darauf.
»Welches soll ich öffnen?«
»Es scheinen verschiedene Fassungen ein und desselben Textes zu sein. Nimm die neueste.«
»Elin Gustafsson«, wiederholte Henning, was er schon vor der roten Ampel gebrummt hatte.
Und Jon Ardelius. Sein Name stand über ihrem.
»N größer gleich drei revisited«, las Snæfríður alles andere als flüssig.
»Ein wissenschaftlicher Artikel«, sagte Kjell. »Revisited bedeutet, dass der Artikel ein Thema behandelt, das schon einmal behandelt wurde.«
»Was ist N?«, fragte Henning.
»Irgendeine Variable aus der Physik oder Mathematik«, sagte Snæfríður. »Größer gleich ist als mathematisches Zeichen geschrieben. Newton, vielleicht. Was kann alles N sein?«
»Nein«, erwiderte Henning. »Newton kenne ich aus meiner Zeit bei der Seefahrt. Das ergibt keinen Sinn. Natürliche Zahlen!«
»Ich finde es interessanter, dass sowohl Jon als auch Elin die Verfasser sein sollen«, sagte Kjell. »Beide Namen stehen unter dem Titel.«
Snæfríður ließ den gesamten Text vorbeirauschen. Nach einer kurzen Einführung, deren Inhalt niemand verstand, begann eine lange Serie von Formeln und Diagrammen. Auf Seite 153 war die Datei zu Ende.
»Ist euch das Datum aufgefallen?«, fragte Kjell. Die erste Fassung stammte vom 12. September, die letzte vom 23. Dezember, zwei Tage nach Elins Verschwinden.

77

Hennings Hand lag schon auf dem Gartentor, als er innehielt und den Kopf in den Nacken legte. Milliarden winziger Schneekristalle schienen knisternd und glitzernd in der Luft zu stehen.
Das Tor öffnete sich lautlos. Henning klingelte und klopfte sich den Schnee von der Brust, bis sich in der rautenförmigen Milchglasscheibe im Türholz eine Gestalt abzeichnete.
Jakob Gustafsson vergaß das Ausatmen und nickte zur Begrüßung stumm.
»Bist du allein?«
Jakob Gustafsson nickte noch einmal.
»Gehen wir ein Stück?«, sagte Henning und deutete mit dem Kinn auf die kristallverhangene Luft. Er wartete am Gartentor, bis Gustafsson sich angezogen hatte und nachkam.
»Ich habe eine Bitte«, sagte Henning. »Könnte mein Kollege dort im Auto mit dem Gerät, das er umklammert hält, einen kurzen Streifzug durch euer Haus machen?«
Per Arrelöv musste bemerkt haben, dass über ihn gesprochen wurde. Dennoch rührte sich nichts in seinem grimmigen Gesicht.
Offenkundig hatte Henning Tonlage und Gesichtsausdruck richtig getroffen, denn Jakob Gustafsson verstand auf Anhieb. Er kramte in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel.
Henning winkte seinen Kollegen herbei. Per Arrelöv kletterte aus dem Wagen und überquerte vorsichtig die rutschige Fahrbahn. Das Gerät, das er vor sich hertrug, hatte zwei Antennen und ließ ihn wie einen kleinen Jungen mit einer riesigen Fernbedienung für ein Spielzeugboot aussehen. Als er den Schlüssel übernahm, fragte er nach dem Mobiltelefon.
»Das liegt auf dem Küchentisch.«
Henning und Gustafsson machten sich auf durch den quietschenden Schnee. Unter der nächsten Laterne zündete sich Henning eine Prince Denmark an. »Ihr habt gar nicht angerufen und euch nach dem Gang der Dinge erkundigt.«
»Die Psychologin hat uns alles erklärt.«
»Ist sie nett?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Psychologen so viel Ahnung haben.«
»Wisst ihr schon, wie ihr den Jahreswechsel verbringen wollt?«
»Wohl wie die letzten Tage. Einige Verwandte und Nachbarn.«
»Ihr solltet es nicht ausfallen lassen. Das wäre mein Ratschlag. Was auch immer aus dem Abend wird. Wenn man erst in einer Zeitstarre gefangen ist, wird das mit der Dauer ziemlich unangenehm. Nichts löst sich dadurch.«
Jakob Gustafsson stülpte seine Lippen ein und aus. Da war wohl was dran.
»Hast du irgendetwas Außergewöhnliches im Haus bemerkt? In den letzten Wochen? Das dich stutzig gemacht hat?«
Gustafsson warf einen Blick über die Schulter zurück zum Haus. »Nein«, sagte er nach einer Weile.
»Wir haben einige Dinge herausgefunden. Bevor ich dir davon erzähle, hätte ich einige Fragen. Tu für den Augenblick so, als wäre Elin nur auf Reisen und ich ein Nachbar, der in dem Haus dort drüben wohnt.«
Jakob schmunzelte. Das Haus war so winzig, dass Henning darin nur im Stehen wohnen könnte. So war er von der Aufforderung abgelenkt, Elins Tod solle gar nicht stattgefunden haben.
»Ich habe mir vorhin noch einmal die Akte von vorne bis hinten durchgelesen. Meiner Kollegin hast du erzählt, euer Kontakt sei in den letzten Monaten etwas lockerer geworden.«
»Das stimmt, ja.«
»Gab es einen äußeren Anlass dafür? Einen Streit oder einen unterschwelligen Vorwurf?«
»Das hat es zwischen uns nie gegeben. Leider. Ich war zu fürsorglich. Für anspornende Vorwürfe war Iris zuständig. Das hat sich mit den Jahren eingefahren und kann kaum der Grund gewesen sein. Es hätte Elin nicht ähnlich gesehen, sich zurückzuziehen. Sie konnte viel mehr einstecken.«
»Wenn man ihre Krankenakte liest, drängt sich einem eine Verbindung zwischen ihrer seelischen und körperlichen Verfassung auf.«
»Das hat sie selbst erkannt. Im Sommer ging es ihr oft schlechter als im Winter.«
Hennings Wangen waren steif von der angenehm erfrischenden Kälte. »Sie war also kein Sommerkind?«
Jakob sah ihn fragend an.
»Das hat meine Kollegin an den Rand der Akte geschrieben. Offenbar hat sie es verstanden. Einzelgänger fühlen sich im Sommer plötzlich einsam. Die Sonne mahnt sie dazu, aus sich selbst heraus und ins Freie zu treten.« Eine ganzjährige Variante der Mittsommereinsamkeit, dachte Henning. Sofi hatte ein gutes Gefühl für Elin gehabt.
Jakob stimmte zu. Elin hatte sich beim Winter geborgener gefühlt. Der Winter drängte einen zu nichts.
»In diesem Sommer jedoch nicht«, sagte Henning. »Da hatte sie keine Beschwerden. Die kamen erst vor kurzem.«
Jakob nickte entschieden. Das war wahr.
Henning fragte weiter. Jakob gestand sich ein, er habe bereits im Frühling vergessen, sich um sie zu sorgen. Eine Querstraße weiter konnte er den Grund in Worte fassen. Sie wirkte nicht niedergeschlagen, wenn er mit ihr sprach. Ein Unterton in ihrer Stimme war so unauffällig verschwunden, dass er es nicht bemerkt hatte.

78

Das Mädchen, das neben ihm auf ihre Bahn wartete, wippte unaufhörlich mit dem rechten Bein, das sie über das linke Knie geschlagen hatte. Ihre gelb-schwarz geringelte Strumpfhose machte alles nur schlimmer.
Kjell konnte sich herrlich unter nervösen Menschen entspannen. Die Vierzehn nach Fruängen hatte er ausgelassen. Als die Dreizehn nach Norsborg einfuhr, stieg er in den dritten Wagon des Zuges ein und spazierte ohne Eile bis zum letzten Abteil. Dort ließ er sich neben Theresa Julander in den Sitz fallen.
»Kluges Mädchen«, rief er gegen das Rattern des Zuges an. Auf Kjells Linie setzten sie noch die alten Wagen ein. Dahinter stand der Plan von Stockholms Lokaltrafik, ihn über die Jahre zu zermürben.
Auf Theresa war immer Verlass. Er hatte erst spät bemerkt, welch klarer Geist sich hinter ihren vollen Wangenknochen und unter der Lockenpracht verbarg.
»Ich bin komplett aus dem Rennen«, sagte sie. »Tholander schart jeden um sich. Alles läuft über die Spionageabteilung.«
»Hat Kullgren keine anderen Vertrauten?«
»Vergiss ihn. Tholander hat ein eigenes Drehbuch. Als hätte der nur auf seinen Einsatz gewartet.«
»Wieso war der überhaupt in der Gegengruppe?«
»Mir ist etwas eingefallen. Kullgren hat ihn wegen seiner Erfahrung dazugenommen. Das ist bei einer so dringlichen Sache ziemlich wichtig. Vor allem aber trieb er sich als Einziger während der Feiertage im Büro herum. Das schien irgendwie ganz natürlich, es passte zu ihm. Feiertage sind für ihn sinnloses Warten wie an einer roten Ampel. Wir haben uns nichts dabei gedacht, als er sich auf Sofi fokussierte. Sie war die einzige unklare Figur bei der Reichsmord. Nur sie warf Fragen auf.«
»Ist Kullgren ihm dabei gefolgt?«
»Er hat es durchaus ernst genommen, jedoch nicht zugelassen, dass Tholander sich auf sie stürzt. So richtig hat er nicht an Sofis heimliche Zweitrolle geglaubt.«
Der Zug fuhr in die nächste Station ein. Kjell zog ein Blatt Papier hervor. Es hatte in seiner Jackentasche ziemlich gelitten. »Das hier schon mal gesehen?«
Theresa nahm das Deckblatt des wissenschaftlichen Artikels.
»Sind über hundert Seiten. Alles Physik.«
»Hast du es Ida gezeigt?«, fragte sie.
»Sie nimmt es sich gerade vor, kann aber auf den ersten Blick nichts dazu sagen. Es hat nicht viel mit den Dingen zu tun, mit denen sie sich sonst beschäftigt, wenn man davon absieht, dass es ein Haufen Zahlen ist. Leider ist es das einzig Interessante auf Elins Computer. Und es muss sehr interessant sein. Tholander hat alles beschlagnahmen lassen.«
Theresa seufzte. Nicht einmal davon hatte sie etwas mitbekommen. Sie wedelte mit dem Blatt herum. »Sei dir da nicht zu sicher! Er weiß nicht viel, das meiste reimt er sich zusammen. Er besitzt eine reiche Einbildungsgabe, auch wenn er nicht so aussieht. Vielleicht macht er nur Theater, um Kullgren zu ersetzen.«
Daran glaubte Kjell überhaupt nicht. Er kannte Tholander zwar nicht, aber niemand, der ihn kannte, traute ihm Theater zu. Er steckte das Papier in die Tasche. »Gleich kommt meine Station. Ich melde mich, wenn ich etwas von Ida weiß.«
Theresa nickte.
Kjell steckte ihr einen Fünfhunderter in die Brusttasche. »Steig in Liljeholmen aus und nimm dir ein Taxi zurück in die Innenstadt.«

79

Henning hatte sich den Kopf zerbrochen, ob er hinunterstürmen sollte, um Lena Axelsson an der Rezeption abzuholen. Das schien ihm eine Nuance zu eifrig. Sie sich bis zum Schreibtisch bringen zu lassen, kam allerdings auch nicht in Frage. Ein guter Kompromiss war, im Flur zu stehen, wenn sich für Lena die Aufzugtür im Sechsten öffnete. Außerdem psychologisch geschickt.
Beeindruckt war Lena anscheinend nicht. »Ich habe noch versucht, einen Mitschnitt der Sendung aufzutreiben«, sagte sie beim Aussteigen. »Aber am Sonntagnachmittag erreicht man da keinen.«
»Das macht überhaupt nichts«, fand Henning. »Mir reicht es, wenn du es erzählst.«
Er führte sie durch den Gang bis in sein Büro. Die Wirkung der beiden Weihnachtskerzen hatte er mit seiner Schreibtischlampe etwas gemildert und zudem die Birne gegen eine schwächere ausgetauscht. Vorhin war ihm das Licht perfekt erschienen, nun kam es ihm so übertrieben vor, als hätte er ein Eisbärenfell auf dem Boden ausgebreitet.
Lena nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Sie wollte nicht mehr als ein Glas Wasser, was Henning als schlechtes Zeichen deutete.
»Habt ihr nur während der Sendung miteinander gesprochen?«, fragte er zur Einstimmung.
»Nein, man sitzt ewig im Hinterzimmer, bevor es losgeht. Zum Kennenlernen überlegt man gemeinsam, warum man zur Sendung eingeladen ist.« Lena wurde als Chefredakteurin anscheinend oft zu Sendungen im Radio und im Fernsehen eingeladen, aber bei Jon Ardelius war die Redakteurin sehr aufgeregt gewesen. Er galt als öffentlichkeitsscheu, und niemand hatte damit gerechnet, dass er ausgerechnet eine Anfrage von P1 annehmen würde. »Wir haben selbst mehrfach versucht, ein Interview mit ihm zu führen, zuletzt vor vier Jahren, als er den Abelpreis annahm, während er sonst alle Preise ablehnte.«
»Hast du ihn danach gefragt?«
»Er hat es in der Sendung offenbart. Die Anfrage zu dieser Sendung war die erste, bei der nicht seine Person als schrulliger Wissenschaftler das Thema sein sollte. Die Sendung heißt ›Philosophisches Zimmer‹, und das Thema der Diskussion war, ob es in unserer Zeit noch Wahrheiten gibt.«
»Das klingt nach Staatsrundfunk.«
»Haben wir uns auch gesagt. Ardelius sollte für die Wissenschaft sprechen, eine Theologin für die Religion. Ich war als Chefin von Schwedens langweiligster Zeitung eingeladen.«
»Das klingt noch mehr nach Staatsrundfunk.«
»Der erste Schock dann gleich in der ersten Sendeminute: Der Moderator fragt, warum er den Abelpreis annimmt, ein Jahr zuvor die Sonderauszeichnung der Fields-Gesellschaft jedoch nicht. Er habe auch den Abelpreis nicht gewollt, aber die sieben Millionen Kronen. Da wäre er doch blöd gewesen, wenn er die nicht genommen hätte.«
»War das nur eine Replik?«
»Da bin ich nicht sicher. Er wirkte nicht schlagfertig.«
»Das passt in das Bild, das wir von ihm haben.« Henning zog den Bogen Papier unter seinem Notizblock hervor. Darauf hatte Barbro alles skizziert, was sie bisher über Ardelius’ Unternehmergeist herausgefunden hatten. »Wir können leider seine Steuererklärung nicht einsehen, weil er im Ausland lebte, aber was er allein in Schweden verdiente, war nicht gerade wenig. Vom staatlichen Wetteramt hat er 35 Millionen für ein Computerprogramm bekommen, das die Strömung des Mälaren ausrechnet. Zehn Millionen stammen aus einem Verkehrsleitprojekt. Außerdem zwei Millionen Euro, also zwanzig Millionen Kronen, bei einem Projekt der Europäischen Union. Da geht es um Klimaerwärmung und ihre Folgen für die Landwirtschaft.«
Lena verschlug es die Sprache. »Klingt ziemlich geschäftstüchtig.«
»Finde ich auch. Seine letzte wissenschaftliche Veröffentlichung liegt elf Jahre zurück.«
»Man nimmt an, dass viele seiner Arbeiten aus seinen jungen Jahren stammen.«
»Woher weiß man das?«
»Er bewegt sich außerhalb des Stroms. Seine Themen waren vor zwanzig, dreißig Jahren aktuell. An aktuellen Trends nimmt er überhaupt nicht teil. Er muss sich damals einen Vorrat an Erkenntnissen angelegt haben, die er über seine Lebenszeit verteilt.«
Henning ließ seinen Sessel in die Mittagspausenposition zurückkippen und sah Lena an. »Ich würde es etwas anders formulieren. Ich glaube, er veröffentlicht nur das, was sich vorher nicht zu Geld machen ließ. Wie findest du das?«
Hennings Gedanke reichte noch viel weiter. Er war sich sicher, dass Ardelius gar keine Fülle von Entdeckungen zur Verfügung stand. Er forschte nicht am laufenden Band. Er hatte irgendeinen Trick, den er seit Jahren immer wieder aufwärmte und ständig neu zu Geld machte.
Lena konnte Henning bei seiner Vermutung nicht helfen. Deshalb bat er sie, weiter von der Sendung zu erzählen. Für den Moderator war es ziemlich schwierig gewesen, nahtlos von den sieben Millionen zum Thema der Sendung überzuleiten, der Frage nämlich, ob es heute noch Wahrheiten gebe.

80

Als sich die Aufzugtür öffnete, nahmen zwei Soldaten Tholander in Empfang. Ohne ein Wort folgte er ihnen bis zu der einzigen Tür in der Halle. Er musste alles ablegen, was elektrisch war. Sogar seine Brillengläser wurden durchleuchtet.
Tholander hatte den Generalmajor nie in einer Uniform gesehen. Er trug graue Geschäftsanzüge, wobei sich das Grau aus der Nähe als feines Muster aus schwarzen und weißen Linien entpuppte. Wie immer im Leben. Wozu sich so hübsch machen, wenn man am Ende aller Korridore sitzt, wunderte sich Tholander. Das galt auch seiner Sekretärin, die bei jedem seiner Besuche am Konferenztisch saß.
»Du bist jetzt der Chef des ganzen Ladens. Glückwunsch!« Der Generalmajor war aufgestanden, um Tholander mit einer einladenden Geste an den Tisch zu führen.
»Danke«, sagte Tholander gequält. Eigentlich hätte er lieber nur genickt. Er nahm Platz.
»Um welche Art von Problem handelt es sich?«
Aus irgendeinem Grund stand immer eine Vase mit Nelken auf dem Tisch.
»Um ein logisches. Kennt ihr den Bericht über den Vorfall heute Nacht?«
Der Generalmajor deutete ein Nicken an.
»Sofi Johansson war bei dem Einsatz dabei. Auf Seiten der Polizei.«
Der Generalmajor schob den Schreibblock ein Stück von sich weg. Eine Geste, die sogar Tholander verstand. »Willst du damit sagen, dass sie nicht die Frau sein kann?«
»Johansson stand oben am Fenster, als unten geschossen wurde.«
Der Generalmajor war wie Tholander ein Mann der Vernunft. »Sehen wir den Tatsachen ins Gesicht. Wir stehen wieder am Anfang.«