DONNERSTAG 27. DEZEMBER

27

Das Telefon piepste schon zum zweiten Mal in dieser Nacht. Hatte sie gerade geschlafen? Sie zweifelte daran. Mit dem roten Knopf brachte sie das Gerät zum Schweigen und glitt aus dem Bett. Beim ersten Mal war sie im Flur herumgewandert und hatte auf den Streamer gestarrt, der leise surrte und das Bild der Kamera draußen im Treppenhaus aufzeichnete. Doch geschehen war nichts. Frau Bergenström aus dem Dritten hatte den Fehlalarm ausgelöst.
Diesmal setzte sie sich lieber gleich auf den zotteligen Teppich und wartete. Ihr Blick war schräg auf den Briefschlitz gerichtet, bis sie gähnen musste. Da erst fiel ihr auf, dass das gelbe Lämpchen am Streamer gar nicht leuchtete. Sie schlich ins Schlafzimmer zurück und prüfte das Telefon. Der Anruf war gar nicht von der Kamera gekommen. Sofi hatte vergessen, ihr einen eigenen Klang auf ihrem Telefon zuzuteilen. Sie drückte auf Rückruf. Eine Männerstimme meldete sich.
»Sofi? Ich dachte, du schläfst.«
»Per?«
»Entschuldige die Störung. Bist du zu Hause?«
»Das bin ich.«
»Am besten ziehst du dich an und kommst her. Ich habe etwas, das du dir mal anschauen solltest.«
»Ich bin krankgemeldet. Vielleicht solltest du lieber Kjell informieren.«
»Ich bin oben bei der Sofiakirche.«
Sofi eilte hinüber in die Küche. Hinter dem Fenster begann gleich der Park, in dessen Mitte die Kirche stand. Der Park war nicht groß, aber so hügelig, dass sie die Kirche auch im Winter, wenn die Baumkronen kahl waren, nicht sehen konnte. »Was ist dort?«
»Lieber wäre mir, wenn du dich anziehst und herkommst.«
Um 5 Uhr 32 verließ Sofi das Haus. Eine unerwartete Klarheit schlug ihr ins Gesicht: Der Schnee fiel nicht mehr! Nach drei Tagen war der Himmel wieder nachtschwarz und die Luft kälter. Deutlich kälter.
Die Nachbarn würden sich freuen, wenn sie später aus dem Haus kamen und sahen, dass ihre Autos nicht nur unter einem Schneeberg lagen, sondern der Schneeberg nun auch noch festgefroren war, dachte Sofi und stapfte um das Haus. Der Park begann gleich hinter ihrem Küchenfenster mit einem steilen Hügel. Beim Hochklettern musste man sich mit den Händen abstützen und an den Sträuchern festhalten. Das erwies sich jetzt bei der Kälte und der gefrorenen Schneedecke als unangenehm. Noch unangenehmer war der rutschige Abstieg auf der anderen Seite. Ein zweiter Hügel stand ihr bevor. Dort oben sah sie bereits den angestrahlten Turm der Sofiakirche.
Mit schmerzender Lunge erreichte sie den Vorplatz und stockte. Während die Kälte in die Wangen zwickte, war sie unter der Kleidung ganz schön ins Schwitzen gekommen. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf und wedelte ein wenig mit dem Revers, bis ihr auffiel, dass sie noch ihren rosafarbenen Pyjama unter der Jacke trug.
Suunaat Kjærgaard saß in ihrem Wagen und machte sich im Schein der Deckenlampe Notizen auf ihrem Klemmbrett. Per Arrelöv trat mit zwei anderen Technikern und einer Frau aus einem dunklen Winkel und kam auf sie zu.
»Das ist Birgitta Romberg«, sagte Per.
Unter Birgittas Uniformmütze lugte fingerbreit ein blonder Haaransatz hervor.
Sofi streckte Birgitta die Hand hin. »Bist du von der Katarina-Wache?«
»Nein. Nachts sind wir von der Maria-Wache auch hier im Osten zuständig.«
»Birgitta ist von der Lokalen und war als Erste hier.« Per machte keine Anstalten, Sofi vorzustellen. Das hatte er wohl schon vor ihrer Ankunft getan. Er deutete zur Tür. »Geh allein rein und mach dir ein Bild.«
Offenbar hatte Per eigenmächtig entschieden, sie herzuholen, obwohl Birgitta hier das Sagen hatte.
»Brauche ich einen Anzug?«
»Geh einfach rein. Halt dich links.«
Sofi schwang langsam die Tür auf. Da nur jede dritte Deckenlampe brannte, lag das Innere der Kirche im Dämmerlicht, aber da Sofi oft zur Besinnung herkam, kannte sie den Raum gut. Sie hielt sich an Pers Anweisung und durchschritt die Kirche durch den linken Seitengang, den Säulen vom Mittelschiff abgrenzten. Es duftete nicht nach Kirche, nur nach kühler Luft. Das Holz der Verkleidungen war unheilig hell. Die Wände waren weiß ohne jeden Schmuck. Als sie die erste Säule passierte, entdeckte sie Pers Assistenten Lasse unter dem Kreuz auf dem Boden hocken. Er blickte durch den Sucher eines Fotoapparats. Das Quietschen ihrer Sportschuhe ließ ihn aufblicken. Er nickte ihr zu.
Hinter der nächsten Säule erkannte sie den Umriss eines Menschen. Es war eine Frau mit blondem Haar, die vor Lasse in der ersten Kirchenbank saß. Sofi tat noch einige Schritte. Eine junge Frau. Sie sah aus, als lauschte sie einer Predigt. Lasse setzte seine Füße ein Stück weiter und zog sein Gesäß über die Bodenfliesen nach, um einen neuen Winkel für das nächste Bild zu finden.
Sofi sank auf die Bank und betrachtete das Profil der Frau. Ihre Lider standen offen. Sofi suchte den Punkt, auf den sich die Augen der Frau richteten. Es war das Kreuz, aber woandershin konnte man auch kaum schauen. Sofi wurde vom Blitz an Lasses Kamera abgelenkt, oder eher von dem Umstand, dass die Frau davon nicht blinzelte.
»Es war Musik hier, vorhin«, murmelte Lasse.
»Was?«
Er streckte den Zeigefinger zur Decke. »Die Orgel hat gespielt.«
»Ah«, sagte Sofi.
Lasse versuchte stets, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Er hob an, wieder etwas zu sagen, aber Sofi hielt sich den Zeigefinger an die Lippen und umrundete die Tote in weitem Kreis. Die Frau war nicht älter als zwanzig. Ihr Haar konnte nicht von Natur aus so hell sein. Ein dunkler Ansatz schimmerte hindurch. Auch Brauen und Wimpern waren dunkel.
Sofi steckte ihre Hände in die Taschen und schritt auf den Ausgang zu. Draußen war die Zeit stehengeblieben. Die anderen verharrten in derselben Haltung wie zuvor.
»Cederström hat sich auf den Weg gemacht«, sagte Per und zog die Nase hoch.
Erst hatte sie einmal um die Kirche laufen wollen. Je schneller sie dachte, desto schneller wollte sie auch immer gehen. Doch die Erkenntnis hielt sie fest. Sofi stellte sich teilnahmslos zur Gruppe, wie man es nach Beerdigungsandachten so machte. Auch Suunaat kam vom Wagen hinzu. Der Schneeboden knirschte beim Auftreten nicht mehr wie in den letzten Tagen, sondern kratzte rau.
Birgitta hatte ein Klemmbrett vor den Bauch gedrückt und blätterte in den Seiten. Sie wollte gerade ihren Rapport beginnen, als die Scheinwerfer eines Autos in der Auffahrt auftauchten. Das Wimmern von Kjells französischer Karre hätte Sofi aus allen Motorengeräuschen der Welt herausgehört. Sie war nicht halb so alt wie ihr Mirafiori und dennoch ständig kaputt. Das Eis und die Steigung brachten den Wagen so ins Schlingern, dass die vier Wartenden bis zur Wand der Kirche zurückwichen. Kjell bremste mitten vor dem Eingang und sprang aus dem Wagen. Anscheinend hatte ihm Per am Telefon mehr verraten als ihr. Er stellte sich einfach zur Gruppe.
»Der Organist kam um Viertel nach drei«, begann Birgitta. »Und hat eine Stunde lang geübt.«
»Nachts?«, fragte Sofi.
Birgitta nickte. »Zur Zeit finden viele Konzerte und Messen statt. Die üben nachts. Die Bank war leer, als er kam. Entdeckt hat er sie danach. Man hört die Orgel draußen nur, wenn man dicht an der Kirche vorbeiläuft. Anscheinend kommen nicht selten Leute herein und hören zu. Er hat sich ein bisschen dumm angestellt und erst langsam kapiert, dass sie tot ist.«
»Obwohl ihre Augen offen stehen.«
Kjell mischte sich ein. »Sie ist also reingekommen, während er oben spielte?«
»Nein«, sagte Suunaat. »Sie ist nicht in dieser Stunde gestorben. Sie liegt bei minus acht.«
»Grad?«
Suunaat rieb sich mit dem Ärmel über ihre Nase. Für Überfluss hatte sie kein Verständnis.
Birgitta fuhr fort. »Wir haben eine Vermisstenanzeige vom letzten Freitag. Sie kommt von einer Frau, die angeblich ihre Nachbarin ist.«
»Wo wohnen sie?«
»Da hinten im Skrapan in der Götgatan. Sind beide Studentinnen.«
Das Hochhaus war von hier aus gut zu sehen. Es ragte aus dem sonst vierstöckigen Stadtteil Södermalm heraus und leuchtete in der Dunkelheit.
Sofi deutete mit dem Daumen zur Kirchentür. »Und sie ist es? Ist das bestätigt?«
»Etwas ist eigenartig: Die Frau, die sie als vermisst gemeldet hat …« Birgitta blätterte. »Astrid Blom. Sie hat als Ort des Verschwindens die Sofiakirche angegeben.«
»Am Freitag?«, unterbrach Kjell. »Das war doch der Einundzwanzigste.«
»Am frühen Abend.«
Die Blicke von Kjell und Sofi trafen sich. »Und jetzt ist sie wieder hier«, brummte er. Er schlug sich den Mantel enger um die Hüften und trat mitten durch die Gruppe hindurch auf die Tür zu.
Sofi wusste nicht so recht, ob sie ihm folgen sollte, und entschied sich dann, draußen zu warten. Per jedoch stürzte hinterher, als wäre ihm noch etwas Wichtiges eingefallen.
Sofi kniete sich nieder und knotete ihre vereisten Schuhbänder neu. »Wann wurde die Anzeige denn aufgegeben?«, fragte sie.
»Am 22. Dezember um 13 Uhr«, antwortete Birgitta. »Ich lese mal vor: Ich brach am 21. Dezember gemeinsam mit Judit Juholt - so heißt die Tote - auf, weil ich mir in einem Geschäft in der Bondegatan ein Sommerkleid kaufen wollte.«
»Sommerkleid?« Sofis Stimme zitterte vor Kälte. Sie hatte sich zu dünn angezogen und geriet langsam ins Schlottern.
»Moment bitte. An der Kreuzung Bondegatan und Renstiernas Gatan äußerte Judit Juholt den Wunsch, für einige Minuten zur nahen Sofiakirche gehen zu wollen. Sie würde bald ins Geschäft nachkommen. Ich solle mich schon einmal dort umsehen. Als das Geschäft um 18 Uhr schloss und Judit noch nicht gekommen war, ging ich zur Kirche. Doch Judit war nicht darin. Ich fragte den Pastor, den ich in der Vorhalle traf. Eine blonde Frau habe zehn Minuten zuvor noch in der ersten Reihe gesessen.« Birgitta wollte einige Zeilen überspringen, fand aber nicht, wonach sie suchte, und setzte den Bericht daher in eigenen Worten fort. »Astrid ist also nach Hause, hat bei Judit geklopft. Als auch am nächsten Morgen niemand öffnete, hat sie sich gedacht, dass Judit jemand getroffen haben muss und bei ihm geblieben ist. Die beiden wollten an jenem Morgen zusammen für eine Woche nach Tunesien reisen. Astrid ist zum Flughafen und wieder ausgestiegen, als alle Fluggäste außer Judit an Bord waren und das Flugzeug starten wollte. Sie ist dann zu Judits Zimmer im Skrapan zurück. Weil sie immer noch nicht öffnete, ging Astrid zur Katarina-Wache. Aber die konnten nicht viel tun. Das ist der Stand.«
Die Tür flog krachend auf. Kjell trat ins Freie.
»Sie wurde etwa zur gleichen Zeit lebendig am Fundort gesehen wie Elin Gustafsson an ihrem späteren Fundort«, berichtete Sofi.
Statt zu antworten, hielt er ihr ein Biopack vor das Gesicht.
»Das gleiche Amulett?«
»Sieh genauer hin.«
Sofi fuhr mit dem Finger über die Tüte, weil die Folie im Laternenlicht spiegelte. »Ein Davidsstern. Ein echter. Kann auch Zufall sein. Ein Davidsstern hat zwei Dreiecke, Elins Anhänger bestand aus dreien. Ist nicht dasselbe Motiv.«
»Aber etwas anderes. Komm, wir gehen ein paar Schritte.«
Kjell legte seine Hand auf ihre Schulter. Das tat er sonst nie. Als die Dunkelheit sie umschloss, blieb er stehen. »Es ist dir aufgefallen, oder? Das sehe ich dir an.«
Er war einen Kopf größer als sie. Deshalb musste sie zu ihm aufschauen. »Was denn?«
»Wir haben es mit demselben Regisseur zu tun. Für eine Leiche gibt es hundert Erklärungen, für zwei Leichen nur eine einzige. Ein Wahnsinniger ist am Werk.«
Zwei Leichen waren noch kein Wahnsinn, dachte Sofi. Als Mädchen hatte sie um ein Haar ihre Pflegeeltern mit dem Traktor überfahren, als sie Händchen haltend auf dem Acker standen. »Der Wahnsinn ist das Theater, die bühnenhafte Inszenierung.«
»Nein. Der Wahnsinn kommt erst: Elin Gustafsson saß vor meiner Haustür. Judit Juholt vor deiner. Am entgegengesetzten Ende von Södermalm.«
»Das soll die Verbindung sein?«, erwiderte Sofi. »Ich dachte an die Körpertemperatur und die Auffindesituation. Das gleicht sich.«
Kjell sah sie eindringlich an. »Minus acht Grad ist niedriger als die Außentemperatur. Was schließt du daraus?«
»Künstliche Kühlung?«
»Ja, und das Fundbild ist eine krankhafte Inszenierung.«
»Vor unserer Haustür, meinst du?«
»Wie zufällig kann das in einer Großstadt sein? Das Problem ist Linda. Sie meldet sich nicht mehr seit dem Einundzwanzigsten.«
»Was?«
»Wir haben letzten Freitag zuletzt telefoniert. Seit dem Weihnachtsabend versuche ich, bei ihr in Wien anzurufen. Nie geht jemand an den Apparat, nur einmal meldete sich eine Männerstimme.«
»Hast du es auf ihrem Mobiltelefon versucht?«
»Da läuft nur das Band. Ich wollte eigentlich gleich nach Wien fliegen. Jetzt muss ich es verschieben. Aber heute Abend oder morgen fliege ich. Alles andere ist mir egal.«
Sofi stand der Mund offen. Trotz der Kälte.
»Und bei dir?«
»Bei mir?«
»Ist irgendetwas Eigenartiges vorgefallen? Hast du jemand vor deinem Haus gesehen oder so etwas?«
»Nein. Gar nicht.«
»Wo warst du gestern?«
»Ich lag im Bett. Ich war ja krank.«
Kjell sah sie eindringlich an. »Wir können diese Sache nicht selbst klären. Ich habe eine Gegengruppe angefordert.«
Sofi nickte. Eine Gegengruppe war Pflicht bei der Reichskrim, sobald sich ein solcher Verdacht ergab. Bei den Abteilungen gegen organisierte Kriminalität wurden ständig Gegengruppen gebildet. Sie fror jetzt so sehr, dass ihr ganzer Körper bebte. »Wie willst du zwischen den Feiertagen eine Gegengruppe zusammenbekommen?«
»Theresa Julander. Sie hat sich auf den Weg gemacht.«
»Oh nein!«
Sie kehrten zu den anderen zurück.
»Sie kennt die Gruppe und steht etwas außerhalb.«
»Aber sie kann keine Ermittlung führen.«
Die Antwort erfuhr sie vor der Kirche. Die Gegengruppe war bereits eingetroffen. Und in der Mitte stand ihr Leiter. Trotz der frühen Stunde war Nils Kullgren der bestgekleidete Polizist in ganz Schweden. Eigentlich war er gar kein Polizist. Sein schwarzes Haar glänzte unter dem Licht der Laterne.
»Kullgren hat sich freiwillig bereiterklärt, die Gegengruppe zu leiten«, flüsterte Kjell.
»Freiwillig?«
»Ja, ich habe ihn angerufen, weil Reichskrimchefin Viklund im Urlaub ist. Da hat er sich selbst angeboten.«
Kjell und Sofi erreichten die anderen und nickten zur Begrüßung.
Nils Kullgren lächelte Sofi an. Der Leiter der Gegengruppe war der Chef der Sicherheitspolizei Säpo.

28

Kjell hatte sich mit der Stirn gegen das kühle Glas seines Bürofensters gelehnt. Er beobachtete drei Männer, die unten im Park das Bruchholz auflasen und es in einen Leiterwagen warfen. Seine Sorge um Linda hinderte ihn am Denken wie ein dicker Kopfverband.
In der Spiegelung des Fensters war Nils Kullgren zu sehen. Er stand seit zehn Minuten ohne jede Regung vor Kjells Wandkarte und starrte auf Södermalm, eine riesige, flache und von Wasser umgebene Raute. Zwei Nadeln markierten die Stellen. Die rote saß an der Westspitze, wo die Inseln Reimersholme und Långholmen wie versehentliche Kleckse an der Kontur von Södermalm klebten. An der Ostspitze, ganz am anderen Ende also, steckte eine blaue Nadel. Die Entfernung betrug 4,3 Kilometer.
»Der Täter tötet für die Inszenierung. Sonst hätte er seine Opfer vergraben oder irgendwo abgelegt.«
Kjell wandte sich um. Seine Stirn kitzelte von der Kälte. Kullgren hatte sich noch nicht gerührt. Seine Hände steckten in den Taschen seines Jacketts. Er war ein scharfer Geist, der in einem sanften Gemüt und einem schwarzen Anzug steckte. Nils Kullgren sah an jedem Tag gleich aus und wirkte in jeder Umgebung wie ein Schauspieler, der ohne jede Regieanweisung in einer Szene stand und einfach seine Standardrolle spielte. Kjell überlegte seit Jahren, ob Kullgren homosexuell war, aber dagegen sprach sein Umgang mit Sofi. Die beiden trafen nicht oft aufeinander, und dann aus Zufall. Dabei war Kjell aufgefallen, dass sich das Verhalten der beiden in diesen Momenten änderte. Sofi war frech zu ihm. Frechheit fand sich sonst nur in ihren Taten, in ihrem Umgang mit anderen aber nie. Kjell hätte tausend Kronen gegen Henning darauf gewettet, dass Nils Kullgren, der Chef der Säpo, Sofi Johansson seit Jahren im Rahmen seiner seelischen Möglichkeiten anhimmelte.
Vielleicht passte ihr Teint einfach gut zu seinen Anzügen.
»Also richtet sich der Täter mit seinen Inszenierungen an die Polizei«, fügte Kullgren nach einer Weile noch hinzu und legte die Finger ans Kinn. »Aber ob es sich speziell an die Reichsmord richtet?«
»Nun ja«, sagte Kjell. »Immerhin liegen die Stellen direkt neben unseren Wohnungen. Die Abstände stimmen beinahe auf den Meter genau überein.«
»Die beiden Punkte sind allerdings auch markante Stellen in ihrer Umgebung.«
Kjell putzte sich die Nase. Der kalte Morgen hatte ihm eine Erkältung beschert.
»Und beide Male war es erst Per Arrelöv, der euch hineingezogen hat«, fügte Kullgren als weiteren Einwand hinzu.
Darüber hatte Kjell den ganzen Morgen nachgedacht. »Es hätte natürlich sein können, dass Per mich nicht anruft, um mich um einen verrückten Gefallen zu bitten.«
»Dann wäre die Sache gar nicht bei euch gelandet, sondern bei der Stockholmer Polizei.«
Kjell schüttelte den Kopf. »Nur in der ersten Nacht. Die Körpertemperatur und der Rollstuhl wären auch der Lokalen aufgefallen. Und an den Weihnachtsfeiertagen landen alle unklaren Fälle bei uns, während sich die Lokale an Selbstmordversuchen und Familienstreitigkeiten abarbeitet. Das ist seit den Siebzigern so.«
»Hätte man vielleicht abschaffen sollen«, fand Kullgren.
Diese Bemerkung passte zu ihm. Er war selbst vergangenheitslos und vor sechs Jahren aus dem Nichts aufgetaucht, um Generaldirektor und Chef der Sicherheitspolizei zu werden. Davor hatte er im Nahen Osten gearbeitet; es ging das Gerücht um, beim Mossad selbst. Als das Zeitalter der Terrorbekämpfung anbrach, hatte seine Heimat jemand zum Direktor der Säpo berufen, der sich mit Terror auskannte.
»Wenn sich die Tat gegen euch richtet, dann muss man genau planen, alle Bedingungen schaffen, damit der Fall auch bei euch landet. Die zweite Leiche könnte eine Verdeutlichung sein. Als wollte der Täter damit die Pointe der ersten Tat erklären.«
Darüber wäre Kjell erleichtert gewesen. Er hatte die Pointe verstanden, was eine dritte Leiche unnötig machte. »Leider sind beide Frauen zu etwa derselben Zeit verschwunden, am 21. Dezember gegen 18 Uhr.«
»18 Uhr 04.«
»Wieso?«
»Da fand in diesem Jahr die Wintersonnenwende statt.«
»Woher weißt du solche Sachen?«
»Es ist in meinen Kalender gedruckt, wie auch die Mondphasen.«
»Und was bedeutet es?« Kjell deutete seine Entdeckungen zu Odin und seinem Auge an. Vielleicht etwas Heidnisches.
Kullgren schüttelte den Kopf. »Es zeigt nur die Zwanghaftigkeit des Täters. Er plant minutengenau.«
»Da läuft die ganze Zeit eine Inszenierung, aber erst jetzt verstehen wir es.«
Kullgren wandte sich endlich von dem Stadtplan ab. »Ich lasse von mir hören.«
»Was auch immer hier geschieht, um acht Uhr fliege ich nach Wien«, rief Kjell ihm hinterher.
Kullgren nickte und verschwand. Eine junge Frau mit sehr kurzen Haaren steckte den Kopf herein. Kullgren musste ihr beim Hinausgehen die Tür aufgehalten haben. »Der erste Bericht von der Technik. Ich habe die Gesprächsliste für das Telefon.«
Auf dem Besucherstuhl lagen alte Akten, eine leere Pralinenschachtel und Kjells Turnschuhe. Er hob das ganze Arrangement beiseite, damit sie sich setzen konnte.
»Die amerikanischen Nummern sind allesamt Anrufe an Judit Juholt«, begann sie. »Sie kommen immer von einem anderen Anschluss.«
»Ihre Familie lebt dort.«
»Meist sind es Hotels.«
»Judit Juholt hat also selbst nicht nach Amerika telefoniert?«
Sie nickte. »Aus Amerika wurde sie stets angerufen. Ihre Gesprächspartner in Stockholm rief sie dagegen auch selbst an.«
Die Liste von Judits Telefonaten und Textnachrichten besaß einen enormen Umfang. Gelinde gesagt. Zwar umfasste sie nicht nur die ausgehenden Telefonate wie bei einer Telefonrechnung, sondern auch alle Eingänge, aber die machten den weitaus größeren Anteil aus. Ganz im Gegenteil zu Elin Gustafsson hatten Judit Juholt viele Menschen etwas mitzuteilen gehabt. Und im Gegenteil zu Elin war ihr Äußeres das, was man landläufig als frisch bezeichnete. So einfach war das.
Kjell war immer noch nicht mit dem Durchblättern fertig. »Was bedeuten die bunten Markierungen?«
»Die gelb angestrichenen Nummern gehören zu einem Tonstudio in Södermalm. Sie machen beinahe die Hälfte aller Anrufe aus. Die grünen Nummern stammen von einem Mobiltelefon. Es gehört einem der Mitinhaber des Studios. Er heißt Malte Fluvbjerg.«
»Wie alt ist der?«
»1979 geboren, in der Nähe von Malmö.«
»Wir suchen nach einem Mann im fortgeschrittenen Alter.«
»Es gibt dennoch etwas.« Die Technikerin zog Kjell die Liste aus der Hand und blätterte darin. »Siehst du diese Nummer hier, die rot angestrichene? Das Gespräch fand am 19. November statt und dauerte drei Minuten.«
Kjell beugte sich vor und las die Nummer. Aber er kannte sie nicht.
»Das ist die Nummer des Telia-Ladens am Ringvägen. Judit hat dort angerufen.«

29

Es wurde gerade zwölf, als sich die Tür des Fahrstuhls im zweiundzwanzigsten Stock des Skrapans wie ein Theatervorhang öffnete und Barbro Setterlind die Szene betrat. Henning saß auf dem Boden des Treppenhausflurs, den Rücken hatte er an die Wand gelehnt und seine Beine ausgestreckt. Er betrachtete eine offene Wohnungstür, aus der ein verzerrtes Dreieck aus fahlem Sonnenlicht auf ihn fiel. Neben ihm hatten die Tatorttechniker Kisten und Koffer abgestellt.
Früher hatte die Finanzbehörde in diesem Hochhaus gearbeitet. Es war das einzige in Södermalm. Nach dem Auszug war ein findiger Geist auf die Idee gekommen, es in ein Wohnheim für Studenten zu verwandeln. Mit winzigen Apartments.
»Wo ist Sofi?«, fragte Barbro und stellte das Papptablett aus der Konditorei neben Henning auf den Boden.
Er machte sich gleich daran zu schaffen. »Im Haus unterwegs. Kjell ist im Büro.«
Dass Henning hier draußen auf dem Fußboden herumlungerte und den Technikern im Apartment beim Arbeiten zusah, passte zu seinem Savoir-vivre. Er hatte seinen Streifzug durch die Wohnung beendet, steckte aber noch im Schutzanzug. Nur sein Gesicht lugte heraus.
Barbro schob den von den Technikern über die Tür geklebten Plastikvorhang zur Seite und spähte durch den Spalt. Das Rascheln der feinen Folie ließ die vier Personen aufschauen.
»Es gibt Torte. Weihnachtstorte.«
Per, Jenna und zwei Techniker, deren Namen Barbro nicht kannte, traten einer nach dem anderen durch den Vorhang und lockerten die Gesichtsöffnung ihrer Overalls, die nur Augen und Nase freiließen. Schweigend nahmen sie von Barbro je ein Pappschälchen in Empfang und begannen zu essen.
»Holt ihr jetzt auf, was ihr am Strandbad verpasst habt?«, erkundigte sie sich und deutete auf die Kisten.
Es wurde zunächst weiter geschwiegen. Neben dem Sahneidyll lag es auch daran, dass die Techniker während ihrer Arbeit so gut wie nie sprachen.
»Wir nehmen fast alles mit zum Bedampfen«, murmelte Per. »Kjell will es so.«
Barbro spähte noch einmal durch den Vorhang. Das Apartment war nicht größer als zwanzig Quadratmeter. Eine Seite bestand nur aus Fenstern. Der Ausblick war wunderbar.
Barbro wandte sich an Per. »Ist das da hinten die Ostsee?«
Wegen der dummen Frage ließ er seine Plastikgabel sinken. »Da in der Kiste sind noch Anzüge. Wenn du dich umsehen willst.«
Wie das Schicksal so spielte, trug Barbro einen Rock. In Windeseile tauschte Barbro den Rock gegen den Overall. Per wollte kein Detail verpassen und schob sich dabei Sahnetorte in den Mund.
Barbro trat durch den Vorhang. Die Wand rechts bestand aus einer Küchenzeile, die Per mit seinem Grafitpulver verschmiert hatte. Es roch nach Lauge.
»Baut ihr die Schranktüren auch ab?«, rief Barbro hinaus in den Gang.
»Ja«, rief jemand.
Links ließ das Bett nur Platz für einen Schreibtisch. Die Matratze befand sich auf Höhe von Barbros Schultern und war über eine Leiter zu erreichen. Der hohe Bettkasten hatte Schranktüren und diente als einziger Stauraum in der Wohnung. Das war fein. Wenn man im Bett lag, konnte man wunderbar aus dem Fenster schauen. Genau im Zentrum des Ausblicks nach Süden lag die Sofiakirche. Der Hügel, auf dem sie stand, und das Grün von Vita Bergen darum herum hoben die Kirche aus dem Bild hervor.
Barbro kehrte zu den anderen zurück und zog sich wieder um. »Der Davidsstern ist nicht nur Schmuck. Judit scheint tatsächlich Jüdin zu sein. Der Vater heißt Efraim. Aber der Ausblick hier erklärt vielleicht, warum sie in der Sofiakirche war.«
»Darauf sind wir auch schon gekommen«, murmelte Henning. Seine Stimme klang, als wäre er gerade erst aufgewacht.
Barbro setzte sich neben ihn. »Die Sache mit ihrer Herkunft ist geklärt. Die Familie Juholt ist seit mindestens vierhundert Jahren in Schweden. Judits Vater ist in den Siebzigern nach New York gegangen, um Cello zu studieren. Er ist dort geblieben und spielt in einem Streichquartett.«
Per nickte. »Beethovens frühe Streichquartette. Die höre ich immer im Transit.«
»Hat Beethoven etwa zu jeder Tageszeit Streichquartette komponiert?«, wollte Henning wissen, bevor er sich dem letzten Abschnitt seiner Sahnetorte zuwandte. »Die Eltern müssen ganz schöne Streber sein, wenn sie ihrem Kind einen Namen gaben, der mit dem gleichen Buchstaben beginnt wie der Nachname. Das riecht nach zwanghaftem Planen.«
Barbro hatte am Morgen Judits Musikprofessor aufgesucht, einen vierzigjährigen Zwerg aus Finnland, der auf die Nachricht von Judits Tod kaum etwas zu sagen gehabt hatte. »Dass ihre Eltern Berufsmusiker sind, erklärt auch, warum Judit Bratsche spielt und nicht Geige. Zu einem so seltenen Instrument kommt man meist, wenn die ganze Familie musiziert. Die Mutter ist Amerikanerin und Geigerin. Judit hat eine ältere Schwester, die ebenfalls geigt. Da blieb ihr nur die Bratsche.«
Judit Juholt war bis zum Vorspielen an der Hochschule nie in Schweden gewesen. Wahrscheinlich hatte sie hier studieren wollen, um das Land ihres Vaters und seiner Vorfahren kennenzulernen und sich dem Elternhaus zu entziehen. Neben der amerikanischen Staatsbürgerschaft besaß sie auch die schwedische, doch Schwedisch hatte sie bei ihrer Ankunft nur leidlich beherrscht, inzwischen allerdings fließend.
»Wie kommst du auf Bratsche?«, fragte Henning. »Nach unserer Erkenntnis war sie Schlagzeugerin.«
Die Technikerin Jenna deutete mit vollem Mund zur Tür. »Im Schrank unter dem Bett liegt ein großer Geigenkasten. Aber da sind wir noch nicht.«
»Wie kommt ihr denn auf Schlagzeug?«, fragte Barbro.
Henning rappelte sich vom Boden auf und klopfte den Staub von seiner Hose. »Das behauptet das Mädchen, das die Vermisstenanzeige aufgegeben hat.«

30

Astrid Bloms Erzählstrom brach ab, als sie die Metalltür aufwuchtete und ihnen kühle, staubige Kellerluft entgegenschlug. Sie tastete nach einem Lichtschalter.
Sofi konnte nicht erkennen, welche Ausmaße der Keller hatte. Immer neue Reihen von Lichtröhren flackerten auf.
»Die Jungs spielen hier nachts gerne Fußballturniere«, kommentierte sie die endlos scheinende Weite. »Hier war früher das Aktenarchiv der Finanzdirektion. Bisher haben sie es nicht geschafft, den Keller zu vermieten, deshalb dürfen wir hier unten einige Abteile benutzen.«
»Ist das nicht bedrückend?«, fragte Sofi und trat zögernd ein. »So ein Gewölbe unter einem riesigen Turm?«
Astrid legte den Kopf in den Nacken. »Na ja, er steht seit einem halben Jahrhundert. Wird wohl nicht einstürzen, während ich gerade hier unten bin. Die Abteile sind dort hinten.«
Sie liefen los.
»Darf hier jeder rein?«
»Auf keinen Fall! Nur vier Bewohner haben einen Schlüssel. Die anderen haben keine Abteile und dürfen nicht rein. Deswegen sind wir sehr beliebt.«
Am anderen Ende wartete eine Reihe aus Metalltüren wie in einem surrealistischen Theaterstück, wo sich der Held für das richtige Schicksal entscheiden muss und dann das Verderben oder die Kammer mit den Krokodilen erwischt.
»Da haben die Geschäfte im Parterre ihre Lager, und dort Björn Borg. Der hat ganz oben sein Büro.«
»Archiviert er da all seine Stirnbänder?«, fragte Sofi, und Astrid grinste.
»Das da ist mein Werkraum, und gleich daneben liegt Judits Kammer. Ich muss den Schlüssel dafür aus meiner Kammer holen.« Astrid schloss ihre Tür auf. Sie studierte Möbeldesign und hatte in ihrem Abteil eine Werkbank und Sägen stehen. Ihre Wohnung lag im neunten Stock und wies nach Norden. Bei sechshundert Studenten im Haus wäre sie Judit wohl nie über den Weg gelaufen, wenn die beiden hier unten nicht einsame Nachbarinnen gewesen wären.
Auf der Werkbank stand ein unvollendeter Stuhl, der nur aus kompliziert gewölbten Flächen bestand. Sofi seufzte. Ein Werkraum mit Schraubstöcken war genau das, was ihrem Leben fehlte.
Astrid zog eine lange Metallschublade auf und kramte zwischen Zangen und Schraubenziehern nach dem Schlüssel. »Wie gesagt, wir kannten uns noch nicht lange. Ich bin schon seit meinem Einzug hier unten, Judit hat ihr Abteil seit fünf Monaten. Sie spielt meist am Abend oder in der Nacht, deshalb sind wir uns nur begegnet, wenn ich mal sehr lange hier unten war.«
Judits Raum war nicht halb so groß wie der von Astrid und enthielt nur ein riesiges Schlagzeug, das grün im Halbdunkeln funkelte. Neben dem Schemel stand ein Tischchen mit einer Stereoanlage darauf. An den Wänden klebten Schaumstoffmatten, die den Schall schlucken sollten. Sofi wunderte sich über die Dämmung, wo doch die Kammer so tief unter den ersten Wohnungen lag.
Astrid eilte zum Schlagzeug, setzte sich und griff nach den Stöcken. Sie spielte einen einfachen Rhythmus, der Sofi verdeutlichte, wie laut ein Schlagzeug tatsächlich war. Nach wenigen Takten geriet Astrid aus dem Takt, schlug aufs Becken und legte die Stöcke beiseite. »In der letzten Woche habe ich zum ersten Mal gespielt. Judit hat es mir gezeigt. Sie spielte selbst noch nicht so lange, sagte sie. Aber dafür unglaublich gut.«
»Warum wollte sie mit dir in den Urlaub fahren? Ihr kanntet euch doch kaum.«
»Das habe ich mich auch gefragt. Sie war ganz schön beliebt, glaube ich. Immerhin hat sie oft Leute mit hierhergebracht. Vielleicht wollte sie mal mit jemandem zusammen sein, der nichts mit Musik zu tun hat.«
»Waren die anderen Musiker?«
»Sie sahen so aus. Ein Jüngerer war ständig hier. Seine Stimme habe ich manchmal durch die Wand hindurch gehört. Der ist auch Schlagzeuger, weil er selbst gespielt hat. Neulich war ein Älterer zu Besuch. Der war bestimmt auch Musiker, weil er einen Hut trug.«

31

Das Tonstudio lag in einem Keller nahe der Södra Station. Kjell traf mit einer Viertelstunde Verspätung ein und verpasste so, wie Malte Fluvbjerg auf die Nachricht reagierte. Weil es hier unten außer einem Sofa keine Möbel gab, wirkte der Raum größer, als er in Wahrheit war. Auf dem Sofa waren Barbro und Henning tief in das zerschlissene Polster eingesunken. Malte Fluvbjerg saß auf einem Bürostuhl, der unter der Last seines wuchtigen Körpers hin und wieder ächzte. Er hatte sich so hingesetzt, dass er seine Ellenbogen auf die Lehne aufstützen und die Polizisten erwartend anstarren konnte.
Dieses Arrangement behagte Kjell überhaupt nicht. Man konnte den Eindruck bekommen, Malte stellte hier die Fragen, während Henning und Barbro brav darauf antworteten. Kjell setzte sich dicht neben Barbros rechter Schulter auf die Lehne. So konnte er von oben herab auf ihren Notizblock schielen und Malte im Auge behalten, während Barbro unbeirrt mit ihren Fragen fortfuhr.
Aus ihrer Handschrift, die für keine Tagesform anfällig war, erfuhr Kjell, dass Malte nicht mit Entsetzen auf die Nachricht von Judits Tod reagiert, sondern seine Faust gegen die Wand gedroschen und ›Verdammt!‹ gebrüllt hatte.
Sonst lachte er viel, das sah man seinem Entsetzen an. Er war offen und gierte danach, alles zu erfahren, während sich die meisten Menschen in dieser Lage zunächst verschlossen und mit ihrer eigenen Starre beschäftigten. Ihren Notizen nach hatte Barbro ihn bereits nach seinem Alibi gefragt. Es ließ sich nur nicht entziffern. Von Elin Gustafsson hatte Malte nie gehört.
An allen Wänden ragten Schallzapfen in den Raum. Die geladene Luft kitzelte in der Nase. Kjell zog ein Taschentuch hervor.
Das ließ Barbro mit ihren Fragen innehalten.
»Gehört euch beiden das Studio?«, erkundigte sich Kjell.
Malte warf einen Blick über seine Schulter. Am anderen Ende des Raumes war ein blonder Mann damit beschäftigt, auf dem Boden verstreute Kabel aufzuwickeln. »Wir sind zu dritt«, erklärte Malte. »Sven ist der Tontechniker, und ich bin der Aufnahmeleiter. Karla macht oben das Büro. Die hast du ja gesehen.«
Barbro kam wieder auf Judit zu sprechen. »Wann habt ihr euch kennengelernt?«
»Und vor allem wie?«, fügte Henning hinzu. Er fühlte sich auf dem Künstlersofa sichtlich wohl.
Malte fuhr sich durch sein Haar. Es war braun, reichte ihm fast bis zu den Schultern und musste gewaschen werden. »Im Snaps.«
Das war allerdings peinlich.
»Am Medborgarplatsen?«
»In der Frühlingszeit im letzten Jahr. Sven war auch dabei. Wir kamen vom Studio und sind dort gestrandet. Sie war mit einer größeren Gruppe da. Die waren alle von der Musikhochschule, glaube ich.«
»Und es war Liebe auf den ersten Blick?«, fragte Barbro.
Dieselbe Frage schoss auch Kjell durch den Kopf. Bilder von Judits Wohnung deuteten auf eine Ordnungsliebe hin, die sich an Maltes Anblick stören musste.
Sven trat zu ihnen. »Malte sah genauso aus wie jetzt. Hattest du nicht sogar dasselbe T-Shirt an?« Malte zupfte an dem schwarzen Stoff herum. »Judit war damals nicht, wie sie jetzt ist«, fuhr Sven in ernstem Ton fort. »Sie trug eine weiße Bluse und einen Pferdeschwanz.«
Malte nickte heftig. »Ja, sie war ziemlich … nicht gerade spießig, aber förmlich. Wir haben uns den ganzen Abend gestritten. Ich habe versucht, ihr klarzumachen, wie unglaublich gut das Drummen ist.«
»Moment«, unterbrach Barbro. »Da hatte sie also noch nie gespielt? Auf einem Schlagzeug?«
»Nein, da war sie gerade erst nach Stockholm gekommen.«
»Und hat Viola gespielt?«
Malte nickte. »Ihre Ansichten über moderne Musik und vor allem über das Drumming waren ziemlich verächtlich.«
»Wollte sie dich necken?«
»Nein. Das kam von ihrer Erziehung. Ihre Eltern sind sehr ernste Leute mit einer festen Meinung, die sie wiederum von ihren Eltern geerbt haben. Sie fand Drumming unmusikalisch. Erst einige Wochen später habe ich sie überreden können, es mal zu versuchen.«
»Da wart ihr schon zusammen?«
»Ja. Es war nachts, und wir waren nackt. Ich habe ihr ein einfaches Muster vorgespielt, und sie hat es nachgespielt.«
»Und da hat sie ihre Verachtung abgelegt, mit einem Schlag sozusagen, und mit dem Schlagzeugspielen angefangen?«
»So war es ganz und gar nicht. Die hat sie eigentlich nie abgelegt. Ich musste sie anheizen, damit sie spielte. Erst einige Wochen später ist es zum ersten Mal passiert, dass sie von allein gespielt hat.«
»Warum wolltest du das denn überhaupt?«
Malte grinste. »Sie war beim ersten Mal schon sehr gut. Sie konnte jedes Muster nachspielen, das ich ihr zeigte. Es war immer schwer, sie zum Spielen zu bringen, aber sobald sie angefangen hatte, war sie nicht mehr zu halten. Lange ahnte sie nicht, wie viel Talent sie hat, und glaubte, das Drummen sei einfach kinderleicht.«
»Ihr Professor an der Musikhochschule behauptet, dass sie ihr Studium sehr vernachlässigt hat.«
»Sie hat alles vernachlässigt, seit sie richtig übte.«
»Auch eure Beziehung?«
»Nein.«
»Ihr wart also ein glückliches Paar?«
»Wir hatten nur eine Affäre in den ersten Wochen. Ich wollte nicht, dass sie meine Hand hält. Ich wollte, dass sie spielt.«
»Okay«, sagte Barbro und seufzte. »Sie war also richtig gut?«
»Wollt ihr es hören?«
Barbro, Henning und Kjell nickten dreieinig. Malte verließ den Raum und tauchte am Mischpult hinter der Trennscheibe wieder auf. Eine elektrische Gitarre setzte ein mit einer schnellen Folge monotoner Quarten. Es sollte klingen, als spielte sich der Gitarrist zu Beginn des Liedes lässig ein. Nach einigen Takten setzte der Bass auf dieselbe Weise ein. Noch ein wenig später folgte das Schlagzeug. Judit begann mit Schlägen auf das Becken und setzte dann voll ein.
Kjell richtete sich auf. Erst kam es ihm so vor, als läge es an den besonderen akustischen Eigenschaften dieses Raums, dass Judit klang, als schlüge sie ihm direkt auf das Trommelfell. Es musste jedoch an ihr liegen, denn die anderen Instrumente klangen normal. Jeder Schlag war wie ein Knall. Das Gleichmaß ihres Spiels, das sehr schnell, aber ohne Eskapaden war, sorgte dafür, dass man das Schlagzeug wohl auch dann als dominierend empfunden hätte, wenn man von Judit nichts wusste und das Lied ganz unvoreingenommen anhörte.
Nach vier Minuten endete es. Die Stille im Raum knackte und knisterte. Kjell war bewegt. Er liebte es, wenn normale Dinge, denen er bislang keine Beachtung geschenkt hatte, plötzlich ganz neu klangen. Henning warf einen Blick über seine Schulter und suchte Augenkontakt. Ihm war anzusehen, dass auch er an Elin Gustafsson gedacht hatte, an die enorme Diskrepanz zwischen den beiden toten Frauen.
Barbro räusperte sich. »Wie lange und wie viel muss man üben, um so spielen zu können?«
Malte zuckte mit den Achseln. »Ich übe seit siebzehn Jahren sechs Stunden am Tag und kann nicht so spielen.«
»Es ist nicht die Technik«, sagte Sven, der für differenzierte Urteile der bessere Ansprechpartner war. »Bei ihrem Talent hat sie die motorischen Fähigkeiten sehr schnell entwickelt. Es ist die Totalität, mit der sie in die Sache reingeht. Das macht Drumming auf diesem Niveau aus. Ihre Drums sind immer da und treiben die ganze Zeit an, in jedem Augenblick. Pamm, pamm, pamm! Sie spielt nicht mit, sondern voraus. Die Band ist ziemlich gut und kommt gerade groß raus. Aber die Typen hatten wahnsinnige Mühe, ihrem Going-Straight standzuhalten.«
Malte lachte. Das Zurückstreichen der Haare war eine ständige Geste an ihm. »Judit ist nur eingesprungen. Am Anfang waren die ziemlich sauer, weil niemand eine Frau an den Drums haben will. Eine der wenigen Wahrheiten im Musikbusiness ist, dass Frauen nicht drummen können. Wie die Drummerin von Lenny Kravitz. Die schwingt mit Unterarmen und Schultern, als wäre sie auf dem Tennisplatz.«
»Bei ihr ist es Absicht«, wandte Sven ein. »Kravitz will das so. Das habe ich dir schon tausend Mal erklärt!«
»Sieht trotzdem schlimm aus.«
»Spielte Judit etwa nicht so?«, fragte Kjell, damit die beiden nicht über die Schlagzeugerin von Lenny Kravitz in Streit gerieten.
»Nur mit den Fingern, wie es sein muss!« Malte führte die Fingerbewegung vor. »Nach acht Stunden hat sie noch wie ein verdammtes Metronom gespielt. Das ist mir schon in der ersten Nacht aufgefallen.«
Henning war immer tiefer ins Polster gerutscht und richtete sich auf. »Ihr findet also, dass sie zum Trommeln geboren war.«
»Nicht bloß wir«, erwiderte Sven. »Sie hat von überallher Angebote bekommen. Lest mal die Kritiken zu diesem Album. Die sprechen nur vom Drumming.«
»Es war, als hätte uns das Schicksal zusammengeführt, damit sie mit dem Drummen anfängt. Versteht ihr?«
Die drei nickten.
Henning drehte sich zu Kjell. »War es mit dir und deiner ersten Frau nicht ähnlich? Madeleine war doch auch bei der Polizei.«
»Nur mit einem kleinen Unterschied«, antwortete Kjell, ohne Henning eines Blickes zu würdigen.
»Dass du bei deinem ersten Einsatz als Bulle nicht nackt warst?«
»Ganz recht.«
Malte blickte fasziniert zwischen Henning und Kjell hin und her. »Ihr drei seid echt funky, wisst ihr das?«
Helles Tageslicht drang auf einmal in den Raum. Alle wandten sich zur Tür. Hinter Karla, die oben im Büro arbeitete und Besucher einließ, erkannte Kjell den Umriss von Sofi Johansson im Gegenlicht. Ihr folgte eine weitere Gestalt. Sie nickte und ging geradewegs auf Malte zu, den sie anscheinend kannte. Das musste Astrid Blom sein, die Freundin von Judit. Sofi hatte sich um sie gekümmert und wirkte jetzt ein wenig überflüssig neben den beiden. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, dachte Kjell schon wieder. Von ihrem gewohnten ›Going-Straight‹ keine Spur, als säße sie seit Tagen auf einer stumpfen Rutschbahn.
»Wieso habt ihr so lange gebraucht?«, fragte Barbro und stemmte sich ebenfalls aus dem Sofa.
»Wir kommen vom Zeichner«, sagte Sofi und entrollte die Zeichnung vor Barbros Augen.
Sie zeigte einen Mann im fortgeschrittenen Alter, der einen Hut trug.
»David Bowie!«, entfuhr es Barbro. »Der sieht aus wie der Kerl aus dem Telia-Laden!«

32

Sofi stand am Fenster von Judits Wohnung. Ihre Stirn klebte an der großen Scheibe, damit sie die Tiefe besser betrachten konnte. Dort hatte sich eine blaugraue Nachmittagsdüsternis über die Dächer und Straßen gelegt. Die Laternen sprangen an, aber zu ihrem Erstaunen nicht im ganzen Stadtteil zugleich. Wenn sie den Blick hob, sah sie die Sonne noch über dem Horizont im Süden. Der Anblick des fernen Tageslichts blieb allen anderen Menschen in Södermalm versagt und war für die Leute da unten schon das Gestern.
»Die Sonne gleicht einer Unterwasserlampe im Schwimmbad«, murmelte sie. Ein Schimmer aus kaltem Gelb und Blau. Ihr eigenes Haus war von hier nicht zu erkennen. Es verbarg sich hinter dem letzten Hang von Vita Bergen. In ihrer Küche herrschte um diese Uhrzeit längst völlige Dunkelheit.
»Keine besondere Spur«, sagte Kjell unter der Deckenlampe in der Mitte des Zimmers. Dort stand er nun schon seit einer Viertelstunde und betrachtete die Spurenskizze.
»Das muss gar nichts bedeuten«, murmelte Sofi wieder, ohne ihren Blick von der Sonne zu lösen. »Das weißt du.«
Kjell begann, hinter ihrem Rücken herumzugehen. »Ich sage es nur. Damit ich es nicht vergesse. Weder hier noch in der Kirche gibt es die geringste technische Spur.«
Kjell wollte sich und ihr offenkundig keinen Moment der Ruhe gönnen. Seit Per am frühen Morgen angerufen hatte, war sie auf den Beinen und hatte so gut wie nichts gegessen.
»Ist dir inzwischen etwas eingefallen?«, fragte die Stimme von Kjell.
Er war plötzlich aus der Spiegelung verschwunden. Deshalb wendete sie sich wieder dem Zimmer zu.
»Was meinst du?«
»Am Morgen habe ich dich gefragt, ob bei dir irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen ist. Und seitdem habe ich dich noch zweimal danach gefragt, einmal um zehn Uhr und dann um halb eins.«
»Ich überlege noch. Genau wie um halb eins.« Sofi sah überhaupt keinen Grund, von den Briefen zu erzählen. Sie hatte den ganzen Morgen darüber nachgedacht und war sich sicher, dass die Briefe auf einem anderen Gleis ihres Lebens lagen, dem Privatgleis nämlich. Und falls sie wider alle Wahrscheinlichkeit doch zum Fall gehörten, hatte sie alle Vorbereitungen getroffen und musste bloß darauf warten, dass der Verfasser die Kamera auslöste, wenn er zum dritten Mal bei ihr aufkreuzte.
Kjell setzte sich auf die Bettkante. Die Matratze war bereits im Labor. »Bist du bereit?«
Sofi nickte und drehte sich wieder zur Aussicht.
»Was ist geschehen?«, begann er.
»Zwei Frauen, die erste Ende, die andere Anfang zwanzig, verschwinden etwa zur gleichen Zeit am frühen Abend des Einundzwanzigsten aus einer besonderen Situation ihres Lebens und tauchen einige Tage später in derselben Situation wieder auf. Als Leichen.«
»Eine besondere Situation? Man kann eher von einer Szene sprechen.«
»Vielleicht.«
»Was sind das für Situationen?«, fragte Kjell.
»Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach. Ich frage mich, wie typisch sie für das Leben der beiden Frauen waren.«
»Und zu welchem Ergebnis bist du dabei gekommen?«
»Judit Juholt ist Jüdin. In der jüdischen Gemeinde kennt man sie nicht. Vielleicht ist die Familie nicht religiös. Judit hat also kein Problem damit, eine Kirche aufzusuchen.«
»Und was sucht sie dort?«
»Einkehr.«
»Kontemplation?«
»Das ist meine Theorie«, sagte Sofi. »Ich gehe selbst manchmal in die Sofiakirche, obwohl ich Katholikin bin.«
»Im Ernst?«
»Das weißt du doch.«
»Dass du katholisch bist! Aber von der Sofiakirche hast du nie erzählt!«
»Warum sollte ich davon erzählen?«
»Wann warst du zuletzt dort?«
»Neulich. Vor einer Woche vielleicht.«
»Das meinte ich, als ich dich heute alle drei Stunden nach etwas Außergewöhnlichem fragte.«
»So wie du oft am Strandbad bist, wenn auch nur im Sommer.«
»Ich bin ständig mit Lilly dort. Die Stellen liegen also nicht nur in der Nähe unserer Wohnungen, es sind auch genau die Stellen, die wir aufsuchen, wenn wir ins Freie gehen. Oder hast du noch andere Stellen?«
»Nein.«
»Machen wir lieber weiter. Deine Theorie läuft also auf innere Einkehr hinaus. Judit war zum Nachdenken in der Kirche.«
»Genau wie Elin Gustafsson am Strand. Beide Frauen standen in ihrem Leben an einem Scheideweg. Und beide suchten dafür Orte auf, die sich in ihren Augen eigneten, um nachzudenken. Und nicht nur in ihren Augen.«
»Sie sind also beide in einem Moment der inneren Einkehr verschwunden. Ist das deine Theorie?«
Sofi trennte sich von der Aussicht und drehte sich zu Kjell.
»Deine Stirn ist rot«, sagte der. »Sehr rot.«
Sofi rubbelte mit dem Handrücken darüber. »Wenn das die Gemeinsamkeit ist, dann haben wir ein Problem. Eine weitere Gemeinsamkeit ist nämlich die Gleichzeitigkeit.«
Zwei solcher Übereinstimmungen deuteten immer darauf hin, dass die Ermittler sich in eine Wahnvorstellung verrannt hatten. Eine der beiden Gemeinsamkeiten musste Zufall sein. Der Inhalt oder der Zeitpunkt.
»Was schlägst du vor?«, fragte er.
»Die Auswahl der Frauen ist Zufall. Entscheidend ist, was sie im Moment ihres Verschwindens getan haben.«
»Das kann nicht sein. Finde mal am 21. Dezember um 18 Uhr zwei Frauen, die in sich gehen. Weißt du, was ich glaube?«
»Du bist für den Zeitpunkt.«
»Und ich kann dir auch sagen, warum ich das glaube. Nimm an, du hast die beiden Frauen als Opfer ausgesucht. Der ideale Zeitpunkt für ihre Entführung ist wann?«
»Wenn sie allein sind.«
»Genau. Nicht während des Weihnachtseinkaufs oder bei der Arbeit.«
»Der Zeitpunkt also. Ich bin einverstanden.«
»Wie ist es geschehen?«
Das war die zweite der fünf Fragen aus dem Katalog der Reichsmord. Sofi lief im Zimmer auf und ab. »Sie sterben ohne Bewusstsein durch Unterkühlung. In der Zeit bis zu ihrem Wiederauftauchen bleibt der Körper gefroren.«
»Gefroren? Du meinst gekühlt?«
»Gefroren. Bei Elin sind wir bisher davon ausgegangen, die Außentemperatur hätte ihren Körper abgekühlt. Aber Judits Körper lag weit unter der Temperatur in der Kirche. Sie wurde viel schneller entdeckt als Elin, deshalb glaube ich, dass Elins Körper sich am Strand nicht auf den Gefrierpunkt abkühlte, sondern sogar erwärmte.«
»Wozu dient die Kälte?«
»Bei Elin konnte man noch annehmen, die Kühlung solle die Tatzeit verschleiern.«
Kjell hob seine rechte Augenbraue. »Und vor allem den Umstand, dass es Mord war.«
»Das haben wir aus unserer Sicht geglaubt. Hätten wir aber Judit vor Elin gefunden, wären wir nie der Annahme verfallen, der Täter wollte uns täuschen. Deshalb dürfen wir auch die Erkenntnisse, die wir scheinbar aus Elins Fall gezogen haben, nicht auf Judit übertragen. Dann stellen wir nur die falschen Fragen. So hast du es mir beigebracht.«
»Damit du mich darauf hinweisen kannst, wenn ich wieder darauf hereinfalle.«
»Und ich sage dir: Wäre Judit das erste Opfer gewesen, hätten wir einen Selbstmord bei Elin nicht in Betracht gezogen, weder als echten Selbstmord noch als verschleierten Mord. Mit dem Wissen von Judits Fall wäre unser Augenmerk bei Elin auf die Szene gefallen. So herum hätten wir die richtigen Fragen gestellt, denn objektiv ist die Methode bei beiden Opfern gleich.«
»Nun haben wir also alle falschen Fragen eliminiert und stehen ohne Motiv da.«
Sofi breitete ihre Arme aus. »Versuch mal, mich hochzuheben.«
Kjell umfasste ihre Hüfte und hob sie mit Leichtigkeit.
»Ich wiege etwa soviel wie Judit. Probier es noch einmal.«
Diesmal entspannte Sofi all ihre Muskeln, so dass Kjell sie nur mit Mühe vom Boden lösen konnte.
»Aber diesen Effekt hätte er auf andere Weise auch erzielen können.«
»Er kann den Körper nicht nur leichter transportieren, er kann ihn auch leichter in der Szene arrangieren. Judits Leiche saß ohne Hilfsmittel da.«
»Wie immer denkst du praktisch. Hier glaube ich allerdings nicht, dass praktische Gründe den Ausschlag geben.« Er wandte sich ab und setzte sich auf den Stuhl, einen der wenigen Gegenstände, die noch hiergeblieben waren. »Es ist das Bild, Sofi. Die Frische. Bei ihrem Auffinden wirkten die Leichen, als wäre seit ihrem Verschwinden keine Zeit verstrichen. Das bringt uns zur dritten Frage: Warum ist es geschehen?«
»Du glaubst an einen Irren.«
Kjell schüttelte den Kopf.
»Kein Irrer?« Sofi war jetzt sehr gespannt.
»Irre schon, aber nicht einer.«
Sofi musterte ihn schweigend.
»Warst du oben bei der Orgel?«
»Nein.«
»Rate mal, was man von dort sieht.«
Sie zuckte mit den Schultern. Das bedeutete auf Värmländisch, dass sie keine Ahnung hatte.
»Man sieht alles!«
»Aber es war nicht sehr hell, hat der Organist ausgesagt.«
»Man sieht es, Sofi, ich habe es ausprobiert. Bei Minimalbeleuchtung bemerkt man, wenn dort unten jemand sitzt. Nur wenn man konzentriert spielt, kann es einem entgehen. Aber der Orgelstuhl ist so angebracht, dass der Organist die Bänke überblicken kann. Glaubst du, ein Einzelner ist in der Lage, den Körper schnell hinzutragen und zu arrangieren? Wie soll er das schaffen?«
»Mit dem Rollstuhl von Elin Gustafsson. Der ja nicht im Fjord liegt.«
Sofis Antwort brachte Kjell für einen Augenblick aus der Spur. »Nein, ich habe die Steigung bei der Glätte heute Nacht kaum mit dem Auto geschafft.«
Sofi nickte einsichtig. Aber sie würde es ausrechnen. Das war klar.
»Nehmen wir an, es war so, wie du sagst. Ein Irrer, der tote Frauen im Rollstuhl durch Södermalm transportiert und von niemandem dabei beobachtet wird. Das könnte die Methode sein, die Körper zur Auffindesituation zu befördern.«
Sofi nickte.
»Aber wie hat er sie am Einundzwanzigsten von dort weggebracht, und vor allem, beide zugleich?«

33

Die Schlange vor der Essensausgabe kam schnell voran. Doch an den Tischen war nichts mehr frei. Noch im Mantel lief Sofi mit dem Tablett vor der Brust zwischen den Reihen auf und ab, bis eine Gruppe am Fenster aufstand und der halbe Tisch frei wurde.
Ihr blieben zwanzig Minuten bis zur Besprechung. Während sie mit der Gabel in der rechten Hand zu essen begann, fischte sie mit der linken in der Tasche nach ihrem Telefon. Im Laufe des Tages hatte es zweimal geläutet. Der Sender in der Überwachungskamera hatte sich kurz vor Mittag gemeldet. Daraufhin hatte Sofi die Internetseite aufgerufen, auf der man das Kamerabild betrachten konnte. Aber es war der Postbote gewesen. Da sie ganz oben im Haus wohnte, kam selten jemand vorbei. Den zweiten Anruf vor einer Stunde hatte ihr Nachbar ausgelöst. Andersson arbeitete bei Folksam und kam immer um diese Zeit nach Hause. Als Schöpfer gezeichneter Liebeserklärungen konnte Sofi ihn sich nicht vorstellen. Im Sommer unterhielten sie sich manchmal, wenn sie sich zufällig beim Kissenausschütteln auf dem Balkon trafen. Ihm boten sich also viel zu gute Gelegenheiten, um auf einen so verwegenen Plan zu kommen. Außerdem konnte ein Mann, dem es gelang, mit fünfzig Jahren noch alle zwei Monate seine ansehnliche Geliebte auszuwechseln, kaum auf anonyme Offenbarungen angewiesen sein. Zur Zeit trat jeden Sonntagmorgen eine gelockte Dame auf seinen Balkon und streckte sich mit einem Gähnen, das Sofi jedes Mal aus dem Schlaf riss.
»Hallo«, sagte eine Stimme.
In der Spiegelung des Fensters erschien Jannika Fager von der Bezirkspolizei.
Sofi drehte den Kopf. Das war ihre einzige Reaktion. Beim Betreten der Kantine hatte sie zwar Ausschau gehalten, dabei aber offenkundig Jannika Fagers ganze Abteilung übersehen. Die saß drei Tische weiter und blickte geschlossen herüber.
Jannika nahm Sofi gegenüber Platz. Sie hatte sich sogar ihre Kaffeetasse mitgebracht. »Ich habe schon einmal bei dir angerufen. Deine Durchwahl ist doch 423, oder?«
Sofi zog sich die Gabel aus dem Mund. »Wir waren drau ßen«, sagte sie. »Warum hast du es nicht wieder auf meinem Mobiltelefon versucht?«
So wie am Tag zuvor.
»Deine Kollegin sagte, du bist krank. Das klang wie ein verkappter Hinweis, und wir dachten, du bist im Einsatz.«
Sofis Augen waren so schwarz, dass ihr niemand etwas ansehen konnte, wenn sie es nicht wollte. Sie umging eine Antwort, indem sie weiteraß.
»Ihr bei der Reichsmord habt eine höhere Priorität, das weiß ich, aber wir sollten uns dennoch absprechen, damit wir uns nicht in die Quere kommen.«
Langsam begriff Sofi, von welcher Quere sie da sprach. Jannika hielt ihre Nacht bei Joakim für einen Polizeieinsatz. Das lief ja bestens, dachte Sofi. Sie durfte nur nicht mit dem Essen aufhören.
»Eine Venusfalle haben wir auch erwogen, aber dem Ankläger war das zu brisant. Er sieht in Karlström nicht nur einen Informanten.«
»Sondern?«
»Einen der Hauptakteure.«
Sofi folgte einer Eingebung. »Was werft ihr ihm vor? Geht es um Drogen?«
»Genau das haben wir bei euch angenommen.«
Sofi schüttelte den Kopf, was Jannika als Hinweis auf die Geheimhaltungsstufe der Reichskrim deutete.
Jannika wehrte die eingebildete Ermahnung mit den Händen ab. »Wir arbeiten für das Wirtschaftsdezernat.«
»Ragnar Annerbäck?«
»Der ist unser Auftraggeber.«
Oh je, sie hatte sich einem Mann hingegeben, hinter dem Ragnar her war. Auf die Banane hatte sie jetzt keinen Appetit mehr.
Das Telefon klingelte. Sofi nahm ab.
»Es war ganz schön schwierig, dich zu finden«, sagte die Stimme am anderen Ende.
»Und wie hast du es am Ende geschafft?«, antwortete sie und sah dabei Jannika direkt in die Augen. Über die Taktlosigkeit des Schicksals wunderte sie sich längst nicht mehr.
»Ich habe alle schwedischen Telefonnummern angerufen, bis du abgehoben hast.«
»Wo bist du gerade?«
»Ich sitze bei Maja an der Bar. Deine Telefonnummer war an einen beträchtlichen Mindestkonsum gekoppelt.«
»Ich melde mich.«
Jannika hatte brav gewartet.
»Ich komme zu spät zur Einsatzbesprechung«, sagte Sofi und stand auf. »Auf uns müsst ihr keine Rücksicht nehmen.«
»Aber …«, erwiderte Jannika und blieb zurück.
Sofi eilte zum Aufzug. Sie war die ganze Zeit von einer Überwachung ausgegangen, wie sie im Stureplan-Milieu üblich waren. Dass Ragnar dahintersteckte, war eine sehr beunruhigende Neuigkeit. Wenn er von dem Video erfuhr, würde er hinaus in den Flur laufen und bei Kjell klopfen.
Im Treppenhaus suchte sie sich erst ein Plätzchen und dann die Nummer von Majas Lokal. Als Maja abhob, verlangte sie nach Joakim.
»Warum hast du mich nicht auf meinem Telefon zurückgerufen?«, wollte er wissen.
»Was willst du?«, fragte sie, ein bisschen glücklich.

34

Kjell erschien als Letzter zur Besprechung, dafür aber mit einigem Elan. Barbro, Henning und Sofi sah man die Erschöpfung deutlich an. In der Ecke am Fenster hatte es sich Nils Kullgren als Beobachter der Gegengruppe bequem gemacht.
Kjell zog einen Zettel aus seiner Manteltasche und begann. »Suunaat konzentriert sich auf eine einzige Frage und hat dies herausgefunden: Opfer 1 und 2 wurden mit demselben Präparat betäubt, das nur in den Vereinigten Staaten als Medikament zugelassen ist. Bei Judit liegt die Dosis höher. Mit hoher Wahrscheinlichkeit nahm keine der beiden regelmäßig Schlafmittel.«
Barbro wollte etwas einwenden, doch Kjell ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Judit hat Milchkaffee getrunken, in ihrer Wohnung fanden wir aber keine Milch. Ich habe jemand von der Fahndung beauftragt, im Sofo-Viertel die Cafés abzuklappern.«
»Herrgott«, brummte Henning. »Das kannst du gleich vergessen.«
»Versuchen müssen wir es. Suunaat ist auch zu Elins Wohnung gefahren. Sie hat das Medikament mit grünem Tee eingenommen. Auch bei Elin fand sich nichts. Also fand die Einnahme nicht zu Hause statt, wodurch sich die Möglichkeit eröffnet, dass ein anderer das Mittel in das Getränk gegeben hatte. Zwischen der Einnahme und dem Tod lag je ein Zeitraum von mindestens vier Stunden.«
»Was passiert denn dabei mit einem?«, erkundigte sich Sofi.
»Man schläft ein, vielleicht sogar im Stehen.«
»Und stirbt?«
»Nein. Ohne die Kälte hätte das Mittel nicht zum Tod geführt.«
»Dann erfüllte es wohl nur den Zweck, die Frauen bewusstlos zu machen, damit sie entführt werden und erfrieren können.«
Kjell nickte knapp. »Und schließlich das Wichtigste: Bei keiner der beiden Leichen hat der Verwesungsprozess begonnen. Die Kältestarre trat noch vor der Totenstarre an den Augenlidern ein und verhinderte alle Todeszeichen. Dies ist der Beweis, dass es sich nicht um Selbstmord handeln kann. Wäre Elin am Strand erfroren, wären die Totenstarre und alle anderen Todeszeichen um gute zehn Stunden vor der Kältestarre eingetreten. Zumindest hätten wir Spuren von Todeszeichen sehen müssen.«
»Ist sich Suunaat sicher?«, erkundigte sich Henning. »Sie kann beide Starren auseinanderhalten?«
»Das kann sie. Sie sind von unterschiedlichem Wesen.« Kjell warf einen letzten Blick auf den Zettel, bevor er ihn wieder in der Manteltasche verschwinden ließ. »Die ATP-Werte sind nach dem Eintritt des Todes nicht abgefallen. Sie sind also nicht gestorben und dann langsam gefroren, wie es bei einem Selbstmord zu erwarten gewesen wäre. Sie waren bereits sehr ausgekühlt, als sie starben. Doch die dazu nötige Kälte gab es draußen nicht. Die Kälte, die das verursachte, muss künstlich und so groß gewesen sein, dass sie die Körper einfror, bevor jeder postmortale Prozess einsetzen konnte.«
»Sehr spitzfindig! Dann war Judits Körper länger gefroren. Sie ist zur gleichen Zeit wie Elin gestorben, wurde allerdings erst zwei Tage später entdeckt.«
Kjell sah auf. »Guter Punkt, Henning. Suunaat hat darauf keine Antwort. Aber es muss wohl so sein. Hat einer von euch noch Zweifel an unserer Arbeitstheorie?«
Die Frauen schwiegen, was man als Nein verstehen musste.
Barbro räusperte sich. »Das Mittel ist bloß in den Vereinigten Staaten zugelassen?«
Kjell nickte. Auf Barbros Stirn entdeckte er Zweifel. »Hast du Einwände?«
»Ich überlege nur. Beide hatten eine Verbindung zu Amerika. Bei Judit ist sie stärker. Elin war für kurze Zeit Austauschschülerin.«
»Da Flunitrazepam in Schweden verboten ist, muss das Mittel aus dem Ausland stammen. Dieses spezielle Mittel kann man hier in Drogenkreisen beschaffen. Suunaat findet es naheliegend. Unter den Mitteln seiner Art ist es am stärksten.« Kjell wand sich endlich aus seinem Mantel und stand dann auf, um ihn an den Haken zu hängen. Als er zum Tisch zurückkehrte, blieb er hinter seinem Stuhl stehen und sah Henning an. »Henning, du hast von Anfang an geahnt, dass es kein Selbstmord war, oder?«
»Ja«, antwortete Henning mit einer für ihn ungewöhnlichen Klarheit. Sonst liebte er Andeutungen, das Einstreuen von Zweifel und offene Schlüsse.
»Das Lied, ja?«
»Das Lied.«
»Gab es bei Judit auch ein Lied?«
Henning schüttelte den Kopf. In ihrer Wohnung hatten sie einen winzigen Player gefunden, und die Musikanlage im Keller war leer gewesen.
»Henning, ich will, dass du das Profil entwickelst.« Kjell zog einladend seinen Stuhl zurück und lief um den Tisch, um Hennings Platz einzunehmen.
»Elin Gustafsson«, begann Henning nach dem Wechsel. »Bis wir auf den Rollstuhl gekommen sind, sah die Sache wie ein astreiner Selbstmord aus. Nun stellen wir uns die Frage: Sollte es wie ein Selbstmord aussehen?« Henning drehte den Kopf. Zu Sofi.
Sie verneinte. »Der Täter ist sehr intelligent und hat keine technischen Spuren hinterlassen, wenn man von dem Schlafmittel absieht. Dafür aber Widersprüche, die keiner übersehen kann. Elins Rollstuhl zum Beispiel oder die komplizierte Sache mit der Körpertemperatur. Wollte der Täter den Mord vertuschen, hätte er diese Widersprüche vermieden.«
»Was schlägst du vor?«
»Fundstelle und Vorgehensweise sind arrangiert. Die ganze Vorgehensweise ist das Gegenteil einer Vertuschung.«
Henning lächelte. »Ich glaube, dass der Sinn des Mordes die Inszenierung eines Selbstmords war. Der Selbstmord ist das, was die Szene darstellt. Ihr Gehalt. Das klingt ganz schön abgehoben, was?«
Kjell lächelte milde. »Dann soll uns das Bild also keinen Selbstmord zeigen, sondern den Selbstmord nur zitieren.«
»Vergesst den Selbstmord«, mischte sich Sofi ein. »Diese Idee stammt aus unseren Köpfen, aus unserer Routine. Das Bild zeigt nicht den Tod der Frauen, sondern ihr Leben. Eine charakterisierende Szene aus ihrem Leben. Allerdings erstarrt.«
Kjell richtete sich auf. »Wir haben es also mit einem massiv gestörten Täter zu tun. Einem Psychopathen.«
»Auf jeden Fall.«
Barbro saß seit einigen Minuten über ihr aufgeschlagenes Notizheft gebeugt da und schwieg.
»Barbro, du hattest ein anderes Drehbuch für diese Besprechung, oder?«
Sie seufzte. »Ich bekomme Elin und Judit einfach nicht zusammen. Sie sind völlig unterschiedlich. Judit hat beinahe siebenhundert Kontakte in ihrem Telefon gespeichert.«
Kjell winkte ab. »Sie musste ganz von vorne in Stockholm beginnen. Bestimmt hat sich jede beiläufige Begegnung in ihrer Telefonliste niedergeschlagen.«
»Trotzdem. Elin hatte überhaupt keine Kontakte. Das sind also zwei Extreme. Und das ist erst der Anfang. Judit sieht gut aus und war als Musikerin auf dem Weg nach oben.«
»Das behauptet Malte als ihr Liebhaber und Förderer. Sicherlich übertreibt er.«
»Er hat untertrieben. Ich habe die Plattenfirma angerufen. Es gab vierhundert Besprechungen für das Album. Vom Stockholmer Lokalblatt bis zu internationalen Musikjournalen. Und alle handeln nur von einem Thema: dem Drumming von Judit Juholt.«
»Muss sie damit nicht einen Haufen Geld verdient haben?«, fragte Henning.
»Das habe ich auch gefragt. Es gibt allerdings keine Verbindung zwischen Kritik und Umsatz außer der, dass sich intensiv besprochene Platten oft viel schlechter verkaufen, als man vermutet. Bei dieser hier geht es noch. Sie liegen bei zehntausend, sagt die Pressefrau, aber sie produzieren wie die Buchbranche für den Saisonschlussverkauf. Man verkauft das erste Zehntel regulär und neun Zehntel beim Ausverkauf, für einen Bruchteil des Herstellungspreises. Das ist zwar ein Verlustgeschäft, aber dafür kann man behaupten, es gäbe einen neuen Stern am Musik- oder Krimihimmel. Den Verlust gleichen sie durch Lizenzen aus, für die sie wegen des scheinbar höheren Umsatzes mehr bekommen. Geld hätte sie erst im Januar bekommen, und zwar 240.000 Kronen. Aber für Judit selbst ist die Beachtung ein ungeheuerlicher Erfolg. Das ist das Entscheidende.«
Sofi meldete sich zu Wort. »Ich glaube nicht, dass diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten etwas darüber aussagen, wie ähnlich sich Judit und Elin waren.«
»Von welchen Gemeinsamkeiten redest du denn?«, fragte Barbro.
»Beide sind Frauen unter dreißig, wohnen in Södermalm und standen vor einer Veränderung in ihrem Leben, die eine Entscheidung von ihnen verlangte. Und das ist der Punkt. Die Umorientierung, die für uns am Anfang als Selbstmordmotiv in Frage kam.«
Henning verschränkte die Arme vor der Brust. »Für mich nie! Außerdem sehe ich bei Judit keine Krise. Früher hat sie Bratsche gespielt, jetzt eben Schlagzeug. Na und? Sie hätte die Streberideologie aus ihrem jüdischen Elternhaus bestimmt bald überwunden.«
Sofi nickte. »Das wäre also ein weiterer Widerspruch zu einem Selbstmord. Sie brauchte bloß Beistand. Keine der beiden hatte einen Partner, dem sie sich anvertrauen konnte. Auch Judit nicht. Anscheinend hat sie sich von ihrem ehemaligen Freund so weit entfernt, dass er nicht mehr dafür in Frage kam. Und weißt du, Barbro, was der Beweis dafür ist?«
»Den möchte ich gerne hören.«
»Astrid Blom. Judit Juholt wollte mit einem Menschen, den sie kaum kannte, eine Woche lang Urlaub machen. Mit ihrer Kellerbekanntschaft.«
Kjell warf einen Blick über seine Schulter. Nils Kullgren saß gebannt in der Ecke und beobachtete die Runde. Als er auf Kjell aufmerksam wurde, sah er ihm bis zum nächsten Wimpernschlag in die Augen.
Sofi fuhr fort. »Doch Astrid fehlt das Kaliber, um Judit bei der entscheidenden Frage zur Seite zu stehen. Astrid und der Urlaub sind nur eine Unterbrechung ihrer Krise, aber nicht die Lösung.«
Alle warteten auf den Höhepunkt dieses Szenarios, doch Sofi glaubte, dass die Erkenntnis gar nicht mehr ausgesprochen werden musste.
»Sind wir jetzt beim Täter?«, fragte Henning.
»Na klar. Ein älterer Mann. Eine Vaterfigur. Mindestens vierzig.«
»Wie weit ist Snæfríður mit der Identifizierung?«, erkundigte sich Kjell.
»Es kann noch ein, zwei Stunden dauern. Sie will ganz sichergehen. Was machen wir, wenn das Telia-Phantom mit dem Phantom aus dem Musikkeller übereinstimmt?«
Kjell sah auf die Uhr. Sein Flugzeug hob in drei Stunden ab. »Dann gebt ihr das Bild sofort an die Zeitungen.«
»Okay«, sagte Barbro. Sie klang schrill, weil sie sich überfahren fühlte. »Bisher ist alles nur ein Konstrukt. Wo liegt das Motiv? Es geht ihm weder um Gewalt noch um Sex.«
Henning kniff die Augen zusammen. »Es geht ihm auch nicht um Elin Gustafsson und Judit Juholt. Gab es nicht mal einen Film, wo Mordopfer in mannshohe Schachfiguren eingegipst wurden? Die Hauptfigur, die das Rätsel löste, war Schachgroßmeister. Der musste dann durch den nächsten Zug verhindern, dass eine weitere Figur in diesem Spiel geschlagen wurde, was ein weiteres Mordopfer bedeutet hätte.«
Barbro seufzte. »Hast du jemals einen Film angesehen, ohne dabei im Sportteil der Zeitung zu blättern?«
»Henning möchte damit sagen, dass jemand ein Spiel treibt«, sagte Kjell.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Sofi.
»Wir warten auf das dritte Opfer. Und wie ein Schachgroßmeister bereiten wir unseren nächsten Schritt vor, obwohl wir noch gar nicht am Zug sind. Schönes Beispiel übrigens, Henning.«
»Aha. Und wie bereiten wir uns vor?«
»Die Frage lautet, wer von euch als Nächster einen nächtlichen Anruf von Per erhält.« Kjell stand auf und ging zu seinem Mantel. »Henning. Ich tippe auf Henning. Er wohnt auch in Söder.«
»Mich interessiert eher, wer das nächste Opfer ist«, sagte Henning.
Kjell schlang sich den Schal um den Hals. »Das wirst du dann schon sehen. Das Opfer ist wahrscheinlich längst tot. Sofi, du prüfst alle Vermisstenmeldungen seit dem 21. Dezember.«
Sofi nickte.
»Ich melde mich.« Kjell bückte sich nach seiner Reisetasche und verschwand aus der Tür.
Er ließ eine längere Stille zurück.
»Henning«, sagte Sofi am Ende dieser Stille. »Was, wenn Linda das dritte Opfer ist?«
»Diese Frage kommt dir erst jetzt? Kjell ist sie schon heute Morgen eingefallen.«
»Aber keine Antwort darauf.«
»Ich bin die Antwort«, sagte Nils Kullgren aus seiner Ecke am Fenster. »Wir sind die Gegengruppe.«
Sofi fuhr als Einzige herum. »Ja, aber was macht ihr? Womit beschäftigt ihr euch überhaupt?«
Nils Kullgren antwortete nicht. Er stand auf, stellte seine Kaffeetasse auf der Anrichte ab und verließ das Zimmer.

35

Nils Kullgren passierte die Sicherheitsschleuse und kehrte zurück in den abgeschotteten Trakt, wo die Säpo ihre Büros hatte. Die drei aufeinanderfolgenden Türen nahm er mit derselben Routine, mit der er am Morgen erst seine Unterwäsche und dann den schwarzen Anzug anlegte und schließlich in seinen Mantel schlüpfte.
Die Lampen in den Korridoren erloschen nie, dennoch spürte er stets auf Anhieb, ob noch jemand hier war. Am Nachmittag hatte Theresa Julander mit zwei Analystinnen sämtliche Akten der Reichsmord herübergetragen und auf dem Tisch im Besprechungsraum gestapelt. Von Theresa war nichts zu sehen, nur der alte Tholander stand in Mantel und Mütze vor dem Tisch. Er musste gerade erst eingetroffen sein, denn seine Nase schimmerte noch rot von der Kälte draußen. Ausdruckslos betrachtete er die Akten und wickelte sich den Schal vom Hals, wobei er seine Hände kaum rührte und stattdessen den Kopf kreisen ließ.
Tholander war ihm am Morgen im Gang des menschenleeren Büros über den Weg gelaufen. Wen hätte er also sonst fragen sollen?
»Wo ist Theresa Julander?«, fragte Kullgren und nahm am Tisch Platz. »Hast du sie gesehen?«
»Nää.«
Tholander und Julander. Das war die Gegengruppe. Vor einiger Zeit hatte Kullgren im Volksbuch nachgesehen. Tholander besaß tatsächlich auch einen Vornamen, Jerker, und sogar ein Geburtsdatum. An anderen Tagen erinnerte er an einen frisch abgepuderten Schauspieler, der den Claudius gab. Selbst die Röte, die der Eiswind Tholanders Wangen gerade verpasst hatte, war grau.
»Bist du gerade erst gekommen?«, fragte Kullgren.
»Jaa.« Tholander nahm seine Nickelbrille ab und polierte sie. Ihm kam nicht in den Sinn, dass der Generaldirektor sich eine umfangreichere Antwort auf seine Frage wünschte. Und wenn doch, dann wäre er der Letzte gewesen, der Wünsche erfüllte.
Diese Undurchsichtigkeit, die einer Person anhaftete, war in der Sicherheitsabteilung, wie Tholander die Säpo immer noch nannte, die Währung für Aufstieg und Bestand. Tholander hatte in der Vorzeit, die wohl seinetwegen die graue Vorzeit hieß, Spione schneller enttarnt, als das Ausland neue schicken konnte. Sogar Kotschenko ging auf sein Konto. Ein Numen wie ein römischer Gott, der nichts ist als sein Ruf, hatte er sich jedoch in der Nacht vom 28. Februar 1986 erworben. Da hatte er das Polizeigebäude vier Minuten vor Mitternacht verlassen, in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Attentat und dem Einsatz, und war drei Tage lang verschollen geblieben. So konnte sich jeder ausmalen, wie viel Tholander tatsächlich wusste, was ihn als Agenten der Säpo unkündbar machte. Der Legende nach hatte er ein wichtiges Alibi in Borlänge überprüft. Kullgren vermutete, dass dieses unbekannte Ass im Ärmel ein Bluff war, aber darauf ankommen lassen wollte er es nicht.
Im Bluffen war Kullgren selbst ein Meister. Er hätte berichten können, was er vor seiner Zeit als Direktor der Säpo getan hatte. Das hätte ihm Respekt eingebracht. Besser als Respekt waren allerdings Furcht und Ungewissheit. Die erreichte man, indem man nur die Andeutungen durchsickern ließ, sein Handwerk beim Mossad gelernt zu haben. Niemand verarschte Nils Kullgren. Dieses Motto musste Kullgren nicht verkünden. Die anderen kamen von ganz allein darauf.
Dennoch nötigte Tholanders Legende Kullgren Bewunderung ab. Noch vor Mitternacht und unmittelbar nach dem Attentat auf Palme zu ahnen, was in den kommenden Stunden und Tagen geschehen würde, verlangte ein enormes taktisches Geschick. Das hatte Kullgren bei seinem Antritt als Direktor nicht herausfordern wollen und Tholander deshalb als Einzigen aus der alten Garde im Dienst behalten. Inzwischen war er so lange dabei, dass es für zwei Pensionen gereicht hätte.
Wie bei der ersten Besprechung am Morgen reagierte Theresa unsicher auf ihn, als sie endlich hereingeeilt kam. Das lag nicht nur an seiner Art, mit anderen Menschen nicht zu interagieren, sondern auch an seinem Erscheinungsbild. Tholander stand irgendwo zwischen sechzig und siebzig und besaß alle Merkmale und die Strenge eines Schulrats aus dem neunzehnten Jahrhundert.
Noch im Gehen entschuldigte sich Theresa für ihre Verspätung. »Ich habe ein Dossier verfasst, zu den Akten da.«
Kullgren deutete auf die Akten und nickte nachgiebig. Theresa verstand die Einladung und begann. Sie stellte sich neben den größten Stapel und legte den Arm darum.
»Zum Glück sind die meisten Fälle Profile. Die habe ich alle aussortiert.«
Tholander hob den Kopf. »Kannst du das erklären?«
Theresa fuhr zu ihm herum. »Die Reichsmord ermittelt hier nicht selbst, sondern die lokale Kriminalpolizei irgendwo im Land. Nur wenn die nicht mehr weiterwissen, schicken sie uns die Akte.«
Kullgren unterbrach sie und erklärte Tholander, dass Theresa vor ihrer Zeit bei der Säpo sechs Monate lang bei Cederström gearbeitet hatte.
»Die Reichsmord prüft die Akte und gibt den Kollegen von der Ortspolizei einen Rat, wo sie bei ihrer Ermittlung die falsche Richtung eingeschlagen haben«, erklärte Theresa. »Dieses Gutachten nennen wir Profil. Die Verdächtigen erfahren nie davon. Es ist ein interner Vorgang, der nicht einmal in der Hauptuntersuchungsakte auftaucht.« Theresa suchte in den Mienen der beiden Männer nach möglichen Einwänden und fuhr dann fort. »Den nächsten Stapel habe ich ebenfalls aussortiert. Die Fälle wurden von den Unterermittlern bearbeitet. Das sind diese geschiedenen Typen, die wie Staubsaugervertreter im ganzen Land herumreisen, in Motels wohnen und bei schweren Verbrechen die Ermittlung führen. Sie unterstehen zwar alle Cederström, aber er ist nur formal ihr Vorgesetzter. Tatsächlich arbeiten sie ganz allein mit einem Maßnahmenkatalog und haben vor allem Kontakt mit dem Ankläger am Ort. Mit Cederström haben sie nur zu tun, wenn sie ihm die abgeschlossene Akte schicken. Und auf der Weihnachtsfeier.«
Erstaunlich, fand Kullgren. Er hatte sich immer schon gefragt, ob Cederström auch mal arbeitete.
Tholander hob interessiert den Kopf und sagte: »Jaha! Die möchtest du also aussortieren?«
»Ja, es sind nicht nur Tötungsdelikte, sondern auch andere Schwerverbrechen. Die Hälfte der Fälle sind Vergewaltigungen im Stadtpark von Västerås. Ich wollte schon einmal den Stadtrat dort anrufen und fragen, warum sie den Park nicht einfach dem Erdboden gleichmachen. Ich glaube nicht, dass diese Täter für uns in Frage kommen.«
Tholander stand abrupt auf. »Nähää. Nicht die Täter.«
Theresa glotzte Tholander an.
»Die Weihnachtsfeier«, sagte Tholander.
»Was ist mit der Weihnachtsfeier?«
»Die muss doch vor kurzem gewesen sein.«
»Ja, am Einundzwanzigsten.«
Um 18 Uhr, schoss es Kullgren durch den Kopf. Die beiden Frauen waren in demselben Augenblick verschwunden, als Cederström zu seiner alljährlichen Rede anstimmte, die stets eine mehr oder minder gelungene Kopie der Begräbnisrede von Perikles war. Auch in diesem Jahr hatte er nicht darauf verzichtet und seinen Vaterschaftsurlaub für einen Abend unterbrochen.
»Sind die Ermittler nicht allesamt Stockholmer?«, fragte Tholander. »Dann haben sie ihren Wohnsitz hier in der Stadt.«
»Klar! Sonst würden die wegen einer lausigen Feier nicht herkommen.«
»Wie viele sind es?«
»Dreißig. Etwa.«
»Und wie lange bleiben sie hier?«
»Die haben Weihnachtsferien. Zwei Wochen. Die sind ihnen garantiert, weil sie ja sonst immer im Motel …«
»Jaha, das ist also die einzige Zeit im Jahr, wo die Elite der schwedischen Kriminalermittler vollständig in Stockholm versammelt ist.«
Theresa kratzte sich am Kopf, was wegen ihrer dicken Locken gar nicht so einfach war.
Für Tholander war es wieder an der Zeit, seine Brille abzunehmen, um sie zu polieren. »Das ist interessant. Unser Auftrag besteht schließlich in der Frage, ob sich die Tötungsserie gegen die Reichsmord richtet, oder nicht?«
Kullgren schrak auf und warf einen Blick auf seine Notizen. Die Schrift von Henning Larsson war schwer zu entziffern. »Ja, offiziell lautet unser Auftrag: Prüfen, ob uns jemand verarscht! Oder ob wir uns selbst verarschen!«
Theresa hob den Daumen. Tholander nickte knapp. Er erkannte Humor durchaus, hatte jedoch nie Lust zu lachen.
»Soll ich den ganzen Stapel mit reinnehmen?«
»Nähä, das sollst du nicht. Du sollst nur nicht so voreilig sein.«
Dass Tholander sich setzte, konnte Theresa als Aufforderung verstehen, mit dem Vortrag fortzufahren.
»Also dann der dritte Stapel. Das sind die eigentlichen Fälle von Cederström. Die Tötungen, die von Anfang an die Reichskriminalpolizei gehen. Hier ist er Voruntersuchungsleiter. Es sind neunzehn Stück seit seinem Antritt. Was davor lag, haben wir weggelassen, weil sich die vier Kernmitglieder der Gruppe damals noch nicht kannten.«
»Neunzehn?«
»Nur drei kommen in Frage. Bei den anderen sind die Täter tot oder im Gefängnis. Vor allem im Gefängnis.«
»So, ganz langsam, Kleine!« Tholander begann jede seiner Aussagen mit einem kurzen Wort, das er gerne dehnte. »Dein Ansatz geht gänzlich von etwas aus, was man sich als Rache vorstellen muss. Deine Lösung liegt also in der Vergangenheit.«
»Äh, ja, ein Psychopath.«
Tholander sah sie skeptisch an.
»Na ja, ich sollte die Akten sichten. Was für einen Ansatz soll ich sonst haben?«
»Also, das kannst du vergessen. Die Psychopathen sind alle mit ihren Internetblogs beschäftigt. Außerdem sind sie zwar gefährlich, aber nie raffiniert.«
»Du meinst, sie sind zu sehr von sich selbst eingenommen, um andere so täuschen zu können?«
Tholander hob die Brauen. Das war ohne jeden Zweifel ein neunzigprozentiges Ja.
Kullgren reckte sein Kinn. »Jerker, darf ich dich mal fragen, was du von der Sache hältst?«
»Ich persönlich halte die Sache für eine perfekte Aktion, deren Ziel ich nicht verstehe. Um zwei Frauen zu töten und wie Schaufensterpuppen zu drapieren, muss man ein Psychopath sein. Das steht unabhängig vom Ziel fest.«
Theresa neigte ihren Oberkörper vor, um zum Gegenangriff überzugehen. »Das klang aber gerade noch anders.«
»Es gibt einen Unterschied zwischen einem Psychopathen aus der Vergangenheit und einem Psychopathen, der in die Zukunft plant. Das kapierst du wohl.«

36

Als Henning den Wagen anhielt und durch das Seitenfenster zum Eingang des Nordischen Museums spähte, öffnete dort eine Gestalt die schwere Tür und kam die Treppe hinab in direkter Bahn auf ihn zu. Er erkannte Hulda erst, als sie die Tür öffnete und sich neben ihn setze.
»Wo ist dein Regenmantel geblieben?«
Hulda blickte überrascht an sich herab. Sie trug eine schwarze Winterjacke. »Es schneit doch nicht mehr.«
Den Regenmantel hatten Henning und wohl auch alle anderen Menschen für ein festes Merkmal an Hulda gehalten, für eine Lebensanschauung. Er hatte so gut zu ihrem Verhalten gepasst. Anscheinend trug sie ihn nur, wenn Regen oder Schnee vom Himmel kam. Und genau dafür wurden Regenmäntel gemacht.
Henning wendete den Wagen und fuhr in die Innenstadt zurück. Über den Bewegungsdrang des Mädchens wunderte er sich längst nicht mehr. Am Nachmittag hatte Snæfríður ihm erklärt, dass Hulda ihre Kindheit im Freien verbracht hatte. Und wenn es draußen zu ungemütlich wurde, was in den Westfjorden Islands etwa elf Monate im Jahr der Fall war, dann hatte der Großvater ihr von der großen weiten Welt vorgelesen, wo es viel mehr gab als Grashalme, schwarze Felswände und das Meer.
Eine Weile fuhren sie schweigend, bis Henning eine rote Ampel zum Anlass nahm. »Ich möchte, dass du in den nächsten Tagen daheim bleibst.«
»Rumsitzen?«
Henning brummte.
»Sitzen und glotzen, so sagt ihr doch?«
»Es hat wieder eine Tote gegeben. Derselbe Täter.«
»Und da hast du Zeit, mich vom Museum abzuholen? Was machen wir heute?«
»Als wir uns gestern getroffen haben, kamst du da nicht von der Kirche?«
»Hier sind überall Kirchen.« Hulda wählte zwei in der näheren Umgebung der roten Ampel aus und deutete auf sie.
»Sofia, Renstiernas Gatan.«
Ihre Augen funkelten. »War da die Tote?«
»Und zwar genau zu der Zeit, als wir beide uns hundert Meter weiter amüsiert haben.«
Hulda hob den Daumen. Die Sache war nach ihrem Geschmack. Bevor sie die Straße hinaufgelaufen und Henning begegnet war, hatte sie eine gute Viertelstunde vor der Kirche gestanden, weil Orgelmusik aus dem Inneren drang. Kurz vor dem Ende des Gottesdienstes kam eine junge Frau mit Kinderwagen heraus, zehn Minuten später die Schar der anderen. Hulda beschrieb jeden der zweiunddreißig Personen ausführlich, am Ende den Pfarrer und den Organisten. Sie hatten die Kirche verriegelt.
»Genaues Beobachten ist nicht dein Problem«, fand Henning am Ende ihres Berichts. »Dreißig Kirchenbesucher mehr, und man könnte beinahe von einer Sehstärke sprechen.«
»Ich habe überhaupt kein Problem.«
»Garkeins?«
»Man muss sein Los hinnehmen, dann ist das Leben leicht.«
»Aber Hunger hast du doch wenigstens?«
»Ja.«
Andere Leute in die Ecke zu philosophieren, das war eine Leidenschaft der Isländer. Das hatte Henning inzwischen begriffen.
Als er eine Stunde später ins Büro zurückkehrte, saßen seine drei Kolleginnen betreten am Besprechungstisch.
»Was sagt Hulda?«, fragte Snæfríður.
»Sie hat zwei Männer mit Hut aus der Kirche kommen sehen. Beide waren gebrechlich und hatten ihre Frauen dabei.«
»Hast du ihr die Zeichnung gezeigt?«
Henning nickte. Er nahm die drei Polizistenmenüs, die er aus dem Mäster Anders mitgebracht hatte, aus der Tüte und verteilte sie an die Frauen.
»Schade«, sagte Barbro. »Es wäre das Sahnehäubchen gewesen.«
»Worauf?«, erkundigte sich Henning.
»Er ist es«, antwortete Snæfríður und legte ihre Linke auf die Phantomzeichnung. Sie hatte die beiden Verkäuferinnen aus dem Telia-Laden einbestellt. »Der Mann, den Andrine und Ann-Marie mit Elin in der Espressobar gesehen haben, ist der Mann, den Astrid Blom in Judits Kellerabteil gesehen hat.«
»Die trugen beide einen Hut«, wandte Henning ein.
»Wir haben sehr umfangreiche und schwierige Tests gemacht. Es handelt sich um ein und dieselbe Person.«
»Tatsächlich? Dann ist er die Verbindung. Und jetzt?«
Barbro nickte. »Wir sind alle müde und gehen ins Bett, sobald wir das hier aufgegessen haben.«
Barbro hatte bei den Polizeistationen in Södermalm herumgefragt. Dort wusste man nichts von einem Mann mit Hut, doch das bedeutete nicht mehr, als dass er nicht mit der Polizei in Kontakt gekommen war.
Sofi hatte alle Vermisstenmeldungen überprüft, die in den letzten zwei Wochen in Stockholm eingegangen waren. Ohne jeden Erfolg. Nur ein einziger Mann war vermisst worden. Er hatte die Nacht nach einem Streit mit seiner Frau im Hotel verbracht. »Eine verschwundene Frau hätte uns einen enormen Vorsprung gegeben«, sagte sie. »Falls es überhaupt ein drittes Opfer geben wird. Das erfahren wir morgen Nacht. Wenn er wieder zwei Tage wartet.«
Sie legte ihre Gabel ab. Die Gegend um Hennings Wohnung hatte sie bereits ausbaldowert. Er wohnte seit einem Jahr am Mosebacke Torg mit Blick auf das Theater. Vom Fjord sah er aus dem dritten Stock leider nur ein winziges Dreieck.
»Drei Stellen eignen sich«, erklärte Sofi. »Zunächst die Felsterrasse des Lokals. Die ist zwar im Winter verschlossen, aber man blickt von dort über die ganze Stadt. Das könnte unserem Psychopathen als Bühne für seine Szene gefallen. Die zweite Möglichkeit ist die alte Holztelefonzelle auf dem Platz. Und zuletzt die Sitzbänke auf dem Platz selbst. Mehr Möglichkeiten gibt es eigentlich nicht. Diese drei müssen wir morgen Abend überwachen.«
Henning war nicht gerade begeistert, dass er die Nummer drei sein sollte, aber sonst kam nur Barbro in Frage. Snæfríður arbeitete erst seit kurzer Zeit in der Gruppe, und Theresa Julander war schon vor Monaten zur Säpo gewechselt. Die Wahl zwischen ihm und Barbro war aus einem einzigen Grund auf ihn gefallen. Er wohnte wie Kjell und Sofi in Södermalm, Barbro jedoch am Strandvägen auf der anderen Seite des Fjords.
»Bei Barbro müssen wir aber auch Leute postieren«, sagte Henning. »Nichts gibt uns Gewissheit, dass er sich wie in einem klassischen Theaterstück an den geschlossenen Raum hält. In diesem Falle Södermalm.«
»Der Raum ist ihm auf jeden Fall wichtig«, antwortete Sofi. »Immerhin errichtet er seine Szenen in der Nähe unserer Wohnungen.«
»Vielleicht sind wir morgen Abend schon weiter.« Henning zog das Phantombild zu sich. »Ist das die endgültige Version? Wenn ja, dann raus damit.«
»Ich erledige das.« Sofi stand auf und trug ihr Aluminiumschälchen und die Gabel zur Spüle.

37

Sofi sandte das Bild an alle Zeitungsredaktionen und verfasste einen kurzen Aufruf dazu. Dort würde das Bild in zwei Stunden in den Internetausgaben veröffentlicht werden. Für die gedruckten Ausgaben war es leider schon zu spät. Da der Mann immer nur in Södermalm gesehen worden war, entwarf Sofi ein Flugblatt, das sie auf dem Spezialdrucker in der Presseabteilung vervielfältigte. Die Leute von der Schutzpolizei würden es im Morgengrauen den Zeitungsverteilern in die Hand drücken und sich selbst an den großen U-Bahn-Stationen aufstellen. Bis zum Mittag würde jeder zweite Södermalmer den Mann mit dem Hut kennen.
Sofi hastete in den sechsten Stock zurück. Sie durfte auf keinen Fall Ragnar Annerbäck verpassen. Seine Abteilung nahm den gesamten Nordtrakt der sechsten Etage ein. Ragnar war ein Mensch, der immer einen Pullover über seinem Hemd trug und regelmäßig Resümees zog. Deshalb ließ er seine Abteilung in den letzten Tagen des Jahres alle Arten von Abschlussberichten verfassen. Den Gesichtern seiner Mitarbeiter war anzusehen, dass sie selbst nicht wussten, wozu das gut sein sollte. Sofi schlich über den ausgestorbenen Flur. Am Ende des Ganges sank sie auf die Knie und spähte unter der Tür hindurch. Da war noch Licht. Sie wusste nicht, wie Ragnar reagieren würde, aber wenn sie seine Hilfe wollte, dann musste sie offen sein. Das begriff sie, wenn auch eher theoretisch.
Sie hatte Glück. Ragnar wollte gerade seine filigrane Hornbrille abnehmen. Das war stets die letzte Handlung seines Arbeitstages. Seinen Kirschbaumschreibtisch hatte er bereits aufgeräumt. Sofi trat ganz beiläufig ein und setzte sich auf den Besucherstuhl. Es kam vor, dass sich die Leute aus der sechsten Etage abends auf ein kurzes Gespräch besuchten, wenn sie noch irgendwo Licht sahen.
»Ich habe gehört, dass du im Banana ermittelst.«
Ragnar hörte augenblicklich auf, seine Dokumente in die Mappe einzusortieren.
»Nicht gerade gehört, mach dir keine Sorgen.«
»Also bist du darauf gestoßen?«
»In gewisser Weise.«
Sofi machte Knopfaugen. Das stimmte die Menschen milde.
Ragnar nahm seine Hornbrille nun tatsächlich ab, hielt sie in beiden Händen mit Daumen und Zeigefinger und betrachtete die Gläser von allen Seiten, als prüfte er, ob er sie putzen müsse. »Sofi … Johansson.« Bei ihrem Vornamen klappte er den linken Bügel ein, bei ihrem Nachnamen den rechten. »Es beunruhigt mich, dass du darauf zu sprechen kommst. Von allen Ermittlern der schwedischen Polizei möchte ich am wenigsten dich dabeihaben.«
Sofi regte sich nicht.
»Wie du vielleicht weißt, leite ich die Ethikkommission. Du bist in diesem Jahr neunmal in einer ernsten Situation und zweimal in einer sehr ernsten Situation gelandet. Zweimal hätte also jemand ums Leben kommen können, dabei liegt euer Anteil an Erstermittlungen bei nur zwölf Prozent. Mit deinem Quotienten aus dem Vorjahr könnte man dich sogar für eine Drogenermittlerin aus Bogotá halten. Und jedes Mal hätte man die Gefahr minimieren können, wenn zuvor minimal geplant worden wäre.«
Ragnar verstummte. Es dauerte eine ganze Weile, bis Sofi etwas sagte.
»Ich bin Todesermittlerin. Deine Zahlen hast du alle aus abgeschlossenen Ermittlungsakten. Vor und bei einem Einsatz sieht die Beurteilung einer Aktion immer ganz anders aus. Wir haben eine ganz andere Ermittlungsdynamik als ihr. Meine Gruppe macht die gefährlichen Fälle, und niemand aus meiner Gruppe ist so viel unterwegs wie ich. Mein Gefahrenquotient steht völlig im Einklang mit meinen Aufgaben.«
Sofi verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich gebe dir voll und ganz recht. Mordermittlungen sind das Richtige für dich. Da muss man Spannung in die Sache bringen und sie zur Entscheidung treiben, aber hier bei uns in der Wirtschaftsabteilung kauern wir lange in der Deckung und beobachten nur. In diesem Fall vier lange Jahre lang. Ich will dich da nicht dabeihaben.«
»Und ich will nicht mitmachen. Wir haben also dasselbe Ziel. Deshalb bin ich hier.«
»Worum geht es?«
»Deine operative Einheit von der Bezirkspolizei hat mich gefilmt, als ich mit Joakim Karlström zusammen war.« Ragnar hielt das augenfällig für die Einleitung, so erwartungsvoll, wie er auf die Fortsetzung wartete. »Also, in seinem Schlafzimmer … in seinem Schlafzimmer zusammen war.«
Mit einer kaum wahrzunehmenden Straffung seines Gesichts schlug die Erwartung in Entsetzen um. »Woher weißt du davon?«
»Von dem Film? Am Morgen haben sie mich angerufen und mich gebeten, sein Telefon zu durchsuchen und ein Redirect-Programm darauf zu installieren.«
Er schlug mit der Faust auf sein Kirschbaumfurnier. Sicherlich hatte er dergleichen noch nie getan. »Das ist illegal!«
»Ist es nicht. Leidenschaft ist nicht illegal.«
Ragnar seufzte. »Ich meine das Telefon. Das habe ich nicht genehmigt.«
»Sie haben die Gunst der Stunde genutzt.«
»Wie lang ist der Film?«
»Etwa zehn Stunden.«
»Mit dir in der Hauptrolle?«
So war es leider. In der Rolle als ausgehungerte Vampiretta. Sie musste Ragnar erzählen, wie alles begonnen hatte, und auch, was später daraus geworden war.
»Der hat sich also an dich herangemacht, ja? Nicht du dich an ihn?«
»Glaubst du mir nicht?«
»Wusste er, wer du bist?«
»Darüber wurde gesprochen, ja.«
»Wetten, dass Joakim Karlström in seinem Prozess darauf zu sprechen kommt?«
»Was willst du damit sagen?«
»Überleg mal.«
»Er hat mir bereits im Aufzug schöne Augen gemacht. Da wusste er es noch nicht.«
»Wenn es einer versteht, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, dann Joakim Karlström. Wir hatten auch schon ersonnen, eine weibliche Ermittlerin unter ihn zu legen, die Idee aber wieder verworfen, weil es rechtlich prekär ist.«
»Mir musst du nichts vorwerfen. Ich habe ihn ahnungslos kennengelernt und will nur, dass dieses Video verschwindet.«
»Wo liegt für dich das Problem?«
»Die Sache war ein Versehen und wirft ein falsches Licht auf mich.«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Erst sah es wie Hohn aus, aber dafür war in seinem Wesen kein Platz. »Ich verstehe«, sagte er knapp.
Sofi erklärte, dass es ein besonderer Abend gewesen sei. Sie hatte sich in einer ganz bestimmten Lage ihrer Freundin Maja angeschlossen. Mit ihr war alles so leicht. Und sich in dieser Lage Maja anzuschließen, war, als rannte man zu einem Feuerlöscher, wenn man bloß eine Weihnachtskerze ausblasen wollte. »Das Video kommt mit Sicherheit in Umlauf. Zumindest aber Gerüchte darüber.«
»Wie sollte das passieren?«
»Alle, mit denen ich bei der Polizei begonnen habe, sind jetzt bei der Bezirkspolizei.«
»Deine ganze Anfängerklasse?«
Sofi nickte.
»Die freuen sich, die Einzige aus ihrem Kreis, die es bis zur Reichskrim geschafft hat, nackt auf einem Video zu sehen?«
»Ich war immer vorsichtig und habe nie etwas offenbart, was man gegen mich verwenden könnte.«
»Ich glaube eher, es verhält sich umgekehrt. Weil du so bist, wie du bist, halten dich die Leute für überheblich oder unnahbar.«
Ragnar wusste ganz schön viel. Vor allem über sie.
»Die Dummen vielleicht.«
»Die sind immer die Mehrheit, Sofi. Wenn man nichts über dich weiß, denkt man sich etwas aus. Was Karlström betrifft, da sind wir bislang nicht über die Frage hinausgekommen, woher er das ganze Geld hat.«
Für Sofi und den Rest der Welt warf das überhaupt keine Fragen auf. »Er hat vor fünfzehn Jahren klein angefangen und war eben sehr gewitzt. Das hat er mir selbst erzählt.«
»Als er aus New York zurückkam, besaß er keine Öre. Sein erstes Lokal gehörte ihm gar nicht, wusstest du das?«
»Nein.«
»Alle Lokale gehören einer Kapitalgesellschaft hier in Stockholm, an der er nur 30 Prozent hält. Den Rest wiederum hält eine Kapitalgesellschaft in Luxemburg.«
»Solange er Steuern zahlt, ist doch alles in Ordnung.«
»Steuern zu zahlen ist überhaupt der einzige Zweck dieses Lokals und aller seiner Vorgänger! Um es kurz zu machen: An einem Wochenende nimmt er drei Millionen ein, an den anderen Tagen weniger. Wir sind uns sicher, dass die Hälfte des Umsatzes fiktiv ist.«
»Geldwäsche? So etwas weist man doch im Handumdrehen nach.«
»Wenn das Lokal dauernd leer, aber der Umsatz hoch ist, dann ja. Hier jedoch wurde jede Flasche Champagner nicht nur bezahlt, sondern auch getrunken.«
»Verstehe ich nicht.«
»Stell dir eine kriminelle Organisation vor, die in Schweden sehr viel Geld mit Drogen umsetzt. Bargeld, natürlich. Es soll ins Ausland. Meist besteht es aber aus kleinen Scheinen. Dieses räumliche Volumen über die Grenze zu bringen oder in große Scheine zu wechseln, ist viel schwieriger, als man sich vorstellt.« Ragnar breitete die Arme aus, damit Sofi sich das räumliche Volumen vorstellen konnte. »Also sucht man sich einen jungen Mann, der gerade aus New York kommt, aber au ßer Geschmack, Geschick und einer Vision nichts besitzt. Man gründet eine Kapitalgesellschaft in Stockholm, die der Kapitalgesellschaft in Luxemburg gehört. Er wird Geschäftsführer und prozentual am Umsatz beteiligt. Von diesen Einnahmen erwirbt er über die Jahre ein Drittel der Stockholmer Firma, die die Lokale betreibt. Beide Gesellschaften und der Geldfluss zwischen ihnen sind völlig legal. Zurück zum Anfang: Mit dem legalen Grundkapital erwirbt Karlström ein altes Hotel, renoviert es mit hohen Kosten und macht es in einem halben Jahr zu Stockholms beliebtestem Nachtlokal. Hohe Einnahmen, hohe Ausgaben. Tadelloses Steuerverhalten. Zwei Jahre später macht er zu und beginnt mit einem neuen Lokal in noch größeren Dimensionen. Noch höhere Einnahmen, und noch höhere Ausgaben. Sobald der durch die Anfangskosten verursachte Verlustvortrag aufgebraucht ist, macht er den Laden wieder zu. Das Banana nimmt das gesamte Haus am Stureplan ein. Kannst du dir vorstellen, was das kostet? Zwar war jedes Lokal immer ein großer Erfolg, aber auf die echten Gäste kommt es gar nicht an.«
Sofi ahnte etwas. »Ich habe mich gewundert, warum er nur so wenige Gäste hereinlässt. Damit fördere man das Image des Ladens, hat er mir erklärt.«
»Ja, es mehrt seinen Ruhm. Aber zudem muss er seinen Gewinn unter Kontrolle halten, denn jeden Abend schmiert sich eine Horde von Jugoslawen Gel in die Haare und spaziert in seinen Club, um dort die Tageseinnahmen aus dem Drogenhandel zu vertrinken. Und ein Jahr später haben sie das Geld versteuert auf einem Konto in Luxemburg. Nach meiner Kalkulation waschen sie Schwarzgeld mit einem Wirkungsgrad von 80 Prozent. Das ist sehr viel.«
»Karlströms Aufstieg war also von vornherein geplant?«
»Niemand gibt einem Anfänger dreißig Millionen als Startkapital, wenn sein Erfolg als Gastronom nicht ohne Bedeutung wäre. Die wussten, dass der Umsatz stimmen würde. Sie waren ja selbst die Gäste.«
»Wer steckt dahinter?«
»Wir haben nur Pseudonyme. Und einen Verdacht, weil wir sicher sind, dass das Geld aus Drogenverkäufen stammt. Die Vereinigung der Stureplan-Wirte hat ja ein gemeinsames Antidrogenkonzept, das die Dealer herzlich wenig interessiert. Nur im Banana und seinen Vorgängern gibt es keine Drogen. Damit wollte Karlström wohl seine Rechtschaffenheit demonstrieren und sich Ermittlungen vom Hals halten. War aber ein Fehler.«
»Weil nur das Verbot des Oberkolumbianers das bewirken könnte, aber nicht das eines Wirts?«
»Ganz recht. Und der hätte es nicht verboten, wenn er im Banana nicht andere Ziele verfolgte. So raffiniert sie sind, sie machen immer läppische Fehler.« Und weil ihre Drogeneinnahmen hier aus Schweden stammten, musste auch die Geldwäsche hier durchgezogen werden. So lautete Ragnars Vermutung. »Sonst würde sich das bei unseren Steuersätzen nicht lohnen. Da unsere Regierung als einzige in Europa und Amerika keine gestohlenen Bankdaten kauft, wissen wir nicht, wie viele Strohmänner es gibt, aber Karlström ist sicher nicht der einzige Gastronom, der für sie arbeitet.«
»Und was machen wir jetzt in meinem Fall?«
»Ich habe die Leute von der Bezirkspolizei ausgewählt, weil sie eine geschlossene Abteilung bilden und die üblichen Verdächtigen kennen. Das Video wird auf keinen Fall nach außen gelangen.«
»Du willst es nicht verschwinden lassen?«
»Das kann ich nicht tun. Wenn es eine Falle war, kann das meinen Prozess gefährden.«
»Du hast bloß den Namen Janne und deine Kalkulation. Du stehst ganz am Anfang. Ich bin längst in Pension, wenn du deinen Prozess hast.«
»Versprich mir eines: Du handelst nicht, und du sagst nichts. Zu keinem Menschen. Diese Ermittlung ist nach Palme die größte in der Geschichte der schwedischen Polizei.«

38

Nach Theresa war Tholander an der Reihe. Er legte sich eine von seinen dänischen Lakritzpastillen unter die Zunge, bevor er begann. Kullgren überlegte, wie viele davon Tholander in seinem Leben wohl gelutscht hatte. Der alte Jakobsson aus der Registratur schwor, dass Tholander jeden Augenblick in den vergangenen drei Jahrzehnten mit Lakritzgeschmack erlebt hatte.
Am Morgen hatte Kullgren ihm die Personalakten der vier Mitglieder der Reichsmord in die Hand gedrückt. Nun lag nur noch eine Akte vor ihm, gemäß dem Workflow jedes Geheimdienstes: So schnell wie möglich allen Ballast abwerfen und die schwache Stelle auf dem Eis ertasten.
Auch Theresa hatte es bemerkt. Sie starrte neugierig auf die Akte.
»Das ist ein bisschen merkwürdig mit Johansson«, brummte Tholander und öffnete den Deckel.
Kullgren ballte für einen Augenblick die Fäuste, obwohl er es längst geahnt hatte. Er war Sofi sehr zugeneigt. Sie besaß alles, was das Interesse eines Generaldirektors der Sicherheitspolizei entfachte. Er mochte ihr kompromisslos schwarzes Haar und den Nebel um ihre Existenz. Sofi Johansson war wie ein Waldrand am frühen Morgen.
»Ihre Vergangenheit ist ziemlich nebulös«, begann Tholander. »Der Vater ist unbekannt. Ihre Mutter stammt von hier und hat mehrere Jahre lang als Stenografin im Reichstag gearbeitet. Kurz bevor Johansson in die Schule kommt, wird die Mutter wegen einer Psychose für arbeitsunfähig erklärt. Sie zieht mit der Tochter nach Karlstad, obwohl sie keinerlei Verbindung zum Westen hat. Ich vermute, es geht um das Sorgerecht für die Tochter. Sie ist den Behörden davongelaufen. Drei Jahre später weist man sie in eine Anstalt ein, wo sie nach zwei Jahren an einem Hirnschlag stirbt. Johansson wächst bei Pflegeeltern auf dem Land auf.«
»Was für eine Psychose war das denn?«, wollte Kullgren wissen.
Tholander blätterte vor und zurück. »Eine richtige, neuronal. Genau wussten die Psychiater es offenbar selbst nicht. Bei denen ist es wie beim Hautarzt. Man kommt mit einem beliebigen Problem und geht mit einem Cortisonrezept. Jedenfalls litt sie nicht an einfacher Depression oder Buddhismus.« Tholander schwieg eine Weile. »Ob es sich vererbt, weiß ich nicht, aber immerhin hat Johansson die prägenden Jahre ihres Lebens allein mit ihrer völlig gestörten Mutter in einer Dreizimmerwohnung in Karlstad verbracht.«
Ein Quietschen durchbrach die Stille. Theresa hatte sich auf dem alten Stuhl zu Tholander herumgedreht. »Was hast du denn in den entscheidenden Jahren deines Lebens gemacht?«
Da Tholanders Dasein aus einer einzigen klaren Loipe bestand, war sie so tief, dass selbst Theresa seiner Bahn keine neue Richtung geben konnte. Tholander musste nicht mal sein Taschentuch aus der Tasche ziehen. Mit dem Polieren seiner beschlagenen Brille überbrücke er neun Monate im Jahr jede Verlegenheit, und im Sommer war er nie da.
Theresas Verteidigung überraschte Kullgren. Sonst machte sie kein Geheimnis daraus, dass sie und Sofi einander nicht ausstehen konnten.
»Sie ist rasch aufgestiegen. Über Freunde, Bekannte und ihre Freizeit habe ich kaum etwas herausgefunden.«
»Sie ist mit unseren Kryptografen befreundet«, ergänzte Kullgren. »Die beiden Freaks aus 113.«
»Jaha«, erwiderte Tholander langgezogen. »Mit ihnen ist sie im Piratenkomitee. Deshalb hat sie Administratorenrechte für Ebene 2. Sie hat Zugang zu allem außer dem Datenzentrum in Kungsberga.«
Kullgren gab zu bedenken, dass die Reichspolizeileitung die Piraten sehr sorgfältig aussuchte. Ihre Aufgabe war ja, die Leute von der Datensicherheit immer wieder anzugreifen und Schwächen aufzudecken. Deshalb waren die Piraten auch keine Datentechniker, sondern Freaks. Zu Beginn hatten sie es manchmal übertrieben und das Polizeiemblem im Intranet durch eine Piratenflagge ersetzt.
»Für die Piratensache ist sie sechs Stunden in der Woche freigestellt«, sagte Tholander, um zu signalisieren, dass er in der Sache längst viel weiter war. »Ihr Pseudonym lautet: Spider from Mars. Sie ahnt anscheinend nicht, wie geläufig uns dieser Name ist.«
»Uns?«
»Säpo.«
Kullgren richtete sich auf. Sonst gelang es ihm immer, den Ausgang eines Gesprächs lange vor dem Ende zu kennen.
»Vor zwölf Jahren schwappte die erste Betrugswelle nach Schweden, die sich gegen Bankkunden richtete, die ihre Transaktionen über den Computer erledigten. Diese E-Mail-Betrügereien waren damals noch gänzlich unbekannt und haben großen Schaden bei uns angerichtet. Auf ihrem Höhepunkt brach diese Welle im September 1999 plötzlich ab. Einige Wochen später erhielten wir dieses Fax aus Amerika.«
»Wir?«
»Säpo. Das Internet zählte damals komplett zu unseren Aufgaben. Das FBI dankt uns in diesem Schreiben für die Beendigung der weltweiten Betrugswelle und wollte wissen, wie wir das geschafft haben.«
»Und wie haben wir das geschafft?«
»Wir haben es nicht geschafft.«
»Wie kamen sie dann auf uns?«
»Es ging von Schweden aus, aber nicht von diesem Gebäude.«
»Was haben wir geantwortet?«, wollte Kullgren wissen. Damals war er noch gar nicht bei der Polizei gewesen.
»Was wir immer antworten.«
Die Säpo antwortete nie.
»Dann ging die Aktion offiziell auf unser Konto?«
Tholander imitierte ein Lächeln. »Gegen unerwünschte E-Mails kann man bekanntlich nicht viel tun. Schickt man dem Absender ein Virus, wie es das FBI versucht hat, macht der Absender einfach ein Backup und hat seine Daten wieder. Ende August 1999 begann ein schwedischer Mitbürger mit dem Namen Spider from Mars, sich wie das FBI in die Server der Absender einzuschleichen. Er löschte allerdings keine Daten, sondern verschaffte sich Zugang zur elementarsten Betriebsebene des Computers, wo die Grundfunktionen gesteuert werden: das Basic Input Output System, kurz BIOS. Dort gibt es eine Einstellung, die dem Propeller, der den Prozessor kühlt, vorschreibt, wie oft er sich in einer Minute drehen soll. Spider from Mars ersetzte den Wert ›4200‹ durch den symbolischen Betrag ›1‹. Die Server hatten alle an ebenso sonnigen wie rechtsfreien Plätzen gestanden, die meisten davon in Haiti. »Nach einer Weile piepst der Computer. Niemand versteht jedoch diese Warnung. Das FBI schätzt, dass etwa vierhundert Computer Opfer von Johanssons Materialschlacht wurden. Sie hat das Übel an der Wurzel ausgerissen.«
Kullgren verschränkte die Arme vor der Brust. »Jerker, ich glaube, wir können ewig so weitermachen. Irgendetwas Verdächtiges aus diesem Jahrhundert hast du nicht gefunden, oder?«
»Jaha, das habe ich. Sie hat beim Technischen Dienst eine Überwachungskamera mit Datenübertragung ausgeliehen. Als Verwendungszweck gab sie die Überwachung der Wohnung von Elin Gustafsson in der Långholmsgatan 7 an.«
»Du bist hingefahren, oder?«
»Ich konnte keine Kamera finden, also habe ich mir Zugang zum Kamerabild verschafft.«
»Und was zeigt das Bild?«
»Einen Hausflur. Vielleicht ihrer. Sie will sich schützen.«
»Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, was heute passiert ist. Was ist daran verdächtig?«
»Verdächtig daran ist, dass sie von Judit Juholt erst heute morgen erfahren hat. Die Kamera hat sie aber schon gestern ausgeliehen.«

39

Der Taxifahrer hatte seinen rechten Arm wohl den ganzen Tag lang auf der Lehne des Beifahrersitzes liegen. Er musste ihn nur ein wenig anheben und konnte für die Touristen auf der Rückbank auf ein vorbeiziehendes Gebäude deuten. Und beim Bezahlen war die Angewohnheit auch günstig.
»Die Tram fährt erst wieder seit heute Nachmittag«, sagte er.
»Tram?« Kjell kannte den Ausdruck nicht.
»Der Sturm hat die Leitungen zerfetzt.«
Kjell beugte sich vor und sah hinaus. Regentropfen auf der Scheibe brachen die Sicht. Was Stockholm mit Schnee bedeckt hatte, war als trockener Sturm über Mitteleuropa gezogen und hatte überall Verwüstungen angerichtet. Für die alten Bäume am Stadtring war es das Ende gewesen. Sie lagen zersägt und angehäuft am Straßenrand und warteten auf den Abtransport. Es war überhaupt nicht das Wien, das er im Frühling gesehen hatte. Damals hatte Linda ihre Wohnung bezogen.
Kjell beugte sich weiter vor. »Verletzt wurde niemand, sagten Sie?«
»Hier in Wien nicht. Wien ist stabil.«
Kjell sank in die Lehne. Linda fuhr mit großer Leidenschaft Straßenbahn, das wusste er.
Einige Minuten später stand Kjell vor dem weißen Haus in der Lehárgasse und legte den Kopf in den Nacken. Kein einziges Fenster leuchtete. Nur ausländische Studenten wohnten in dem Gebäude. Linda hatte als einzige Studentin die Weihnachtstage über hierbleiben wollen. Da sie im Februar ohnehin nach Stockholm zurückkehrte, hätte sich die Reise nicht gelohnt. Sie feilte gerade an einer wichtigen Arbeit. Ihre Klasse an der Kunstakademie trug den geheimnisvollen Namen »Erweiterter Raum«.
Kjell fischte das Kuvert aus der Tasche seines Mantels. Darin wartete der Ersatzschlüssel auf den Tag, an dem Linda anrief und um eine Eilsendung bat. Der Tag war nie gekommen. Linda hatte sich in der Fremde verändert. Sie war umsichtiger geworden und mit ihren Gedanken anwesender.
Leider nicht mit ihrem Körper, dachte Kjell und nahm Treppe um Treppe. Die Tür war verschlossen. Im Flur lehnten mannshohe Leinwände an der Wand. Kjell machte Licht und prüfte, ob die Bilder von Linda stammten oder von ihrer Mitbewohnerin. Wenn er sich nicht irrte, stammte die aus Bratislava oder Prag. Es roch nach Farbe. Zu Hause in Stockholm hatte sich der gewohnte Geruch aus der tochterlosen Wohnung verflüchtigt. Lindas Zimmer lag rechts. Auch dort machte er Licht. Das Bett war ungemacht. Kjell betrachtete die Decke und hegte keinen Zweifel, dass nur Linda selbst das Bett so hinterlassen haben konnte. Er schritt durch den länglichen Raum und suchte vergeblich auf Tisch und Ablagen nach einem Zettel oder einem anderen Indiz, das Aufschluss über ihren Verbleib gab. Zuletzt öffnete er noch den Schrank. Linda war zu lange fort von ihm, als dass er hätte beurteilen können, ob ihre Kleidung vollständig war.
Das Zimmer der Mitbewohnerin war viel karger eingerichtet. Offenbar zeichnete sie vor allem mit Kohle. Leinwände gab es nicht, dafür waren viele Skizzen über dem Tisch an die Wand geheftet.
Er hielt gerade in der Küche ein Glas unter den Wasserhahn, als sein Telefon klingelte.
Es war Nils Kullgren. »Bist du schon da?«, fragte er.
Kjell sank auf den Küchenstuhl und beschrieb die Lage.
»Du hättest nicht allein fahren dürfen.«
»Ja.«
»Es war deine Idee.«
»Ja.«
»Lass mich ein paar Anrufe tätigen und bleib, wo du bist.«
Kjell trank ein weiteres Glas Wasser. Er hatte etwas Deutlicheres erwartet. Dass Linda eine Spur hinterließ - wie ein abgehängtes Bild dunkle Ränder an der Wand. Am Zustand der Wohnung ließ sich unmöglich sagen, wo sie geblieben war.
Seine Pläne reichten nur bis hierher. Wo er schlafen und wie es weitergehen sollte, hatte er sich nicht überlegt.
Er ging zum Telefon und vergewisserte sich, dass es funktionierte. Warum hatte neulich ein Mann abgehoben? Kjell prüfte das Bad, aber der Deckel der Toilette war geschlossen. Auch das Waschbecken glänzte.
Wieder klingelte es.
»Bist du noch in der Wohnung?«, fragte Kullgren.
»Ja.«
»Warte dort. Jemand kommt.«
»Österreicher?«
»Antiterror. Sie prüfen die Wohnung.«
»Danke.«
Kullgren wagte nicht, einfach aufzulegen. Es erstaunte Kjell, dass ausgerechnet er der erste Anrufer seit seiner Ankunft war. Er war trotzdem ein Lackaffe.
Kullgren räusperte sich. »Eine Sache noch. Hast du etwas Sonderbares an Sofi bemerkt?«
Kjell rieb sich über die Stirn. »Man bemerkt jeden Tag Sonderbares an ihr.«
»Ich meine es ernst.«
Kjell überlegte, bevor er antwortete. »Ich hatte das ganze Jahr Elternteilzeit. Wir waren nicht sehr oft zusammen.«
»Wie verhielt sie sich in den letzten Tagen?«
»Nervös. Sie war nervös und abwesend.«
»Melde dich«, sagte Kullgren und legte auf.
Kjell wartete auf die Türklingel und begann, diesen nebligen Fall zu hassen.

40

In einiger Entfernung kratzte eine Schneeschaufel über die Eisplatten, aber sonst war es still. Tholander starrte auf das Haus. Was er tat und was er dachte, hatte stets ein Ziel. Das unterschied ihn von den meisten Menschen und war zugleich sein Geheimnis: Den Kern zu erkennen und sich nicht von Unwichtigem in die Irre führen zu lassen. Dass er bei seinen Aktionen so stillsitzen konnte, hatte einen weiteren Vorteil. Eine halbe Stunde in seinem Wagen oder auf einer Parkbank genügte, um zu wissen, ob es eine gute Wohngegend war oder nicht. Kaum ein Mensch tat das, die Erkenntnis kam erst, wenn ein Drittel des Wohnkredits bereits abbezahlt war.
Das Telefon klingelte. Tholander nahm es vom Beifahrersitz, ohne den Blick vom Haus zu lösen.
»Wieso hat das so lange gedauert?«, fragte er.
»Es war kompliziert«, begann die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Sofiaglück gehört nicht zur HSB-Genossenschaft.«
»Sofiaglück?«
»Der Name der Hausgenossenschaft.«
»Verdammt, worauf die Leute kommen. Wie lautet der Code?«
»1377.«
Tholander drückte den roten Knopf und steckte das Telefon in seine Manteltasche. Die Standheizung ließ er eingeschaltet, denn es würde ein kurzer Besuch werden. Unterwegs breitete er mehrmals die Arme aus, um auf dem rutschigen Grund nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Er gab den Code ein und betrat das Treppenhaus. Im ersten Stock hielt er inne und entfaltete den Ausdruck. Zweifel tauchten in ihm auf. Er durchquerte den Flur bis zum Absatz der Treppe, die hinauf in die zweite Etage führte. Hier wandte er sich um und verglich erneut, aber es nutzte nichts. Vorsichtig erklomm er die nächste Treppe. Tatsächlich, im zweiten Stock gab es wie auf dem Bild drei Türen, und die Wände waren hellblau. Er stellte den Kragen seines Mantels auf, um sein Gesicht zu verbergen, und huschte durch den Gang bis zur dritten Tür, die im toten Winkel der Kamera lag. Wieder hob er das Bild und verglich. Es stimmte mit der Wirklichkeit überein.
Sofi Johansson überwachte ihre eigene Wohnung.
Die zweite der drei Türen musste ihre sein. Namensschilder gab es nicht. Er suchte die Decke ab und entdeckte die Kamera an der Deckenleuchte. Wenn jemand wirklich in das helle Licht blickte, würde er das winzige Gehäuse für ein Relais halten.
Er schob seinen Ärmel hoch. Ein Uhr sechs. Nichts regte sich im Haus. Er verharrte einige Minuten im toten Winkel der Kamera, dann trat er den Rückweg an. Als er sich im Wagen die Mütze vom Kopf zog, klingelte wieder das Telefon.
Diesmal war es Bertil. »Johansson ist vor zwei Minuten rausgekommen und in ein Taxi gesprungen.«
»Bist du noch vor dem Berns?«, fragte Tholander. Seit hundertfünfzig Jahren war das Lokal Berns der Treffpunkt für die üblichen Verdächtigen. Da war Johansson keine Ausnahme.
»Ich bin reingegangen. Sie war nicht im Lokal, sondern im Hotel.«
»Hotel? Was für ein Hotel?«
»Das Berns hat auch Zimmer, weißt du das nicht?«
Tholander brummte.
»Höchste Kategorie. Der Rezeptionistin nach war sie mit einem Mann dort. Der muss noch im Zimmer sein.«
»Auf welchen Namen läuft das Zimmer?«
»Ein erfundener Name: Theresa Julander.«
Tholander lächelte zum ersten Mal seit Heiligabend. Offenkundig bildete sich Julander die Abneigung von Johansson doch nicht ein. »Wann genau ist sie rausgekommen?«
»Ein Uhr sieben.«
Tholander legte auf. Also war der Sender an der Kamera aktiv. Er hatte sie bei seinem Ausflug ausgelöst. Tholander kurbelte die Rückenlehne nach hinten und wartete auf Johanssons Taxi.