DIENSTAG 25. DEZEMBER

4

Inspektorin Snæfríður Jómundardóttir zeichnete mit der Fußspitze unsichtbare Buchstaben auf den Boden. Seit zwanzig Minuten saß sie schon auf den Stufen des Treppenhauses und wartete. Es war erst neun Uhr. Außerdem roch es nach Staub. Als die schwache Deckenlampe zum zwanzigsten Mal erlosch, stand sie auf. Inzwischen fand sie den Schalter auf Anhieb. Sie setzte sich wieder und seufzte. An Hausbesuche war sie noch nicht gewöhnt.
Snæfríður stammte aus Island und hatte bei der Wirtschaftskriminalität gearbeitet. Im vorletzten Herbst hatte sich diese Kombination mit einem Schlag als äußerst aufreibend herausgestellt. Ihre Landsleute hatten jahrelang in Zentralskandinavien gehaust wie Wikinger. Kaufhausketten, Zeitungsimperien und Werften hatten sie in Dänemark und Schweden gekauft und alles mit sich in den Abgrund gerissen. Vom ersten Tag der Finanzkrise an hatte sich Snæfríðurs Berufsleben dramatisch verändert. Heiß begehrt von allen Behörden, hatte sie zunächst geglaubt, es ginge mit ihrer Karriere nach oben, bis sie begriff, dass es in Wahrheit nach unten ging. Als sie im Frühjahr eine Fremdsprachenkorrespondentin des Wirtschaftsministeriums zu werden drohte, hatte sie sich bei Cederström beworben. Der hatte sie zwar bei der Reichsmordkommission aufgenommen, jedoch umgehend zu einer mehrmonatigen Ausbildung in Verhörtechnik nach Amerika geschickt. Von dort war sie erst vor kurzem heimgekehrt und in ihrer neuen Abteilung daher eine blutige Anfängerin, die bei jedem Schritt zögerte.
Endlich öffnete unten im Erdgeschoss jemand die Tür. Snæfríður hörte Schritte im Korridor. Gummisohlen quietschten auf dem alten und glattgelaufenen Steinboden. Als nach fünf Schritten ein Stöhnen bis hinauf zu ihr in die vierte Etage drang, war sie sich sicher, dass es ihr Kollege Henning Larsson war. Er hatte soeben entdeckt, dass es keinen Aufzug gab.
Sie lächelte vor sich hin und blieb sitzen. Die Schritte und das Ächzen kamen immer näher.
»Heute ist nicht mein Tag!«, stöhnte Henning Larsson auf den letzten Stufen. »Das kann ich jetzt schon sagen, obwohl ich noch nicht lange auf den Beinen bin.« Er sank mit seinem massiven Körper neben ihr auf den Treppenabsatz und keuchte. »Ist es diese Tür da?«
Snæfríður nickte und zauberte den Schlüssel hervor.
»Erst trinken wir unseren Kaffee.« Er hatte zwei Becher dabei, die er vorne an der Ecke gekauft haben musste. Sonst hatte heute alles geschlossen. »Ganz schön heruntergekommen hier.«
Das stimmte. Ein gräulich glänzender Schleier lag in allen Winkeln.
»Wartest du schon lange?«
»Eine Viertelstunde vielleicht. Es war ein wenig unheimlich, weil es so still ist.«
»Das ist an Werktagen anders. Da wackeln hier die Wände, wenn draußen die Lastwagen vorbeirasen.«
Das Haus stand am schmutzigen Ende der Långholmsgatan kurz vor der Brücke. Wegen des starken Verkehrs war die rote Farbe der Fassade von Ruß bedeckt.
»Für mein letztes Stündchen hätte ich mir auch ein hübscheres Plätzchen gesucht«, fand Henning irgendwann.
Snæfríður hatte genau dasselbe gedacht. Henning konnte in den Gedanken anderer Menschen lesen wie im Sportteil des Abendblatts. Er war von so enormer Statur, dass Snæfríður ihn bei ihrer ersten Begegnung darauf angesprochen hatte. Er habe sich vor einem Vierteljahrhundert in den Polizeidienst gezwängt wie eine Dogge in einen Kaninchenbau. Und wenn man einmal drinsteckte, bekam einen niemand mehr heraus.
Henning war dreiundfünfzig. Ohne jeden Ehrgeiz und ohne jedes Zutun, wie er immerfort betonte, hatte er es von der Södermalmer Maria-Wache bis zum stellvertretenden Kommissar der Reichsmordkommission geschafft. Soweit Snæfríður es bis jetzt beurteilen konnte, bestand seine Ermittlungsmethode ausschließlich aus unruhigen Gefühlen in der Magengegend, was in seinem Kopf aus heiterem Himmel Ahnungen auslösen konnte, mit denen Henning signifikant über dem Zufallsdurchschnitt lag. In diesem Jahr hatte er die Reichsmord als Kommissar geleitet, während ihr eigentlicher Leiter Cederström seine Arbeitszeit für die Erziehung seiner kleinen Tochter auf ein Viertel gesenkt hatte und nur für gelegentliche Unterschriften vorbeigekommen war. Formal galt Cederström immer noch als Voruntersuchungsleiter.
»Cederström«, knurrte Henning Larsson in diesem Moment. »Wenn der noch einmal etwas unterschreibt, kann er was erleben.«
Die Unterschrift war der Grund, weshalb sie beide hier am frühen Morgen des Weihnachtstags auf einer schäbigen Treppe in der Långholmsgatan saßen und auf eine grüne Tür starrten. Henning war nach einem beunruhigenden Anruf des Kriminaldienstes noch früher an diesem Morgen aus dem Bett gesprungen und nach Kungsholmen gerast, um den Schaden zu beheben, den Cederström mit seiner Unterschrift am gestrigen Abend angerichtet hatte, doch es war bereits zu spät gewesen. In der Nacht hatte der Kriminaldienst Cederströms Unterschrift auf dem Tatortprotokoll entdeckt und die Akte der Reichsmord zugeordnet.
»Wo sie überhaupt nicht hingehört!«, hatte Henning geschimpft und dem Leiter der lokalen Mordkommission die Akte auf den Schreibtisch geschmettert.
Das Schmettern hatte überhaupt nichts genutzt. Hennings Gegenüber hatte mit seiner verschnupften Nase unverschämte Geräusche gemacht und dabei gegrinst. »Wir sind überlastet«, hatte der Leiter der Lokalen behauptet und damit alle anderen Verbrechen aus Leidenschaft gemeint. Vor allem aber sechs weitere Selbstmorde. »Von anderen Abteilungen nehmen wir vor Neujahr nichts an.«
»Ich habe natürlich erwidert, dass der Fall nie bei uns lag und alles nur ein Missverständnis ist«, erklärte Henning seiner Kollegin nun.
»Genutzt hat es nichts, oder?«
Henning Larsson zerdrückte den geleerten Kaffeebecher. »Cederström hat das Formularfeld für den Voruntersuchungsleiter leer gelassen. Und der Kerl vom Kriminaldienst hat dort Cederströms Namen nachgetragen.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Snæfríður. Sie neigte stets dazu, ihr Los anzunehmen und nach vorn zu blicken.
Henning öffnete die Akte auf seinem Schoß. »Elin Gustafsson, 32 Jahre, arbeitet in einem Telia-Shop am Ringvägen. Wir gehen rein, und wenn uns nichts auffällt, sind wir in zwei Stunden fertig.«
Während Snæfríður die Tür aufschloss, schaltete Henning das Diktiergerät ein. »Aktenzeichen S195632, 25. Dezember, 8 Uhr 41, Öffnen der Wohnung von Elin Gustafsson in der Långholmsgatan 7, vierter Stock, durch die Polizeibediensteten Kriminalkommissar Henning Larsson und Kriminalinspektorin Snæfríður Jómundardóttir, Haupteinheit Reichsmord. Jesus! Eine Höhle!«
»Was meinst du?«
Henning trat in den Flur und vollführte eine Drehung, die man bei schlankeren Menschen Pirouette nannte. Snæfríður folgte ihm und drückte die Wohnungstür zu. Ihr letzter Dienstbesuch in einer Wohnung lag in ihrer Vergangenheit bei der Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Damals hatte es so nach Essen und Schweiß gestunken, dass Snæfríður jetzt zuerst auf den Geruch achtete. Aber er war freundlich-neutral und ein bisschen weiblich. Henning betätigte zwei Lichtschalter. Sie standen noch im Flur. Von dort aus sahen sie sich um.
Keine lässig arrangierte Einrichtung, wie Snæfríður es von schwedischen Wohnungen gewohnt war, obwohl man an allen Stellen Liebe zum Detail erkannte. »Es sieht aus, als wären das ihre allerersten eigenen Möbel aus der Studentenzeit, die sie im Laufe der Jahre nur erweitert hat. Aber einen Neubeginn gab es nicht.«
Henning blätterte in der Akte bis zum Volksbuchauszug und nickte zur Bestätigung. Dann lenkte er Snæfríðurs Blick auf die Regalbretter zwischen Garderobe und Decke. Es gab sehr viele Dinge in Elins Leben, wirklich sehr viele, die verstaut werden mussten. Der Boden im Flur war beinahe zur Gänze mit Teppichen ausgelegt. An der Wand entdeckten sie eine Zeitschaltung für das Licht. Henning drehte das Rädchen bis zur Neunzehn. Sämtliche Lampen in der Wohnung sprangen an. »Damit es gemütlicher ist, wenn man nach Hause kommt«, diktierte er in sein Aufnahmegerät. »Deutet auf eine Kontaktstörung hin.«
Snæfríður staunte. »Ein mutiger Schluss, wenn man erst den Lichtschalter im Flur gesehen hat.«
Henning drückte mit seinem dicken Daumen auf die Pausentaste. »Wollten wir nicht in zwei Stunden fertig sein?«, erwiderte er. »Sie hat ihre ganze Freizeit hier verbracht, da kannst du sicher sein. Sofi hat auch so eine. Eine Zeitschaltung, meine ich.«
»Müssen wir auf eine bestimmte Art vorgehen?«, fragte sie. »Ich habe noch keinen Selbstmord bearbeitet.«
»Du schleichst herum. Ich nehme mir die Dokumente vor. Und denk an unsere Deadline!«

5

Kjell stellte den Kragen seines Mantels auf und trat in die Morgenfinsternis. Die angefrorenen Schneeflocken knisterten und pikten auf der Haut.
Eine schlechte Nacht lag hinter ihm. Zweimal hatte er im Traum das Unbehagen durchlitten, helle Luftblasen aus einer finsteren und grundlosen Tiefe aufsteigen zu sehen. Dazu die schreckverzerrten Gesichter der anderen am Ufer. Hoffentlich bringe ich es im Sommer über mich, am Strandbad zu schwimmen, dachte er beim Schlurfen durch den Schnee, der ihm über die Knie reichte und in Klumpen an der Hose klebte. Mehrmals blieb er stehen, um sich den Grimm und den Schnee von Brust und Schultern zu klopfen. Als er die kleine Brücke nach Långholmen erreichte, stand Esbjörn Fors bereits da, unter der einzigen Laterne weit und breit. Deshalb war er in der Finsternis gut zu sehen. Während der Hund mit der Schnauze über den Boden jagte, starrte Fors mit zurückgelegtem Kopf in die Krone eines Baumes. Die Hundeleine baumelte in seiner Hand.
»Esbjörn Fors?«, erkundigte sich Kjell, eher zur Begrüßung als aus Unklarheit, denn außer dem Nachbarn, der ganz vernarrt ins Schneeschaufeln zu sein schien, war ihm seit der Wohnungstür niemand begegnet.
Fors nickte, ohne den Blick von der Baumkrone zu lösen. Er legte den Zeigefinger an die Lippen, bevor er ihn hinauf zum schwarzen Geäst richtete. Sekunden verstrichen. Dann begann dort oben ein Vogel zu zwitschern.
»Der ist wohl nicht ganz bei Trost«, fand Kjell.
»In jedem Fall ein Irrer«, flüsterte Fors und drehte endlich den Kopf in Kjells Richtung. »Aber einer, der die Hoffnung nicht aufgibt. Die arme Frau.«
»Danke, dass du zurück nach Stockholm gekommen bist«, sagte Kjell beim Händeschütteln.
»Ich wäre besser gar nicht losgefahren«, erwiderte Fors ohne jede Reue in der Stimme. Er roch einige Meter weit nach Seife und hatte millimeterkurze Haare. Der Hund war ein Widerspruch zu Kjells erstem Eindruck. Er war nämlich so gut wie überhaupt nicht erzogen und ignorierte jeden Befehl, den Fors ihm gab.
Kjells Kollege Henning Larsson hatte diese Stelle nicht zufällig mit Fors als Treffpunkt vereinbart. Fors und sein Hund betraten Långholmen stets über die Pålsund-Brücke.
Was jenseits der Brücke geschah, entschied einzig und allein der Hund, gestand Fors, nachdem sie aufgebrochen waren. Kjell bat darum, dieselbe Route abzulaufen wie gestern. Dazu mussten sie den jungen Spaniel gemeinsam wie ein Kaninchen einfangen und anleinen. Der Hund sprang an seinem Herrchen hoch. Er wollte noch einmal freigelassen und dann wieder eingefangen werden.
»Fidel hat auch Qualitäten«, sagte Fors. »Heute Morgen hat er meinen Wagen gefunden. Sonst würde ich jetzt noch mit dem Besen einen Schneehaufen nach dem anderen ausprobieren.«
»Fidel?«
Fors nickte. »Weil er stundenlang bellen kann.«
»Warum bist du gestern am Mittag und zwei Stunden später noch einmal hierher?«
»Wir gehen immer zur Mittagszeit, vom Schnee war jedoch noch nichts zu sehen gewesen. Als er dann kam, habe ich beschlossen, lieber früher zu meiner Schwester aufzubrechen. Aber vorher musste Fidel eine große Runde laufen, damit er es am Abend bei meiner Schwester nicht zu weit treibt.«
Bis zum Freilichttheater hielt Kjell den Mann für einen prinzipientreuen Frühaufsteher, vor allem wegen seines Geruchs nach Seife, doch bis zum Bellman-Häuschen oberhalb des Strandbades erfuhr er, dass Esbjörn Fors von 1962 bis zum Frühling an der Grundschule von Högalid unterrichtet hatte. Zuerst die Erstklässler, später die höheren Klassen. Den Tagesablauf eines Lehrers hatte er auch im Ruhestand nicht aus dem Blut bekommen und sich deshalb den Hund angeschafft. Für Kjell war das die Erklärung. Er hatte sich nämlich seit dem gestrigen Abend gefragt, wer auf die Idee kam, sich für einen Menschen aus hundert Metern Entfernung verantwortlich zu fühlen und die Polizei zu alarmieren. Dazu war nur ein Lehrer imstande.
»Ich frage mich die ganze Zeit, ob die arme Frau vielleicht eine ehemalige Schülerin von mir war.«
»Da kann ich dich beruhigen. Sie ist außerhalb der Stadt aufgewachsen und erst nach der Schule hierhergezogen.«
»Da unten«, sagte Fors.
Neben dem Weg fiel die verschneite Wiese sanft ab bis zum Wasser. Selbst an der Stelle, wo die Techniker den Schnee bis zum Rasen abgetragen hatten, war nichts mehr von den Ereignissen am Abend zuvor zu sehen. Dafür hatte der Schneefall gesorgt, der weiter anhielt.
Fors war etwa zur selben Zeit wie jetzt zum ersten Mal hier eingetroffen. Und wie jetzt war der Hund den Hang hinabgejagt. »Wenn es wärmer ist, schwimmt er eine Runde. Gestern ist er nur durch das flache Wasser gejagt, genau wie jetzt.«
Fidel stürmte durch das Wasser, den ganzen Strand entlang, und galoppierte am anderen Ende der Wiese wieder den Hang hinauf. Über den oberen Weg, wo gestern die Fahrzeuge gestanden hatten, kehrte er zu ihnen zurück und wedelte mit dem Schwanz. Diese Prozedur wiederholte Fidel noch zwei Mal.
»Du schaust also genau hin«, sagte Kjell.
Fors nickte. »Ich schaue ihm immer zu. Im Sommer muss ich besonders achtgeben. Es erzürnt die Badegäste natürlich, wenn sie nackt auf der Wiese liegen und von einem Hund wachgeleckt werden.«
»Dann bist du also ganz sicher, dass die Frau am Morgen noch nicht da saß?«
»Natürlich.«
»Bist du dir wirklich sicher?«
»Ja. Es wäre ja auch nicht wahrscheinlich.«
»Deshalb frage ich so eindringlich. Hast du es gesehen? Oder hältst du es für wahrscheinlich?«
»Ich habe es gesehen. Daran besteht kein Zweifel. Ich lasse Fidel keine Sekunde aus den Augen, wenn er am Wasser ist.«
»Gut, haken wir die Morgenrunde ab. Am Mittag war sie da?«
»Ja. Wir sind erst nach den Nachmittagsnachrichten los. Also muss ich diese Stelle hier zwischen Viertel nach drei und halb vier erreicht haben.«
Und da waren der Sonnenschirm und der Liegestuhl am Strand gewesen. Von hier oben hatte Fors nur die Füße unter dem Schirm herausragen sehen und nicht gewusst, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörten.
»Der Liegestuhl hätte mir eingeleuchtet, nicht jedoch der Sonnenschirm. Die Sonne ging doch schon unter.«
Das war in der Tat irritierend. Fidel hatte sich von dem sonderbaren Arrangement nicht irritieren lassen. Fors’ dritter und letzter Spaziergang fand um kurz vor fünf statt. Er hatte ihn vorgezogen, als der Schnee zu fallen begann, um früher losfahren zu können.
»Das gleiche Spiel«, erzählte Fors. »Da habe ich mich schon gewundert, dass sich die Gestalt wieder nicht rührte. Sie saß immer noch da. Aber ich wollte nicht wie ein Förster zu ihr hingehen und fragen, was da los ist.«
Erst viel später im Auto hatte Fors sich ernsthaft gewundert, warum die Person sich nicht gerührt hatte, selbst als Fidel nahe an ihr vorbei durchs Wasser trabte. Nachdem Fors und Fidel von der Nachmittagsrunde heimgeeilt waren, stiegen sie sofort ins Auto und fuhren los.
»Da ging der Sturm richtig los. Es gab einen Stau auf der Brücke, und ich habe von dort oben einen Blick zurückgeworfen. Da war unten alles neblig, aber den Schirm hat man noch gesehen.«

6

Henning spazierte geradewegs zu dem Doppelregal, dessen Bretter sich unter der Last der Bücher durchbogen. Ganz unten gab es drei Ordner.
»Ich habe, was ich brauche«, sagte Henning und ließ sich mit den Ordnern auf dem Sofa nieder.
Snæfríður stand unschlüssig im Raum. »Hast du irgendwo etwas entdeckt, das wie ein Abschiedsbrief aussieht?«
»Danach brauchst du gar nicht zu suchen.«
»Aha. Was soll ich dann tun?«
Henning blickte auf. »Dort steht eine Stereoanlage. Mach sie mal an.«
Sie tat es zögernd, weil sie nicht verstand, was Henning damit beabsichtigte. Aber Henning hatte während seiner Zeit in der Maria-Wache jahrelang die Selbstmorde auf den Schreibtisch bekommen und kannte bestimmt jede Abkürzung. Snæfríður hatte seit einer Ewigkeit keine Stereoanlage von dieser Größe mehr gesehen, zuletzt in ihrer Jugend. Nach dem Einschalten tat sich nichts.
»Die Tonquelle ist auf CD gestellt. Soll ich auf Play drücken?«
Henning brummte. Er hatte sich über den ersten Ordner hergemacht, doch die einsetzende Musik riss ihn aus seiner Versenkung. Das Lied war alt und begann mit tiefen Klavierklängen, nach einigen Takten setzte ein Xylophon ein. Snæfríður stürzte zur Stereoanlage und drehte an den Knöpfen, bis es leiser wurde.
»Der stand auf zehn! Entschuldigung, darauf habe ich nicht geachtet.«
»Dreh wieder auf!«
Streicher kamen hinzu, und schließlich der Gesang. »Ich will dich! Und niemals darfst du mich verlassen!«, sang eine altmodisch klare Frauenstimme.
Snæfríður starrte Henning an. Henning starrte die Stereoanlage an.
Ich will dich! Mein ganzes Herz gebe ich dir!
»Das kenne ich!«, rief Henning gegen die Musik an. Sein Blick war ernst. »Eine Schlagersängerin. Als ich jung war. Wie hieß die noch?«
»Wann warst du jung?«
»Irgendwann in den Sechzigern.« Henning schnippte so lange mit den Fingern zum Takt der Musik, bis ihm der Name einfiel. »Marianne Kock!«
Nun bin ich es, die gibt. Kann nicht mehr warten. Komm her! Ich hab dir schon angesehen, dass du mich liebst.
Snæfríður floh vor Marianne Kock ins Schlafzimmer und kehrte kurz darauf zurück. »Noch mehr Bücher!«, schrie sie, denn die Melodie wurde immer dramatischer, und die Stimme von Marianne Kock auch. »Einiges auf Englisch, aber nicht viel.«
Sie verschwand im Bad.
Henning starrte wieder auf die Stereoanlage.
Ich will dich! Das war vom ersten Augenblick an so. Es fühlt sich so richtig an, dass aus uns beiden etwas wird.
»Henning, bitte komm mal!«
Als er ins Bad trat, endete draußen das Lied. Snæfríður stand vor dem Spiegel.
»Das ist alt«, murmelte Henning und fuhr mit der Spitze seiner Finger über den Lippenstiftstreifen auf dem Spiegel. I’m good for magic. And magic is good for me! Einige der Buchstaben waren nur noch aus dem Zusammenhang zu entziffern, weil die Lippenstiftfarbe bereits abblätterte. Snæfríður öffnete den Lippenstift auf der Ablage und drehte die Spitze heraus. Sie war intakt und wie das Negativ einer Lippe geformt.
»Dann hat sie es mit einem vorangegangenen Exemplar geschrieben«, folgerte Henning. »Oder noch früher.«
»Woher willst du wissen, dass sie es selbst geschrieben hat?«
»Es ist ihre Schrift.«
»Hast du dir die Bücher angesehen? Das meiste sind Fantasy-Romane. Harry Potter und …«
Draußen sprang wieder die Musik an. Dieselben tiefen Klaviertöne. Dasselbe Lied.
Ich will dich! Und niemals darfst du mich verlassen!
Snæfríður eilte hinaus und schaltete die Musik ab. Henning folgte ihr.
»Es stand nicht auf Repeat.« Sie öffnete das CD-Fach und zeigte Henning eine unbedruckte CD. Sie legte sie wieder ein und sprang mit der Vorwärtstaste von Lied zu Lied.
»Achtmal«, sagte sie schließlich. »Achtmal derselbe Schlager aus den Sechzigern.«
Snæfríður setzte sich zu Henning auf das Sofa. Die Polster waren weich und wie geschaffen für Menschen, die gerne sa- ßen.
Henning legte sich den aufgeschlagenen Ordner auf die Knie. »Eine Mitteilung vom Nationalen Hochschulamt in Umeå. Sie hat die Hochschulaufnahmeprüfung gemacht. Im Herbst.«
»Wofür braucht sie die?«
»Um studieren zu können. In meiner Zeit gab es das nicht, da machte man Abitur. Ich natürlich nicht, ich bin vorher zur christlichen Seefahrt.«
Snæfríður lachte. Sie war erst während ihrer Polizeiausbildung und am Beginn einer Liebesbeziehung zu einem Stockholmer nach Schweden gekommen. Die Schulzeit hatte sie in Reykjavík verbracht. Dort war es gang und gäbe gewesen, zur See zu fahren.
»Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, veröffentlichen die Abendzeitungen am Abend nach der Prüfung die richtigen Ergebnisse«, sagte Henning. »Man kommt erschöpft aus der Prüfung und erfährt gleich das Ergebnis.«
»Grausam. Man muss nur ankreuzen?«
Henning nickte.
»Das wird meine Hulda freuen.«
»Wie geht es Hulda?«, fragte Henning.
Snæfríður zog ein großes Schleppnetz durch ihr Leben, in dem sich dauernd neue Verantwortungen verfingen. Die nach zehn Jahren immer noch schlecht anlaufende Unternehmensberatung ihres Lebensgefährten Fredrik verlangte regelmäßige Kapitaleinlagen aus Snæfríðurs Gehaltskonto. Vor einem Monat hatte sie zudem ihre Sonderausbildung in Verhörtechnik in den Vereinigten Staaten abgebrochen, um zum Begräbnis ihres Großvaters nach Island zu reisen. Sie war nicht allein nach Stockholm heimgekehrt. Ihre vierzehnjährige Halbschwester, die zuvor beim Großvater gelebt hatte, lebte nun bei Snæfríður und Fredrik. Sie hieß Hulda, und außer ihrem Namen wusste Henning nur von den Sorgen, die Hulda ihrer großen Schwester bereitete.
»Sie läuft ständig draußen herum, am liebsten abends. Ich weiß nie, wo sie sich herumtreibt. Das macht mir ziemliche Sorgen.«
»Sie erkundet die Stadt. Du solltest es lockerer sehen.«
Henning wog ab, welche von Snæfríðurs Lasten die schlimmste war, und kam zu dem Ergebnis, dass er sich eher mit einem ausländischen Mädchen mitten in der Pubertät abfinden würde als mit dem zweiundvierzig Jahre alten Großmaul Fredrik und seiner jämmerlichen Unternehmensberatung.
Er selbst hatte es auch nicht leicht als freier Mann in den besten Jahren, mit den drei Zimmern seiner neuen Wohnung am Mosebacke Torg, die alle bewohnt werden wollten, mit einem Gehalt als Kriminalkommissar, dessen Großzügigkeit beim Ausgeben seine ganze Vorstellungskraft verlangte, sowie mit einer ziemlich fordernden Saisonkarte für Hammarby. Überdachter Sitzplatz natürlich.
Mit einem Seufzer beendete Snæfríður das Thema. Sie seufzte ziemlich viel, wenn man bedachte, dass sie gerade erst drei ßig war.
Henning deutete auf eine Zahl am Ende des Briefes. »Sie war nicht gut.« Er blätterte um und hielt die folgende Seite im ersten Moment für eine Kopie der vorherigen, aber das Datum wich ab.
»Sie hat die Prüfung zweimal gemacht«, murmelte Henning.
Zuletzt im Herbst. Das Schreiben als offizieller Bescheid über das Ergebnis war dann am 12. November angekommen. Davor hatte sie die Prüfung im Frühling gemacht. Dieses Schreiben stammte vom 28. Mai.
Henning blätterte weiter.
Ein weiteres Schreiben vom Hochschulamt, das inzwischen das Design seines Briefpapiers gewechselt hatte.
»Achtmal!«, resümierte Snæfríður, als Henning beim letzten Schreiben ankam. »Sie hat es achtmal versucht!«
»Allerdings jedes Mal besser als davor, das muss man auch sehen!«
Snæfríður fehlten die Worte. »Jedoch immer schlecht. Bei ihrer ersten Prüfung erhielt sie 0,3, bei der letzten 0,7.«
Da hatte sie recht. Um sich auf diese Art bis zur Bestnote 2,0 vorzuarbeiten, hätte Elin Gustafsson noch an sehr vielen Prüfungen teilnehmen müssen.
»Das Schulabgangszeugnis ist auch so«, sagte Henning. »Sie ist nicht überall schlecht, in DTK und NOG hat sie ganz gut abgeschnitten, aber die Lese- und Wortverständnisaufgaben wiegen so schwer, dass ihr Gesamtschnitt weit unter dem Mittelmaß liegt.«
»Was ist DTK?«
»Diagramm, Tabellen und Karten. NOG ist logisches Denken bei mathematischen Problemen.«
»Bei uns in Island heißt das Rechnen. Kann aber keiner.«
»Vielleicht hatte sie Prüfungsangst. Sofi fährt nachher mit der Betreuerin vom psychosozialen Dienst zu den Eltern. Lass uns abwarten, was die sagen.«
»Ist das ein Motiv?«, fragte Snæfríður und deutete auf den Ordner.
Henning konnte nur mit den Schultern zucken. Anscheinend war Elin Gustafsson von ihrem Wunsch, ein Studium zu beginnen, nicht leicht abzubringen gewesen, wenn sie achtmal zur Prüfung antrat. Er schaltete wieder die Musik ein.
Wir haben alles zu gewinnen. Nur ich und du, wir beide gehen auf Entdeckungsfahrt durch unsere eigene Welt.
Henning stellte sich ans Fenster. Ein Kleinwagen fuhr einsam auf der breiten Fahrbahn und schlingerte auf dem schneebedeckten Grund.
Snæfríður war auf dem Sofa sitzen geblieben und blickte erwartungsvoll auf ihren Kollegen.
Auch wenn es draußen stürmt und schneit, siegt die Liebe über alles!
Das Lied verstummte.
Henning steckte die Hände in die Taschen und schmatzte. »Gefällt mir nicht.«
»Welchen Eindruck hast du?«, fragte Snæfríður in die Stille.
»Das mit dem Lied gefällt mir nicht.«

7

Als sich im sechsten Stock des Polizeigebäudes die Türen des Aufzugs öffneten, stand dort die neue Reichspolizeichefin Lis Viklund. Ihre cremefarbene Sporthose deutete Kjell als Hinweis, dass auch sie nicht damit gerechnet hatte, heute Morgen hier einer Menschenseele zu begegnen.
»Was machst du hier?«, fragte sie. »Ist dein Urlaub schon zu Ende?«
»Ich habe einen Fehler gemacht.«
Kjell hatte keine Gelegenheit, diese Aussage durch eine Fortsetzung abzumildern. Da die Lichtschranke keinerlei Personenverkehr registrierte, schloss sich die Tür wieder. Erst durch eifriges Knöpfedrücken zu beiden Seiten der Tür öffnete sich der Vorhang für den zweiten Akt.
»Einen Fehler?«
»Ich habe der Reichsmord durch eine Unterschrift eine neue Sache eingehandelt. Da kann ich die anderen an den Feiertagen nicht damit alleinlassen.«
Lis Viklund hatte ihr Amt erst vor einigen Wochen angetreten. Als erste Chefin der Reichskriminalpolizei war sie nicht aus der juristischen Fakultät eingeschwebt, sondern hatte sich von der Norrmalm-Wache bis hierher in den sechsten Stock der Reichskrim hochgearbeitet. Und nun wollte sie mit dem Aufzug wieder hinab.
»Wohin fährst du?«, fragte er und deutete auf die Reisetasche in ihrer Hand.
»Ich habe mir ein Häuschen ohne Strom gemietet, mitten im Nirgendwo, um einmal im Jahr für ein paar Tage nicht erreichbar zu sein.«
Sie war nur zwei Jahre älter als er, aber zwischen Augen und Mund zeugten zahlreiche Aufopferungs- und Erleichterungsfalten von ihrem langen Weg. Zehn Jahre hatte sie als Chefin der Stockholmer Bezirkspolizei durchgehalten. Das war nach der Kantinenchefin der härteste Posten bei der schwedischen Polizei.
Kjell fürchtete sich ein wenig vor ihr wie vor einer strengen Tante. Ihrem Vorgänger Sten Haglund trauerte er allerdings nicht hinterher. Fünf Jahre lang hatte der immer dieselben Fragen gestellt, wie ein Zahnarzt bei der Halbjahreskontrolle, und sich in Krisensituationen so entschlossen verhalten wie eine geballte Schlagersängerfaust. Das war am Ende sein Spitzname gewesen.
»Wenn du nicht bald aus dem Aufzug steigst, ist Weihnachten vorüber.«
Kjell räumte den Aufzug.
»Es ist hoffentlich nichts Großes?«
»Nur ein Selbstmord.«
»Lass uns im neuen Jahr essen gehen.«
Kjell winkte zum Abschied. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging er zu seinem Büro. Nichts Großes. Was meinte sie damit? Doch wohl nicht etwa, dass sie sich in Zukunft in alles einmischen wollte?
Er betrachtete seinen bedenklich aufgeräumten Schreibtisch. Während seiner einjährigen Papateilzeit, bei der er nur drei Nachmittage in der Woche gearbeitet hatte und alle Entschlusskraft an Henning Larsson übergegangen war, hatte er nicht viel Gelegenheit bekommen, Sofi Johanssons Ordnungsliebe zu durchkreuzen. Seit drei Jahren teilte er sein Zimmer mit ihr, dennoch konnte er immer noch über den blauen Lappen lächeln, den sie nach dem Morgenputz zum Trocknen über die Heizung hängte. Sonderbar, dachte er, die chaotischsten Gemüter haben immer die ordentlichsten Schreibtische.
Mit ausgestrecktem Arm erreichte er ein Blatt Papier und überflog es. Henning hatte sich eine Agenda für Suizidfälle aus den Dienstvorschriften kopiert und die einzelnen Aufgaben mit den Namen der vier Mitglieder der Reichsmord beschriftet. Die Wohnung übernahmen Henning und Snæfríður, und Sofi erledigte seit einigen Stunden eine Reihe kleinerer Aufgaben. Eigentlich gab es noch ein fünftes Mitglied, aber Barbro Setterlind hatte rechtzeitig Urlaub genommen und tauchte nicht in der Liste auf. Sie am ersten Weihnachtstag anzurufen, hätte nur weitere Kapitalverbrechen heraufbeschworen.
Die Agenda für Suizidfälle endete mit einem Merksatz: Selbstmord ist ein Tötungsdelikt, bei dem Täter und Opfer identisch sind. Die Täterschaft ist nachgewiesen, wenn sich in der Voruntersuchung keine Hinweise auf andere Verdächtige ergeben.
Spitzfindiger konnte man nicht formulieren. Kjell setzte ein Häkchen hinter seinen Namen: Befragung von Augenzeugen abgeschlossen. Das hatte auch Sofi bei ihrer ersten Aufgabe schon getan. Ihre Ergebnisse lagen auf dem Schreibtisch. An der Fotokopie eines Zeitungsausschnitts klebte einer ihrer grünen Zettel, mit denen sie ihr ganzes Leben etikettierte: ›DL abgeschlossen. Sonst null Treffer! Bitte nichts unordentlich machen. Habe aufgeräumt. Bitte!‹
DL, das stand für ›digitales Leben‹. Die Menschen verbrachten ihr ganzes Leben im Internet, nur ermorden lassen wollten sie sich ausgerechnet in der Realität, für die Kjell Cederström zuständig war. Sofi hatte ihre Suche bereits abgeschlossen und war zum Glück auf keine virtuelle Zweitexistenz von Elin Gustafsson gestoßen, so dass sie sich zumindest nicht mit solchen Albernheiten herumschlagen mussten. Kjell zog den Zettel von dem Papier. Es war eine Fotokopie von einem Artikel im Svenska Dagbladet vom 27. Oktober. Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, brachten die Tageszeitungen am Tag der Hochschulaufnahmeprüfung einen Artikel, in dem immer dasselbe stand: Wie viele diesmal teilnahmen, was man können musste, und vor allem, welche Gegenstände man nicht zu Hause vergessen dürfe. Obwohl man nur einen einzigen Gegenstand benötigte, nämlich einen gespitzten Bleistift, schienen einige nach wochenlangem Lernen genau den zu vergessen. Der Reporter hatte einen findigen Einwanderer aus Marokko interviewt, dem eine sensationelle Geschäftsidee eingefallen war. An einem Tag im Frühling und dann noch einmal im Herbst stand er morgens mit einem Bauchladen voll gespitzter Bleistifte vor dem größten Gymnasium Stockholms. Den Rest des Jahres habe er frei, und ja, sein Beruf bereite ihm viel Freude.
Meist gab es immer noch ein Interview mit dem Prüfungsbesten vom letzten Mal. Das war grundsätzlich eine Frau, die aus einer Kleinstadt wie Nyköping kam und Empfehlungen gab, wie man es zur Höchstnote 2,0 bringen konnte. Zum Beispiel: In der einstündigen Mittagspause bloß nichts Schweres essen. Doch diesmal hatte der Reporter einen interessanteren Menschen aufgespürt: Elin Gustafsson aus Stockholm nahm zum achten Mal an der Prüfung teil. Am Bleistift lag es allerdings nicht. Sie komme mit den Kästchen nicht zurecht, die man ankreuzen musste, berichtete sie. Elin wollte an der Technischen Hochschule Civilingenieur studieren, scheiterte jedoch immer am Prüfungsteil ›Sprachverständnis‹. Obwohl sie viel lese, wisse sie während der Prüfung nicht, welches der fünf Synonyme zu ›nonchalant‹ das richtige sei. Anscheinend stand Elin mit ihrem Elend nicht alleine da, denn zum Abschluss zitierte der Artikel eine Reihe von Direktoren technischer und medizinischer Institute, die sich darüber ereiferten, wie viele der Begabtesten nicht Arzt oder Astronaut werden konnten, weil sie die Bedeutung der Nonchalance verkannten.
Mit offensichtlichen Selbstmorden hatte Kjell keine Erfahrung. Zur Sicherheit überflog er noch einmal das Merkblatt: Wie bei jedem anderen Gewaltverbrechen genügte ein technischer Beweis oder ein knappes Geständnis nicht, um die Voruntersuchung abzuschließen. Der Bericht musste verständlich machen, warum Elin ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte.
Bislang waren allerdings nicht einmal die Berichte von Per und Suunaat eingetroffen, dafür aber ein durchsichtiger Beutel mit Elins Halskette. Sie sei aus echtem Silber, hatte Per auf dem Aufkleber notiert. Die entscheidende Frage beantwortete er nicht: Wie lange hatte Elin die Kette getragen? Kjell spannte sie vor seinen Augen. Ein Davidsstern, dachte er zuerst, aber als der Anhänger zu zittern aufgehört hatte, erkannte Kjell nicht zwei Dreiecke, sondern drei. Deckungsgleiche Dreiecke, wie man es bei der Hochschulaufnahmeprüfung wohl nannte, und ineinander verschlungen.
Obwohl seine Knie von der Kälte draußen noch ganz steif waren, sprang er auf und musterte sein Büro. Irgendwo hatte er dieses Ornament schon einmal gesehen, und zwar häufig und in seiner nächsten Umgebung. Er studierte die Aktendeckel im Regal. Nein, mit den Fällen hatte es nicht zu tun. Dann wäre es ihm eingefallen. Er öffnete den Schrank, und tatsächlich: Auf der Verpackung des Kopierpapiers war dasselbe Zeichen abgebildet. Es war das Signet des Papierherstellers Svenska Cellulosa. Kjell nahm eine Packung heraus und überlegte, was das Logo bedeuten sollte. Stand jedes Dreieck für ein Blatt Papier oder einen gefällten Baum? Drei Tannen könnten es sein.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Mit dem Stapel in der Hand lief er hinaus in den Flur, um an der Tür nachzusehen. Sie war aus Glas und konnte nach Angaben der Sicherheitsabteilung Schallwellen und Eindringlinge abhalten, nicht jedoch Kjells verwunderten Blick. Das Mädchen auf der anderen Seite lächelte. Es trug einen gelb leuchtenden Regenmantel. Seine Füße und Beine steckten bis zu den Knien in grünen Gummistiefeln. Unter der Kapuze des Mantels zeichnete sich ein hellblonder Haaransatz ab.
Er öffnete. »Bist du etwa Hulda?«
Sie nickte. »Ich will Snaj abholen.«
Kjell sah auf die Uhr. »Snæfríður ist mit meinem Kollegen unterwegs. Aber lange kann es nicht mehr dauern. Seid ihr verabredet?«
Hulda nickte.
»Am besten kommst du herein. Du kannst einen Kaffee haben. Willst du?«
Hulda folgte ihm in den Besprechungsraum, wo er ihr an der Theke Kaffee einschenkte. Obwohl die Gummistiefel ziemlich groß wirkten, verursachten sie keine Geräusche. Hulda war eine versierte Gummistiefelgeherin.
»Hier wären Lussekatter.«
»Ich nehme eins«, sagte sie und griff ohne Scheu nach dem Safrangebäck.
Sie wechselten hinüber in Kjells Büro. Hulda nahm an Sofis Schreibtisch Platz und schob sich die Kapuze vom Kopf. Ihr Haar war so hell wie das seiner Freundin Ida.
»Hast du gewusst, dass Lussekatter gar nicht nach der Heiligen Lucia benannt sind, sondern nach Lucifer?«
Kjell blies über seinen Kaffee. »Das habe ich. Und woher weißt du es?«
Offenbar mochte Hulda gelbe Dinge, Regenmäntel und auch Safrangebäck. Sie biss ab und kaute eine Weile. »Ich bin der Sache auf den Grund gegangen«, antwortete sie nachdenklich.
»Aha«, antwortete Kjell, um einen vertraulichen Ton anzuschlagen. »Und was liest du da?«
Hulda sah an ihrem Mantel hinab. Aus der Tasche ragte ein Buch. Hulda zog es heraus und reichte es Kjell. »Fredrik hat es mir gegeben, für mein Schwedisch.«
Snæfríður zufolge hatte Hulda vor vier Wochen kein Wort Schwedisch verstanden. Inzwischen schien sie sich bestens darin auszukennen. Ihre etwas sonderbare Ausdrucksweise lag auf jeden Fall in ihrem Wesen und nicht in der neuen Sprache begründet.
Kjell klappte das Buch auf. Es war August Strindbergs Roman ›Das rote Zimmer‹.
»Da geht es um einen jungen Kerl, der durch Stockholm irrt.«
»Gefällt es dir?«
Hulda schüttelte den Kopf.
»Ist auch ziemlich alt. Vielleicht nicht das Richtige für dich.«
»Es ist pathetisch, das ist bei schlechten Autoren meistens so.«
Kjell stellte augenblicklich seine Kaffeetasse ab, solange er seine motorischen Funktionen noch kontrollieren konnte, und räusperte sich. »Es ist immerhin ein Klassiker. Die Geburtsstunde des modernen Romans, sagen viele.«
»Zugleich ein wichtiger Jahrestag des schlechten Romans.«
»Darf ich fragen, wie viele Bücher du in deinem kurzen Leben gelesen hast?«
»Dreitausend.«
Kjell überschlug diese Zahl. Das konnte nie und nimmer stimmen. Eigentlich bringe das Ende einer Geschichte die Wahrheit, behauptete sie. Bei Strindberg bringe die Wahrheit die Geschichte.
Die Gewissheit des zierlichen Mädchens blendete ihn. »Hier in Schweden mögen wir das«, entgegnete er zur Verteidigung.
»Was ist das?«
»Das hier?« Er war heilfroh, dass das Gespräch seine Richtung wechselte. »Eine Halskette. Die tote Frau trug sie. Als wir sie fanden.«
Wenn schon Strindberg Hulda nicht einschüchterte, so vermochte das der Tod erst recht nicht. Sie griff nach der Plastiktüte und betrachtete den Inhalt.
»Ich bin der Sache auf den Grund gegangen«, sagte Kjell auf dem Weg zum Papierschrank. Er nahm ein weiteres Paket heraus, weil er das andere in der Küche liegen gelassen hatte, und deutete auf das Signet von Svenska Cellulosa.
Hulda würdigte Kjells Entdeckung kaum und aß weiter. »Valhnútur. Das ist ein Knoten.«
»Knoten. Wie kommst du darauf?«
»Am Zaumzeug.« Sie vollführte eine Vierteldrehung auf dem Bürostuhl, damit er ihr Profil sah. Sie tippte sich an die Wange. »Hier, wo die Riemen zusammenlaufen.«
Vielleicht war Elin Gustafsson Reiterin gewesen, überlegte Kjell, sportlich hatte sie allerdings nicht ausgesehen. Eher dicklich. »Warum sollte sie so einen Knoten als Anhänger um den Hals tragen? Walknütürr heißt der? Bei euch in Island?«
»Oder Odins Knoten. Weil Óðinn ihn benutzt hat. Er hat damit die Kräfte der Gegner bei der Schlacht gebunden.«
»Odin?« Kjell verschluckte sich.
Sie schlürfte bestätigend an ihrem Kaffee. Ziemlich laut sogar.
»In Island mögt ihr solche Sachen. Neulich habe ich etwas in der Zeitung darüber gelesen.«
»Irgendeine Lüge müssen sich die Zeitungsleute ja einfallen lassen, hat mein Opa oft gesagt.«
Wenn er das zierliche Mädchen so reden hörte, konnte Kjell den toten Großvater leibhaftig vor sich sehen. Anscheinend war er zu seinen Lebzeiten ihr einziger Bezugspunkt gewesen. »Ich lese Svenska Dagbladet«, sagte er, um das Thema in andere Bahnen zu lenken. »Das ist eigentlich eine sehr gute Zeitung.«
»Es ist nur, dass bei uns immer der Wind pfeift. Ich zum Beispiel komme vom Djúp.«
Man konnte Hulda nicht in andere Bahnen lenken. Auf einmal verstand er Snæfríður, wenn sie darüber klagte, keinen Einfluss auf ihre kleine Schwester zu haben. »Was ist dieses Tjupp?«, fragte er also.
Hulda blickte zum Fenster, wo der Wind die Schneeflocken so heftig gegen die Scheiben wehte, dass man sich wie in einem dahinrasenden Auto vorkam. »Eine schaurige Tiefe. Ein Fjord mit hohen Bergen und tiefem Wasser.«
»Dürfte ich noch einmal auf Odin zu sprechen kommen?«, erkundigte sich Kjell. »Der Knoten hat also mit Odin zu tun?«
»Über Knoten weiß ich einiges, über Odin nicht. Der hat keine Bedeutung bei uns im Norden. Der Gott der Nordleute ist Þórr.«
»Stop, Hulda! Ich will nicht über Thor, sondern über Odin reden.«
»Warum?«
»Hast du schon einmal von Odins Auge gehört?«
»Am Mímisbrunnen hat er sein Auge geopfert. Mímir ist der Gott der Tiefe.«
»Der Tiefe?«
»Des Wissens. Außerdem Brunnenbesitzer.«
Kjell stand abrupt auf und stellte sich vor die Fensterscheibe. Odin hat also sein Auge geopfert, um zu tieferem Wissen zu gelangen. Deshalb hatte das Wetteramt seine Tiefenbojen ›Odins Auge‹ genannt. Sie waren kugelrund und sollten das Wissen über die Strömung im Fjord vertiefen.
Warum passierte das, fragte er sich. Warum sprang am Strandbad eine Boje dieses Namens aus dem Wasser, neben einer Toten, die einen Anhänger um den Hals trug, der ›Odins Knoten‹ hieß? Vernünftig betrachtet, konnte dazwischen keine Verbindung bestehen. Elin hatte mit der Boje nichts zu tun. Er musste ein Opfer seiner geschärften Sinne sein, so wie Kjell den Sprecher im Radio oft genau das Wort verwenden hörte, das Kjell gerade niederschrieb oder in einem Buch las.
Zweimal Odin. Das war eines jener unlogischen Zeichen, auf die Kjell dauernd stieß. Aber worauf wies das Zeichen? Er durfte um Himmels willen nicht übereifrig werden - kein Indiz deutete darauf hin, dass mehr an der Sache war. Andererseits hatte Elin in ihrem Liegestuhl direkt auf die Stelle geblickt, an der später die Boje aufgetaucht war.
Ein Rumpeln draußen im Korridor riss Kjell aus seinen Gedanken. Snæfríður und Henning trafen ein.
»Wir sind bei Fredriks Eltern eingeladen«, erklärte sie Huldas Anwesenheit.
Hulda zog sich ihre Kapuze über den Kopf, womit klarwurde, was sie von Snæfríðurs Lebensgefährten Fredrik und seinen Eltern hielt.
»Frohe Weihnachten!« Kjell winkte den beiden hinterher.
Mit einer Tasse Kaffee nahm Henning den freien Platz an Sofis Schreibtisch ein. Er schwieg und trank eine ganze Weile vor sich hin. Deswegen starrte Kjell weiter aus dem Fenster und wartete. Unten liefen zwei Männer durch den Park und rüttelten mit einer Stange den Schnee aus den Baumkronen.
Bisher hatte sich keines der Mitglieder seiner Gruppe beschwert, deshalb war ungewiss, ob sie den Weihnachtseinsatz der Fügung oder seinem Mangel an Gerissenheit anlasteten. Henning schwieg aus sehr vielen Anlässen, auch aus Wut, und dann immer am längsten.
Henning schniefte. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Habt ihr etwas gefunden?«
Henning deutete ein Kopfschütteln an. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Das Amulett vor dir auf dem Tisch heißt ›Odins Knoten‹. Ist anscheinend ein mythisches Bild.«
Henning reckte sich über den Schreibtisch und sah sich die Kette genauer an. »Und?«
»Gestern am Strand schoss eine defekte Boje aus dem Wasser. Kurz darauf kam ein Boot vom Wetteramt, um das Ding aus dem Wasser zu fischen.«
»Wieso geschossen?«
»Es ist keine schwimmende Boje, sondern eine Messboje, die am Grund befestigt war. Der ganze Fjord soll voll mit den Dingern sein. Sie messen die Strömung. Und jetzt kommt es: Die Bojen heißen Odins Augen.«
»Zauberkram war Elins große Leidenschaft«, brummte Henning und genehmigte sich eine Portion Tabak. Das tat er immer, wenn er nicht wusste, wie er reagieren sollte. »Vielleicht aber auch nur ihre zweitgrößte. Ich suche etwas Handfestes.«
»Was meinst du?«
Er brummte wieder. Sofis Telefon begann zu läuten. »Überall in der Wohnung lagen Schnüre und Stäbe, wie man sie für Zaubertricks braucht. Und diese schlechten Romane, in denen Trolle vorkommen.«
»Strindberg?«
»Nein.« Henning rieb sich am Kinn, ohne dem Telefon Beachtung zu schenken.
»Fantasy?«
»Genau das!« Endlich nahm er den Hörer ab und lauschte eine Weile, bevor er auflegte. »Suunaat Kjærgaard. Wir können jetzt vorbeikommen. Am besten sofort, sagt sie.«
Zwei Minuten später erreichten sie den Ausgang des Polizeigebäudes.
»Hast du Hulda eigentlich eine Besucherkarte ausgestellt?«, fragte Kjell in der Tür.
»Wieso fragst du?«
»Sie ist vorhin oben an der Glastür aufgetaucht.«
»Sie war erst einmal hier, gleich nach ihrer Ankunft in Stockholm.«
Die Tür fiel hinter ihnen zu. Kjell blickte zurück durch die Scheibe. Dann stemmte er die Tür wieder auf, durchschritt die Halle und steuerte auf die Rezeption zu. Henning blieb ihm dicht auf den Fersen. Hinter dem Tresen saß ein junger Mann in Uniform. Er war nicht allein, eine Frau stand in der Nähe, und in der Halle schlich ein Wachmann herum.
»Wo wart ihr eigentlich vorhin?«, fragte Kjell. »Vor einer Dreiviertelstunde?«
Der Mann blinzelte ins Ungewisse. »Hier natürlich. Seit ein Uhr sitze ich hier.«
»Warst du auf der Toilette?«
»Nein.«
»Mich hat vorhin ein vierzehnjähriges Mädchen besucht. Und hier ist meine Frage: Wie kann sie in einem knallgelben Regenmantel an dir vorbeimarschieren und ungehindert bis in den sechsten Stock gelangen?«
Henning zog eine Grimasse. Der Mann sah alarmiert auf, und seine Kollegin ebenso.
»Bist du sicher?«, fragte sie. Offenbar leitete sie die Schicht.
»Ich habe sie auch gesehen«, bestätigte Henning. »Ist euch klar, was alles passieren kann, wenn hier jemand eindringt?«
»Ich muss die Bänder prüfen«, murmelte die Frau und eilte zu ihrem Schreibtisch zurück.
Der junge Mann war auf seinem Stuhl erstarrt, zweifelte aber offenkundig nicht an seiner Aufmerksamkeit. Kurz darauf versammelten sich alle vor dem Monitor. Man sah den Wachmann in Schwarzweiß hinaus ins Freie eilen.
»Da hielt ein Wagen, der nicht zu uns gehört. Den habe ich überprüft.«
Das Video lief weiter. Der Uniformierte hinter dem Tresen nahm den Hörer des Telefons ab, die Frau gab etwas auf ihrer Tastatur ein. Hulda öffnete die Tür und steuerte in gerader Bahn an der Rezeption vorbei, durch die Halle hindurch zu den Aufzügen. Normalerweise bedurfte es einer Karte, um die Tür zu öffnen.
»Jesus!«, murmelte die Frau.
Ein Mann stieg aus dem Aufzug, grüßte Hulda freundlich und lief in den Feierabend.
»Da hat sie Glück«, knurrte Kjell. »Spaziert arglos herein, und dann kommt auch noch jemand mit dem Aufzug unten an. Ihr solltet von nun an besser miteinander kommunizieren. Immerhin trägt sie einen gelben Mantel. Und ihre Gummistiefel quietschen bestimmt auf diesem Boden.«
Henning bat darum, das Band noch einmal sehen zu dürfen. »Mit Glück hat es wenig zu tun, wenn du mich fragst«, sagte er danach und wollte das Band noch einmal sehen.
»Wonach suchst du denn?«, erkundigte sich Kjell nach der vierten Wiederholung.
Henning antwortete nicht und verlangte stattdessen nach den Bildern der Außenkameras. »Fünfzig Kronen, dass sie eine Weile draußen wartet.«
Kjell verweigerte diese Wette, weil er nicht verstand, worauf sein Kollege hinauswollte und was ihn so an den Aufnahmen interessierte.
»Wunderbar!«, hauchte Henning, als sie Hulda draußen stehen und dann loslaufen sahen. »Sie hat die Wachleute beobachtet, den Moment abgepasst und die Sache dann ohne Zögern durchgezogen.«
»Aber woher konnte sie wissen, dass am anderen Ende der Halle der Aufzug ankommen würde?«
Henning zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, aber das macht die Sache so erstklassig. Sie hat es faustdick hinter den Ohren, das sage ich dir.«

8

Der Violvägen wand sich wie eine mittelalterliche Gasse um die Anhöhe, dabei konnte die Siedlung nicht älter als fünfzehn Jahre sein. Sofi Johansson legte wieder ihr Fernglas an. Die Häuser waren alle Kopien des ersten Hauses der Straße, die ganze Siedlung wirkte wie an einem einzigen Tag erbaut. Wie fanden die Leute hier nur ihr eigenes Haus, fragte sie sich. Durch den Schleier aus Schneeflocken erkannte sie die Hausnummer nur unscharf. Neben dem Haus fegte eine vermummte Gestalt den Weg zur Tür frei. Das fiel einem kaum ein, wenn man gerade vom Tod seiner Tochter erfahren hat. Das übernächste Haus wollte sie auslassen, weil sie weit und breit kein parkendes Auto entdeckte. Aber als sie die Nummer entzifferte, bremste sie so scharf, dass sich der Fiat quer stellte. Hier war es, einundzwanzig, Violvägen. Der alte Motor knatterte, das hörte man drinnen bestimmt. Sofi parkte am Stra- ßenrand und suchte nach der Telefonnummer von Stina Nääs. Die nahm noch vor dem zweiten Läuten ab.
»Stina«, sagte Sofi. »Ich stehe vor dem Haus der Gustafssons. Wo bist du?«
»Bin vor einer halben Stunde von dort weg.«
Anscheinend wollte die Notfallpsychologin nicht den ganzen Weihnachtstag für die Gustafssons opfern. Sofi seufzte. Das war die einzige Antwort, die ihr einfiel.
»Bist du dir unsicher?«, fragte die Psychologin.
»Es ist gegen die Vorschrift, das weißt du. Ich bin von der Reichsmord. Wir haben keine Erstkontakte. So gut wie nie.«
Stina wechselte in eine einfühlsame Melodie aus Worten und schloss damit, dass es noch einige andere Angehörige von anderen Selbstmördern gebe, die jetzt des Trostes von Stina Nääs bedurften.
»Also gut«, sagte Sofi und seufzte noch einmal.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Stina.
»Warum fragst du?«
»Deiner Stimme nach bist du im selben Alter wie die Tochter.«
»Ist das schlecht?«
»Hmm, manchmal ja, manchmal nein.«
Den Weg zur Haustür nutzte Sofi, um Stina Nääs zu verfluchen. Auf der Außentreppe kam sie auf den Holzstufen ins Rutschen und schürfte sich den Ellenbogen an der Hauswand auf.
Eine junge Frau öffnete. Sie konnte nicht zu den Gustafssons gehören. Sofi hatte das Volksbuch studiert und kannte die Familienverhältnisse. Während sie sich im Flur die Schuhe auszog, starrte die Frau unablässig zu ihr herab. Vielleicht war sie eine Cousine, überlegte Sofi. Auch im Wohnzimmer ging das Starren weiter. Dort saßen acht sprachlose Personen auf zwei Sofas. Dazwischen stand der Weihnachtsbaum, und für einige Sekunden verfing sich Sofi Johansson in der Frage, ob sie die Kerzen in dieser Lage ebenfalls einschalten oder lieber aus lassen würde. Der Boden glänzte. Das Holz musste gerade erst verlegt worden sein. Und nun das!
Während sie einem nach dem anderen die Hand schüttelte, suchte sie nach einem Hinweis, wer von diesen Leuten Elins Eltern waren. Wahrscheinlich handelte es sich um Nachbarn, denn draußen parkten keine Autos. Stina hatte den Leuten bloß mitgeteilt, dass ein Ermittler von der Reichsmordkommission kommen würde.
Sofi hat ihr ganzes Leben lang Zeit gehabt, sich der Wirkung ihrer schwarzen Haare und Augen auf andere Menschen bewusst zu werden, deshalb konnte sie davon ausgehen, dass die Leute auf dem Sofa rätselten, wie sie zu den Farben an ihrem Körper gekommen war, wo ihr Name doch so schwedisch klang. Beim Heimweg in der U-Bahn konnte sie damit die Aufmerksamkeit von Männern auf sich ziehen und sie von einer verhängnisvollen Affäre träumen lassen. Auch bei der Arbeit kam ihr der dunkle Teint zugute. Trauernde verbanden etwas Schicksalhaftes mit ihr, als landete ein schwarzer Rabe auf der Fensterbank.
Sie antwortete auf die stumme Frage. »Bei einem nichtnatürlichen Tod muss die Polizei die Möglichkeit ausschlie- ßen, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Das ist eine vorgeschriebene Routine.«
»Du bist von der Reichskriminalpolizei«, sagte der Mann, der anscheinend Elins Vater war. »Habe ich das richtig verstanden?«
Sofi nickte. »Wir wurden hinzugezogen, weil an den Feiertagen viel passiert.«
»Werdet ihr Elin obduzieren?«, wollte die junge Frau wissen, die Sofi die Tür geöffnet hatte.
»Die Todesursache muss immer bestimmt werden, wenn sie nicht offenkundig ist.«
»Ist sie das etwa nicht?«
Darauf durfte Sofi nicht antworten. Und sie wollte die Leute nicht weiter verdrießen. »Wenn man nach einem halben Jahr auf der Intensivstation an Krebs stirbt, ist das offenkundig ein natürlicher Tod, aber selbst da muss ein Pathologe das Gewebe untersuchen. Kann ich einzeln mit euch sprechen?«
Das Paar, das Sofi als Elins Eltern ausgemacht hatte, nickte. Der Vater stemmte sich aus dem Sofa. Sofi folgte ihm auf der roten Treppe hinauf in ein Zimmer, das anscheinend ihm allein gehörte. Die Wände waren mit Buchregalen bedeckt. Sonst enthielt das Zimmer nur einen Sessel, in dem Jakob Gustafsson viel Zeit zu verbringen schien. Auf den Lehnen hatte der Blumenbezug fast keine Farbe mehr. Er bot Sofi Platz auf dem schmalen Ziersofa an der Wand an und sank routiniert in seinen Sessel. Sofi sah sich in Ruhe um. Der Straßenatlas vom ICA-Supermarkt und ein altes Wörterbuch für Norwegisch. Die anderen Bücher in den vier Regalen waren alle Krimis.
Ein Krimizimmer.
Sofi richtete ihren Blick hastig auf Jakob Gustafsson. Er rang um Fassung, seit er sich gesetzt hatte. Das raubte einem mehr Kraft, wusste Sofi, als im Klimmzug an einer Turnstange zu hängen.
»Dafür hatte sie einen schönen Tod«, begann sie. Die Leute mit etwas Unerwartetem zu schockieren, damit hatte sie in der Vergangenheit viele Erfolge erzielt.
Der Vater nickte mechanisch, vertiefte sich in diese neue Vorstellung, erlitt dann jedoch einen Weinkrampf, während Sofi schweigend dasaß und noch einmal Stina Nääs verfluchte. Die Vorschrift sah vor, dass der Ermittler Distanz wahrte. Als der Vater sich gefasst hatte, ließ Sofi die Stille noch ein wenig wirken. Ihr frisch lädierter Ellenbogen schmerzte höllisch.
»Würdest du deinem Vater das antun?«, fragte er.
Sie konnte diese Frage nicht beantworten und wog ab, in welche Richtung sie lügen sollte. Am Ende entschied sich für die Wahrheit. »Ich kenne meinen Vater nicht.«
»Aha«, erwiderte der Vater enttäuscht. »Bei Elin … ich hatte das Gegenteil erwartet.«
Sofi verstand nicht recht, was diese Aussage bedeutete, nahm aber dennoch ihren Notizblock und schrieb es auf. Sie schrieb immer alles auf.
»Es gab zwei Dinge, die Elin interessierten. Das eine war die Naturwissenschaft. Deshalb wollte sie unbedingt studieren.«
Sofi hatte zuvor ein kurzes Gespräch mit Henning geführt und schrieb die Zauberei gleich mit auf. Das war sicher das Zweite.
»Das Zweite war die Zauberei. Die hat sie seit ihrer Kindheit geliebt.«
»Auf ihrem Spiegel im Badezimmer steht: I’m good for magic …«
»… and magic is good for me.« Der Vater lächelte. »Das war immer ihr Spruch. Keine Ahnung, woher sie den hatte. Ich habe lange gehofft, dass sie sich von dem Wunsch zu studieren trennt. Wenn man so oft durch die Aufnahmeprüfung fällt, ist das doch ein sicheres Zeichen!« Er sah Sofi so eindringlich an, als müsste er sie überzeugen.
»Das Schicksal hat etwas anderes mit einem vor?«
Jakob Gustafsson nickte erleichtert. Seine Ansicht war also nicht so abwegig, dass nur er sie verstand.
»Vielleicht hat sie eine Bestandsaufnahme ihres Lebens gemacht«, sagte Sofi. Jakob Gustafsson sah sie an. Das verstand er nicht. »Eine Liste.«
»Sie hat keine Listen gemacht.«
Sofi ließ ihren Notizblock mit der Liste all ihrer Fragen auf das Polster gleiten. »Und ihr Urteil lautete dann, dass sie nicht mehr die Jüngste war und keines ihrer Ziele erreichen würde.«
»Das befreit einen doch«, fand er nach einigem Überlegen.
»Oder es überzeugt einen, dem Leben nicht gewachsen zu sein. Und da hat sie einfach aufgegeben.«
Der Vater nickte halbherzig. Elins Entschluss verstand er dennoch nicht. Das sah Sofi ihm deutlich an. Sofi fand ihren Vorschlag selbst hypothetisch, aber bei ihrer Arbeit stieß sie dauernd auf Depressionen und Ängste und nie auf einen Grund dafür. Sie deutete auf das Regal. »In Kriminalromanen haben die Leute immer gute Motive und treffen klare Entscheidungen. In der Wirklichkeit trifft man so gut wie nie Entscheidungen. Meist ergibt sich das Nächste aus dem Vorherigen.« Dass Morde eher auf Stimmungen und fehlender Intelligenz beruhten statt auf Motiven, verschwieg Sofi lieber. »Du kannst es nicht nachvollziehen, oder? Dass sie sich einen schönen Platz sucht, um aufzugeben.«
»Mir will nur nicht in den Kopf, wie sie es mit dem Rollstuhl dorthin geschafft hat.«

9

Kjell erreichte den Kamm des Schneehaufens zuerst. Henning sank mit seinem Gewicht bis zum Schritt ein und kam nur mühsam voran. Der Winterdienst hatte die Wege des Karolinska säuberlich geräumt und all den Schnee vor der unscheinbaren Einfahrt zum Hof der Rechtsmedizin aufgehäuft, dem einzigen Institut auf dem ganzen Gelände, wo an den Feiertagen gearbeitet wurde.
Kjell streckte Henning die Hand entgegen. Als sie sich auf der anderen Seite des Schneehaufens an den Abstieg machten, sahen sie Suunaat Kjærgaard im Eingang des Gebäudes stehen und die Tür offen halten. Sie beobachtete die beiden Männer beim Händchenhalten, ohne sich zu regen. Dafür schrie wieder die Krähe in der Fichte.
»Warum habt ihr nicht den Eingang auf der anderen Seite genommen?«, fragte sie, als sich die beiden vor ihr den Schnee von den Schuhen stampften.
»Wir kommen immer von hier«, erwiderte Henning und warf Kjell einen fragenden Blick zu.
Aber der hatte auch noch nie vom anderen Eingang gehört und konnte nur mit den Schultern zucken. Ihnen graute vor der nächsten halben Stunde. Wie in jedem Jahr traf sich die Elite der Depressiven im Kühlraum des rechtsmedizinischen Instituts. Zum Glück waren dieses Jahr keine ›Familienangelegenheiten‹ dabei, zum Beispiel ein Mann, in dessen Kopf ein frisch ausgepacktes Bügeleisen steckte.
Suunaat führte sie durch den orange gestrichenen Korridor und hielt vor einer Tür, hinter der Kjell immer die Putzkammer vermutet hatte.
»Im Klimaraum bewahren wir normalerweise Proben auf.« Und die Milch für den Kaffee. Sie drängten sich zwischen die Regale und den Tisch in der Mitte. Sämtliche Behälter, die sonst darauf standen, waren in aller Eile in die Regale gestapelt worden. »Das ist der einzige Raum, in dem ich Temperatur und Luftfeuchtigkeit genau regulieren kann.«
Das war wohl der Grund, weshalb Elin Gustafsson hier unter einer Glashaube lag wie eine katholische Reliquie. Henning grunzte.
»Ich führe ein kontrolliertes und normiertes Auftauen durch.«
»Aber es ist so kalt wie draußen«, äußerte Kjell. »Wie soll sie hier auftauen?«
Elin war bereits zur Mittagszeit aufgetaut. Danach hatte Suunaat den Leichnam in Augenschein genommen und daran keine Zeichen von Gewalt festgestellt. »Seit zwei Stunden kühlt sie wieder ab«, beendete sie ihre Erklärung. Und zwar genau bei der Temperatur und Luftfeuchtigkeit, die am Abend zuvor am Strandbad von Langholmen geherrscht hatten. »Den Wind simulieren wir nicht, weil der Körper rasch von Schnee bedeckt war.«
»Isolation«, brummte Henning. »Verstehe.«
Suunaat schwieg, was bei ihr sowohl Bestätigung oder Ablehnung bedeuten konnte. Sie wies auf die drei Kabel, die in den Körper führten. »Die Kerntemperatur fällt sogar noch langsamer, als ich erwartet habe.«
»Ist das ein Widerspruch?«, fragte Kjell.
»Ein Widerspruch, ja. Wie groß, das sage ich dir, wenn der Temperaturausgleich abgeschlossen ist.«
»Und wie lange dauert das? Ungefähr?«
»Zu lange. Ein Widerspruch.«
Kjell seufzte, und Henning seufzte unmittelbar nach ihm. Sie verglichen die Aussage von Esbjörn Fors mit dem Befund. Elins Körper musste bereits gefroren gewesen sein, als der Nachbar die Stelle vor dem Ufer am Morgen noch leer gesehen hatte.
Henning verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein. Das fiel den anderen auf, weil der Boden rau war und knirschte. »Sonst ist es doch auch immer recht grob, und jetzt nimmst du es auf einmal sehr genau. Ausgerechnet an Weihnachten.«
»Die Einschlafzeit ist nicht eingerechnet. Das Flunitrazepam hat Muskelkrämpfe verursacht. Sie verzögern das Auskühlen noch.«
»Wie viel hat sie eingenommen?«, erkundigte sich Kjell.
»Zwei Tabletten. Vielleicht drei. Eher zwei.«
Stille trat ein. Suunaat wäre die Letzte gewesen, die eine Stille durchbrach. Mit dem Hinweis auf seine eigene Kerntemperatur schlug Kjell vor, bald hinüber ins Büro zu gehen. Als sie in den Korridor zurückkehrten, saß Sofi Johansson auf einem der Wartestühle im Gang und blätterte in einer Trostbroschüre.
»Wo wart ihr?«, fragte sie.
»Hinten«, informierte Henning geheimnisvoll.
Während Suunaat allen Kaffee einschenkte, klärte Kjell Sofi über den widersprüchlichen Befund auf.
Sofi lauschte ungeduldig, bis er zum Ende kam. »Hast du obduziert?«
Suunaat schüttelte den Kopf. Sie war mit allem sparsam, mit Worten, mit Taten und mit der Kaffeemilch.
»Elin Gustafsson litt an einer geheimnisvollen Lähmung, die sporadisch auftrat«, sagte Sofi. »Ich habe eine Fotokopie von ihrer ersten Diagnose. Der Vater hat sie mir mitgegeben.«
»Lähmung?«, fragte Kjell.
»Die Ärzte haben keine Erklärung dafür.«
»Ein Nervenfieber? Wie im neunzehnten Jahrhundert?«
Es gebe viele Krankheitsfälle, erklärte Suunaat, deren Ursache die Ärzte erst nach dem Tod des Patienten bestimmen konnten.
»Die Lähmungen traten immer in Schüben auf und verschwanden nach einigen Wochen wieder«, sagte Sofi. »Dazwischen hatte sie keine Beschwerden. In den letzten drei Wochen brauchte sie einen Rollstuhl.«

10

Henning Larsson musste einsehen, dass sich auch mit frischen Kerzen am Adventskranz keine Weihnachtsbehaglichkeit erzwingen ließ. Gegen das Porträt, das der Projektor an die Wand der Besprechungsraums warf, kam er damit nicht an. Das Bild zeigte Elin Gustafsson an ihrem letzten Schultag. Sofi hatte die Eltern mit der Bitte um ein aktuelleres Foto in Verlegenheit gebracht.
Kjell schob seinem Kollegen die Kontoauszüge zu. Er hatte sie zuvor mit Elin Gustafssons Bankkarte in der Filiale in der Hamngatan geholt. Denn es war immer Henning, der sich um die finanzielle Seite eines Falles kümmerte. Darin war er ein Schlitzohr. Weil er sich jeden Betrag als riesigen Haufen aus Einkronenmünzen vorstellte, stieß er meist als Erster auf finanzielle Unregelmäßigkeiten, so klein sie auch sein mochten. Überstieg der Haufen Hennings räumliches Vorstellungsvermögen von zehntausend Kronen, gab er die Sache an Snæfríður weiter. Sie hatte früher bei der Wirtschaftskriminalität gearbeitet.
Murmelnd überflog Henning die Auflistung. »Keine leichtsinnigen Abhebungen. Sieht alles ganz regelmäßig aus.«
»Hast du dir etwas erwartet?«, fragte Kjell.
Henning zuckte nur mit den Schultern. Manchmal war aus ihm nichts herauszubekommen.
Sofi raschelte mit ihrem Papier. »Soll ich dann beginnen?«
Ihr fiel die Biografie zu. Henning würde ihren Vortrag später mit seinen Eindrücken aus der Wohnung ergänzen. Sie spürte, dass Kjell über ihre Schulter hinweg das Porträt von Elin anstarrte, und drehte sich um.
»Vor der Pubertät sah sie angeblich nicht so blass und dicklich aus. Die Krankheit ist damals ausgebrochen, vermuten die Ärzte. Diagnostiziert wurde sie allerdings erst vor drei Jahren, als zum ersten Mal Lähmungen auftraten. Seither sind sie gekommen und gegangen.«
Sofi berichtete, was sie aus der Diagnose und vom Vater erfahren hatte: Elin litt unter hypokaliämischen Lähmungen. Sie wurden durch Kaliummangel verursacht und befielen Muskeln und Nerven. Bei jedem Schub dauerte es Wochen, bis das Kaliumniveau sich erholte. Dafür hatte bisher niemand eine Erklärung gefunden.
»Ich meine eher die Augen«, sagte Kjell. »Ihr Blick erregt irgendwie Mitleid. Das hat doch mit der Krankheit nichts zu tun, oder?«
»Ich weiß, was du meinst. Das soll in letzter Zeit nicht mehr so gewesen sein. Glaubt ihr Vater.«
»Hast du mit der Mutter gesprochen?«
»Dazu kam ich gar nicht. Bei der Neuigkeit!«
Henning seufzte und nahm ein Zimtplätzchen vom Teller.
»Der Elternteil mit dem gleichen Geschlecht ist bei der Befragung immer der wichtige«, sagte Kjell. »Das weißt du.«
»Die Mutter schien gar keine Verbindung zu ihrer Tochter zu haben. Die saß mit den anderen auf dem Sofa, und ich habe erst eine andere für Elins Mutter gehalten.«
»Da hast du’s«, fand Kjell. Für Sofi waren Ermittlungsregeln Reisen in ferne Länder.
Henning pflichtete seinem Kollegen durch Papierrascheln bei. Weiter trieb er Konflikte nie voran.
Sofi versuchte einen Neubeginn. »Die Wohnung in der Långholmsgatan hat sie anderthalb Jahre nach dem Schulabschluss bezogen. Weil noch ungewiss war, ob sie in der Stadt oder auf der Hochschule in Södertörn studiert.«
Zuvor hatte Elin Gustafsson ein Jahr als Aupair-Mädchen in Michigan verbracht. Das Auslandsjahr hatte ihr Gymnasium in Aspudden angeboten. Es ging also nicht auf Elins Initiative zurück.
Sofi suchte ihre Notizen nach etwas Spannenderem ab. »Eigentlich ist alles aus einem Guss. Die Eltern hatten normalen Kontakt zu ihr. Wenn ihr die Krankheit zu schaffen machte, sahen sie sich öfter, sonst etwa alle zwei oder drei Wochen. Von einem Partner oder einer Freundschaft ist nichts bekannt.«
»Jungfrau war sie immerhin nicht mehr«, zitierte Henning aus Suunaats Erstbefund. »Der Hormontest war auch negativ. Ich kreuze zur Sicherheit einmal das Vibrator-Optionskästchen auf der Agenda für die Tatorttechniker an. Obwohl Per ohnehin danach sucht.«
»Mehr brächte der Computer«, sagte Sofi. »Da sind all die Geheimnisse gespeichert, von denen der Vater nichts ahnt.«
Henning überflog seine Inventarliste. »Es gab keinen.«
»Es muss einen geben. Der Vater hat ihr einen tragbaren geschenkt. Am 7. Februar, ihrem Geburtstag.«
»Da war kein Computer, Sofi.«
»Wie genau habt ihr denn in der Wohnung gesucht?«
»Ein Computer ist doch immer sichtbar oder in der Nähe.«
Kjell schrieb den Punkt ›Computer‹ an die Wandtafel.
»Es gab überhaupt wenig persönliche Gegenstände in ihrer Wohnung«, kommentierte Henning. »Verdächtig wenige.«
Kjell setzte eine Überschrift über den Begriff ›Computer‹: Nichtexistierende Gegenstände.
Sofi kam zum Ende. »Tagsüber hat sie im Telia-Laden am Ringvägen gearbeitet, abends hat sie sich in ihrer Wohnung verschanzt.«
Kjell nahm wieder am Tisch Platz. »Der Freundeskreis bleibt uns also diesmal erspart. Kommen wir zur Wohnung. Irgendetwas Verdächtiges, Henning? Ich meine Dinge, die existieren.«
Ja, dachte Henning Larsson. Die verdammte CD. Die ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er war sich nicht sicher, ob sie ins Bild passte oder nicht. Bis dahin wollte er nicht darüber reden.
»Von den sprechenden Gegenständen gibt es auffallend wenig. Ein Mobiltelefon habe ich auch nicht gefunden.«
»Das können wir abhaken«, wandte Sofi ein. »Sie besaß keines. Vielleicht, weil sie den ganzen Tag im Telia-Laden stand. Ein Würstchenbudenbesitzer isst ja in seiner Freizeit auch keine Würstchen.«
»Und weil sie anscheinend ohnehin keinen Menschen hatte, den sie anrufen konnte«, ergänzte Henning. »Wisst ihr, was mich erstaunt? In der ganzen Wohnung bin ich auf kein Anzeichen für ihre Krankheit gestoßen. Es gab Medikamente im Bad, deren Sinn mir inzwischen einleuchtet, aber nicht viele.«
Sofi blickte ihren Chef an. »Wo ist der Rollstuhl?«
Kjell blickte zu Henning.
Henning blickte zu Sofi. »Da war kein Rollstuhl! Auch Krücken waren keine da. Das meine ich ja!«
Doch beides hatte Elin Gustafsson besessen. Kjell ergänzte seine Liste der fehlenden Gegenstände.
»Der Vater hat vor einigen Tagen mit ihr telefoniert«, berichtete Sofi. »Das war am Freitag, dem 21. Dezember. Sie sagte wörtlich, es gehe ihr schlechter, sie sei krankgeschrieben. Das bedeutet, dass sie sich kaum bewegen konnte.«
»Was bedeutet das genau?«, wollte Kjell wissen.
»Sie kann sich leidlich in ihrer Wohnung bewegen, aber niemals die Strecke bis Långholmen ohne den Rollstuhl zurücklegen.«
»Kann man den zusammenklappen?«
»Nein, es ist ein mittelgroßer mit Elektroantrieb. Der Vater hat außerdem einen leichteren im Auto. Zum Anschieben.«
Henning kratzte sich am Kinn. Trotz seiner Weihnachtsrasur vom Morgen knirschte es. »Warum soll sie einen Liegestuhl mit zum Strandbad nehmen, wenn sie ohnehin einen Rollstuhl hat?«
»Glaubt ihr, man kann mit einem Rollstuhl die Wiese hinab bis zum Ufer?«, fragte Kjell. Er badete im Sommer oft dort, hatte aber noch nie einen Rollstuhlfahrer gesehen. Die Wiese fiel nicht als geneigte Fläche zum Wasser ab, sondern in Kaskaden wie die Tribüne eines Stadions. An den Stufen war der Winkel zu steil, schätzte er. Und sobald es schneite, war es gänzlich unmöglich. Das Mobiliar aus Liegestuhl und Sonnenschirm kam noch hinzu. Er stand auf und stellte sich ans Fenster. »Der Sonnenschirm geht mir nicht aus dem Kopf. Den brauchte sie auf keinen Fall.«
»Willst du etwa die Arbeitstheorie ändern?«, fragte Sofi nach einer Weile. Wenn Kjell sich ans Fenster stellte, änderte er danach immer die Arbeitstheorie.
Kjell blickte weiter auf die Schneeböen über den Wipfeln der Bäume. Sofi seufzte.
Henning klappte seine Mappe zu. »Wir suchen den Rollstuhl.«

11

Von der Station Zinkensdamm bis zur Sportkneipe in der Hornsgatan waren es nur wenige Schritte. Kjell und Henning stellten den Kragen auf und liefen geduckt durch das Schneegestöber. Zwei Räumfahrzeuge fuhren nebeneinander auf der Hornsgatan. Doch außerhalb der Hauptstraßen hatte der Winterdienst offenkundig kapituliert.
Da Ida immer noch mit Lilly auf dem Sofa ihrer Eltern in Uppsala saß, hatte Kjell eingewilligt, den Tag in Hennings Lieblingskneipe bei einem großen Starken und langweiligem Weihnachtsbandy ausklingen zu lassen.
Als sie an der Ampel auf Grün warteten, hob Henning die Hand und rief den heranfahrenden Streifenwagen wie ein Taxi herbei.
Der Beifahrer ließ die Scheibe hinab. »Hallo Henning! Sollen wir euch irgendwo absetzen?«
»Wäre nicht übel«, rief Henning gegen das Fauchen des Windes an.
Die Tür sprang auf, und Henning und Kjell rutschten auf die Rückbank.
»Wo darf’s hingehen?«, fragte der Fahrer.
Bei jedem gemeinsamen Abstecher nach Söder war Kjell erstaunt, dass selbst junge Polizisten, die Henning gar nicht mehr in der Maria-Wache erlebt haben konnten, ihn in jeder Aufmachung erkannten und mit ihm befreundet sein wollten.
Henning deutete auf das Leuchtschild der Sportbar. Der Fahrer verringerte den Druck auf das Bremspedal und ließ den Volvo langsam die fünfzehn Meter dahinschleichen.
Henning beugte sich vor. »Sagt mal, habt ihr die Fahndung nach dem Rollstuhl schon bekommen?«
»Die kam zum Schichtwechsel um sieben«, antwortete der Beifahrer und tippte auf das Klemmbrett.
»Wir suchen danach. Ist eine merkwürdige Sache. Wer den Rollstuhl findet, bekommt die übliche Belohnung.«
Kjell wollte Henning fragen, worin die übliche Belohnung bestand, doch der Beifahrer drehte sich zu ihnen nach hinten.
»In Långholmen wird es schwierig. Da braucht ihr eine Fußtruppe.«
»Haben wir«, sagte Kjell. »Die sind vorhin aufgebrochen. Aber Bergsunds Strand und die ganze Gegend um die Högalids-Kirche, darauf könntet ihr ein Auge werfen.«
Henning grinste seinen Kollegen an, wie immer, wenn Kjell versuchte, sich im Tonfall den einfachen Polizisten anzunähern. Der Wagen hielt vor dem Lokal.
»Vielleicht fragt ihr mal unter den üblichen Verdächtigen herum«, schlug Henning vor.
Der Beifahrer hob zur Bestätigung die Hand. Henning und Kjell kletterten aus dem Wagen und betraten die Sportbar. Vor der Theke streckte Henning die Hand aus und erhielt sofort zwei Gläser Bier. Das war der Vorteil an einer Statur, die alle anderen Menschen wie Zwerge aussehen ließ. An die Auswahl des Tisches musste man keinen Gedanken verschwenden. Es gab so viele Bildschirme, dass sich das Spiel aus jedem Winkel verfolgen ließ.
Henning konnte sich umgehend in ein laufendes Spiel vertiefen.
»Elin Gustafsson hat eine Zeitschaltautomatik in ihrer Wohnung«, sagte er nach acht langen und langweiligen Pässen. Bandy bestand überhaupt nur aus langweiligen Pässen, fand Kjell. »Damit es gemütlicher ist, wenn man heimkommt.« Henning schwieg für die Dauer von drei weiteren langen Pässen und nippte an seinem Bier. »Vielleicht sollte ich mir auch so etwas einbauen. Würde mich interessieren, wie man so etwas einbaut.«
»Frag Sofi«, schlug Kjell vor. »Sie besitzt eine.«
Sofi hatte den Feierabend in der Sportbar wie erwartet ausgeschlagen. Kjell vermutete, dass sie im Büro geblieben war.
»Hat Sofi nicht auch etwas auf ihren Badezimmerspiegel geschrieben?«, fragte Henning.
Kjell nickte und verfolgte dabei den Puck auf seiner nicht enden wollenden Bahn zum nächsten Spieler. Der entschied sich, wie erwartet, für einen langen Pass. Kein Wunder, dass Bandy außerhalb Schwedens völlig unbekannt war. »Sie will den Morgen wie einen Hollywoodfilm beginnen lassen, mit eingeblendetem Titel und ihrem Gesicht in der Totalen.«
»War es Selbstmord?«
Kjell nippte an seinem Bier und stellte das Glas dann behutsam ab. »Du glaubst es auch nicht, oder?«

12

Sofi trat in den engen Vorraum und klopfte sich den Schnee von ihrem Mantel, bevor sie die Schwingtür zum Lokal aufstieß. Alle Tische waren belegt. Das war gegen Mitternacht immer so.
Mit ihrer Größe überragte Maja Kurylowicz alles im Raum, deshalb erblickte die Besitzerin des Lokals Sofi schon von ihrem Platz hinter der Bar aus, als die sich auf dem Weg dorthin ihren Schal vom Hals wickelte.
»Nimm deine Jacke vom Hocker, Ernst. Damit Sofi sich setzen kann.«
Ernst regte sich und folgte Majas Aufforderung so unmittelbar, dass man glauben konnte, sie besäße Zugriff auf sein Nervensystem. Er hatte bereits bei der Eröffnung des Lokals vor vier Jahren auf diesem Hocker gekauert, um seine Arme um ein Glas Bier zu schlingen und an seiner Verbitterung zu feilen. Sofi bezweifelte, dass er seitdem öfter mal aufgestanden war. Im Orient gab es Cafés, die in den vergangenen zweihundert Jahren keine einzige Minute geschlossen gewesen waren. Majas Lokal kam von allen Lokalen Stockholms diesem Ideal am nächsten.
Wenn Ernst durch die Nase atmete, stellten sich die Härchen seines Schnurrbarts auf. Den müsste er nur mal abrasieren, dachte sie und glitt auf den freien Hocker. Andere Menschen hätten viel darum gegeben, ihr Dasein mit einem Handgriff von seinem Kummer befreien zu können. Doch Ernst hielt an seinem Schnurrbart fest wie am Rest seines Lebens. Alle zwei Jahre veröffentlichte er einen anspruchsvollen Roman, den die Welt voll von Banausen zwar ausgiebig besprach, aber nicht kaufte. Das war der Kern seiner Verbitterung.
Maja stellte Sofi unaufgefordert ein Glas hin. Sie glaubte immer zu wissen, welches Getränk für Sofi gerade das richtige war. Sie gab so viel auf diese Illusion, dass Sofi ständig Flüssigkeiten trank, die sie gar nicht mochte. An der Durchreiche gab Maja eine Bestellung auf, obwohl aus der Küche schon das Klappern vom großen Abwasch zu hören war. Welches Gericht Maja anbot, hing immer davon ab, aus welchem Land ihre neue Geliebte stammte. An ihnen war nur konstant, dass ihr Haar so dunkel war wie das von Sofi. Durch dieses Missverständnis hatten sie sich einige Jahre zuvor kennengelernt. Während die dunkelhaarigen Geliebten im gleichen Abstand wie die Tageskarte ausgewechselt wurden, war Sofi im Laufe der Zeit so etwas wie Majas jüngere Schwester geworden.
Alja, die durch die Durchreiche winkte, stammte aus dem Libanon. Deswegen bekam Sofi Filet Ghanam. Während sie aß, hörte sie den anderen an der Bar nur mit halbem Ohr zu. Es war ein fester Kreis. Neben Ernst kam Shep öfter her. Er war ein jüdischer Russe, der sich beim Auswandern beim Falschen nach dem Weg ins Gelobte Land erkundigt hatte und ausgerechnet in Schweden gelandet war. Carl-Erik stach als Standardschwede aus der Gruppe heraus. Wahrscheinlich kam er hierher, weil er als Wohnungsmakler dem schwedischen Wahnsinn mehr als jeder andere ausgeliefert war. In den letzten zwei Jahren hatte er zudem versucht, seine ehemalige Frau zu vergessen, und war jetzt Alkoholiker. Die anderen Stammgäste stammten alle aus Beirut, und unter diesen Leuten war es Sitte, dass einer nach dem anderen die Neuigkeiten aus seinem Leben erzählte, wobei es darauf ankam, die Zuhörer zu amüsieren, indem man sich selbst als Narren schilderte. Das behagte Sofi so sehr, dass sie manchmal auch etwas aus ihrem Leben beitrug, sobald die anderen zu Ende erzählt hatten. Doch heute wartete sie nicht. Sie holte den Zettel aus der Tasche und strich ihn auf dem Tresen glatt.
»Ist das von Linda?«, fragte Maja.
Kjells ältere Tochter Linda hatte früher ihre Bilder hier ausgestellt.
Sofi schüttelte den Kopf. »Sie lebt jetzt in Wien.«
»Sieht ohnehin nicht nach ihr aus.«
»Das hat mir gestern jemand durch den Briefschlitz geschoben. Es lag im Flur, als ich heimkam.«
Der Zettel machte die Runde. Nachdem alle sechs Personen an der Bar einen Blick darauf geworfen hatten, wurden Sofi Theorien unterbreitet, in welchen Bereichen ihres Leben sich Verehrer verstecken konnten. Einigkeit bestand nur darüber, dass man es mit einer Liebeserklärung zu tun hatte.
Maja machte der Sache ein Ende. »Sofi lebt einsamer als ein Leuchtturmwärter. Eure Vorschläge könnt ihr vergessen.«
Sofi nickte eifrig. Maja hatte sie und ihr Leben vom ersten Augenblick an verstanden.
»Du hast also selbst keine Ahnung, von wem das stammen könnte?«
»Nicht die geringste«, gestand Sofi. »Deshalb ist es so rätselhaft. Es gibt keine Möglichkeit.«
»Bei deinem Tanzunterricht vielleicht. Das sieht bestimmt sehr sexy aus, wenn du herumhüpfst.«
»Dort sind nur Frauen. Und sie kennen meine Adresse nicht.«
»Die kann man nachschlagen«, wandte Ernst ein.
Maja wies Ernst darauf hin, dass Sofi wegen ihres Berufs in keinem Adressverzeichnis zu finden war, und überlegte eine Weile vor sich hin. »Dann kann es nur jemand aus deiner Arbeit sein, Sofi.«
Daran glaubte Sofi nicht. »Wir haben nicht so viel Kontakt mit anderen Abteilungen. Außerdem wäre es leichter, mir etwas anonym in die Hauspost zu legen, als zu meiner Wohnung zu fahren.«
»Vielleicht jemand aus deiner Nachbarschaft«, schloss Ernst.
Pontus vielleicht. Der hatte im Sommer immer auf seinem Geländefahrrad draußen in Vita Bergen oder auf der Kinderwagenwiese herumgelungert und Kunststückchen geübt. Sobald er Sofi aus dem Haus kommen sah, war er ihr auf dem Hinterrad fahrend bis zur Haltestelle gefolgt, um mit ihr auf den Bus zu warten. So hatte sie nie allein dasitzen und glotzen müssen. Der Trick mit dem Hinterrad war bei seinen fünfzehn Jahren die einzige Möglichkeit gewesen, eine Frau auf seine anbrechende Geschlechtsreife hinzuweisen. Aber Pontus war im Herbst auf einmal verschwunden. Wahrscheinlich weggezogen, dachte Sofi und strich ihn von der Liste.
»Kommst du später mit?«, fragte Maja vorsichtig.
Vielleicht ein Passant, der im Bus auf sie aufmerksam geworden und ihr bis zu ihrem Haus gefolgt war.
»Was habt ihr vor?«
»Wir ziehen los und tanzen uns glücklich. Was hast du denn gedacht? Noch ein Mojito für dich, Carl-Erik?«
»Lieber gleich zwei.«

13

Kjell stemmte seine Arme gegen die Türpfosten und fegte mit dem Fuß den Schnee von der Schwelle, bevor er die Tür aufschloss. Idas Antiquariat lag im Dunkeln, nur das kleine Weihnachtsbäumchen leuchtete die Nacht über. Zwei Tage lang hatte es Zeit gehabt, seinen Nadelduft ungestört im ganzen Raum zu verbreiten.
Seit zwei Jahren führte Ida den Buchladen. Der Betrieb verlief ruhig und gestattete es ihr, einmal in der Woche als Privatdozentin zu unterrichten oder Aufsätze zu veröffentlichen, ohne wirklich Teil der Universität sein zu müssen. Aus ähnlichem Antrieb kam er selbst am Abend oft her. Die Umgebung eignete sich wunderbar, um Akten in anderem Licht zu lesen oder um nachzudenken. Wenn das nichts brachte, zog er ein Buch aus dem Regal und lenkte sich damit für eine Weile ab.
Das Bier mit Henning hatte einen sauren Geschmack in seinem Mund hinterlassen, deshalb ging er ins Hinterzimmer und kochte Kaffee. Damit setzte er sich an die Kasse und griff nach dem Telefon. Ida nahm nach dem dritten Läuten ab. »Du hattest ein dickes schwarzes Buch im Schaufenster«, sagte er nach dem Vorgeplänkel. »Ist es noch da?«
»Bist du etwa im Laden?«
»Was soll ich allein zu Hause?«
»Ich komme morgen früh mit Lilly zurück. Meine Eltern wollen sie ein bisschen bei sich haben.«
»Linda habe ich immer noch nicht erreicht.«
»Morgen wird sie sich bestimmt bei dir melden. Von welchem Buch sprichst du denn?«
»Das schwarze, über Odin.«
»Das ist weg. Die werden immer von Fantasy-Liebhabern gekauft.«
»Fantasy?«
»Diese Leute habe ich eigentlich nicht gerne im Laden, weil sie immer seltsame Gespräche mit mir führen wollen. Aber sie lesen viel.«
»Elin Gustafsson war auch eine, glaube ich.«
»Dann kannst du ja heimfahren und dich ins Bett legen.«
Kjell erwähnte das Amulett. »Und dann taucht da diese Boje auf, mit dem Namen Odins Auge.«
»Darf ich dir etwas sagen?«
Kjell seufzte. Die kommenden zwei Minuten kannte er bereits wie seine Westentasche.
»Du solltest jetzt nicht übereifrig werden, nur weil du im letzten Jahr kaum gearbeitet hast.«
»Kaum gearbeitet? Weißt du, wie anstrengend Lilly ist, wenn man sie den ganzen Tag hat?«
»Ich meine nur, dass du monatelang nicht im Büro warst. Dann fängst du immer an, dir Sachen einzubilden. Du musst es jetzt ruhig angehen lassen.«
»Darf ich trotzdem nachschlagen, wenn mich etwas interessiert?«
»Das Buch ist weg, aber ich habe es nachbestellt. Sieh mal in die ungeöffneten Kartons am Hintereingang. Vielleicht hast du Glück.«
»Dann schaue ich mal.«
»Bitte mach nichts unordentlich. Ich stecke mitten in der Inventur.«
Bei seiner Suche fiel Kjell eine alte Ausgabe von Strindbergs Rotem Zimmer in die Hände. Obwohl ohnehin kein Zweifel bestand, dass die kleine Hulda sich in ihr Urteil verrannt hatte, schlug er das Buch auf. Strindberg benötigte tatsächlich nur drei Seiten, um seine Rage auf volle Touren zu bringen. Außerdem läuteten ständig die Kirchenglocken. Anscheinend hatten die Leser damals immer wissen wollen, wie spät es gerade in der Geschichte war. Kjell las sich fest, bis ihn zwei Tassen Kaffee später eine Stelle mahnte, weshalb er eigentlich hier war: Und nun mache ich es wie so viele Schiffbrüchige: Ich werfe mich der Literatur in die Arme.
In der dritten Kiste mit den Nachbestellungen hatte er schließlich Glück. Mit dem schwarzen Buch und einer weiteren Tasse Kaffee machte er es sich am Tisch gemütlich. Vom Umschlag blickte ihm Odin als alter Mann entgegen; mit einem Auge, das zweite war eine leere Höhle. Er hielt einen Stock in der Hand und hatte sich seinen Schlapphut tief ins Gesicht gezogen. Odin als Wandersmann. Kjell schlug das Buch auf. Es war auf Englisch verfasst. Mit dem Zeigefinger durchstreifte er mehrere Seiten des Inhaltsverzeichnisses, aber der Begriff ›Valknut‹ - so lautete der englische Name - tauchte nirgendwo auf. Dafür gab es ein ganzes Kapitel über Odins Jugendjahre. Da war er zum Riesen Mimir gereist und musste eines seiner Augen verpfänden, um aus dem Brunnen der Erkenntnis trinken zu dürfen.
Für Kjell war das Buch alles andere als ein Brunnen der Erkenntnis. Es schien nichts zu enthalten, was er nicht schon wusste. Deshalb schlug er das Register auf und suchte dort nach ›Knoten‹. Knots of Slain. Kjell musste aufstehen und in einem hundert Jahre alten Wörterbuch nachschlagen. Slain kam von slay. Das bedeutete erschlagen oder töten. Er kehrte zu seinem Platz zurück und begann zu lesen: Knots of Slain war tatsächlich eine Umschreibung für Valknut. Alle Belege für den Knoten waren Einritzungen auf alten Steinen, und die stammten aus der Umgebung von Stockholm. Vielleicht hatte Hulda das nicht gewusst. Doch sie hatte noch viel weniger als die halbe Wahrheit gesagt: Die Knoten banden nicht nur die Kräfte des Gegners, sondern lösten auch die Ängste der eigenen Kämpfer und entfachten deren Feuer in der Schlacht.
Betäubung und Inspiration. Er hätte gerne gewusst, wie lange Elin das Amulett getragen hatte. Es machte ja einen Unterschied, ob Elin es seit Jahren am Hals trug wie ein Christ ein Kreuz. Vielleicht war es auch ein Geschenk des Mörders. Wenn es einen gab.
Er griff zum Telefon.
»Kjell Cederström«, sagte er nur. Sätze ohne Verben mochte Suunaat am liebsten.
»Alles ist noch spekulativ.«
»Hast du einen Zeitpunkt?«, fragte er.
»Es ist spekulativ.«
Wenn Suunaat sich stur wiederholte, was in jedem Gespräch mit ihr geschah, durfte man das dramaturgisch nicht überbewerten. Es war eine ihrer Eskimositten und bedeutete nicht mehr, als dass ihre Rechnung spekulativ war.
»Ich verstehe.«
»Zwischen ein und zwei Uhr nachts. Hängt davon ab, wie lange sie vorher in der Kälte war.«
»Spielt keine Rolle. Am 24. Dezember?«
»Ja.«
Für den Selbstmord sprach eine ganze Menge, wandte Kjell ein, allem voran das Motiv. Elin ging auf die dreißig zu, wohnte vereinsamt in schlechter Lage, arbeitete in einem Telefonladen und war achtmal durch die Hochschulaufnahmeprüfung gefallen. »Die Psychologin behauptete in ihrem Gutachten, jede Depression beruhe auf einem Prestigeverlust, einem Misserfolg in sozialer Konkurrenz. Hier seien alle Voraussetzungen für einen Selbstmord erfüllt.«
»Etwa Stina Nääs?«, fragte Suunaat.
»Genau die.«
»Sie war Evolutionsbiologin, bevor sie Polizeipsychologin wurde. Den Job hat sie vor fünf Jahren nur bekommen, weil sie sich mit Selbstmordattentätern auskennt.«
»Soll ich lieber Göransson fragen?«
»Der hat früher die Qualitätssicherung bei Volvo geleitet und wird zu einem ähnlichen Urteil kommen, nur die Vokabeln werden anders klingen.«
Kjell beendete das Gespräch und seufzte. Vierzehn Stunden! Elin Gustafsson hätte vierzehn Stunden tot im Liegestuhl sitzen müssen, damit ihr Körper auf die Temperatur abkühlte, die Suunaat bei ihrem Eintreffen gemessen hatte.
Ging man nachts um ein Uhr zum Strandbad, um zu sterben? Warum nicht, dachte Kjell. Man wird nicht gestört. Zum Beispiel durch Esbjörn Fors und seinen Hund Fidel. Esbjörn behauptete, sieben Stunden nach dem errechneten Todeszeitpunkt, also genau in der Mitte des Auskühlungszeitraums, bei seinem ersten Spaziergang am Morgen nichts gesehen zu haben. Konnte Esbjörn irren? Es war ja noch finster gewesen. Vielleicht hatte er Elin da bereits gesehen, ließ sich jedoch von seinem Gewissen einreden, die Stelle sei leer gewesen. Kjell verwarf die Idee. Er hatte Fors in die Augen geschaut. Hätte er sie am Morgen bemerkt, wäre er zu ihr gegangen.
Vielleicht log er. Sonst wurden Augenzeugen, die die Polizei alarmierten und sich überaus hilfreich zeigten, sogleich Hauptverdächtige. Täter brachten sich gerne selbst ins Spiel, um frühzeitig eine andere Rolle im Szenario zu besetzen. Aber dann wäre Esbjörn besser beraten gewesen, einen Hundespaziergang auf den Zeitpunkt zu datieren, wo die Leiche platziert worden war. Er konnte sich nämlich nicht sicher sein, dass er selbst von keinem Zeugen beobachtet worden war.
Mord oder Selbstmord - das Wechseln zwischen den beiden Theorien brachte nichts. Wie war Elin zum Strand gekommen? Das war die drängendste aller Fragen. Kjell stand auf, öffnete die Tür und ließ die kühle Luft hereinziehen. Nach drei Minuten traf er seine Entscheidung. Er schloss die Tür, griff wieder zum Telefon und wählte die Nummer des Pressesprechers der Polizei.

14

Der Verkehr stockte bereits, als der Stureplan noch gar nicht zu sehen war. Während Maja mit drei anderen Gästen und Angestellten ihres Ladens auf der Rückbank des Taxis Platz genommen hatte und sich lautstark unterhielt, saß Sofi vorne und betrachtete die Menschen, die kreuz und quer über die Straße gingen.
Maja beugte sich vor und flüsterte: »Du bekommst doch nicht etwa Angst?«
Sofi war seit einer Ewigkeit nicht mehr ausgegangen. Daran änderten auch die beiden roten Cocktails nichts, die Maja ihr zuvor aufgedrängt hatte. Sie ging höchstens in der Skånegatan etwas trinken und kam dabei nie weiter als bis zum Medborgarplatsen. Der Stureplan war eine ganz andere Welt.
Weil das Taxi nicht vorankam, beschlossen sie, den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen. Ein zweites Taxi war ihnen gefolgt. Daraus stiegen Ernst und die anderen Stammgäste von Majas Tresen.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, erkundigte sich Ernst und schritt in seinen alten Turnschuhen auf der Birger Jarlsgatan voran.
»Banana.«
»Was ist das?«, fragte Sofi, um Interesse zu zeigen.
»Macht heute auf. Wo früher die isländische Bank war.«
Am Stureplan stellte sich heraus, dass alle Menschen auf der Fußgängerplattform zum Eingang des Banana drängten. Der lag etwas erhöht und war nur über eine Treppe zu erreichen. Doch während unten dreihundert Menschen im Eiswind zitterten, war die Treppe bis auf die beiden Türwächter leer. Maja drängte sich durch die Menge, die ihrer Aufmachung und ihrem Verhalten nach am Stureplan zu Hause war, hindurch und steuerte auf die Treppe zu.
Ein Türsteher trug einen Lautsprecher ins Freie und spielte Summer Wind von Frank Sinatra, um seine Verachtung für die Verblendung der Massen noch zu steigern. Die Masse murrte.
»Nur Einladungen!«, brüllte der Türsteher und grinste.
»Das wird nichts«, fand Sofi und wollte umdrehen. Ein oder zwei Stunden wollte sie nicht in der Kälte stehen. Aber hinter ihr folgte Ernst, er schob sie voran. Als Maja die Samtkordel vor der Treppe erreichte, stand dort ein dritter Türsteher und öffnete. Maja wartete, bis ihr Gefolge aus sieben Personen die Schwelle passiert hatte. Sofi hielt sich bei ihr, während Ernst sofort die Treppe in Angriff nahm. Aus der Menge kamen herablassende Rufe. Warum durfte ausgerechnet der Typ mit dem Schnauzbart hinein?
Ernst wandte sich auf seinen abgelaufenen Turnschuhsohlen zur Menge. »Fickt euch, ihr Penner!« Dann winkte er zum Abschied.
Unter Pfiffen betrat Ernst das Banana. Sofi huschte hinterher.
»Hoffentlich waren keine von deinen Lesern dabei«, sagte sie.
»Ich habe keine Leser. Nur Kritiker.«
Ernst hielt sich nicht am Eingang auf, wo doch das süße Leben auf ihn wartete, deshalb wartete Sofi allein auf Maja und ihren Anhang. Nun geschah, weswegen Sofi selten mit Maja ausging. Sie traf im Korridor mehr Bekannte als Sofi in ihrem ganzen Leben. Das konnte dauern, und weil Majas Mädchen immer brav neben Maja stehenblieben, ging Sofi weiter, um nicht dazugerechnet zu werden.
Einen Raum von dieser Größe hatte sie nicht erwartet. Wie das Lokal zu seinem albernen Namen gekommen war, konnte sie nicht erkennen. Rote Samttapeten, roter Teppich und rötlich glänzende Sofas. Ein rotes Zimmer, genau das Ambiente, das man am Stureplan bevorzugte. Von der Decke hingen zwei Kronleuchter.
Ernst stand am anderen Ende an der Bar und war dort in Verhandlungen über sein nächstes Getränk eingetreten. Sofi versuchte, nicht wie eine Touristin umherzublicken. Der Raum war sehr hoch und hatte eine Galerie, die man über eine Treppe erreichte. Die Musik gefiel ihr, und weil sich auf der Tanzfläche weniger Gäste drängten als am Rand, ging sie los, um zu tanzen.
Nach einiger Zeit sah sie Maja am anderen Ende des Raumes stehen und nach ihr spähen. Sie winkte. Maja winkte zurück und bedeutete ihr, herüberzukommen.
»Da bist du ja!«, schrie Maja gegen die Musik an. »Komm! Jetzt geht es erst richtig los!«
Sofi folgte ihr hinaus in den Gang, doch statt zum Ausgang bog Maja rechts ab. Dort standen bereits Ernst und Majas Gespielinnen vor einer Aufzugtür, die ein Türsteher bewachte.
»Das ist Joakim«, sagte Maja. »Ihm gehört der ganze Laden.«
»Ist sie eine von deinen Lesben?«, fragte Joakim.
»Nein, aber für dich läuft es aufs Gleiche hinaus.«
Wegen dieser geheimnisvollen Unklarheit reichte Joakim Sofi verlegen die Hand. Wenn man bedachte, dass ihm der ganze Laden gehörte, sah er ziemlich artig aus.
Die Aufzugtür öffnete sich. Der Türsteher trat beiseite und ließ die Gruppe herein. Die Türen wollten sich schließen.
»Einen Augenblick«, rief Joakim. Vom Eingang eilten drei Frauen im Gefolge eines Türstehers herbei und drängten sich in den Aufzug. Zu Sofis Erstaunen ging es hinauf und nicht hinab. Eine der zugestiegenen Frauen starrte Sofi an, dann erhellte sich ihr Gesicht.
»Aber nein! Sofi!«
Es war Carina, Carina Lundberg, die mit Sofi die Polizeischule besucht hatte. Sie hatte einen Stöpsel im Ohr. Sofi wollte die Hand ausstrecken, hielt aber inne, weil sie nicht wusste, ob sie Carina zuerst begrüßen und die Prinzessin daneben ignorieren durfte. Anscheinened war Carina für ihren Schutz zuständig. Joakim löste das Problem indem er alle Insassen des Aufzugs vorstellte
»Hej!« sagte Madeleine und gab jedem routiniert die Hand, bis der Fahrstuhl hielt. Satan, dachte Sofi, als sich die Türen öffneten. Unten waren alle Wände anrüchig-rot gewesen, hier oben unter dem Dach strahlte alles lichtweiß. Unter den Bodenplatten fluoreszierte buntes Licht. Die Insassen des Fahrstuhls verteilten sich im Raum, wo ein Dutzend Menschen in Sesseln saßen.
Während alle zu einer kleinen Bar strebten, bewegte sich Sofi mit aufrechter Einsamkeit nach rechts auf die Glaswand zu. Durch eine Öffnung konnte man hinaus auf einen Balkon treten. Sofi beugte sich über die Brüstung und betrachtete die Menschen unter ihr auf dem Stureplan. Deren Zahl hatte noch zugenommen, aber niemand dort unten kam auf die Idee, zu ihr heraufzublicken.
Hinter ihr trat jemand auf den Balkon. Es war Carina.
»Bist du bei der Säpo gelandet?«, fragte Sofi.
»Ja, Personenschutz, jetzt schon im dritten Jahr. Du bist Reichsmord, Glückwunsch! Das ist wunderbar!«
Sofi richtete sich auf. Sie war in ihrem Leben entweder allein oder von ihren Kollegen umgeben. So gab es keine Gelegenheiten, mit ihren Erfolgen zu glänzen.
Als der Kellner mit einem Tablett vorbeikam, nahm Sofi zu ihrer eigenen Überraschung Champagner.
»Wir können ja mal was zusammen machen«, schlug Carina nach dem Anstoßen vor.
»Klar!«, erwiderte Sofi. In ihrer Hosentasche spürte sie auf einmal den Brief. Ihr schien, als hätte sich ihr Leben völlig verkehrt, seit sie ihn im Flur entdeckt hatte. Von innen nach außen.
Sie blickten beide über die Brüstung.
»Das ist doch ein Abend mit vier Assen, oder?«, entfuhr es Sofi. Sie lebte auf einer viel zu festen Bahn, fand sie jetzt. Alles Unberechenbare in ihrem Leben steckte unter der Motorhaube ihres alten Fiats.
Der Wind hier oben stach auf der Haut. Dennoch kam auch Ernst nach einer Weile hinaus. Joakim war bei ihm und legte seine Hand auf Ernsts Schulter. »Wunderbarer Auftritt unten auf der Treppe. Solche Dramen brauchen wir hier.« Er wandte sich ausgerechnet an Sofi. »Wie findest du den Namen Banana? Ich habe ihn aus einem ehemaligen Bordell in Hammarby übernommen. Mitsamt den Leuchtern und den Sofas.«
»Vorausschauend«, fand Ernst ungefragt. »Wenn man Liebe wieder kaufen darf, musst du nicht groß umbauen.«
Joakim lachte und stellte die Frage noch einmal an Sofi.
Sie sah keinen Grund, sich bei ihm einzuschmeicheln. »Blöd«, sagte sie daher wahrheitsgemäß.