DIENSTAG 25. DEZEMBER
4
Inspektorin Snæfríður Jómundardóttir zeichnete mit
der Fußspitze unsichtbare Buchstaben auf den Boden. Seit zwanzig
Minuten saß sie schon auf den Stufen des Treppenhauses und wartete.
Es war erst neun Uhr. Außerdem roch es nach Staub. Als die schwache
Deckenlampe zum zwanzigsten Mal erlosch, stand sie auf. Inzwischen
fand sie den Schalter auf Anhieb. Sie setzte sich wieder und
seufzte. An Hausbesuche war sie noch nicht gewöhnt.
Snæfríður stammte aus Island und hatte bei der
Wirtschaftskriminalität gearbeitet. Im vorletzten Herbst hatte sich
diese Kombination mit einem Schlag als äußerst aufreibend
herausgestellt. Ihre Landsleute hatten jahrelang in
Zentralskandinavien gehaust wie Wikinger. Kaufhausketten,
Zeitungsimperien und Werften hatten sie in Dänemark und Schweden
gekauft und alles mit sich in den Abgrund gerissen. Vom ersten Tag
der Finanzkrise an hatte sich Snæfríðurs Berufsleben dramatisch
verändert. Heiß begehrt von allen Behörden, hatte sie zunächst
geglaubt, es ginge mit ihrer Karriere nach oben, bis sie begriff,
dass es in Wahrheit nach unten ging. Als sie im Frühjahr eine
Fremdsprachenkorrespondentin des Wirtschaftsministeriums zu werden
drohte, hatte sie sich bei Cederström beworben. Der hatte sie zwar
bei der Reichsmordkommission aufgenommen, jedoch umgehend zu einer
mehrmonatigen Ausbildung in Verhörtechnik nach Amerika geschickt.
Von dort war sie erst vor kurzem heimgekehrt und
in ihrer neuen Abteilung daher eine blutige Anfängerin, die bei
jedem Schritt zögerte.
Endlich öffnete unten im Erdgeschoss jemand die
Tür. Snæfríður hörte Schritte im Korridor. Gummisohlen quietschten
auf dem alten und glattgelaufenen Steinboden. Als nach fünf
Schritten ein Stöhnen bis hinauf zu ihr in die vierte Etage drang,
war sie sich sicher, dass es ihr Kollege Henning Larsson war. Er
hatte soeben entdeckt, dass es keinen Aufzug gab.
Sie lächelte vor sich hin und blieb sitzen. Die
Schritte und das Ächzen kamen immer näher.
»Heute ist nicht mein Tag!«, stöhnte Henning
Larsson auf den letzten Stufen. »Das kann ich jetzt schon sagen,
obwohl ich noch nicht lange auf den Beinen bin.« Er sank mit seinem
massiven Körper neben ihr auf den Treppenabsatz und keuchte. »Ist
es diese Tür da?«
Snæfríður nickte und zauberte den Schlüssel
hervor.
»Erst trinken wir unseren Kaffee.« Er hatte zwei
Becher dabei, die er vorne an der Ecke gekauft haben musste. Sonst
hatte heute alles geschlossen. »Ganz schön heruntergekommen
hier.«
Das stimmte. Ein gräulich glänzender Schleier lag
in allen Winkeln.
»Wartest du schon lange?«
»Eine Viertelstunde vielleicht. Es war ein wenig
unheimlich, weil es so still ist.«
»Das ist an Werktagen anders. Da wackeln hier die
Wände, wenn draußen die Lastwagen vorbeirasen.«
Das Haus stand am schmutzigen Ende der
Långholmsgatan kurz vor der Brücke. Wegen des starken Verkehrs war
die rote Farbe der Fassade von Ruß bedeckt.
»Für mein letztes Stündchen hätte ich mir auch ein
hübscheres Plätzchen gesucht«, fand Henning irgendwann.
Snæfríður hatte genau dasselbe gedacht. Henning
konnte in
den Gedanken anderer Menschen lesen wie im Sportteil des
Abendblatts. Er war von so enormer Statur, dass Snæfríður ihn bei
ihrer ersten Begegnung darauf angesprochen hatte. Er habe sich vor
einem Vierteljahrhundert in den Polizeidienst gezwängt wie eine
Dogge in einen Kaninchenbau. Und wenn man einmal drinsteckte, bekam
einen niemand mehr heraus.
Henning war dreiundfünfzig. Ohne jeden Ehrgeiz und
ohne jedes Zutun, wie er immerfort betonte, hatte er es von der
Södermalmer Maria-Wache bis zum stellvertretenden Kommissar der
Reichsmordkommission geschafft. Soweit Snæfríður es bis jetzt
beurteilen konnte, bestand seine Ermittlungsmethode ausschließlich
aus unruhigen Gefühlen in der Magengegend, was in seinem Kopf aus
heiterem Himmel Ahnungen auslösen konnte, mit denen Henning
signifikant über dem Zufallsdurchschnitt lag. In diesem Jahr hatte
er die Reichsmord als Kommissar geleitet, während ihr eigentlicher
Leiter Cederström seine Arbeitszeit für die Erziehung seiner
kleinen Tochter auf ein Viertel gesenkt hatte und nur für
gelegentliche Unterschriften vorbeigekommen war. Formal galt
Cederström immer noch als Voruntersuchungsleiter.
»Cederström«, knurrte Henning Larsson in diesem
Moment. »Wenn der noch einmal etwas unterschreibt, kann er was
erleben.«
Die Unterschrift war der Grund, weshalb sie beide
hier am frühen Morgen des Weihnachtstags auf einer schäbigen Treppe
in der Långholmsgatan saßen und auf eine grüne Tür starrten.
Henning war nach einem beunruhigenden Anruf des Kriminaldienstes
noch früher an diesem Morgen aus dem Bett gesprungen und nach
Kungsholmen gerast, um den Schaden zu beheben, den Cederström mit
seiner Unterschrift am gestrigen Abend angerichtet hatte, doch es
war bereits zu spät gewesen. In der Nacht hatte der Kriminaldienst
Cederströms
Unterschrift auf dem Tatortprotokoll entdeckt und die Akte der
Reichsmord zugeordnet.
»Wo sie überhaupt nicht hingehört!«, hatte Henning
geschimpft und dem Leiter der lokalen Mordkommission die Akte auf
den Schreibtisch geschmettert.
Das Schmettern hatte überhaupt nichts genutzt.
Hennings Gegenüber hatte mit seiner verschnupften Nase unverschämte
Geräusche gemacht und dabei gegrinst. »Wir sind überlastet«, hatte
der Leiter der Lokalen behauptet und damit alle anderen Verbrechen
aus Leidenschaft gemeint. Vor allem aber sechs weitere Selbstmorde.
»Von anderen Abteilungen nehmen wir vor Neujahr nichts an.«
»Ich habe natürlich erwidert, dass der Fall nie bei
uns lag und alles nur ein Missverständnis ist«, erklärte Henning
seiner Kollegin nun.
»Genutzt hat es nichts, oder?«
Henning Larsson zerdrückte den geleerten
Kaffeebecher. »Cederström hat das Formularfeld für den
Voruntersuchungsleiter leer gelassen. Und der Kerl vom
Kriminaldienst hat dort Cederströms Namen nachgetragen.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Snæfríður. Sie
neigte stets dazu, ihr Los anzunehmen und nach vorn zu
blicken.
Henning öffnete die Akte auf seinem Schoß. »Elin
Gustafsson, 32 Jahre, arbeitet in einem Telia-Shop am Ringvägen.
Wir gehen rein, und wenn uns nichts auffällt, sind wir in zwei
Stunden fertig.«
Während Snæfríður die Tür aufschloss, schaltete
Henning das Diktiergerät ein. »Aktenzeichen S195632, 25. Dezember,
8 Uhr 41, Öffnen der Wohnung von Elin Gustafsson in der
Långholmsgatan 7, vierter Stock, durch die Polizeibediensteten
Kriminalkommissar Henning Larsson und Kriminalinspektorin Snæfríður
Jómundardóttir, Haupteinheit Reichsmord. Jesus! Eine Höhle!«
»Was meinst du?«
Henning trat in den Flur und vollführte eine
Drehung, die man bei schlankeren Menschen Pirouette nannte.
Snæfríður folgte ihm und drückte die Wohnungstür zu. Ihr letzter
Dienstbesuch in einer Wohnung lag in ihrer Vergangenheit bei der
Abteilung für Wirtschaftskriminalität. Damals hatte es so nach
Essen und Schweiß gestunken, dass Snæfríður jetzt zuerst auf den
Geruch achtete. Aber er war freundlich-neutral und ein bisschen
weiblich. Henning betätigte zwei Lichtschalter. Sie standen noch im
Flur. Von dort aus sahen sie sich um.
Keine lässig arrangierte Einrichtung, wie Snæfríður
es von schwedischen Wohnungen gewohnt war, obwohl man an allen
Stellen Liebe zum Detail erkannte. »Es sieht aus, als wären das
ihre allerersten eigenen Möbel aus der Studentenzeit, die sie im
Laufe der Jahre nur erweitert hat. Aber einen Neubeginn gab es
nicht.«
Henning blätterte in der Akte bis zum
Volksbuchauszug und nickte zur Bestätigung. Dann lenkte er
Snæfríðurs Blick auf die Regalbretter zwischen Garderobe und Decke.
Es gab sehr viele Dinge in Elins Leben, wirklich sehr viele, die
verstaut werden mussten. Der Boden im Flur war beinahe zur Gänze
mit Teppichen ausgelegt. An der Wand entdeckten sie eine
Zeitschaltung für das Licht. Henning drehte das Rädchen bis zur
Neunzehn. Sämtliche Lampen in der Wohnung sprangen an. »Damit es
gemütlicher ist, wenn man nach Hause kommt«, diktierte er in sein
Aufnahmegerät. »Deutet auf eine Kontaktstörung hin.«
Snæfríður staunte. »Ein mutiger Schluss, wenn man
erst den Lichtschalter im Flur gesehen hat.«
Henning drückte mit seinem dicken Daumen auf die
Pausentaste. »Wollten wir nicht in zwei Stunden fertig sein?«,
erwiderte er. »Sie hat ihre ganze Freizeit hier verbracht, da
kannst
du sicher sein. Sofi hat auch so eine. Eine Zeitschaltung, meine
ich.«
»Müssen wir auf eine bestimmte Art vorgehen?«,
fragte sie. »Ich habe noch keinen Selbstmord bearbeitet.«
»Du schleichst herum. Ich nehme mir die Dokumente
vor. Und denk an unsere Deadline!«
5
Kjell stellte den Kragen seines Mantels auf und
trat in die Morgenfinsternis. Die angefrorenen Schneeflocken
knisterten und pikten auf der Haut.
Eine schlechte Nacht lag hinter ihm. Zweimal hatte
er im Traum das Unbehagen durchlitten, helle Luftblasen aus einer
finsteren und grundlosen Tiefe aufsteigen zu sehen. Dazu die
schreckverzerrten Gesichter der anderen am Ufer. Hoffentlich bringe
ich es im Sommer über mich, am Strandbad zu schwimmen, dachte er
beim Schlurfen durch den Schnee, der ihm über die Knie reichte und
in Klumpen an der Hose klebte. Mehrmals blieb er stehen, um sich
den Grimm und den Schnee von Brust und Schultern zu klopfen. Als er
die kleine Brücke nach Långholmen erreichte, stand Esbjörn Fors
bereits da, unter der einzigen Laterne weit und breit. Deshalb war
er in der Finsternis gut zu sehen. Während der Hund mit der
Schnauze über den Boden jagte, starrte Fors mit zurückgelegtem Kopf
in die Krone eines Baumes. Die Hundeleine baumelte in seiner
Hand.
»Esbjörn Fors?«, erkundigte sich Kjell, eher zur
Begrüßung als aus Unklarheit, denn außer dem Nachbarn, der ganz
vernarrt ins Schneeschaufeln zu sein schien, war ihm seit der
Wohnungstür niemand begegnet.
Fors nickte, ohne den Blick von der Baumkrone zu
lösen. Er
legte den Zeigefinger an die Lippen, bevor er ihn hinauf zum
schwarzen Geäst richtete. Sekunden verstrichen. Dann begann dort
oben ein Vogel zu zwitschern.
»Der ist wohl nicht ganz bei Trost«, fand
Kjell.
»In jedem Fall ein Irrer«, flüsterte Fors und
drehte endlich den Kopf in Kjells Richtung. »Aber einer, der die
Hoffnung nicht aufgibt. Die arme Frau.«
»Danke, dass du zurück nach Stockholm gekommen
bist«, sagte Kjell beim Händeschütteln.
»Ich wäre besser gar nicht losgefahren«, erwiderte
Fors ohne jede Reue in der Stimme. Er roch einige Meter weit nach
Seife und hatte millimeterkurze Haare. Der Hund war ein Widerspruch
zu Kjells erstem Eindruck. Er war nämlich so gut wie überhaupt
nicht erzogen und ignorierte jeden Befehl, den Fors ihm gab.
Kjells Kollege Henning Larsson hatte diese Stelle
nicht zufällig mit Fors als Treffpunkt vereinbart. Fors und sein
Hund betraten Långholmen stets über die Pålsund-Brücke.
Was jenseits der Brücke geschah, entschied einzig
und allein der Hund, gestand Fors, nachdem sie aufgebrochen waren.
Kjell bat darum, dieselbe Route abzulaufen wie gestern. Dazu
mussten sie den jungen Spaniel gemeinsam wie ein Kaninchen
einfangen und anleinen. Der Hund sprang an seinem Herrchen hoch. Er
wollte noch einmal freigelassen und dann wieder eingefangen
werden.
»Fidel hat auch Qualitäten«, sagte Fors. »Heute
Morgen hat er meinen Wagen gefunden. Sonst würde ich jetzt noch mit
dem Besen einen Schneehaufen nach dem anderen ausprobieren.«
»Fidel?«
Fors nickte. »Weil er stundenlang bellen
kann.«
»Warum bist du gestern am Mittag und zwei Stunden
später noch einmal hierher?«
»Wir gehen immer zur Mittagszeit, vom Schnee war
jedoch noch nichts zu sehen gewesen. Als er dann kam, habe ich
beschlossen, lieber früher zu meiner Schwester aufzubrechen. Aber
vorher musste Fidel eine große Runde laufen, damit er es am Abend
bei meiner Schwester nicht zu weit treibt.«
Bis zum Freilichttheater hielt Kjell den Mann für
einen prinzipientreuen Frühaufsteher, vor allem wegen seines
Geruchs nach Seife, doch bis zum Bellman-Häuschen oberhalb des
Strandbades erfuhr er, dass Esbjörn Fors von 1962 bis zum Frühling
an der Grundschule von Högalid unterrichtet hatte. Zuerst die
Erstklässler, später die höheren Klassen. Den Tagesablauf eines
Lehrers hatte er auch im Ruhestand nicht aus dem Blut bekommen und
sich deshalb den Hund angeschafft. Für Kjell war das die Erklärung.
Er hatte sich nämlich seit dem gestrigen Abend gefragt, wer auf die
Idee kam, sich für einen Menschen aus hundert Metern Entfernung
verantwortlich zu fühlen und die Polizei zu alarmieren. Dazu war
nur ein Lehrer imstande.
»Ich frage mich die ganze Zeit, ob die arme Frau
vielleicht eine ehemalige Schülerin von mir war.«
»Da kann ich dich beruhigen. Sie ist außerhalb der
Stadt aufgewachsen und erst nach der Schule hierhergezogen.«
»Da unten«, sagte Fors.
Neben dem Weg fiel die verschneite Wiese sanft ab
bis zum Wasser. Selbst an der Stelle, wo die Techniker den Schnee
bis zum Rasen abgetragen hatten, war nichts mehr von den
Ereignissen am Abend zuvor zu sehen. Dafür hatte der Schneefall
gesorgt, der weiter anhielt.
Fors war etwa zur selben Zeit wie jetzt zum ersten
Mal hier eingetroffen. Und wie jetzt war der Hund den Hang
hinabgejagt. »Wenn es wärmer ist, schwimmt er eine Runde. Gestern
ist er nur durch das flache Wasser gejagt, genau wie jetzt.«
Fidel stürmte durch das Wasser, den ganzen Strand
entlang,
und galoppierte am anderen Ende der Wiese wieder den Hang hinauf.
Über den oberen Weg, wo gestern die Fahrzeuge gestanden hatten,
kehrte er zu ihnen zurück und wedelte mit dem Schwanz. Diese
Prozedur wiederholte Fidel noch zwei Mal.
»Du schaust also genau hin«, sagte Kjell.
Fors nickte. »Ich schaue ihm immer zu. Im Sommer
muss ich besonders achtgeben. Es erzürnt die Badegäste natürlich,
wenn sie nackt auf der Wiese liegen und von einem Hund wachgeleckt
werden.«
»Dann bist du also ganz sicher, dass die Frau am
Morgen noch nicht da saß?«
»Natürlich.«
»Bist du dir wirklich sicher?«
»Ja. Es wäre ja auch nicht wahrscheinlich.«
»Deshalb frage ich so eindringlich. Hast du es
gesehen? Oder hältst du es für wahrscheinlich?«
»Ich habe es gesehen. Daran besteht kein Zweifel.
Ich lasse Fidel keine Sekunde aus den Augen, wenn er am Wasser
ist.«
»Gut, haken wir die Morgenrunde ab. Am Mittag war
sie da?«
»Ja. Wir sind erst nach den Nachmittagsnachrichten
los. Also muss ich diese Stelle hier zwischen Viertel nach drei und
halb vier erreicht haben.«
Und da waren der Sonnenschirm und der Liegestuhl am
Strand gewesen. Von hier oben hatte Fors nur die Füße unter dem
Schirm herausragen sehen und nicht gewusst, ob sie einem Mann oder
einer Frau gehörten.
»Der Liegestuhl hätte mir eingeleuchtet, nicht
jedoch der Sonnenschirm. Die Sonne ging doch schon unter.«
Das war in der Tat irritierend. Fidel hatte sich
von dem sonderbaren Arrangement nicht irritieren lassen. Fors’
dritter und letzter Spaziergang fand um kurz vor fünf statt. Er
hatte ihn
vorgezogen, als der Schnee zu fallen begann, um früher losfahren
zu können.
»Das gleiche Spiel«, erzählte Fors. »Da habe ich
mich schon gewundert, dass sich die Gestalt wieder nicht rührte.
Sie saß immer noch da. Aber ich wollte nicht wie ein Förster zu ihr
hingehen und fragen, was da los ist.«
Erst viel später im Auto hatte Fors sich ernsthaft
gewundert, warum die Person sich nicht gerührt hatte, selbst als
Fidel nahe an ihr vorbei durchs Wasser trabte. Nachdem Fors und
Fidel von der Nachmittagsrunde heimgeeilt waren, stiegen sie sofort
ins Auto und fuhren los.
»Da ging der Sturm richtig los. Es gab einen Stau
auf der Brücke, und ich habe von dort oben einen Blick
zurückgeworfen. Da war unten alles neblig, aber den Schirm hat man
noch gesehen.«
6
Henning spazierte geradewegs zu dem Doppelregal,
dessen Bretter sich unter der Last der Bücher durchbogen. Ganz
unten gab es drei Ordner.
»Ich habe, was ich brauche«, sagte Henning und ließ
sich mit den Ordnern auf dem Sofa nieder.
Snæfríður stand unschlüssig im Raum. »Hast du
irgendwo etwas entdeckt, das wie ein Abschiedsbrief
aussieht?«
»Danach brauchst du gar nicht zu suchen.«
»Aha. Was soll ich dann tun?«
Henning blickte auf. »Dort steht eine Stereoanlage.
Mach sie mal an.«
Sie tat es zögernd, weil sie nicht verstand, was
Henning damit beabsichtigte. Aber Henning hatte während seiner Zeit
in der Maria-Wache jahrelang die Selbstmorde auf den Schreibtisch
bekommen und kannte bestimmt jede Abkürzung. Snæfríður hatte seit
einer Ewigkeit keine Stereoanlage von dieser Größe mehr gesehen,
zuletzt in ihrer Jugend. Nach dem Einschalten tat sich
nichts.
»Die Tonquelle ist auf CD gestellt. Soll ich auf
Play drücken?«
Henning brummte. Er hatte sich über den ersten
Ordner hergemacht, doch die einsetzende Musik riss ihn aus seiner
Versenkung. Das Lied war alt und begann mit tiefen Klavierklängen,
nach einigen Takten setzte ein Xylophon ein. Snæfríður stürzte zur
Stereoanlage und drehte an den Knöpfen, bis es leiser wurde.
»Der stand auf zehn! Entschuldigung, darauf habe
ich nicht geachtet.«
»Dreh wieder auf!«
Streicher kamen hinzu, und schließlich der Gesang.
»Ich will dich! Und niemals darfst du mich verlassen!«, sang
eine altmodisch klare Frauenstimme.
Snæfríður starrte Henning an. Henning starrte die
Stereoanlage an.
Ich will dich! Mein ganzes Herz gebe ich
dir!
»Das kenne ich!«, rief Henning gegen die Musik an.
Sein Blick war ernst. »Eine Schlagersängerin. Als ich jung war. Wie
hieß die noch?«
»Wann warst du jung?«
»Irgendwann in den Sechzigern.« Henning schnippte
so lange mit den Fingern zum Takt der Musik, bis ihm der Name
einfiel. »Marianne Kock!«
Nun bin ich es, die gibt. Kann nicht mehr
warten. Komm her! Ich hab dir schon angesehen, dass du mich
liebst.
Snæfríður floh vor Marianne Kock ins Schlafzimmer
und kehrte kurz darauf zurück. »Noch mehr Bücher!«, schrie sie,
denn die Melodie wurde immer dramatischer, und die Stimme
von Marianne Kock auch. »Einiges auf Englisch, aber nicht
viel.«
Sie verschwand im Bad.
Henning starrte wieder auf die Stereoanlage.
Ich will dich! Das war vom ersten Augenblick
an so. Es fühlt sich so richtig an, dass aus uns beiden etwas
wird.
»Henning, bitte komm mal!«
Als er ins Bad trat, endete draußen das Lied.
Snæfríður stand vor dem Spiegel.
»Das ist alt«, murmelte Henning und fuhr mit der
Spitze seiner Finger über den Lippenstiftstreifen auf dem Spiegel.
I’m good for magic. And magic is good for me! Einige der
Buchstaben waren nur noch aus dem Zusammenhang zu entziffern, weil
die Lippenstiftfarbe bereits abblätterte. Snæfríður öffnete den
Lippenstift auf der Ablage und drehte die Spitze heraus. Sie war
intakt und wie das Negativ einer Lippe geformt.
»Dann hat sie es mit einem vorangegangenen Exemplar
geschrieben«, folgerte Henning. »Oder noch früher.«
»Woher willst du wissen, dass sie es selbst
geschrieben hat?«
»Es ist ihre Schrift.«
»Hast du dir die Bücher angesehen? Das meiste sind
Fantasy-Romane. Harry Potter und …«
Draußen sprang wieder die Musik an. Dieselben
tiefen Klaviertöne. Dasselbe Lied.
Ich will dich! Und niemals darfst du mich
verlassen!
Snæfríður eilte hinaus und schaltete die Musik ab.
Henning folgte ihr.
»Es stand nicht auf Repeat.« Sie öffnete das
CD-Fach und zeigte Henning eine unbedruckte CD. Sie legte sie
wieder ein und sprang mit der Vorwärtstaste von Lied zu Lied.
»Achtmal«, sagte sie schließlich. »Achtmal derselbe
Schlager aus den Sechzigern.«
Snæfríður setzte sich zu Henning auf das Sofa. Die
Polster waren weich und wie geschaffen für Menschen, die gerne sa-
ßen.
Henning legte sich den aufgeschlagenen Ordner auf
die Knie. »Eine Mitteilung vom Nationalen Hochschulamt in Umeå. Sie
hat die Hochschulaufnahmeprüfung gemacht. Im Herbst.«
»Wofür braucht sie die?«
»Um studieren zu können. In meiner Zeit gab es das
nicht, da machte man Abitur. Ich natürlich nicht, ich bin vorher
zur christlichen Seefahrt.«
Snæfríður lachte. Sie war erst während ihrer
Polizeiausbildung und am Beginn einer Liebesbeziehung zu einem
Stockholmer nach Schweden gekommen. Die Schulzeit hatte sie in
Reykjavík verbracht. Dort war es gang und gäbe gewesen, zur See zu
fahren.
»Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst,
veröffentlichen die Abendzeitungen am Abend nach der Prüfung die
richtigen Ergebnisse«, sagte Henning. »Man kommt erschöpft aus der
Prüfung und erfährt gleich das Ergebnis.«
»Grausam. Man muss nur ankreuzen?«
Henning nickte.
»Das wird meine Hulda freuen.«
»Wie geht es Hulda?«, fragte Henning.
Snæfríður zog ein großes Schleppnetz durch ihr
Leben, in dem sich dauernd neue Verantwortungen verfingen. Die nach
zehn Jahren immer noch schlecht anlaufende Unternehmensberatung
ihres Lebensgefährten Fredrik verlangte regelmäßige Kapitaleinlagen
aus Snæfríðurs Gehaltskonto. Vor einem Monat hatte sie zudem ihre
Sonderausbildung in Verhörtechnik in den Vereinigten Staaten
abgebrochen, um zum Begräbnis ihres Großvaters nach Island zu
reisen. Sie war nicht allein nach Stockholm heimgekehrt. Ihre
vierzehnjährige Halbschwester,
die zuvor beim Großvater gelebt hatte, lebte nun bei Snæfríður und
Fredrik. Sie hieß Hulda, und außer ihrem Namen wusste Henning nur
von den Sorgen, die Hulda ihrer großen Schwester bereitete.
»Sie läuft ständig draußen herum, am liebsten
abends. Ich weiß nie, wo sie sich herumtreibt. Das macht mir
ziemliche Sorgen.«
»Sie erkundet die Stadt. Du solltest es lockerer
sehen.«
Henning wog ab, welche von Snæfríðurs Lasten die
schlimmste war, und kam zu dem Ergebnis, dass er sich eher mit
einem ausländischen Mädchen mitten in der Pubertät abfinden würde
als mit dem zweiundvierzig Jahre alten Großmaul Fredrik und seiner
jämmerlichen Unternehmensberatung.
Er selbst hatte es auch nicht leicht als freier
Mann in den besten Jahren, mit den drei Zimmern seiner neuen
Wohnung am Mosebacke Torg, die alle bewohnt werden wollten, mit
einem Gehalt als Kriminalkommissar, dessen Großzügigkeit beim
Ausgeben seine ganze Vorstellungskraft verlangte, sowie mit einer
ziemlich fordernden Saisonkarte für Hammarby. Überdachter Sitzplatz
natürlich.
Mit einem Seufzer beendete Snæfríður das Thema. Sie
seufzte ziemlich viel, wenn man bedachte, dass sie gerade erst drei
ßig war.
Henning deutete auf eine Zahl am Ende des Briefes.
»Sie war nicht gut.« Er blätterte um und hielt die folgende Seite
im ersten Moment für eine Kopie der vorherigen, aber das Datum wich
ab.
»Sie hat die Prüfung zweimal gemacht«, murmelte
Henning.
Zuletzt im Herbst. Das Schreiben als offizieller
Bescheid über das Ergebnis war dann am 12. November angekommen.
Davor hatte sie die Prüfung im Frühling gemacht. Dieses Schreiben
stammte vom 28. Mai.
Henning blätterte weiter.
Ein weiteres Schreiben vom Hochschulamt, das
inzwischen das Design seines Briefpapiers gewechselt hatte.
»Achtmal!«, resümierte Snæfríður, als Henning beim
letzten Schreiben ankam. »Sie hat es achtmal versucht!«
»Allerdings jedes Mal besser als davor, das muss
man auch sehen!«
Snæfríður fehlten die Worte. »Jedoch immer
schlecht. Bei ihrer ersten Prüfung erhielt sie 0,3, bei der letzten
0,7.«
Da hatte sie recht. Um sich auf diese Art bis zur
Bestnote 2,0 vorzuarbeiten, hätte Elin Gustafsson noch an sehr
vielen Prüfungen teilnehmen müssen.
»Das Schulabgangszeugnis ist auch so«, sagte
Henning. »Sie ist nicht überall schlecht, in DTK und NOG hat sie
ganz gut abgeschnitten, aber die Lese- und Wortverständnisaufgaben
wiegen so schwer, dass ihr Gesamtschnitt weit unter dem Mittelmaß
liegt.«
»Was ist DTK?«
»Diagramm, Tabellen und Karten. NOG ist logisches
Denken bei mathematischen Problemen.«
»Bei uns in Island heißt das Rechnen. Kann aber
keiner.«
»Vielleicht hatte sie Prüfungsangst. Sofi fährt
nachher mit der Betreuerin vom psychosozialen Dienst zu den Eltern.
Lass uns abwarten, was die sagen.«
»Ist das ein Motiv?«, fragte Snæfríður und deutete
auf den Ordner.
Henning konnte nur mit den Schultern zucken.
Anscheinend war Elin Gustafsson von ihrem Wunsch, ein Studium zu
beginnen, nicht leicht abzubringen gewesen, wenn sie achtmal zur
Prüfung antrat. Er schaltete wieder die Musik ein.
Wir haben alles zu gewinnen. Nur ich und du,
wir beide gehen auf Entdeckungsfahrt durch unsere eigene
Welt.
Henning stellte sich ans Fenster. Ein Kleinwagen
fuhr einsam
auf der breiten Fahrbahn und schlingerte auf dem schneebedeckten
Grund.
Snæfríður war auf dem Sofa sitzen geblieben und
blickte erwartungsvoll auf ihren Kollegen.
Auch wenn es draußen stürmt und schneit,
siegt die Liebe über alles!
Das Lied verstummte.
Henning steckte die Hände in die Taschen und
schmatzte. »Gefällt mir nicht.«
»Welchen Eindruck hast du?«, fragte Snæfríður in
die Stille.
»Das mit dem Lied gefällt mir nicht.«
7
Als sich im sechsten Stock des Polizeigebäudes die
Türen des Aufzugs öffneten, stand dort die neue Reichspolizeichefin
Lis Viklund. Ihre cremefarbene Sporthose deutete Kjell als Hinweis,
dass auch sie nicht damit gerechnet hatte, heute Morgen hier einer
Menschenseele zu begegnen.
»Was machst du hier?«, fragte sie. »Ist dein Urlaub
schon zu Ende?«
»Ich habe einen Fehler gemacht.«
Kjell hatte keine Gelegenheit, diese Aussage durch
eine Fortsetzung abzumildern. Da die Lichtschranke keinerlei
Personenverkehr registrierte, schloss sich die Tür wieder. Erst
durch eifriges Knöpfedrücken zu beiden Seiten der Tür öffnete sich
der Vorhang für den zweiten Akt.
»Einen Fehler?«
»Ich habe der Reichsmord durch eine Unterschrift
eine neue Sache eingehandelt. Da kann ich die anderen an den
Feiertagen nicht damit alleinlassen.«
Lis Viklund hatte ihr Amt erst vor einigen Wochen
angetreten.
Als erste Chefin der Reichskriminalpolizei war sie nicht aus der
juristischen Fakultät eingeschwebt, sondern hatte sich von der
Norrmalm-Wache bis hierher in den sechsten Stock der Reichskrim
hochgearbeitet. Und nun wollte sie mit dem Aufzug wieder
hinab.
»Wohin fährst du?«, fragte er und deutete auf die
Reisetasche in ihrer Hand.
»Ich habe mir ein Häuschen ohne Strom gemietet,
mitten im Nirgendwo, um einmal im Jahr für ein paar Tage nicht
erreichbar zu sein.«
Sie war nur zwei Jahre älter als er, aber zwischen
Augen und Mund zeugten zahlreiche Aufopferungs- und
Erleichterungsfalten von ihrem langen Weg. Zehn Jahre hatte sie als
Chefin der Stockholmer Bezirkspolizei durchgehalten. Das war nach
der Kantinenchefin der härteste Posten bei der schwedischen
Polizei.
Kjell fürchtete sich ein wenig vor ihr wie vor
einer strengen Tante. Ihrem Vorgänger Sten Haglund trauerte er
allerdings nicht hinterher. Fünf Jahre lang hatte der immer
dieselben Fragen gestellt, wie ein Zahnarzt bei der
Halbjahreskontrolle, und sich in Krisensituationen so entschlossen
verhalten wie eine geballte Schlagersängerfaust. Das war am Ende
sein Spitzname gewesen.
»Wenn du nicht bald aus dem Aufzug steigst, ist
Weihnachten vorüber.«
Kjell räumte den Aufzug.
»Es ist hoffentlich nichts Großes?«
»Nur ein Selbstmord.«
»Lass uns im neuen Jahr essen gehen.«
Kjell winkte zum Abschied. Mit einem flauen Gefühl
im Magen ging er zu seinem Büro. Nichts Großes. Was meinte sie
damit? Doch wohl nicht etwa, dass sie sich in Zukunft in alles
einmischen wollte?
Er betrachtete seinen bedenklich aufgeräumten
Schreibtisch. Während seiner einjährigen Papateilzeit, bei der er
nur drei Nachmittage in der Woche gearbeitet hatte und alle
Entschlusskraft an Henning Larsson übergegangen war, hatte er nicht
viel Gelegenheit bekommen, Sofi Johanssons Ordnungsliebe zu
durchkreuzen. Seit drei Jahren teilte er sein Zimmer mit ihr,
dennoch konnte er immer noch über den blauen Lappen lächeln, den
sie nach dem Morgenputz zum Trocknen über die Heizung hängte.
Sonderbar, dachte er, die chaotischsten Gemüter haben immer die
ordentlichsten Schreibtische.
Mit ausgestrecktem Arm erreichte er ein Blatt
Papier und überflog es. Henning hatte sich eine Agenda für
Suizidfälle aus den Dienstvorschriften kopiert und die einzelnen
Aufgaben mit den Namen der vier Mitglieder der Reichsmord
beschriftet. Die Wohnung übernahmen Henning und Snæfríður, und Sofi
erledigte seit einigen Stunden eine Reihe kleinerer Aufgaben.
Eigentlich gab es noch ein fünftes Mitglied, aber Barbro Setterlind
hatte rechtzeitig Urlaub genommen und tauchte nicht in der Liste
auf. Sie am ersten Weihnachtstag anzurufen, hätte nur weitere
Kapitalverbrechen heraufbeschworen.
Die Agenda für Suizidfälle endete mit einem
Merksatz: Selbstmord ist ein Tötungsdelikt, bei dem Täter und
Opfer identisch sind. Die Täterschaft ist nachgewiesen, wenn sich
in der Voruntersuchung keine Hinweise auf andere Verdächtige
ergeben.
Spitzfindiger konnte man nicht formulieren. Kjell
setzte ein Häkchen hinter seinen Namen: Befragung von
Augenzeugen abgeschlossen. Das hatte auch Sofi bei ihrer ersten
Aufgabe schon getan. Ihre Ergebnisse lagen auf dem Schreibtisch. An
der Fotokopie eines Zeitungsausschnitts klebte einer ihrer grünen
Zettel, mit denen sie ihr ganzes Leben etikettierte: ›DL
abgeschlossen. Sonst null Treffer! Bitte nichts unordentlich
machen. Habe aufgeräumt. Bitte!‹
DL, das stand für ›digitales Leben‹. Die Menschen
verbrachten ihr ganzes Leben im Internet, nur ermorden lassen
wollten sie sich ausgerechnet in der Realität, für die Kjell
Cederström zuständig war. Sofi hatte ihre Suche bereits
abgeschlossen und war zum Glück auf keine virtuelle Zweitexistenz
von Elin Gustafsson gestoßen, so dass sie sich zumindest nicht mit
solchen Albernheiten herumschlagen mussten. Kjell zog den Zettel
von dem Papier. Es war eine Fotokopie von einem Artikel im Svenska
Dagbladet vom 27. Oktober. Zweimal im Jahr, im Frühling und im
Herbst, brachten die Tageszeitungen am Tag der
Hochschulaufnahmeprüfung einen Artikel, in dem immer dasselbe
stand: Wie viele diesmal teilnahmen, was man können musste, und vor
allem, welche Gegenstände man nicht zu Hause vergessen dürfe.
Obwohl man nur einen einzigen Gegenstand benötigte, nämlich einen
gespitzten Bleistift, schienen einige nach wochenlangem Lernen
genau den zu vergessen. Der Reporter hatte einen findigen
Einwanderer aus Marokko interviewt, dem eine sensationelle
Geschäftsidee eingefallen war. An einem Tag im Frühling und dann
noch einmal im Herbst stand er morgens mit einem Bauchladen voll
gespitzter Bleistifte vor dem größten Gymnasium Stockholms. Den
Rest des Jahres habe er frei, und ja, sein Beruf bereite ihm viel
Freude.
Meist gab es immer noch ein Interview mit dem
Prüfungsbesten vom letzten Mal. Das war grundsätzlich eine Frau,
die aus einer Kleinstadt wie Nyköping kam und Empfehlungen gab, wie
man es zur Höchstnote 2,0 bringen konnte. Zum Beispiel: In der
einstündigen Mittagspause bloß nichts Schweres essen. Doch diesmal
hatte der Reporter einen interessanteren Menschen aufgespürt: Elin
Gustafsson aus Stockholm nahm zum achten Mal an der Prüfung teil.
Am Bleistift lag es allerdings nicht. Sie komme mit den Kästchen
nicht zurecht, die man ankreuzen musste, berichtete sie. Elin
wollte an der Technischen
Hochschule Civilingenieur studieren, scheiterte jedoch immer am
Prüfungsteil ›Sprachverständnis‹. Obwohl sie viel lese, wisse sie
während der Prüfung nicht, welches der fünf Synonyme zu
›nonchalant‹ das richtige sei. Anscheinend stand Elin mit ihrem
Elend nicht alleine da, denn zum Abschluss zitierte der Artikel
eine Reihe von Direktoren technischer und medizinischer Institute,
die sich darüber ereiferten, wie viele der Begabtesten nicht Arzt
oder Astronaut werden konnten, weil sie die Bedeutung der
Nonchalance verkannten.
Mit offensichtlichen Selbstmorden hatte Kjell keine
Erfahrung. Zur Sicherheit überflog er noch einmal das Merkblatt:
Wie bei jedem anderen Gewaltverbrechen genügte ein technischer
Beweis oder ein knappes Geständnis nicht, um die Voruntersuchung
abzuschließen. Der Bericht musste verständlich machen, warum Elin
ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte.
Bislang waren allerdings nicht einmal die Berichte
von Per und Suunaat eingetroffen, dafür aber ein durchsichtiger
Beutel mit Elins Halskette. Sie sei aus echtem Silber, hatte Per
auf dem Aufkleber notiert. Die entscheidende Frage beantwortete er
nicht: Wie lange hatte Elin die Kette getragen? Kjell spannte sie
vor seinen Augen. Ein Davidsstern, dachte er zuerst, aber als der
Anhänger zu zittern aufgehört hatte, erkannte Kjell nicht zwei
Dreiecke, sondern drei. Deckungsgleiche Dreiecke, wie man es bei
der Hochschulaufnahmeprüfung wohl nannte, und ineinander
verschlungen.
Obwohl seine Knie von der Kälte draußen noch ganz
steif waren, sprang er auf und musterte sein Büro. Irgendwo hatte
er dieses Ornament schon einmal gesehen, und zwar häufig und in
seiner nächsten Umgebung. Er studierte die Aktendeckel im Regal.
Nein, mit den Fällen hatte es nicht zu tun. Dann wäre es ihm
eingefallen. Er öffnete den Schrank, und tatsächlich: Auf der
Verpackung des Kopierpapiers war dasselbe Zeichen abgebildet.
Es war das Signet des Papierherstellers Svenska Cellulosa.
Kjell nahm eine Packung heraus und überlegte, was das Logo bedeuten
sollte. Stand jedes Dreieck für ein Blatt Papier oder einen
gefällten Baum? Drei Tannen könnten es sein.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Mit dem
Stapel in der Hand lief er hinaus in den Flur, um an der Tür
nachzusehen. Sie war aus Glas und konnte nach Angaben der
Sicherheitsabteilung Schallwellen und Eindringlinge abhalten, nicht
jedoch Kjells verwunderten Blick. Das Mädchen auf der anderen Seite
lächelte. Es trug einen gelb leuchtenden Regenmantel. Seine Füße
und Beine steckten bis zu den Knien in grünen Gummistiefeln. Unter
der Kapuze des Mantels zeichnete sich ein hellblonder Haaransatz
ab.
Er öffnete. »Bist du etwa Hulda?«
Sie nickte. »Ich will Snaj abholen.«
Kjell sah auf die Uhr. »Snæfríður ist mit meinem
Kollegen unterwegs. Aber lange kann es nicht mehr dauern. Seid ihr
verabredet?«
Hulda nickte.
»Am besten kommst du herein. Du kannst einen Kaffee
haben. Willst du?«
Hulda folgte ihm in den Besprechungsraum, wo er ihr
an der Theke Kaffee einschenkte. Obwohl die Gummistiefel ziemlich
groß wirkten, verursachten sie keine Geräusche. Hulda war eine
versierte Gummistiefelgeherin.
»Hier wären Lussekatter.«
»Ich nehme eins«, sagte sie und griff ohne Scheu
nach dem Safrangebäck.
Sie wechselten hinüber in Kjells Büro. Hulda nahm
an Sofis Schreibtisch Platz und schob sich die Kapuze vom Kopf. Ihr
Haar war so hell wie das seiner Freundin Ida.
»Hast du gewusst, dass Lussekatter gar nicht nach
der Heiligen Lucia benannt sind, sondern nach Lucifer?«
Kjell blies über seinen Kaffee. »Das habe ich. Und
woher weißt du es?«
Offenbar mochte Hulda gelbe Dinge, Regenmäntel und
auch Safrangebäck. Sie biss ab und kaute eine Weile. »Ich bin der
Sache auf den Grund gegangen«, antwortete sie nachdenklich.
»Aha«, antwortete Kjell, um einen vertraulichen Ton
anzuschlagen. »Und was liest du da?«
Hulda sah an ihrem Mantel hinab. Aus der Tasche
ragte ein Buch. Hulda zog es heraus und reichte es Kjell. »Fredrik
hat es mir gegeben, für mein Schwedisch.«
Snæfríður zufolge hatte Hulda vor vier Wochen kein
Wort Schwedisch verstanden. Inzwischen schien sie sich bestens
darin auszukennen. Ihre etwas sonderbare Ausdrucksweise lag auf
jeden Fall in ihrem Wesen und nicht in der neuen Sprache
begründet.
Kjell klappte das Buch auf. Es war August
Strindbergs Roman ›Das rote Zimmer‹.
»Da geht es um einen jungen Kerl, der durch
Stockholm irrt.«
»Gefällt es dir?«
Hulda schüttelte den Kopf.
»Ist auch ziemlich alt. Vielleicht nicht das
Richtige für dich.«
»Es ist pathetisch, das ist bei schlechten Autoren
meistens so.«
Kjell stellte augenblicklich seine Kaffeetasse ab,
solange er seine motorischen Funktionen noch kontrollieren konnte,
und räusperte sich. »Es ist immerhin ein Klassiker. Die
Geburtsstunde des modernen Romans, sagen viele.«
»Zugleich ein wichtiger Jahrestag des schlechten
Romans.«
»Darf ich fragen, wie viele Bücher du in deinem
kurzen Leben gelesen hast?«
»Dreitausend.«
Kjell überschlug diese Zahl. Das konnte nie und
nimmer stimmen. Eigentlich bringe das Ende einer Geschichte die
Wahrheit, behauptete sie. Bei Strindberg bringe die Wahrheit die
Geschichte.
Die Gewissheit des zierlichen Mädchens blendete
ihn. »Hier in Schweden mögen wir das«, entgegnete er zur
Verteidigung.
»Was ist das?«
»Das hier?« Er war heilfroh, dass das Gespräch
seine Richtung wechselte. »Eine Halskette. Die tote Frau trug sie.
Als wir sie fanden.«
Wenn schon Strindberg Hulda nicht einschüchterte,
so vermochte das der Tod erst recht nicht. Sie griff nach der
Plastiktüte und betrachtete den Inhalt.
»Ich bin der Sache auf den Grund gegangen«, sagte
Kjell auf dem Weg zum Papierschrank. Er nahm ein weiteres Paket
heraus, weil er das andere in der Küche liegen gelassen hatte, und
deutete auf das Signet von Svenska Cellulosa.
Hulda würdigte Kjells Entdeckung kaum und aß
weiter. »Valhnútur. Das ist ein Knoten.«
»Knoten. Wie kommst du darauf?«
»Am Zaumzeug.« Sie vollführte eine Vierteldrehung
auf dem Bürostuhl, damit er ihr Profil sah. Sie tippte sich an die
Wange. »Hier, wo die Riemen zusammenlaufen.«
Vielleicht war Elin Gustafsson Reiterin gewesen,
überlegte Kjell, sportlich hatte sie allerdings nicht ausgesehen.
Eher dicklich. »Warum sollte sie so einen Knoten als Anhänger um
den Hals tragen? Walknütürr heißt der? Bei euch in
Island?«
»Oder Odins Knoten. Weil Óðinn ihn benutzt hat. Er
hat damit die Kräfte der Gegner bei der Schlacht gebunden.«
»Odin?« Kjell verschluckte sich.
Sie schlürfte bestätigend an ihrem Kaffee. Ziemlich
laut sogar.
»In Island mögt ihr solche Sachen. Neulich habe ich
etwas in der Zeitung darüber gelesen.«
»Irgendeine Lüge müssen sich die Zeitungsleute ja
einfallen lassen, hat mein Opa oft gesagt.«
Wenn er das zierliche Mädchen so reden hörte,
konnte Kjell den toten Großvater leibhaftig vor sich sehen.
Anscheinend war er zu seinen Lebzeiten ihr einziger Bezugspunkt
gewesen. »Ich lese Svenska Dagbladet«, sagte er, um das Thema in
andere Bahnen zu lenken. »Das ist eigentlich eine sehr gute
Zeitung.«
»Es ist nur, dass bei uns immer der Wind pfeift.
Ich zum Beispiel komme vom Djúp.«
Man konnte Hulda nicht in andere Bahnen lenken. Auf
einmal verstand er Snæfríður, wenn sie darüber klagte, keinen
Einfluss auf ihre kleine Schwester zu haben. »Was ist dieses
Tjupp?«, fragte er also.
Hulda blickte zum Fenster, wo der Wind die
Schneeflocken so heftig gegen die Scheiben wehte, dass man sich wie
in einem dahinrasenden Auto vorkam. »Eine schaurige Tiefe. Ein
Fjord mit hohen Bergen und tiefem Wasser.«
»Dürfte ich noch einmal auf Odin zu sprechen
kommen?«, erkundigte sich Kjell. »Der Knoten hat also mit Odin zu
tun?«
»Über Knoten weiß ich einiges, über Odin nicht. Der
hat keine Bedeutung bei uns im Norden. Der Gott der Nordleute ist
Þórr.«
»Stop, Hulda! Ich will nicht über Thor, sondern
über Odin reden.«
»Warum?«
»Hast du schon einmal von Odins Auge gehört?«
»Am Mímisbrunnen hat er sein Auge geopfert. Mímir
ist der Gott der Tiefe.«
»Der Tiefe?«
»Des Wissens. Außerdem Brunnenbesitzer.«
Kjell stand abrupt auf und stellte sich vor die
Fensterscheibe. Odin hat also sein Auge geopfert, um zu tieferem
Wissen zu gelangen. Deshalb hatte das Wetteramt seine Tiefenbojen
›Odins Auge‹ genannt. Sie waren kugelrund und sollten das Wissen
über die Strömung im Fjord vertiefen.
Warum passierte das, fragte er sich. Warum sprang
am Strandbad eine Boje dieses Namens aus dem Wasser, neben einer
Toten, die einen Anhänger um den Hals trug, der ›Odins Knoten‹
hieß? Vernünftig betrachtet, konnte dazwischen keine Verbindung
bestehen. Elin hatte mit der Boje nichts zu tun. Er musste ein
Opfer seiner geschärften Sinne sein, so wie Kjell den Sprecher im
Radio oft genau das Wort verwenden hörte, das Kjell gerade
niederschrieb oder in einem Buch las.
Zweimal Odin. Das war eines jener unlogischen
Zeichen, auf die Kjell dauernd stieß. Aber worauf wies das Zeichen?
Er durfte um Himmels willen nicht übereifrig werden - kein Indiz
deutete darauf hin, dass mehr an der Sache war. Andererseits hatte
Elin in ihrem Liegestuhl direkt auf die Stelle geblickt, an der
später die Boje aufgetaucht war.
Ein Rumpeln draußen im Korridor riss Kjell aus
seinen Gedanken. Snæfríður und Henning trafen ein.
»Wir sind bei Fredriks Eltern eingeladen«, erklärte
sie Huldas Anwesenheit.
Hulda zog sich ihre Kapuze über den Kopf, womit
klarwurde, was sie von Snæfríðurs Lebensgefährten Fredrik und
seinen Eltern hielt.
»Frohe Weihnachten!« Kjell winkte den beiden
hinterher.
Mit einer Tasse Kaffee nahm Henning den freien
Platz an Sofis Schreibtisch ein. Er schwieg und trank eine ganze
Weile vor sich hin. Deswegen starrte Kjell weiter aus dem Fenster
und wartete. Unten liefen zwei Männer durch den Park und rüttelten
mit einer Stange den Schnee aus den Baumkronen.
Bisher hatte sich keines der Mitglieder seiner
Gruppe beschwert, deshalb war ungewiss, ob sie den
Weihnachtseinsatz der Fügung oder seinem Mangel an Gerissenheit
anlasteten. Henning schwieg aus sehr vielen Anlässen, auch aus Wut,
und dann immer am längsten.
Henning schniefte. »Irgendetwas stimmt da
nicht.«
»Habt ihr etwas gefunden?«
Henning deutete ein Kopfschütteln an. »Irgendetwas
stimmt da nicht.«
»Das Amulett vor dir auf dem Tisch heißt ›Odins
Knoten‹. Ist anscheinend ein mythisches Bild.«
Henning reckte sich über den Schreibtisch und sah
sich die Kette genauer an. »Und?«
»Gestern am Strand schoss eine defekte Boje aus dem
Wasser. Kurz darauf kam ein Boot vom Wetteramt, um das Ding aus dem
Wasser zu fischen.«
»Wieso geschossen?«
»Es ist keine schwimmende Boje, sondern eine
Messboje, die am Grund befestigt war. Der ganze Fjord soll voll mit
den Dingern sein. Sie messen die Strömung. Und jetzt kommt es: Die
Bojen heißen Odins Augen.«
»Zauberkram war Elins große Leidenschaft«, brummte
Henning und genehmigte sich eine Portion Tabak. Das tat er immer,
wenn er nicht wusste, wie er reagieren sollte. »Vielleicht aber
auch nur ihre zweitgrößte. Ich suche etwas Handfestes.«
»Was meinst du?«
Er brummte wieder. Sofis Telefon begann zu läuten.
»Überall in der Wohnung lagen Schnüre und Stäbe, wie man sie für
Zaubertricks braucht. Und diese schlechten Romane, in denen Trolle
vorkommen.«
»Strindberg?«
»Nein.« Henning rieb sich am Kinn, ohne dem Telefon
Beachtung zu schenken.
»Fantasy?«
»Genau das!« Endlich nahm er den Hörer ab und
lauschte eine Weile, bevor er auflegte. »Suunaat Kjærgaard. Wir
können jetzt vorbeikommen. Am besten sofort, sagt sie.«
Zwei Minuten später erreichten sie den Ausgang des
Polizeigebäudes.
»Hast du Hulda eigentlich eine Besucherkarte
ausgestellt?«, fragte Kjell in der Tür.
»Wieso fragst du?«
»Sie ist vorhin oben an der Glastür
aufgetaucht.«
»Sie war erst einmal hier, gleich nach ihrer
Ankunft in Stockholm.«
Die Tür fiel hinter ihnen zu. Kjell blickte zurück
durch die Scheibe. Dann stemmte er die Tür wieder auf, durchschritt
die Halle und steuerte auf die Rezeption zu. Henning blieb ihm
dicht auf den Fersen. Hinter dem Tresen saß ein junger Mann in
Uniform. Er war nicht allein, eine Frau stand in der Nähe, und in
der Halle schlich ein Wachmann herum.
»Wo wart ihr eigentlich vorhin?«, fragte Kjell.
»Vor einer Dreiviertelstunde?«
Der Mann blinzelte ins Ungewisse. »Hier natürlich.
Seit ein Uhr sitze ich hier.«
»Warst du auf der Toilette?«
»Nein.«
»Mich hat vorhin ein vierzehnjähriges Mädchen
besucht. Und hier ist meine Frage: Wie kann sie in einem
knallgelben Regenmantel an dir vorbeimarschieren und ungehindert
bis in den sechsten Stock gelangen?«
Henning zog eine Grimasse. Der Mann sah alarmiert
auf, und seine Kollegin ebenso.
»Bist du sicher?«, fragte sie. Offenbar leitete sie
die Schicht.
»Ich habe sie auch gesehen«, bestätigte Henning.
»Ist euch klar, was alles passieren kann, wenn hier jemand
eindringt?«
»Ich muss die Bänder prüfen«, murmelte die Frau und
eilte zu ihrem Schreibtisch zurück.
Der junge Mann war auf seinem Stuhl erstarrt,
zweifelte aber offenkundig nicht an seiner Aufmerksamkeit. Kurz
darauf versammelten sich alle vor dem Monitor. Man sah den Wachmann
in Schwarzweiß hinaus ins Freie eilen.
»Da hielt ein Wagen, der nicht zu uns gehört. Den
habe ich überprüft.«
Das Video lief weiter. Der Uniformierte hinter dem
Tresen nahm den Hörer des Telefons ab, die Frau gab etwas auf ihrer
Tastatur ein. Hulda öffnete die Tür und steuerte in gerader Bahn an
der Rezeption vorbei, durch die Halle hindurch zu den Aufzügen.
Normalerweise bedurfte es einer Karte, um die Tür zu öffnen.
»Jesus!«, murmelte die Frau.
Ein Mann stieg aus dem Aufzug, grüßte Hulda
freundlich und lief in den Feierabend.
»Da hat sie Glück«, knurrte Kjell. »Spaziert arglos
herein, und dann kommt auch noch jemand mit dem Aufzug unten an.
Ihr solltet von nun an besser miteinander kommunizieren. Immerhin
trägt sie einen gelben Mantel. Und ihre Gummistiefel quietschen
bestimmt auf diesem Boden.«
Henning bat darum, das Band noch einmal sehen zu
dürfen. »Mit Glück hat es wenig zu tun, wenn du mich fragst«, sagte
er danach und wollte das Band noch einmal sehen.
»Wonach suchst du denn?«, erkundigte sich Kjell
nach der vierten Wiederholung.
Henning antwortete nicht und verlangte stattdessen
nach den Bildern der Außenkameras. »Fünfzig Kronen, dass sie eine
Weile draußen wartet.«
Kjell verweigerte diese Wette, weil er nicht
verstand, worauf sein Kollege hinauswollte und was ihn so an den
Aufnahmen interessierte.
»Wunderbar!«, hauchte Henning, als sie Hulda
draußen stehen und dann loslaufen sahen. »Sie hat die Wachleute
beobachtet, den Moment abgepasst und die Sache dann ohne Zögern
durchgezogen.«
»Aber woher konnte sie wissen, dass am anderen Ende
der Halle der Aufzug ankommen würde?«
Henning zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, aber
das macht die Sache so erstklassig. Sie hat es faustdick hinter den
Ohren, das sage ich dir.«
8
Der Violvägen wand sich wie eine mittelalterliche
Gasse um die Anhöhe, dabei konnte die Siedlung nicht älter als
fünfzehn Jahre sein. Sofi Johansson legte wieder ihr Fernglas an.
Die Häuser waren alle Kopien des ersten Hauses der Straße, die
ganze Siedlung wirkte wie an einem einzigen Tag erbaut. Wie fanden
die Leute hier nur ihr eigenes Haus, fragte sie sich. Durch den
Schleier aus Schneeflocken erkannte sie die Hausnummer nur
unscharf. Neben dem Haus fegte eine vermummte Gestalt den Weg zur
Tür frei. Das fiel einem kaum ein, wenn man gerade vom Tod seiner
Tochter erfahren hat. Das übernächste Haus wollte sie auslassen,
weil sie weit und breit kein parkendes Auto entdeckte. Aber als sie
die Nummer entzifferte, bremste sie so scharf, dass sich der Fiat
quer stellte. Hier war es, einundzwanzig, Violvägen. Der alte Motor
knatterte, das hörte man drinnen bestimmt. Sofi parkte am Stra-
ßenrand und suchte nach der Telefonnummer von Stina Nääs. Die nahm
noch vor dem zweiten Läuten ab.
»Stina«, sagte Sofi. »Ich stehe vor dem Haus der
Gustafssons. Wo bist du?«
»Bin vor einer halben Stunde von dort weg.«
Anscheinend wollte die Notfallpsychologin nicht den
ganzen Weihnachtstag für die Gustafssons opfern. Sofi seufzte. Das
war die einzige Antwort, die ihr einfiel.
»Bist du dir unsicher?«, fragte die
Psychologin.
»Es ist gegen die Vorschrift, das weißt du. Ich bin
von der Reichsmord. Wir haben keine Erstkontakte. So gut wie
nie.«
Stina wechselte in eine einfühlsame Melodie aus
Worten und schloss damit, dass es noch einige andere Angehörige von
anderen Selbstmördern gebe, die jetzt des Trostes von Stina Nääs
bedurften.
»Also gut«, sagte Sofi und seufzte noch
einmal.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Stina.
»Warum fragst du?«
»Deiner Stimme nach bist du im selben Alter wie die
Tochter.«
»Ist das schlecht?«
»Hmm, manchmal ja, manchmal nein.«
Den Weg zur Haustür nutzte Sofi, um Stina Nääs zu
verfluchen. Auf der Außentreppe kam sie auf den Holzstufen ins
Rutschen und schürfte sich den Ellenbogen an der Hauswand
auf.
Eine junge Frau öffnete. Sie konnte nicht zu den
Gustafssons gehören. Sofi hatte das Volksbuch studiert und kannte
die Familienverhältnisse. Während sie sich im Flur die Schuhe
auszog, starrte die Frau unablässig zu ihr herab. Vielleicht war
sie eine Cousine, überlegte Sofi. Auch im Wohnzimmer ging das
Starren weiter. Dort saßen acht sprachlose Personen auf zwei Sofas.
Dazwischen stand der Weihnachtsbaum, und für einige Sekunden
verfing sich Sofi Johansson in der Frage, ob sie die Kerzen in
dieser Lage ebenfalls einschalten oder lieber aus lassen würde. Der
Boden glänzte. Das Holz musste gerade erst verlegt worden sein. Und
nun das!
Während sie einem nach dem anderen die Hand
schüttelte,
suchte sie nach einem Hinweis, wer von diesen Leuten Elins Eltern
waren. Wahrscheinlich handelte es sich um Nachbarn, denn draußen
parkten keine Autos. Stina hatte den Leuten bloß mitgeteilt, dass
ein Ermittler von der Reichsmordkommission kommen würde.
Sofi hat ihr ganzes Leben lang Zeit gehabt, sich
der Wirkung ihrer schwarzen Haare und Augen auf andere Menschen
bewusst zu werden, deshalb konnte sie davon ausgehen, dass die
Leute auf dem Sofa rätselten, wie sie zu den Farben an ihrem Körper
gekommen war, wo ihr Name doch so schwedisch klang. Beim Heimweg in
der U-Bahn konnte sie damit die Aufmerksamkeit von Männern auf sich
ziehen und sie von einer verhängnisvollen Affäre träumen lassen.
Auch bei der Arbeit kam ihr der dunkle Teint zugute. Trauernde
verbanden etwas Schicksalhaftes mit ihr, als landete ein schwarzer
Rabe auf der Fensterbank.
Sie antwortete auf die stumme Frage. »Bei einem
nichtnatürlichen Tod muss die Polizei die Möglichkeit ausschlie-
ßen, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Das ist eine
vorgeschriebene Routine.«
»Du bist von der Reichskriminalpolizei«, sagte der
Mann, der anscheinend Elins Vater war. »Habe ich das richtig
verstanden?«
Sofi nickte. »Wir wurden hinzugezogen, weil an den
Feiertagen viel passiert.«
»Werdet ihr Elin obduzieren?«, wollte die junge
Frau wissen, die Sofi die Tür geöffnet hatte.
»Die Todesursache muss immer bestimmt werden, wenn
sie nicht offenkundig ist.«
»Ist sie das etwa nicht?«
Darauf durfte Sofi nicht antworten. Und sie wollte
die Leute nicht weiter verdrießen. »Wenn man nach einem halben Jahr
auf der Intensivstation an Krebs stirbt, ist das offenkundig ein
natürlicher Tod, aber selbst da muss ein Pathologe das Gewebe
untersuchen. Kann ich einzeln mit euch sprechen?«
Das Paar, das Sofi als Elins Eltern ausgemacht
hatte, nickte. Der Vater stemmte sich aus dem Sofa. Sofi folgte ihm
auf der roten Treppe hinauf in ein Zimmer, das anscheinend ihm
allein gehörte. Die Wände waren mit Buchregalen bedeckt. Sonst
enthielt das Zimmer nur einen Sessel, in dem Jakob Gustafsson viel
Zeit zu verbringen schien. Auf den Lehnen hatte der Blumenbezug
fast keine Farbe mehr. Er bot Sofi Platz auf dem schmalen Ziersofa
an der Wand an und sank routiniert in seinen Sessel. Sofi sah sich
in Ruhe um. Der Straßenatlas vom ICA-Supermarkt und ein altes
Wörterbuch für Norwegisch. Die anderen Bücher in den vier Regalen
waren alle Krimis.
Ein Krimizimmer.
Sofi richtete ihren Blick hastig auf Jakob
Gustafsson. Er rang um Fassung, seit er sich gesetzt hatte. Das
raubte einem mehr Kraft, wusste Sofi, als im Klimmzug an einer
Turnstange zu hängen.
»Dafür hatte sie einen schönen Tod«, begann sie.
Die Leute mit etwas Unerwartetem zu schockieren, damit hatte sie in
der Vergangenheit viele Erfolge erzielt.
Der Vater nickte mechanisch, vertiefte sich in
diese neue Vorstellung, erlitt dann jedoch einen Weinkrampf,
während Sofi schweigend dasaß und noch einmal Stina Nääs
verfluchte. Die Vorschrift sah vor, dass der Ermittler Distanz
wahrte. Als der Vater sich gefasst hatte, ließ Sofi die Stille noch
ein wenig wirken. Ihr frisch lädierter Ellenbogen schmerzte
höllisch.
»Würdest du deinem Vater das antun?«, fragte
er.
Sie konnte diese Frage nicht beantworten und wog
ab, in welche Richtung sie lügen sollte. Am Ende entschied sich für
die Wahrheit. »Ich kenne meinen Vater nicht.«
»Aha«, erwiderte der Vater enttäuscht. »Bei Elin …
ich hatte das Gegenteil erwartet.«
Sofi verstand nicht recht, was diese Aussage
bedeutete, nahm aber dennoch ihren Notizblock und schrieb es auf.
Sie schrieb immer alles auf.
»Es gab zwei Dinge, die Elin interessierten. Das
eine war die Naturwissenschaft. Deshalb wollte sie unbedingt
studieren.«
Sofi hatte zuvor ein kurzes Gespräch mit Henning
geführt und schrieb die Zauberei gleich mit auf. Das war sicher das
Zweite.
»Das Zweite war die Zauberei. Die hat sie seit
ihrer Kindheit geliebt.«
»Auf ihrem Spiegel im Badezimmer steht: I’m good
for magic …«
»… and magic is good for me.« Der Vater
lächelte. »Das war immer ihr Spruch. Keine Ahnung, woher sie den
hatte. Ich habe lange gehofft, dass sie sich von dem Wunsch zu
studieren trennt. Wenn man so oft durch die Aufnahmeprüfung fällt,
ist das doch ein sicheres Zeichen!« Er sah Sofi so eindringlich an,
als müsste er sie überzeugen.
»Das Schicksal hat etwas anderes mit einem
vor?«
Jakob Gustafsson nickte erleichtert. Seine Ansicht
war also nicht so abwegig, dass nur er sie verstand.
»Vielleicht hat sie eine Bestandsaufnahme ihres
Lebens gemacht«, sagte Sofi. Jakob Gustafsson sah sie an. Das
verstand er nicht. »Eine Liste.«
»Sie hat keine Listen gemacht.«
Sofi ließ ihren Notizblock mit der Liste all ihrer
Fragen auf das Polster gleiten. »Und ihr Urteil lautete dann, dass
sie nicht mehr die Jüngste war und keines ihrer Ziele erreichen
würde.«
»Das befreit einen doch«, fand er nach einigem
Überlegen.
»Oder es überzeugt einen, dem Leben nicht gewachsen
zu sein. Und da hat sie einfach aufgegeben.«
Der Vater nickte halbherzig. Elins Entschluss
verstand er
dennoch nicht. Das sah Sofi ihm deutlich an. Sofi fand ihren
Vorschlag selbst hypothetisch, aber bei ihrer Arbeit stieß sie
dauernd auf Depressionen und Ängste und nie auf einen Grund dafür.
Sie deutete auf das Regal. »In Kriminalromanen haben die Leute
immer gute Motive und treffen klare Entscheidungen. In der
Wirklichkeit trifft man so gut wie nie Entscheidungen. Meist ergibt
sich das Nächste aus dem Vorherigen.« Dass Morde eher auf
Stimmungen und fehlender Intelligenz beruhten statt auf Motiven,
verschwieg Sofi lieber. »Du kannst es nicht nachvollziehen, oder?
Dass sie sich einen schönen Platz sucht, um aufzugeben.«
»Mir will nur nicht in den Kopf, wie sie es mit dem
Rollstuhl dorthin geschafft hat.«
9
Kjell erreichte den Kamm des Schneehaufens zuerst.
Henning sank mit seinem Gewicht bis zum Schritt ein und kam nur
mühsam voran. Der Winterdienst hatte die Wege des Karolinska
säuberlich geräumt und all den Schnee vor der unscheinbaren
Einfahrt zum Hof der Rechtsmedizin aufgehäuft, dem einzigen
Institut auf dem ganzen Gelände, wo an den Feiertagen gearbeitet
wurde.
Kjell streckte Henning die Hand entgegen. Als sie
sich auf der anderen Seite des Schneehaufens an den Abstieg
machten, sahen sie Suunaat Kjærgaard im Eingang des Gebäudes stehen
und die Tür offen halten. Sie beobachtete die beiden Männer beim
Händchenhalten, ohne sich zu regen. Dafür schrie wieder die Krähe
in der Fichte.
»Warum habt ihr nicht den Eingang auf der anderen
Seite genommen?«, fragte sie, als sich die beiden vor ihr den
Schnee von den Schuhen stampften.
»Wir kommen immer von hier«, erwiderte Henning und
warf Kjell einen fragenden Blick zu.
Aber der hatte auch noch nie vom anderen Eingang
gehört und konnte nur mit den Schultern zucken. Ihnen graute vor
der nächsten halben Stunde. Wie in jedem Jahr traf sich die Elite
der Depressiven im Kühlraum des rechtsmedizinischen Instituts. Zum
Glück waren dieses Jahr keine ›Familienangelegenheiten‹ dabei, zum
Beispiel ein Mann, in dessen Kopf ein frisch ausgepacktes
Bügeleisen steckte.
Suunaat führte sie durch den orange gestrichenen
Korridor und hielt vor einer Tür, hinter der Kjell immer die
Putzkammer vermutet hatte.
»Im Klimaraum bewahren wir normalerweise Proben
auf.« Und die Milch für den Kaffee. Sie drängten sich zwischen die
Regale und den Tisch in der Mitte. Sämtliche Behälter, die sonst
darauf standen, waren in aller Eile in die Regale gestapelt worden.
»Das ist der einzige Raum, in dem ich Temperatur und
Luftfeuchtigkeit genau regulieren kann.«
Das war wohl der Grund, weshalb Elin Gustafsson
hier unter einer Glashaube lag wie eine katholische Reliquie.
Henning grunzte.
»Ich führe ein kontrolliertes und normiertes
Auftauen durch.«
»Aber es ist so kalt wie draußen«, äußerte Kjell.
»Wie soll sie hier auftauen?«
Elin war bereits zur Mittagszeit aufgetaut. Danach
hatte Suunaat den Leichnam in Augenschein genommen und daran keine
Zeichen von Gewalt festgestellt. »Seit zwei Stunden kühlt sie
wieder ab«, beendete sie ihre Erklärung. Und zwar genau bei der
Temperatur und Luftfeuchtigkeit, die am Abend zuvor am Strandbad
von Langholmen geherrscht hatten. »Den Wind simulieren wir nicht,
weil der Körper rasch von Schnee bedeckt war.«
»Isolation«, brummte Henning. »Verstehe.«
Suunaat schwieg, was bei ihr sowohl Bestätigung
oder Ablehnung bedeuten konnte. Sie wies auf die drei Kabel, die in
den Körper führten. »Die Kerntemperatur fällt sogar noch langsamer,
als ich erwartet habe.«
»Ist das ein Widerspruch?«, fragte Kjell.
»Ein Widerspruch, ja. Wie groß, das sage ich dir,
wenn der Temperaturausgleich abgeschlossen ist.«
»Und wie lange dauert das? Ungefähr?«
»Zu lange. Ein Widerspruch.«
Kjell seufzte, und Henning seufzte unmittelbar nach
ihm. Sie verglichen die Aussage von Esbjörn Fors mit dem Befund.
Elins Körper musste bereits gefroren gewesen sein, als der Nachbar
die Stelle vor dem Ufer am Morgen noch leer gesehen hatte.
Henning verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein.
Das fiel den anderen auf, weil der Boden rau war und knirschte.
»Sonst ist es doch auch immer recht grob, und jetzt nimmst du es
auf einmal sehr genau. Ausgerechnet an Weihnachten.«
»Die Einschlafzeit ist nicht eingerechnet. Das
Flunitrazepam hat Muskelkrämpfe verursacht. Sie verzögern das
Auskühlen noch.«
»Wie viel hat sie eingenommen?«, erkundigte sich
Kjell.
»Zwei Tabletten. Vielleicht drei. Eher zwei.«
Stille trat ein. Suunaat wäre die Letzte gewesen,
die eine Stille durchbrach. Mit dem Hinweis auf seine eigene
Kerntemperatur schlug Kjell vor, bald hinüber ins Büro zu gehen.
Als sie in den Korridor zurückkehrten, saß Sofi Johansson auf einem
der Wartestühle im Gang und blätterte in einer
Trostbroschüre.
»Wo wart ihr?«, fragte sie.
»Hinten«, informierte Henning geheimnisvoll.
Während Suunaat allen Kaffee einschenkte, klärte
Kjell Sofi über den widersprüchlichen Befund auf.
Sofi lauschte ungeduldig, bis er zum Ende kam.
»Hast du obduziert?«
Suunaat schüttelte den Kopf. Sie war mit allem
sparsam, mit Worten, mit Taten und mit der Kaffeemilch.
»Elin Gustafsson litt an einer geheimnisvollen
Lähmung, die sporadisch auftrat«, sagte Sofi. »Ich habe eine
Fotokopie von ihrer ersten Diagnose. Der Vater hat sie mir
mitgegeben.«
»Lähmung?«, fragte Kjell.
»Die Ärzte haben keine Erklärung dafür.«
»Ein Nervenfieber? Wie im neunzehnten
Jahrhundert?«
Es gebe viele Krankheitsfälle, erklärte Suunaat,
deren Ursache die Ärzte erst nach dem Tod des Patienten bestimmen
konnten.
»Die Lähmungen traten immer in Schüben auf und
verschwanden nach einigen Wochen wieder«, sagte Sofi. »Dazwischen
hatte sie keine Beschwerden. In den letzten drei Wochen brauchte
sie einen Rollstuhl.«
10
Henning Larsson musste einsehen, dass sich auch
mit frischen Kerzen am Adventskranz keine Weihnachtsbehaglichkeit
erzwingen ließ. Gegen das Porträt, das der Projektor an die Wand
der Besprechungsraums warf, kam er damit nicht an. Das Bild zeigte
Elin Gustafsson an ihrem letzten Schultag. Sofi hatte die Eltern
mit der Bitte um ein aktuelleres Foto in Verlegenheit
gebracht.
Kjell schob seinem Kollegen die Kontoauszüge zu. Er
hatte sie zuvor mit Elin Gustafssons Bankkarte in der Filiale in
der Hamngatan geholt. Denn es war immer Henning, der sich um die
finanzielle Seite eines Falles kümmerte. Darin war er ein
Schlitzohr. Weil er sich jeden Betrag als riesigen Haufen aus
Einkronenmünzen vorstellte, stieß er meist als Erster auf
finanzielle Unregelmäßigkeiten, so klein sie auch sein mochten.
Überstieg der Haufen Hennings räumliches Vorstellungsvermögen von
zehntausend Kronen, gab er die Sache an Snæfríður weiter. Sie hatte
früher bei der Wirtschaftskriminalität gearbeitet.
Murmelnd überflog Henning die Auflistung. »Keine
leichtsinnigen Abhebungen. Sieht alles ganz regelmäßig aus.«
»Hast du dir etwas erwartet?«, fragte Kjell.
Henning zuckte nur mit den Schultern. Manchmal war
aus ihm nichts herauszubekommen.
Sofi raschelte mit ihrem Papier. »Soll ich dann
beginnen?«
Ihr fiel die Biografie zu. Henning würde ihren
Vortrag später mit seinen Eindrücken aus der Wohnung ergänzen. Sie
spürte, dass Kjell über ihre Schulter hinweg das Porträt von Elin
anstarrte, und drehte sich um.
»Vor der Pubertät sah sie angeblich nicht so blass
und dicklich aus. Die Krankheit ist damals ausgebrochen, vermuten
die Ärzte. Diagnostiziert wurde sie allerdings erst vor drei
Jahren, als zum ersten Mal Lähmungen auftraten. Seither sind sie
gekommen und gegangen.«
Sofi berichtete, was sie aus der Diagnose und vom
Vater erfahren hatte: Elin litt unter hypokaliämischen
Lähmungen. Sie wurden durch Kaliummangel verursacht und
befielen Muskeln und Nerven. Bei jedem Schub dauerte es Wochen, bis
das Kaliumniveau sich erholte. Dafür hatte bisher niemand eine
Erklärung gefunden.
»Ich meine eher die Augen«, sagte Kjell. »Ihr Blick
erregt irgendwie Mitleid. Das hat doch mit der Krankheit nichts zu
tun, oder?«
»Ich weiß, was du meinst. Das soll in letzter Zeit
nicht mehr so gewesen sein. Glaubt ihr Vater.«
»Hast du mit der Mutter gesprochen?«
»Dazu kam ich gar nicht. Bei der Neuigkeit!«
Henning seufzte und nahm ein Zimtplätzchen vom
Teller.
»Der Elternteil mit dem gleichen Geschlecht ist bei
der Befragung immer der wichtige«, sagte Kjell. »Das weißt
du.«
»Die Mutter schien gar keine Verbindung zu ihrer
Tochter zu haben. Die saß mit den anderen auf dem Sofa, und ich
habe erst eine andere für Elins Mutter gehalten.«
»Da hast du’s«, fand Kjell. Für Sofi waren
Ermittlungsregeln Reisen in ferne Länder.
Henning pflichtete seinem Kollegen durch
Papierrascheln bei. Weiter trieb er Konflikte nie voran.
Sofi versuchte einen Neubeginn. »Die Wohnung in der
Långholmsgatan hat sie anderthalb Jahre nach dem Schulabschluss
bezogen. Weil noch ungewiss war, ob sie in der Stadt oder auf der
Hochschule in Södertörn studiert.«
Zuvor hatte Elin Gustafsson ein Jahr als
Aupair-Mädchen in Michigan verbracht. Das Auslandsjahr hatte ihr
Gymnasium in Aspudden angeboten. Es ging also nicht auf Elins
Initiative zurück.
Sofi suchte ihre Notizen nach etwas Spannenderem
ab. »Eigentlich ist alles aus einem Guss. Die Eltern hatten
normalen Kontakt zu ihr. Wenn ihr die Krankheit zu schaffen machte,
sahen sie sich öfter, sonst etwa alle zwei oder drei Wochen. Von
einem Partner oder einer Freundschaft ist nichts bekannt.«
»Jungfrau war sie immerhin nicht mehr«, zitierte
Henning aus Suunaats Erstbefund. »Der Hormontest war auch negativ.
Ich kreuze zur Sicherheit einmal das Vibrator-Optionskästchen auf
der Agenda für die Tatorttechniker an. Obwohl Per ohnehin danach
sucht.«
»Mehr brächte der Computer«, sagte Sofi. »Da sind
all die Geheimnisse gespeichert, von denen der Vater nichts
ahnt.«
Henning überflog seine Inventarliste. »Es gab
keinen.«
»Es muss einen geben. Der Vater hat ihr einen
tragbaren geschenkt. Am 7. Februar, ihrem Geburtstag.«
»Da war kein Computer, Sofi.«
»Wie genau habt ihr denn in der Wohnung
gesucht?«
»Ein Computer ist doch immer sichtbar oder in der
Nähe.«
Kjell schrieb den Punkt ›Computer‹ an die
Wandtafel.
»Es gab überhaupt wenig persönliche Gegenstände in
ihrer Wohnung«, kommentierte Henning. »Verdächtig wenige.«
Kjell setzte eine Überschrift über den Begriff
›Computer‹: Nichtexistierende Gegenstände.
Sofi kam zum Ende. »Tagsüber hat sie im Telia-Laden
am Ringvägen gearbeitet, abends hat sie sich in ihrer Wohnung
verschanzt.«
Kjell nahm wieder am Tisch Platz. »Der
Freundeskreis bleibt uns also diesmal erspart. Kommen wir zur
Wohnung. Irgendetwas Verdächtiges, Henning? Ich meine Dinge, die
existieren.«
Ja, dachte Henning Larsson. Die verdammte CD. Die
ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er war sich nicht sicher, ob sie
ins Bild passte oder nicht. Bis dahin wollte er nicht darüber
reden.
»Von den sprechenden Gegenständen gibt es
auffallend wenig. Ein Mobiltelefon habe ich auch nicht
gefunden.«
»Das können wir abhaken«, wandte Sofi ein. »Sie
besaß keines. Vielleicht, weil sie den ganzen Tag im Telia-Laden
stand. Ein Würstchenbudenbesitzer isst ja in seiner Freizeit auch
keine Würstchen.«
»Und weil sie anscheinend ohnehin keinen Menschen
hatte, den sie anrufen konnte«, ergänzte Henning. »Wisst ihr, was
mich erstaunt? In der ganzen Wohnung bin ich auf kein Anzeichen für
ihre Krankheit gestoßen. Es gab Medikamente
im Bad, deren Sinn mir inzwischen einleuchtet, aber nicht
viele.«
Sofi blickte ihren Chef an. »Wo ist der
Rollstuhl?«
Kjell blickte zu Henning.
Henning blickte zu Sofi. »Da war kein Rollstuhl!
Auch Krücken waren keine da. Das meine ich ja!«
Doch beides hatte Elin Gustafsson besessen. Kjell
ergänzte seine Liste der fehlenden Gegenstände.
»Der Vater hat vor einigen Tagen mit ihr
telefoniert«, berichtete Sofi. »Das war am Freitag, dem 21.
Dezember. Sie sagte wörtlich, es gehe ihr schlechter, sie sei
krankgeschrieben. Das bedeutet, dass sie sich kaum bewegen
konnte.«
»Was bedeutet das genau?«, wollte Kjell
wissen.
»Sie kann sich leidlich in ihrer Wohnung bewegen,
aber niemals die Strecke bis Långholmen ohne den Rollstuhl
zurücklegen.«
»Kann man den zusammenklappen?«
»Nein, es ist ein mittelgroßer mit Elektroantrieb.
Der Vater hat außerdem einen leichteren im Auto. Zum
Anschieben.«
Henning kratzte sich am Kinn. Trotz seiner
Weihnachtsrasur vom Morgen knirschte es. »Warum soll sie einen
Liegestuhl mit zum Strandbad nehmen, wenn sie ohnehin einen
Rollstuhl hat?«
»Glaubt ihr, man kann mit einem Rollstuhl die Wiese
hinab bis zum Ufer?«, fragte Kjell. Er badete im Sommer oft dort,
hatte aber noch nie einen Rollstuhlfahrer gesehen. Die Wiese fiel
nicht als geneigte Fläche zum Wasser ab, sondern in Kaskaden wie
die Tribüne eines Stadions. An den Stufen war der Winkel zu steil,
schätzte er. Und sobald es schneite, war es gänzlich unmöglich. Das
Mobiliar aus Liegestuhl und Sonnenschirm kam noch hinzu. Er stand
auf und stellte sich ans Fenster. »Der Sonnenschirm geht mir nicht
aus dem Kopf. Den brauchte sie auf keinen Fall.«
»Willst du etwa die Arbeitstheorie ändern?«, fragte
Sofi nach einer Weile. Wenn Kjell sich ans Fenster stellte, änderte
er danach immer die Arbeitstheorie.
Kjell blickte weiter auf die Schneeböen über den
Wipfeln der Bäume. Sofi seufzte.
Henning klappte seine Mappe zu. »Wir suchen den
Rollstuhl.«
11
Von der Station Zinkensdamm bis zur Sportkneipe in
der Hornsgatan waren es nur wenige Schritte. Kjell und Henning
stellten den Kragen auf und liefen geduckt durch das
Schneegestöber. Zwei Räumfahrzeuge fuhren nebeneinander auf der
Hornsgatan. Doch außerhalb der Hauptstraßen hatte der Winterdienst
offenkundig kapituliert.
Da Ida immer noch mit Lilly auf dem Sofa ihrer
Eltern in Uppsala saß, hatte Kjell eingewilligt, den Tag in
Hennings Lieblingskneipe bei einem großen Starken und langweiligem
Weihnachtsbandy ausklingen zu lassen.
Als sie an der Ampel auf Grün warteten, hob Henning
die Hand und rief den heranfahrenden Streifenwagen wie ein Taxi
herbei.
Der Beifahrer ließ die Scheibe hinab. »Hallo
Henning! Sollen wir euch irgendwo absetzen?«
»Wäre nicht übel«, rief Henning gegen das Fauchen
des Windes an.
Die Tür sprang auf, und Henning und Kjell rutschten
auf die Rückbank.
»Wo darf’s hingehen?«, fragte der Fahrer.
Bei jedem gemeinsamen Abstecher nach Söder war
Kjell erstaunt, dass selbst junge Polizisten, die Henning gar nicht
mehr in der Maria-Wache erlebt haben konnten, ihn in jeder
Aufmachung erkannten und mit ihm befreundet sein wollten.
Henning deutete auf das Leuchtschild der Sportbar.
Der Fahrer verringerte den Druck auf das Bremspedal und ließ den
Volvo langsam die fünfzehn Meter dahinschleichen.
Henning beugte sich vor. »Sagt mal, habt ihr die
Fahndung nach dem Rollstuhl schon bekommen?«
»Die kam zum Schichtwechsel um sieben«, antwortete
der Beifahrer und tippte auf das Klemmbrett.
»Wir suchen danach. Ist eine merkwürdige Sache. Wer
den Rollstuhl findet, bekommt die übliche Belohnung.«
Kjell wollte Henning fragen, worin die übliche
Belohnung bestand, doch der Beifahrer drehte sich zu ihnen nach
hinten.
»In Långholmen wird es schwierig. Da braucht ihr
eine Fußtruppe.«
»Haben wir«, sagte Kjell. »Die sind vorhin
aufgebrochen. Aber Bergsunds Strand und die ganze Gegend um die
Högalids-Kirche, darauf könntet ihr ein Auge werfen.«
Henning grinste seinen Kollegen an, wie immer, wenn
Kjell versuchte, sich im Tonfall den einfachen Polizisten
anzunähern. Der Wagen hielt vor dem Lokal.
»Vielleicht fragt ihr mal unter den üblichen
Verdächtigen herum«, schlug Henning vor.
Der Beifahrer hob zur Bestätigung die Hand. Henning
und Kjell kletterten aus dem Wagen und betraten die Sportbar. Vor
der Theke streckte Henning die Hand aus und erhielt sofort zwei
Gläser Bier. Das war der Vorteil an einer Statur, die alle anderen
Menschen wie Zwerge aussehen ließ. An die Auswahl des Tisches
musste man keinen Gedanken verschwenden. Es gab so viele
Bildschirme, dass sich das Spiel aus jedem Winkel verfolgen
ließ.
Henning konnte sich umgehend in ein laufendes Spiel
vertiefen.
»Elin Gustafsson hat eine Zeitschaltautomatik in
ihrer Wohnung«, sagte er nach acht langen und langweiligen Pässen.
Bandy bestand überhaupt nur aus langweiligen Pässen, fand Kjell.
»Damit es gemütlicher ist, wenn man heimkommt.« Henning schwieg für
die Dauer von drei weiteren langen Pässen und nippte an seinem
Bier. »Vielleicht sollte ich mir auch so etwas einbauen. Würde mich
interessieren, wie man so etwas einbaut.«
»Frag Sofi«, schlug Kjell vor. »Sie besitzt
eine.«
Sofi hatte den Feierabend in der Sportbar wie
erwartet ausgeschlagen. Kjell vermutete, dass sie im Büro geblieben
war.
»Hat Sofi nicht auch etwas auf ihren
Badezimmerspiegel geschrieben?«, fragte Henning.
Kjell nickte und verfolgte dabei den Puck auf
seiner nicht enden wollenden Bahn zum nächsten Spieler. Der
entschied sich, wie erwartet, für einen langen Pass. Kein Wunder,
dass Bandy außerhalb Schwedens völlig unbekannt war. »Sie will den
Morgen wie einen Hollywoodfilm beginnen lassen, mit eingeblendetem
Titel und ihrem Gesicht in der Totalen.«
»War es Selbstmord?«
Kjell nippte an seinem Bier und stellte das Glas
dann behutsam ab. »Du glaubst es auch nicht, oder?«
12
Sofi trat in den engen Vorraum und klopfte sich
den Schnee von ihrem Mantel, bevor sie die Schwingtür zum Lokal
aufstieß. Alle Tische waren belegt. Das war gegen Mitternacht immer
so.
Mit ihrer Größe überragte Maja Kurylowicz alles im
Raum,
deshalb erblickte die Besitzerin des Lokals Sofi schon von ihrem
Platz hinter der Bar aus, als die sich auf dem Weg dorthin ihren
Schal vom Hals wickelte.
»Nimm deine Jacke vom Hocker, Ernst. Damit Sofi
sich setzen kann.«
Ernst regte sich und folgte Majas Aufforderung so
unmittelbar, dass man glauben konnte, sie besäße Zugriff auf sein
Nervensystem. Er hatte bereits bei der Eröffnung des Lokals vor
vier Jahren auf diesem Hocker gekauert, um seine Arme um ein Glas
Bier zu schlingen und an seiner Verbitterung zu feilen. Sofi
bezweifelte, dass er seitdem öfter mal aufgestanden war. Im Orient
gab es Cafés, die in den vergangenen zweihundert Jahren keine
einzige Minute geschlossen gewesen waren. Majas Lokal kam von allen
Lokalen Stockholms diesem Ideal am nächsten.
Wenn Ernst durch die Nase atmete, stellten sich die
Härchen seines Schnurrbarts auf. Den müsste er nur mal abrasieren,
dachte sie und glitt auf den freien Hocker. Andere Menschen hätten
viel darum gegeben, ihr Dasein mit einem Handgriff von seinem
Kummer befreien zu können. Doch Ernst hielt an seinem Schnurrbart
fest wie am Rest seines Lebens. Alle zwei Jahre veröffentlichte er
einen anspruchsvollen Roman, den die Welt voll von Banausen zwar
ausgiebig besprach, aber nicht kaufte. Das war der Kern seiner
Verbitterung.
Maja stellte Sofi unaufgefordert ein Glas hin. Sie
glaubte immer zu wissen, welches Getränk für Sofi gerade das
richtige war. Sie gab so viel auf diese Illusion, dass Sofi ständig
Flüssigkeiten trank, die sie gar nicht mochte. An der Durchreiche
gab Maja eine Bestellung auf, obwohl aus der Küche schon das
Klappern vom großen Abwasch zu hören war. Welches Gericht Maja
anbot, hing immer davon ab, aus welchem Land ihre neue Geliebte
stammte. An ihnen war nur konstant, dass ihr Haar so dunkel war wie
das von Sofi. Durch dieses Missverständnis
hatten sie sich einige Jahre zuvor kennengelernt. Während die
dunkelhaarigen Geliebten im gleichen Abstand wie die Tageskarte
ausgewechselt wurden, war Sofi im Laufe der Zeit so etwas wie Majas
jüngere Schwester geworden.
Alja, die durch die Durchreiche winkte, stammte aus
dem Libanon. Deswegen bekam Sofi Filet Ghanam. Während sie aß,
hörte sie den anderen an der Bar nur mit halbem Ohr zu. Es war ein
fester Kreis. Neben Ernst kam Shep öfter her. Er war ein jüdischer
Russe, der sich beim Auswandern beim Falschen nach dem Weg ins
Gelobte Land erkundigt hatte und ausgerechnet in Schweden gelandet
war. Carl-Erik stach als Standardschwede aus der Gruppe heraus.
Wahrscheinlich kam er hierher, weil er als Wohnungsmakler dem
schwedischen Wahnsinn mehr als jeder andere ausgeliefert war. In
den letzten zwei Jahren hatte er zudem versucht, seine ehemalige
Frau zu vergessen, und war jetzt Alkoholiker. Die anderen
Stammgäste stammten alle aus Beirut, und unter diesen Leuten war es
Sitte, dass einer nach dem anderen die Neuigkeiten aus seinem Leben
erzählte, wobei es darauf ankam, die Zuhörer zu amüsieren, indem
man sich selbst als Narren schilderte. Das behagte Sofi so sehr,
dass sie manchmal auch etwas aus ihrem Leben beitrug, sobald die
anderen zu Ende erzählt hatten. Doch heute wartete sie nicht. Sie
holte den Zettel aus der Tasche und strich ihn auf dem Tresen
glatt.
»Ist das von Linda?«, fragte Maja.
Kjells ältere Tochter Linda hatte früher ihre
Bilder hier ausgestellt.
Sofi schüttelte den Kopf. »Sie lebt jetzt in
Wien.«
»Sieht ohnehin nicht nach ihr aus.«
»Das hat mir gestern jemand durch den Briefschlitz
geschoben. Es lag im Flur, als ich heimkam.«
Der Zettel machte die Runde. Nachdem alle sechs
Personen an der Bar einen Blick darauf geworfen hatten, wurden Sofi
Theorien unterbreitet, in welchen Bereichen ihres Leben sich
Verehrer verstecken konnten. Einigkeit bestand nur darüber, dass
man es mit einer Liebeserklärung zu tun hatte.
Maja machte der Sache ein Ende. »Sofi lebt einsamer
als ein Leuchtturmwärter. Eure Vorschläge könnt ihr
vergessen.«
Sofi nickte eifrig. Maja hatte sie und ihr Leben
vom ersten Augenblick an verstanden.
»Du hast also selbst keine Ahnung, von wem das
stammen könnte?«
»Nicht die geringste«, gestand Sofi. »Deshalb ist
es so rätselhaft. Es gibt keine Möglichkeit.«
»Bei deinem Tanzunterricht vielleicht. Das sieht
bestimmt sehr sexy aus, wenn du herumhüpfst.«
»Dort sind nur Frauen. Und sie kennen meine Adresse
nicht.«
»Die kann man nachschlagen«, wandte Ernst
ein.
Maja wies Ernst darauf hin, dass Sofi wegen ihres
Berufs in keinem Adressverzeichnis zu finden war, und überlegte
eine Weile vor sich hin. »Dann kann es nur jemand aus deiner Arbeit
sein, Sofi.«
Daran glaubte Sofi nicht. »Wir haben nicht so viel
Kontakt mit anderen Abteilungen. Außerdem wäre es leichter, mir
etwas anonym in die Hauspost zu legen, als zu meiner Wohnung zu
fahren.«
»Vielleicht jemand aus deiner Nachbarschaft«,
schloss Ernst.
Pontus vielleicht. Der hatte im Sommer immer auf
seinem Geländefahrrad draußen in Vita Bergen oder auf der
Kinderwagenwiese herumgelungert und Kunststückchen geübt. Sobald er
Sofi aus dem Haus kommen sah, war er ihr auf dem Hinterrad fahrend
bis zur Haltestelle gefolgt, um mit ihr auf den Bus zu warten. So
hatte sie nie allein dasitzen und glotzen müssen. Der Trick mit dem
Hinterrad war bei seinen fünfzehn
Jahren die einzige Möglichkeit gewesen, eine Frau auf seine
anbrechende Geschlechtsreife hinzuweisen. Aber Pontus war im Herbst
auf einmal verschwunden. Wahrscheinlich weggezogen, dachte Sofi und
strich ihn von der Liste.
»Kommst du später mit?«, fragte Maja
vorsichtig.
Vielleicht ein Passant, der im Bus auf sie
aufmerksam geworden und ihr bis zu ihrem Haus gefolgt war.
»Was habt ihr vor?«
»Wir ziehen los und tanzen uns glücklich. Was hast
du denn gedacht? Noch ein Mojito für dich, Carl-Erik?«
»Lieber gleich zwei.«
13
Kjell stemmte seine Arme gegen die Türpfosten und
fegte mit dem Fuß den Schnee von der Schwelle, bevor er die Tür
aufschloss. Idas Antiquariat lag im Dunkeln, nur das kleine
Weihnachtsbäumchen leuchtete die Nacht über. Zwei Tage lang hatte
es Zeit gehabt, seinen Nadelduft ungestört im ganzen Raum zu
verbreiten.
Seit zwei Jahren führte Ida den Buchladen. Der
Betrieb verlief ruhig und gestattete es ihr, einmal in der Woche
als Privatdozentin zu unterrichten oder Aufsätze zu
veröffentlichen, ohne wirklich Teil der Universität sein zu müssen.
Aus ähnlichem Antrieb kam er selbst am Abend oft her. Die Umgebung
eignete sich wunderbar, um Akten in anderem Licht zu lesen oder um
nachzudenken. Wenn das nichts brachte, zog er ein Buch aus dem
Regal und lenkte sich damit für eine Weile ab.
Das Bier mit Henning hatte einen sauren Geschmack
in seinem Mund hinterlassen, deshalb ging er ins Hinterzimmer und
kochte Kaffee. Damit setzte er sich an die Kasse und griff
nach dem Telefon. Ida nahm nach dem dritten Läuten ab. »Du hattest
ein dickes schwarzes Buch im Schaufenster«, sagte er nach dem
Vorgeplänkel. »Ist es noch da?«
»Bist du etwa im Laden?«
»Was soll ich allein zu Hause?«
»Ich komme morgen früh mit Lilly zurück. Meine
Eltern wollen sie ein bisschen bei sich haben.«
»Linda habe ich immer noch nicht erreicht.«
»Morgen wird sie sich bestimmt bei dir melden. Von
welchem Buch sprichst du denn?«
»Das schwarze, über Odin.«
»Das ist weg. Die werden immer von
Fantasy-Liebhabern gekauft.«
»Fantasy?«
»Diese Leute habe ich eigentlich nicht gerne im
Laden, weil sie immer seltsame Gespräche mit mir führen wollen.
Aber sie lesen viel.«
»Elin Gustafsson war auch eine, glaube ich.«
»Dann kannst du ja heimfahren und dich ins Bett
legen.«
Kjell erwähnte das Amulett. »Und dann taucht da
diese Boje auf, mit dem Namen Odins Auge.«
»Darf ich dir etwas sagen?«
Kjell seufzte. Die kommenden zwei Minuten kannte er
bereits wie seine Westentasche.
»Du solltest jetzt nicht übereifrig werden, nur
weil du im letzten Jahr kaum gearbeitet hast.«
»Kaum gearbeitet? Weißt du, wie anstrengend Lilly
ist, wenn man sie den ganzen Tag hat?«
»Ich meine nur, dass du monatelang nicht im Büro
warst. Dann fängst du immer an, dir Sachen einzubilden. Du musst es
jetzt ruhig angehen lassen.«
»Darf ich trotzdem nachschlagen, wenn mich etwas
interessiert?«
»Das Buch ist weg, aber ich habe es nachbestellt.
Sieh mal in die ungeöffneten Kartons am Hintereingang. Vielleicht
hast du Glück.«
»Dann schaue ich mal.«
»Bitte mach nichts unordentlich. Ich stecke mitten
in der Inventur.«
Bei seiner Suche fiel Kjell eine alte Ausgabe von
Strindbergs Rotem Zimmer in die Hände. Obwohl ohnehin kein
Zweifel bestand, dass die kleine Hulda sich in ihr Urteil verrannt
hatte, schlug er das Buch auf. Strindberg benötigte tatsächlich nur
drei Seiten, um seine Rage auf volle Touren zu bringen. Außerdem
läuteten ständig die Kirchenglocken. Anscheinend hatten die Leser
damals immer wissen wollen, wie spät es gerade in der Geschichte
war. Kjell las sich fest, bis ihn zwei Tassen Kaffee später eine
Stelle mahnte, weshalb er eigentlich hier war: Und nun mache ich
es wie so viele Schiffbrüchige: Ich werfe mich der Literatur in die
Arme.
In der dritten Kiste mit den Nachbestellungen hatte
er schließlich Glück. Mit dem schwarzen Buch und einer weiteren
Tasse Kaffee machte er es sich am Tisch gemütlich. Vom Umschlag
blickte ihm Odin als alter Mann entgegen; mit einem Auge, das
zweite war eine leere Höhle. Er hielt einen Stock in der Hand und
hatte sich seinen Schlapphut tief ins Gesicht gezogen. Odin als
Wandersmann. Kjell schlug das Buch auf. Es war auf Englisch
verfasst. Mit dem Zeigefinger durchstreifte er mehrere Seiten des
Inhaltsverzeichnisses, aber der Begriff ›Valknut‹ - so lautete der
englische Name - tauchte nirgendwo auf. Dafür gab es ein ganzes
Kapitel über Odins Jugendjahre. Da war er zum Riesen Mimir gereist
und musste eines seiner Augen verpfänden, um aus dem Brunnen der
Erkenntnis trinken zu dürfen.
Für Kjell war das Buch alles andere als ein Brunnen
der Erkenntnis. Es schien nichts zu enthalten, was er nicht schon
wusste. Deshalb schlug er das Register auf und suchte dort nach
›Knoten‹. Knots of Slain. Kjell musste aufstehen und in
einem hundert Jahre alten Wörterbuch nachschlagen. Slain kam
von slay. Das bedeutete erschlagen oder töten.
Er kehrte zu seinem Platz zurück und begann zu lesen: Knots of
Slain war tatsächlich eine Umschreibung für Valknut. Alle
Belege für den Knoten waren Einritzungen auf alten Steinen, und die
stammten aus der Umgebung von Stockholm. Vielleicht hatte Hulda das
nicht gewusst. Doch sie hatte noch viel weniger als die halbe
Wahrheit gesagt: Die Knoten banden nicht nur die Kräfte des
Gegners, sondern lösten auch die Ängste der eigenen Kämpfer und
entfachten deren Feuer in der Schlacht.
Betäubung und Inspiration. Er hätte gerne gewusst,
wie lange Elin das Amulett getragen hatte. Es machte ja einen
Unterschied, ob Elin es seit Jahren am Hals trug wie ein Christ ein
Kreuz. Vielleicht war es auch ein Geschenk des Mörders. Wenn es
einen gab.
Er griff zum Telefon.
»Kjell Cederström«, sagte er nur. Sätze ohne Verben
mochte Suunaat am liebsten.
»Alles ist noch spekulativ.«
»Hast du einen Zeitpunkt?«, fragte er.
»Es ist spekulativ.«
Wenn Suunaat sich stur wiederholte, was in jedem
Gespräch mit ihr geschah, durfte man das dramaturgisch nicht
überbewerten. Es war eine ihrer Eskimositten und bedeutete nicht
mehr, als dass ihre Rechnung spekulativ war.
»Ich verstehe.«
»Zwischen ein und zwei Uhr nachts. Hängt davon ab,
wie lange sie vorher in der Kälte war.«
»Spielt keine Rolle. Am 24. Dezember?«
»Ja.«
Für den Selbstmord sprach eine ganze Menge, wandte
Kjell ein, allem voran das Motiv. Elin ging auf die dreißig zu,
wohnte vereinsamt in schlechter Lage, arbeitete in einem
Telefonladen und war achtmal durch die Hochschulaufnahmeprüfung
gefallen. »Die Psychologin behauptete in ihrem Gutachten, jede
Depression beruhe auf einem Prestigeverlust, einem Misserfolg in
sozialer Konkurrenz. Hier seien alle Voraussetzungen für einen
Selbstmord erfüllt.«
»Etwa Stina Nääs?«, fragte Suunaat.
»Genau die.«
»Sie war Evolutionsbiologin, bevor sie
Polizeipsychologin wurde. Den Job hat sie vor fünf Jahren nur
bekommen, weil sie sich mit Selbstmordattentätern auskennt.«
»Soll ich lieber Göransson fragen?«
»Der hat früher die Qualitätssicherung bei Volvo
geleitet und wird zu einem ähnlichen Urteil kommen, nur die
Vokabeln werden anders klingen.«
Kjell beendete das Gespräch und seufzte. Vierzehn
Stunden! Elin Gustafsson hätte vierzehn Stunden tot im Liegestuhl
sitzen müssen, damit ihr Körper auf die Temperatur abkühlte, die
Suunaat bei ihrem Eintreffen gemessen hatte.
Ging man nachts um ein Uhr zum Strandbad, um zu
sterben? Warum nicht, dachte Kjell. Man wird nicht gestört. Zum
Beispiel durch Esbjörn Fors und seinen Hund Fidel. Esbjörn
behauptete, sieben Stunden nach dem errechneten Todeszeitpunkt,
also genau in der Mitte des Auskühlungszeitraums, bei seinem ersten
Spaziergang am Morgen nichts gesehen zu haben. Konnte Esbjörn
irren? Es war ja noch finster gewesen. Vielleicht hatte er Elin da
bereits gesehen, ließ sich jedoch von seinem Gewissen einreden, die
Stelle sei leer gewesen. Kjell verwarf die Idee. Er hatte Fors in
die Augen geschaut. Hätte er sie am Morgen bemerkt, wäre er zu ihr
gegangen.
Vielleicht log er. Sonst wurden Augenzeugen, die
die Polizei alarmierten und sich überaus hilfreich zeigten,
sogleich
Hauptverdächtige. Täter brachten sich gerne selbst ins Spiel, um
frühzeitig eine andere Rolle im Szenario zu besetzen. Aber dann
wäre Esbjörn besser beraten gewesen, einen Hundespaziergang auf den
Zeitpunkt zu datieren, wo die Leiche platziert worden war. Er
konnte sich nämlich nicht sicher sein, dass er selbst von keinem
Zeugen beobachtet worden war.
Mord oder Selbstmord - das Wechseln zwischen den
beiden Theorien brachte nichts. Wie war Elin zum Strand gekommen?
Das war die drängendste aller Fragen. Kjell stand auf, öffnete die
Tür und ließ die kühle Luft hereinziehen. Nach drei Minuten traf er
seine Entscheidung. Er schloss die Tür, griff wieder zum Telefon
und wählte die Nummer des Pressesprechers der Polizei.
14
Der Verkehr stockte bereits, als der Stureplan
noch gar nicht zu sehen war. Während Maja mit drei anderen Gästen
und Angestellten ihres Ladens auf der Rückbank des Taxis Platz
genommen hatte und sich lautstark unterhielt, saß Sofi vorne und
betrachtete die Menschen, die kreuz und quer über die Straße
gingen.
Maja beugte sich vor und flüsterte: »Du bekommst
doch nicht etwa Angst?«
Sofi war seit einer Ewigkeit nicht mehr
ausgegangen. Daran änderten auch die beiden roten Cocktails nichts,
die Maja ihr zuvor aufgedrängt hatte. Sie ging höchstens in der
Skånegatan etwas trinken und kam dabei nie weiter als bis zum
Medborgarplatsen. Der Stureplan war eine ganz andere Welt.
Weil das Taxi nicht vorankam, beschlossen sie, den
Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen. Ein zweites Taxi war ihnen
gefolgt.
Daraus stiegen Ernst und die anderen Stammgäste von Majas
Tresen.
»Wohin gehen wir eigentlich?«, erkundigte sich
Ernst und schritt in seinen alten Turnschuhen auf der Birger
Jarlsgatan voran.
»Banana.«
»Was ist das?«, fragte Sofi, um Interesse zu
zeigen.
»Macht heute auf. Wo früher die isländische Bank
war.«
Am Stureplan stellte sich heraus, dass alle
Menschen auf der Fußgängerplattform zum Eingang des Banana
drängten. Der lag etwas erhöht und war nur über eine Treppe zu
erreichen. Doch während unten dreihundert Menschen im Eiswind
zitterten, war die Treppe bis auf die beiden Türwächter leer. Maja
drängte sich durch die Menge, die ihrer Aufmachung und ihrem
Verhalten nach am Stureplan zu Hause war, hindurch und steuerte auf
die Treppe zu.
Ein Türsteher trug einen Lautsprecher ins Freie und
spielte Summer Wind von Frank Sinatra, um seine Verachtung
für die Verblendung der Massen noch zu steigern. Die Masse
murrte.
»Nur Einladungen!«, brüllte der Türsteher und
grinste.
»Das wird nichts«, fand Sofi und wollte umdrehen.
Ein oder zwei Stunden wollte sie nicht in der Kälte stehen. Aber
hinter ihr folgte Ernst, er schob sie voran. Als Maja die
Samtkordel vor der Treppe erreichte, stand dort ein dritter
Türsteher und öffnete. Maja wartete, bis ihr Gefolge aus sieben
Personen die Schwelle passiert hatte. Sofi hielt sich bei ihr,
während Ernst sofort die Treppe in Angriff nahm. Aus der Menge
kamen herablassende Rufe. Warum durfte ausgerechnet der Typ mit dem
Schnauzbart hinein?
Ernst wandte sich auf seinen abgelaufenen
Turnschuhsohlen zur Menge. »Fickt euch, ihr Penner!« Dann winkte er
zum Abschied.
Unter Pfiffen betrat Ernst das Banana. Sofi huschte
hinterher.
»Hoffentlich waren keine von deinen Lesern dabei«,
sagte sie.
»Ich habe keine Leser. Nur Kritiker.«
Ernst hielt sich nicht am Eingang auf, wo doch das
süße Leben auf ihn wartete, deshalb wartete Sofi allein auf Maja
und ihren Anhang. Nun geschah, weswegen Sofi selten mit Maja
ausging. Sie traf im Korridor mehr Bekannte als Sofi in ihrem
ganzen Leben. Das konnte dauern, und weil Majas Mädchen immer brav
neben Maja stehenblieben, ging Sofi weiter, um nicht dazugerechnet
zu werden.
Einen Raum von dieser Größe hatte sie nicht
erwartet. Wie das Lokal zu seinem albernen Namen gekommen war,
konnte sie nicht erkennen. Rote Samttapeten, roter Teppich und
rötlich glänzende Sofas. Ein rotes Zimmer, genau das Ambiente, das
man am Stureplan bevorzugte. Von der Decke hingen zwei
Kronleuchter.
Ernst stand am anderen Ende an der Bar und war dort
in Verhandlungen über sein nächstes Getränk eingetreten. Sofi
versuchte, nicht wie eine Touristin umherzublicken. Der Raum war
sehr hoch und hatte eine Galerie, die man über eine Treppe
erreichte. Die Musik gefiel ihr, und weil sich auf der Tanzfläche
weniger Gäste drängten als am Rand, ging sie los, um zu
tanzen.
Nach einiger Zeit sah sie Maja am anderen Ende des
Raumes stehen und nach ihr spähen. Sie winkte. Maja winkte zurück
und bedeutete ihr, herüberzukommen.
»Da bist du ja!«, schrie Maja gegen die Musik an.
»Komm! Jetzt geht es erst richtig los!«
Sofi folgte ihr hinaus in den Gang, doch statt zum
Ausgang bog Maja rechts ab. Dort standen bereits Ernst und Majas
Gespielinnen vor einer Aufzugtür, die ein Türsteher bewachte.
»Das ist Joakim«, sagte Maja. »Ihm gehört der ganze
Laden.«
»Ist sie eine von deinen Lesben?«, fragte
Joakim.
»Nein, aber für dich läuft es aufs Gleiche
hinaus.«
Wegen dieser geheimnisvollen Unklarheit reichte
Joakim Sofi verlegen die Hand. Wenn man bedachte, dass ihm der
ganze Laden gehörte, sah er ziemlich artig aus.
Die Aufzugtür öffnete sich. Der Türsteher trat
beiseite und ließ die Gruppe herein. Die Türen wollten sich
schließen.
»Einen Augenblick«, rief Joakim. Vom Eingang eilten
drei Frauen im Gefolge eines Türstehers herbei und drängten sich in
den Aufzug. Zu Sofis Erstaunen ging es hinauf und nicht hinab. Eine
der zugestiegenen Frauen starrte Sofi an, dann erhellte sich ihr
Gesicht.
»Aber nein! Sofi!«
Es war Carina, Carina Lundberg, die mit Sofi die
Polizeischule besucht hatte. Sie hatte einen Stöpsel im Ohr. Sofi
wollte die Hand ausstrecken, hielt aber inne, weil sie nicht
wusste, ob sie Carina zuerst begrüßen und die Prinzessin daneben
ignorieren durfte. Anscheinened war Carina für ihren Schutz
zuständig. Joakim löste das Problem indem er alle Insassen des
Aufzugs vorstellte
»Hej!« sagte Madeleine und gab jedem routiniert die
Hand, bis der Fahrstuhl hielt. Satan, dachte Sofi, als sich die
Türen öffneten. Unten waren alle Wände anrüchig-rot gewesen, hier
oben unter dem Dach strahlte alles lichtweiß. Unter den
Bodenplatten fluoreszierte buntes Licht. Die Insassen des
Fahrstuhls verteilten sich im Raum, wo ein Dutzend Menschen in
Sesseln saßen.
Während alle zu einer kleinen Bar strebten, bewegte
sich Sofi mit aufrechter Einsamkeit nach rechts auf die Glaswand
zu. Durch eine Öffnung konnte man hinaus auf einen Balkon treten.
Sofi beugte sich über die Brüstung und betrachtete die Menschen
unter ihr auf dem Stureplan. Deren Zahl hatte noch
zugenommen, aber niemand dort unten kam auf die Idee, zu ihr
heraufzublicken.
Hinter ihr trat jemand auf den Balkon. Es war
Carina.
»Bist du bei der Säpo gelandet?«, fragte
Sofi.
»Ja, Personenschutz, jetzt schon im dritten Jahr.
Du bist Reichsmord, Glückwunsch! Das ist wunderbar!«
Sofi richtete sich auf. Sie war in ihrem Leben
entweder allein oder von ihren Kollegen umgeben. So gab es keine
Gelegenheiten, mit ihren Erfolgen zu glänzen.
Als der Kellner mit einem Tablett vorbeikam, nahm
Sofi zu ihrer eigenen Überraschung Champagner.
»Wir können ja mal was zusammen machen«, schlug
Carina nach dem Anstoßen vor.
»Klar!«, erwiderte Sofi. In ihrer Hosentasche
spürte sie auf einmal den Brief. Ihr schien, als hätte sich ihr
Leben völlig verkehrt, seit sie ihn im Flur entdeckt hatte. Von
innen nach außen.
Sie blickten beide über die Brüstung.
»Das ist doch ein Abend mit vier Assen, oder?«,
entfuhr es Sofi. Sie lebte auf einer viel zu festen Bahn, fand sie
jetzt. Alles Unberechenbare in ihrem Leben steckte unter der
Motorhaube ihres alten Fiats.
Der Wind hier oben stach auf der Haut. Dennoch kam
auch Ernst nach einer Weile hinaus. Joakim war bei ihm und legte
seine Hand auf Ernsts Schulter. »Wunderbarer Auftritt unten auf der
Treppe. Solche Dramen brauchen wir hier.« Er wandte sich
ausgerechnet an Sofi. »Wie findest du den Namen Banana? Ich
habe ihn aus einem ehemaligen Bordell in Hammarby übernommen.
Mitsamt den Leuchtern und den Sofas.«
»Vorausschauend«, fand Ernst ungefragt. »Wenn man
Liebe wieder kaufen darf, musst du nicht groß umbauen.«
Joakim lachte und stellte die Frage noch einmal an
Sofi.
Sie sah keinen Grund, sich bei ihm
einzuschmeicheln. »Blöd«, sagte sie daher wahrheitsgemäß.