MONTAG 31. DEZEMBER
81
Barbro zog ihren Morgenmantelknoten fester.
»Passwort? Da klingelt bei mir gar nichts.«
Sie blickte auf den kleinen Bildschirm neben ihrer
Wohnungstür und wartete ab, wie die beiden Säpo-Agenten unten vor
dem Haus reagieren würden.
Der eine, der einen Schritt hinter dem anderen
stand, begann sich links und rechts auf dem Strandvägen umzusehen,
was Barbro als eher schlechtes Zeichen deutete. Das Haus der
Setterlinds war jedoch eines der bestgesicherten Häuser am
Strandvägen. An dieser Tür würden die beiden scheitern. Barbro
erwog, die rote Taste neben dem Monitor zu drücken, entschied sich
dann aber für die gelbe. Damit konnte man einen Abzug des
Kamerabildes speichern. Zum Beispiel, um anderen damit später das
Leben zur Hölle zu machen. Diese Sonderfunktion war bei allen
Nachbarn beliebt, die erst vor kurzem zu Vermögen gekommen waren
und seinen Segen noch genießen konnten.
Barbro war sich darüber im Klaren, dass sie die
beiden nicht aufhalten, sondern nur ein bisschen ärgern konnte. Das
hatte sich bei einem Telefonat mit dem Justizkanzler am gestrigen
Abend herausgestellt. Sein Rat war unmissverständlich: Dem
Exekutivbefehl der Säpo durfte sie sich nicht widersetzen.
Natürlich sah das schwedische Recht eine Einspruchsmöglichkeit beim
Rechtsausschuss des Reichstags vor. Später allerdings, wenn die
Sache gelaufen war.
»Doch«, sagte der andere gelassen, obwohl einen
verdächtigen Augenblick zu spät. »Deine Fingerabdrücke sind auf den
Tasten, und die von Sofi Johansson auch. Deswegen stehen wir
hier.«
Dank der Abdrücke wusste man sogar, welche Zeichen
das Passwort enthielt, die beiden Agenten standen nur noch wegen
der richtigen Reihenfolge der Zeichen zu dieser frühen Stunde vor
Barbros Tür.
»Wie kommt ihr darauf, dass wir das Passwort
herausgefunden haben?«
Weil auch Funktionstasten gedrückt worden waren.
»Wir brauchen ungefähr drei Tage ohne dich.«
»Ich will deinen Ausweis sehen.«
Der Mann klappte ihn auf und hielt ihn dicht vor
die Kamera.
Barbro drückte wieder die gelbe Taste. Und dann auf
die grüne. Das Türschloss summte. »Komm allein hoch.«
Die Setterlinds hatten bereits am Strandvägen
gewohnt, als auf der anderen Seite der Straße noch Fässer über die
Landungsstege gerollt wurden. Der Altadel renovierte seine Häuser
behutsam. Deshalb konnte Barbro am Quietschen der Treppenstufen
hören, dass er tatsächlich allein kam. In der Zwischenzeit notierte
sie das Passwort auf eine alte Parkquittung.
»Das da«, sagte sie und überreichte ihm den
Zettel.
Der Kerl war jung. Er betrachtete den Satz und
runzelte die Stirn. »Wie habt ihr das herausbekommen?«
»Ihr solltet die Arbeit lieber Leute machen lassen,
die etwas davon verstehen. Frohes neues Jahr, falls wir uns nicht
mehr sehen!«
Barbro schloss die Tür und hätte am liebsten Kjell
angerufen. Aber das ließ sie lieber bleiben. Auf dem Weg zum
Ankleidezimmer schlüpfte sie aus ihrem Morgenmantel.
82
Durch die Vorderscheibe des Wagens war der letzte
Tag des Jahres ein Sonnendezembertag. Die halbe Stadt hatte sich
auf dem zugefrorenen Fjord versammelt. Irgendwo da draußen mussten
auch die Mädchen sein. Linda hatte sich Schlittschuhe angezogen und
Lilly auf den Schlitten gesetzt. Ihr Ziel war das Stadthaus
gewesen, das von hier aus in der Sonne glänzte. Ihre Strahlen
brachten den Staub auf dem Armaturenbrett zum Schweben.
Ein Polizeiwagen bremste auf der Fahrbahn. Kjell
sah ihn im Rückspiegel langsam über den Kai auf sich zurollen. Als
Einsatzleiter Tom-Olof Klingberg die Beifahrertür aufriss, wirbelte
Eiswind herein und brachte den Stadtplan, den Kjell über dem
Lenkrad ausgebreitet hatte, in Unordnung. Klingberg trug Uniform
und hängende Schultern. Augenfällig erwartete er eine
Zurechtweisung, weil seine Großfahndung nach der Frau mit dem
Kinderwagen in der vergangenen Nacht ergebnislos verlaufen
war.
Kjell deutete einladend auf die Thermoskanne neben
Klingbergs Stiefeln. »Es gibt also keine einzige Spur von
ihr?«
»Leider nicht.«
Wieder breitete sich Kaffeeduft im Wagen aus.
»Zufällig Appetit auf Butterkekse? Die haben meine
Töchter für uns gebacken.«
Klingberg entschied sich für einen lädierten Stern.
Den hatte Lilly ausgestochen.
»Wir sollten die Suche umstellen«, begann Kjell und
tippte auf den Stadtplan. »Du bist ein ebenso systematischer Kopf
wie eingebungsvoller Künstler bei Großfahndungen, Tom-Olof, das
weißt du.«
»Aha.«
»Diesmal bist du auf einen Flüchtigen gestoßen, der
dich ideal ergänzt. Wie diese entzweiten Herzen, die man
zusammenstecken kann.«
»Was soll ich umstellen?« Zudem stand Klingberg
noch die Frage ins Gesicht geschrieben, warum sie sich ausgerechnet
hier treffen mussten, am Söder Mälarstrand. Von der anderen
Straßenseite waren es nur hundert Schritte bis zu Ardelius’
Wohnung.
»Das hier ist genau die Stelle, wohin ich
vorgestern Nacht gerannt bin«, erklärte Kjell. »Aber weil in beiden
Richtungen keine Menschenseele zu sehen war, so weit das Auge
reichte, bin ich zurück und hinauf zum Monteliusvägen, bis ich den
Leuten von der Maria-Wache begegnete.«
Klingberg klappte seine Mappe auf. »Die haben sich
im Viertelkreis von Ost bis Süd genähert. Im Westen kommt gleich
der Guldfjärdsplan.«
»Guldfjärdsplan?«
Klingberg deutete mit dem Daumen über seine
Schulter. Die mit düsterem, gelbem Licht beleuchtete und
heruntergekommene Großbushaltestelle unter der Centralbrücke, nach
einhelliger Meinung aller Stockholmer die hässlichste Stelle der
Stadt, hatte tatsächlich einen Namen. Guldfjärdsplan.
»Wir haben dort alle Überwachungskameras
ausgewertet, auch oben am Södermalmstorg. Da ist sie nicht
vorbeigekommen.«
»Was schließen wir daraus?« Kjell hatte dieses
Treffen so akribisch vorbereitet, dass diese Frage direkt in die
aktuelle Parkposition seines Wagens mündete.
»Sie muss sich in einem der Häuser in der Nähe
verbergen«, antwortete Klingberg. Seiner Intuition waren also
Grenzen gesetzt.
»Habt ihr die Häuser nicht durchsucht?«
»Das haben wir, aber eine andere Erklärung gibt es
nicht.
Wenn sie nicht senkrecht nach oben geflogen ist wie eine
Silvesterrakete.«
Kjell strich den Stadtplan glatt und tippte auf
Långholmen. »Ich habe dir doch erzählt, wie unser Fall aussieht.
Neulich war ich beim Wetteramt. Bei der ersten Leiche wurde eine
Unterwasserboje beschädigt, direkt vor der Stelle und zur gleichen
Zeit. Wir hielten das lange für einen Zufall. Aber was kann einer
Boje schon etwas anhaben?«
»Ein Schiffsrumpf. Oder der Kiel.«
»Sie nutzt die Geografie der Stadt äußerst kreativ.
Sie ist mit einem Boot gekommen. Deshalb konnte sie die Leiche, den
Schirm und den Liegestuhl ungesehen zum Ufer schaffen. Die beiden
anderen Leichen fanden wir am Rand großer Parks. Die Sofiakirche
liegt in Vita Bergen, umgeben von Hügeln und Bäumen, und der
Sportplatz an der Nordgrenze vom Tantolunden. Wieder ein Park.
Dahinter jeweils: das Wasser. Das ist das Geheimnis der Orte. Aber
es gibt noch etwas, was sie uns verrät.«
»Da bin ich gespannt.«
»Ein Schiffsbug kann den Bojen eigentlich nichts
anhaben. Die Bojen schweben an einem Seil im Wasser. Selbst wenn
eine Kollision eigentlich stattfinden müsste, sorgt die
Wasserverdrängung des Bugs dafür, dass die Boje zum Grund gedrückt
wird, bevor der Bug sie berühren kann. Auch die dicke Eisdecke, die
jetzt auf dem Wasser liegt, drückt die Bojen nach unten. Der
Schaden ist nur durch einen Umstand zu erklären.«
»Einen Anker.«
»Genau. Ein kleiner Anker. Die Spitzen müssen so
klein sein, dass sie in die Öffnung der Sensoreinheit am Kopf der
Boje passen. Ein verdammter Zufall.«
»Und was verrät der Anker nun?«
»Das Allerwichtigste: Sie ist ganz allein.«
»Verstehe.«
»Das Boot war leer, während sie am Strand alles
dekorierte. Neulich wusste ich davon nichts. Deshalb stand ich
hier. Ich sah nach links und nach rechts, aber nicht geradeaus.
Aufs Wasser.«
Klingberg starrte hinaus. Das Eis war so dick, dass
man selbst die Fahrrinne in der Mitte längst aufgegeben
hatte.
»Diesmal hatte sie natürlich kein Boot«, sagte
Kjell. »Das ändert jedoch nichts am Fluchtweg. Man konnte gut auf
dem Eis rennen. Ich habe das gestern Abend mit meiner Tochter
nachgestellt. Sie trug einen hellgrauen Mantel. Nach dreißig Metern
wurde sie unsichtbar.«
»Wie willst du die Suche denn ändern? Die
Wasserschutzpolizei kann ja schlecht patrouillieren.«
»Ich will, dass du die Männer hier in der Stadt
nach Hause schickst, damit sie am Abend feiern können. Du
konzentrierst dich auf alle Möglichkeiten, wie die Frau das Land
verlassen könnte. Ich werde dem Fernsehen gleich mitteilen, dass
sie das bereits geschafft hat, aber euch beeinflusst das
nicht.«
Klingberg starrte durch die Vorderscheibe des
Wagens und drehte in seinem Kopf eine große Runde. Bei seiner
Rückkehr hatte er verstanden. »Du willst sie in Sicherheit wiegen.
Wieso glaubst du, alles wäre vorbei?«
»Wegen der Wohnung«, antwortete Kjell. »Der Kerl
hatte alles in seinen Safe gepackt, als wollte er seine
persönlichen Sachen in Sicherheit bringen. Der Safe war so voll,
dass uns die Sachen beim Öffnen der Tür entgegenfielen. Auf seinem
Schreibtisch lag dagegen nur ein Manuskript und darauf sein toter
Kopf.«
Die Frau war auf dieses präparierte Arrangement
angesprungen und hatte das Manuskript mitgenommen. Daran hatte
Kjell die ganze Nacht denken müssen.
»Ardelius hätte es für die Frau auch gleich unter
den Weihnachtsbaum legen können, meinst du das?«
»Das hätte er«, fand Kjell. »Aber er hatte
keinen.«
83
Sonst gab es nichts, worüber Barbro Setterlind
nicht stehen konnte. Früher hatte Kjell ihre maßlose Gelassenheit
für angeboren gehalten, mittlerweile war ihm die Erkenntnis
gekommen, dass ihr als Millionenerbin einfach die Erfahrung fehlte,
sich in ihrer Existenz bedroht zu fühlen.
Er hatte Barbro nie so empört gesehen. Sie war
schon im Besprechungszimmer herumgelaufen, als er ankam.
»Ich hätte doch auf die rote Taste drücken
sollen!«, jammerte sie.
»Was wäre dann passiert?«
»Der Wachschutz wäre im Nu gekommen und hätte die
beiden dem Schicksal jedes Hausierers zugeführt.«
»Wohl kaum. Sie hätten einfach ihren Ausweis
gezückt und notfalls ihre Knarren.«
»Eben deshalb bereue ich es so!« Sie warf das
angebissene Gebäck auf den Teller und rauschte in ihr Büro. »Sieh
dir das an«, rief sie von drüben. »Ich habe den ganzen
Musterkatalog durchgeblättert. Diese Ausweise gibt es bei der Säpo
nicht.«
Die Ausweise sahen wirklich sonderbar aus. »Wie
bist du darangekommen?«
»Er hat ihn in die Hauskamera gehalten. Da habe ich
abgedrückt.«
»Diese Ausweise gibt es nicht?«
»Nein. Wenn wir Pech haben, waren das gar keine
Polizisten.«
Kjell stand von seinem Stuhl auf. In seiner
Schreibtischschublade
kramte er nach der Lupe. Die beiden Kerle mussten zur Säpo
gehören, denn was hätte ihnen das Passwort gebracht, wenn sie die
Daten gar nicht besaßen? Wie Sherlock Holmes kehrte er ins andere
Zimmer zurück. »Sieh dir mal das Wappen an.«
Barbro ließ die Lupe über dem Papier kreisen. Ihre
Stirn legte sich in Falten. »Sieht komisch aus.«
»Das Drei-Kronen-Wappen ist dasselbe wie bei uns.
Aber bei uns liegt das Wappen auf zwei gekreuzten Beilen.«
»Und hier auf einem Schwert. Das Militär. Das ist
das Wappen des Militärs.«
»Beim Militär zeigt die Spitze des Schwertes nach
oben«, bemerkte Kjell. »Hier zeigt sie nach unten.«
»Ein Fälschung.«
Kjell schüttelte den Kopf. »Die beiden waren vom
KSI.«
Über das KSI war so gut wie nichts bekannt. Es war
ein Teil des militärischen Nachrichtendienstes MUST. Vor Jahren war
das KSI wegen der IB-Affäre in die Schlagzeilen geraten: Reporter
hatten die Existenz des KSI herausgefunden. Das war auch für den
Souverän Schwedens eine hübsche Überraschung gewesen. Während
Reichstag und Volk das KSI also kennenlernten, erfuhr man zugleich,
dass das KSI die Sicherheit des Reiches durch Berichte und Akten
sicherte. Darin konnten Linke und Aufmüpfige über sich lesen wie in
ihrem privaten Tagebuch. Daraufhin hatte es zuerst Bestürzung, dann
einen Untersuchungsausschuss und schließlich die erforderlichen
Veränderungen gegeben: Das IB, das Informations-Büro, hatte seine
Telefonnummer und seinen Namen in KSI, Büro für Einsätze der
besonderen Art, geändert. Der neue Name passte ohnehin besser zur
Aufgabe des KSI, ausländischen Botschaften nächtliche Besuche
abzustatten.
»Wir hätten also eine neue IB-Affäre«, sagte Kjell.
»Das KSI
weckt Barbro Setterlind am frühen Montagmorgen und bringt sie
dadurch in Rage.«
Barbro verkrampfte sich am ganzen Körper. »Wie
sicher bist du dir?«
»Überhaupt nicht sicher. Aber möglich ist es. Als
ziviler Geheimdienst arbeitet die Säpo oft mit dem militärischen
Nachrichtendienst zusammen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die
KSI-Leute generell für Verschlüsselungen zuständig sind. Auch bei
Elins Computer.«
Barbro seufzte. Das würde erklären, warum diese
Typen bei ihr geklingelt und das Passwort verlangt hatten.
Allerdings hatte die Säpo ihre eigene Kryptografie-Abteilung.
Barbro war nicht ganz davon überzeugt, dass die beiden
Geheimdienste nicht noch aus einem anderen Grund als zur Ersparung
von Personalkosten zusammenarbeiteten. Die beiden Typen vor ihrer
Haustür hatten ein wenig zu eifrig gewirkt.
»Ich habe mich vorhin mit Einsatzleiter Klingberg
getroffen«, sagte Kjell. »Seit dreißig Stunden suchen sie. Ohne
jeden Erfolg. Man muss einiges auf dem Kasten haben, wenn man da
nicht ins Netz geht.«
Barbro öffnete ihre Haarspange, strich alles nach
hinten und befestigte die Spange wieder. Jetzt saß es schön straff.
»Willst du damit sagen, die Frau könnte auch zum KSI
gehören?«
»Über den KSI ist so gut wie nichts bekannt«, sagte
Kjell.
»Sie kann doch zu einem ausländischen Dienst
gehören.«
»Dann würde die Säpo mit uns zusammenarbeiten, um
die Sache aufzuklären. Sie setzen aber alles daran, die Sache zu
vertuschen.«
»Dann wäre das KSI in einen Dreifachmord
verwickelt. Es gibt nicht den geringsten Hinweis, dass einer
unserer Geheimdienste je einen Mord begangen hätte. Und schon gar
nicht an drei unbeteiligten Frauen. Das klingt wie ein
amerikanischer Thriller.«
»Stumpfsinnig?«
Barbro stöhnte. »Ich meinte: Als wäre es ganz
natürlich, dass man drei Menschen tötet, um ein Ziel zu erreichen.
Als wäre das je bei uns vorgekommen!«
»Ich finde es plausibler als eine verrückte
Serienmörderin.«
Im Nebenraum klingelte ein Telefon. Kjell hielt
sich für gesammelter als Barbro und stand auf. Nach dem Abheben
meldete sich Jonas Gulliksson von der Kryptografie.
»Das Passwort, das deine Kollegin uns gegeben hat,
stimmt nicht.«
Jetzt hatte die Säpo einen Fehler gemacht.
Gulliksson gehörte zur Säpo. Die Säpo versuchte also selbst, den
Computer zu entschlüsseln. »Uns?«, fragte Kjell. »Seit wann bist du
denn beim KSI?«
Das war nur ein Versuch. Der jedoch kläglich
scheiterte.
»Weiß ich nicht. Mit den Agenten habe ich nichts zu
tun. Wir sitzen hier in einem fensterlosen Raum, und die Wände sind
mit Aluminium tapeziert.«
»Was hast du eingegeben?«
»I’m good for magic. And magic is good for
me!«
»Das müsste klappen«, sagte Kjell wie das
Hotline-Fräulein von Telia. »An uns kann es nicht liegen.«
»Ich brauche zweiunddreißig Hexziffern.«
Kjell blickte auf den verlassenen Stuhl von Sofi.
Jeden Morgen änderte sie zuerst ihr Passwort, gleich nachdem sie
ihren Tisch mit dem blauen Lappen abgewischt und den Lappen zum
Trocknen auf die Heizung gelegt hatte. Er lächelte. »Was sagt Sofi
Johansson dazu?«
»Sie kann uns nicht helfen.«
»Wieso?«
»Die Agenten sagen, dass sie verschwunden
ist.«
»Verschwunden?«
»Angeblich ist sie gestern Abend zu dem Tanzstudio
gefahren und nicht mehr heimgekommen.«
Kjell sah aus dem Fenster. Dort berührte die Sonne
gerade die Dachgiebel auf der anderen Seite des Parks. Die
Beleuchtung änderte sich dramatisch. »Das macht gar nichts. Wir
haben die Daten. Ich komme gleich mal runter und bringe sie euch.
Melde mich bitte beim Empfang.«
Nachdem sich die Aufzugtür im dritten Stock
geöffnet hatte, konnte Barbro kaum Schritt halten. Auf der einen
Seite wollte sie auf keinen Fall verpassen, was gleich geschah, auf
der anderen wäre sie lieber oben geblieben.
Die Empfangsdame öffnete, als sie sich
näherten.
»Wo ist Tholander?«, fragte Kjell. »Ich spreche nur
mit ihm.«
Die Sekretärin nickte und konsultierte ihren Plan.
»E9. Das ist der Besprechungssaal ganz hinten.«
Kjell öffnete, ohne anzuklopfen. Hinter der Tür saß
eine Gruppe von Männern und Frauen wie eine Schulklasse vor einem
Mann.
»Bist du Tholander?«, fragte Kjell.
Der Mann nickte.
Kjell steuerte geradewegs auf den provisorischen
Generaldirektor zu und versetzte der Stuhllehne einen Tritt. Ohne
sich voneinander zu trennen, kippten Tholander und der Stuhl um und
lagen am Boden.
»Ich habe alle zweiunddreißig Ziffern in meinem
Kopf. Ich gebe dir Zeit bis Mitternacht. Dann komme ich mit einem
Knüppel zurück, wenn du Sofi Johansson bis dahin nicht unversehrt
bei mir ablieferst. Hast du verstanden?«
Tholander nahm seinen Unfall mit asiatischer
Gelassenheit hin. Er rappelte sich auf und brachte seine Brille in
Ordnung. »Ich glaube nicht, dass du das tun wirst«, sagte er.
»Du hast mein Ehrenwort. Deine Aufstiegsphantasien
sind vorüber.«
84
Karl Gregersiö wartete in aller Seelenruhe am
Gepäckband auf seinen Koffer. Plötzlich stieß ein Gepäckwagen gegen
seine Knie. Er wich zurück. Die Frau, die den Wagen lenkte,
lächelte.
»Hej! Ich bin’s. Theresa!«
Karl Gregersiö nickte knapp. Er würde eine
Herausforderung für sie werden, das erkannte Theresa sofort. In
seinem Gesicht regte sich nichts. Bei seinem Einheitsgesicht mit
meliertem Haarkranz und dem blauen Anzug hatte sie Schwierigkeiten
gehabt, ihn in der Menge zu entdecken, und beim Kontaktaufnehmen
mit dem Gepäckwagen bereits zwei Fehltreffer hinter sich.
Sie war ihm erst einige Male begegnet und hatte nie
ein Wort mit ihm gewechselt. Sie wusste nur, dass ihn alle im Haus
Carlito nannten. Da er sie um zwei Köpfe überragte, konnte sich der
Spitzname nur auf seine Aura beziehen.
»Bist du sauer, weil du nicht mit deiner Familie
ins neue Jahr feiern kannst?«
»Da kommt mein Koffer, glaube ich.« Carlito
schlängelte sich zwischen den Wartenden hindurch. Tatsächlich
schien der Koffer, der allen anderen glich, seiner zu sein. Theresa
manövrierte den Wagen hinterher.
»Am besten folgst du mir einfach. Mein Wagen steht
auf dem Zollparkplatz. Da haben wir es nicht weit.«
Carlito nickte. Beim Anschieben schielte Theresa
nach rechts und sah die beiden Säpo-Agenten hinter dem Ausgang mit
ihrem handgemalten Namensschild zwischen den Taxifahrern
und Abholern warten. Eins zu null für Theresa Julander, zwei zu
null, wenn man ihre ausgiebige Vorbereitung bedachte. Sie lächelte
vor sich hin, bis sie das Auto erreichten.
Die Fahrt verlief schweigend. Auf halber Strecke
begann Theresa einfach ihren Rapport, den Carl Gregersiö schweigend
entgegennahm. Wahrscheinlich feierte seine in Thailand
zurückgebliebene Familie seine vorzeitige Abreise gerade mit Mai
Tais, dachte sie.
Als sie eine Stunde später die Polizeigarage
erreichten, war Carlitos Gesicht zwar so ausdruckslos wie zuvor,
doch immerhin nickte er inzwischen fast doppelt so häufig wie zu
Beginn.
»Hast du einen Schlüssel für Kullgrens Büro?«,
fragte sie deshalb.
85
Die Parklücke war so klein, dass der Wagen mit dem
Heck in die Garageneinfahrt ragte. Kjell überlegte, ob er zur
Sicherheit das Blaulicht auf das Dach montieren sollte. Das hing
davon ab, ob die drei Jungen, die zehn Meter weiter die ersten
Raketen zum Himmel steigen ließen, davon abgeschreckt oder
angelockt würden.
Alle Fenster der Långholmsgatan 7 leuchteten, auch
die von Elin Gustafssons Wohnung. Die Tür war angelehnt. Per saß
mit mildem Gesicht und gefalteten Händen am Tisch.
»Wo war es?«, fragte Kjell.
Per hob das Telefon, den einzigen Gegenstand auf
dem Tisch, hoch und legte es wieder ab.
»Das Telefon? Habt ihr das neulich nicht
mitgenommen?«
»Haben wir«, antwortete Per seelenruhig. »Ich kann
natürlich
nicht bei jedem Tatort davon ausgehen, dass die Wohnung von einem
Geheimdienst verwanzt wurde.«
Kjell wollte etwas Ungehaltenes erwidern, besann
sich jedoch. Er hatte ja selbst erst vor einigen Stunden erkannt,
dass die Säpo bei diesem Fall eine andere Rolle spielte, als er
vermutet hatte. Er verstand plötzlich, warum Kullgren sich als
Leiter der Gegengruppe angeboten hatte.
Kjell nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz
und wog das Telefon in den Händen. Es funktionierte drahtlos und
bestand nur aus dem Hörer. »Hast du den Sender ausgebaut?«
»Das ist das Perfide daran. Das Telefon selbst ist
der Sender.« Per wusste natürlich nicht, ob jemand die Wohnung
betreten und bloß die Platine oder das ganze Telefon ausgetauscht
hatte. »Das Modell bekommst du an jeder Ecke für tausend Kronen.«
Das erklärte, warum die Techniker bei ihrem ersten Besuch nichts
gefunden hatten. »Wir haben die Strahlung gemessen, aber das
Telefon strahlt ja nicht. Es funktioniert nur beim
Telefonieren.«
»Die Wohnung kann man damit nicht abhören?«
»Nein.«
»Weißt du, was das bedeutet?«
Per nickte. »Ein anderer steckt dahinter. Das ist
nicht der Stil der Säpo. Um das Telefon abzuhören, müssen die nicht
aus dem Haus gehen. Sie könnten sich bei der Telefongesellschaft
eine Umleitung legen lassen, ohne dass es jemand nachweisen
kann.«
»Und wenn es ein Manöver ist?«
»Das Telefon lag tagelang bei mir im Labor und war
in der Inventarliste verzeichnet.«
»Die hätten es sich geholt?«
»Das ist sicher.«
»Und sonst?«
»Nichts. Weder bei ihren Eltern noch im
Telia-Laden.«
Auch bei Judit Juholt und Filipa Lindenbaum hatte
Per nichts gefunden. Also musste Elin eine besondere Bedeutung
zukommen.
»Elins Name taucht in diesem Aufsatz auf«, fügte
Per nach einer Weile der Stille hinzu.
»Daran denke ich gerade. Als Mitautorin. Wir haben
sie falsch eingeschätzt.«
»Weißt du inzwischen, worum es in dem Text
geht?«
Kjell prüfte auf seinem Telefon, ob Ida endlich
angerufen hatte. Sie saß seit gestern in ihrem Arbeitszimmer und
studierte den Aufsatz. Drei Wochen brauchte sie unter normalen
Umständen, um einen Text dieses Kalibers so durchzuarbeiten, dass
sie ihn in groben Zügen verstand.
Er ließ Per mit der offenen Frage am Tisch zurück
und streifte durch die Zimmer. Keiner der Besuche, weder von den
Ermittlern, den Technikern noch von Hulda, hatte Elins Ordnung
etwas anhaben können. Sie hatte wirklich ein enormes Talent
besessen, viele Dinge auf wenig Raum unterzubringen. Kjell setzte
sich auf die Matratze und wippte ratlos.
Es klingelte an der Wohnungstür. Kjell schlich in
das Wohnzimmer zurück. Per war aufgesprungen und hob die Achseln.
Da es keinen Spion gab, entsicherte Kjell seine Pistole und riss
die Tür auf. Es war Tholander.
Ertappt, dachte Kjell im ersten Augenblick, er will
das Telefon holen. Aber Tholander sah alles andere als ertappt
aus.
»Vielleicht können wir vergessen, was heute
Nachmittag passiert ist.«
Es war Tholander, der das sagte, nicht Kjell. Der
musterte Tholander abwartend.
»Hast du einen Schlüssel für ihre Wohnung?«
Kjell nickte.
»Bei dir?«
Kjell nickte wieder. Er war eigentlich schon auf
dem Weg dorthin.
»Können wir nachsehen?«
»Keine Spur?«
Tholander steckte den Zeigefinger in den Knoten
seines Schals und lockerte ihn.
»Dann fahren wir.«
Sie liefen schweigend ins Erdgeschoss. Tholander
hatte seinen Wagen hinter dem von Kjell geparkt. Kjell erkundigte
sich, ob sie getrennt fahren würden, aber Tholander schüttelte den
Kopf.
»Ich will dir etwas zeigen.«
Im Wagen öffnete er ein Kuvert und zog ein Foto von
sehr großem Format heraus.
»Ist das Sofi?«, fragte Kjell. Tholander antwortete
nicht. Offenbar war das Bild von einer Verkehrsüberwachungskamera
aufgenommen worden. Es zeigte eine junge Frau am Steuer eines
Wagens. »Wo ist das entstanden?«
»In Växsjö.«
»Was macht sie dort?«
»Das Bild ist nicht von heute. Es wurde am 10.
September gemacht.«
»Das ist nicht ihr Wagen«, sagte Kjell. »Das
Nummernschild stimmt auch nicht.«
»Es ist auch nicht Sofi Johansson. Der Wagen wurde
in Malmö gemietet und ist seitdem verschwunden. Gemietet wurde er
von einer Frau mit dem Namen Laura Vasari. Deshalb kam das Bild zu
uns.«
Die Kamera überwachte nämlich nicht den Verkehr,
sondern einen Autobahnabschnitt im Süden Schwedens, den viele
Ausländer nach der Einreise passierten. Das Nummernschild war wie
alle anderen geprüft worden.
»Vor einem Jahr hat diese Frau in Mailand ein Auto
gemietet.
Die italienische Polizei fand heraus, dass dieses Auto eine Rolle
in einem Mord an einem Mailänder Geschäftsmann spielen muss. Die
Mieterin hieß Magdalena Mariano. Diesen Namen gibt es in Italien
nicht. Ein findiger Ermittler hat aber entdeckt, dass einmal eine
Frau diesen Namen getragen hat. Und zwar zu Zeiten der
Hochrenaissance.«
»Muss man sie kennen?«
»Der Name taucht nur an einer einzigen Stelle auf:
in einem Bürgerregister, das dreihundert Namen umfasst.«
»Sind die Italiener sich sicher, dass sie den Namen
aus dieser Liste gewählt hat? Ist das nicht leichtsinnig?«
»Es gibt einige Hinweise, dass die Frau gewisse
Spurenstrukturen aussät, als wollte sie die Spannung erhöhen. Weil
der Name also ein Pseudonym war, haben die Italiener alle
hundertsechzig Frauennamen aus dieser Liste zur internationalen
Fahndung ausgeschrieben.«
»Muss ein schlimmer Mord gewesen sein, wenn
Italiener so viele Formulare ausfüllen.«
»Die ganze Familie des Geschäftsmannes wurde
getötet. Sieben Personen lagen im Haus. Man fand sie nur, weil der
Mann selbst nicht im Haus lag, sondern mit seinem Auto in eine
Schlucht stürzte. Ohne die anderen Leichen hätte das wie ein Unfall
ausgesehen.«
»Wie kommt die Frau mit ihrem Mietwagen ins
Spiel?«
»Durch die Gnade der Verkehrsüberwachung.«
»Der Name Laura Vasari steht also auch auf dieser
Fahndungsliste der hundertsechzig Frauennamen aus der
Renaissance?«
Tholander nickte. »Wir erfuhren im September, dass
sie nach Schweden eingereist war, aber sonst wussten wir nichts,
nicht einmal, ob sie die Morde selbst begangen hat. Vielleicht half
sie nur dabei.«
»Habt ihr überprüft, wo Sofi an diesem Tag
war?«
»Dem Journal nach vier Tage lang in Öresund zur
Revision bei der örtlichen Kriminalpolizei. Das kam hin.«
»Auch wir verdächtigen eine Frau.«
»Mir ist die Ähnlichkeit zu Sofi Johansson erst
aufgefallen, als ich eure Personalakten gelesen habe.«
»Und woher weißt du plötzlich, dass diese Frau
nicht Sofi ist?«, fragte Kjell, denn hätte Tholander behauptet, die
Frau auf diesem künstlich aufgehellten und körnigen Bild wäre Sofi,
hätte er es geglaubt.
»Sofi Johansson kann nicht die Frau sein, die auf
Nils Kullgren geschossen hat. Das ist unser Problem.«
»Es gibt nicht mehr als dieses Foto von ihr,
verstehe ich das richtig?«
»So ist es.«
»Dann trägt sie hier eine Perücke. Im Treppenhaus
waren ihre Haare braun und lockig. Außerdem will mir nicht in den
Kopf, wie Kullgren sie erkannt haben will. Er muss eine sehr hohe
Wahrscheinlichkeit in Kauf genommen haben, auf eine unbeteiligte
Frau mit Kind zu schießen.«
»Genau das fragen wir uns seit gestern.«
»Und wie lautet eure Erklärung?«
»Aufgrund dieses Fotos hätte er niemals
geschossen.«
86
»Dear Mrs. Setterlind!« las Barbro. Sie ballte die
Faust und reckte sie zur Bürodecke. Nobody can stop Miss
Setterlind. Sie hatte nicht erwartet, am selben Tag Antwort zu
erhalten, noch dazu an einem wie diesem. Seit dem Mittag hatte sie
alle E-Mails in Elins Daten durchforstet und war auf eine Quittung
gestoßen, eine Nachricht, die nicht mehr enthielt als die
Bestätigung,
dass der Empfänger eine E-Mail, die Elin am 7. September
abgeschickt hatte, empfangen und gelesen hatte.
Elin hatte viele Universitäten angeschrieben und
sich beworben, aber die lagen alle in Schweden. Princeton dagegen
passte nicht zu Elin.
Barbro legte den angebissenen Apfel beiseite und
begann zu lesen.
Steven.Gardiner@math.princeton.edu
antwortete: »Ich kann bestätigen, dass sich Jon Anfang Juni in der
von Ihnen erwähnten E-Mail an mich gewandt hat. Das Thema der
Nachricht war ein Angebot für einen Beitrag für die Zeitschrift
Proceedings in Mathematics, die ich herausgebe. Das Thema
des Artikels lautete ›n≥3 revisited‹. Jon Ardelius hat einen so
außergewöhnlichen Ruf, dass ich einer Veröffentlichung zustimmte,
obwohl er den Inhalt seines Artikels nur in wenigen Zeilen
skizzierte. Da Proceedings in Mathematics zu den
renommiertesten Zeitschriften für Mathematik gehört, vereinbarten
wir in einem längeren Telefonat, welche Gutachter den Artikel
prüfen sollten. Er versprach mir, innerhalb einer Woche eine
ausführliche Zusammenfassung zu schicken und Anfang Dezember den
fertigen Artikel. Die Veröffentlichung war für April des kommenden
Jahres in der Jubiläumsausgabe unserer Zeitschrift geplant, da das
Thema so gut zu den Borromäischen Ringen, dem Signet von
Proceedings in Mathematics passt.«
Barbro fluchte. Sie hatte nicht mit einer schnellen
Antwort gerechnet und daher versäumt zu fragen, worum es in dem
Artikel überhaupt ging. Sie lud die Internetseite der Zeitschrift
und schnappte nach Luft. Das Signet sah ziemlich alt aus und
existierte seit der ersten Auflage, die ein Jahrhundert zurücklag.
Es zeigte drei ineinander verflochtene Dreiecke. Herrgott, dachte
Barbro, wie viele Bedeutungen hatte das Zeichen denn noch? Welche
Bedeutung es für Elin auch immer gehabt hatte,
Jon hatte ihren Anhänger an jenem Herbstmorgen im Telia-Laden als
mathematischen Knoten identifiziert.
Barbro las weiter. »Da ich nach dieser Verabredung
keine Nachricht mehr von Jon erhielt und auch nicht das Manuskript,
sandte ich mehrere E-Mails, die alle unbeantwortet blieben. Der
Name Elin Gustafsson ist mir bekannt. Sie sollte den Artikel in
Schriftform bringen und dafür als Mitautorin genannt werden. Ich
wünsche Ihnen ein frohes neues Jahr! Ihr Steven Gardiner.«
Das war sonderbar, dachte Barbro. Auf Elins
Computer gab es keine Erinnerungsschreiben von Steven. Und
umgekehrt hatte Steven den Aufsatz nie erhalten, obwohl Barbro
diese E-Mail auf Elins Computer im Ordner der versandten
Nachrichten fand. Nach der ersten Kontaktaufnahme war also keine
Nachricht, die eine der beiden Seiten versandt hatte, beim
Empfänger angekommen.
Barbro sah keinen Grund, Steven nicht zu glauben.
Ebensowenig hatte Barbro allerdings Grund, Elin und Ardelius nicht
zu glauben. Sie stellte sich ans Fenster. Sie konnte Elin und
Ardelius klar vor sich sehen: Er will ein Kabel kaufen und spricht
sie auf das Amulett an ihrem Hals an.
›Das ist ein magisches Symbol‹, sagte
sie.
›Ach ja? Für mich ist es Mathematik.‹
›Wirklich? Ich möchte Physik
studieren.‹
›Wunderbar! Am besten sprechen wir mal bei
einer Tasse Kaffee darüber. Wann beginnt deine Mittagspause?‹
Kjell hatte recht, Ardelius war ein Leuchtturm in
der Nacht gewesen. Elin hatte plötzlich ein Ziel. Wenn sie als
Mitautorin über dem Artikel stand, konnte ihr Anteil nicht
unwesentlich sein. Dasselbe Schema bei Judit. Sie haben sich bei
ihrem Konzert kennengelernt. Und dass sich ›alle heute Abend
treffen‹ wollten, Ardelius und die drei Frauen, ließ keinen Zweifel
zu: Es hatte sich um einen Club gehandelt. Auch Filipa hatte
Ardelius irgendwo kennengelernt. Mit Sicherheit hatte er ihre
Lücken in Mathematik geschlossen. Filipa musste uneingeschränkt zum
Club gehört haben, sie war schließlich am 22. Dezember wegen der
Ereignisse in Stockholm hierhergereist. Barbro bezweifelte, dass
sie Filipas Aufgabe herausfinden konnte, solange sie nicht
verstand, worum es in dem Artikel überhaupt ging.
87
Sofis Wohnung war mit ihrer Leere das Gegenteil
von Elins vollen Zimmern. Gemeinsam war ihnen nur die Ordnung, doch
im Gegensatz zu Elin hatte Sofis Ordnungsliebe eher schrullige
Züge. Es gab Dinge in ihrem Leben, die um keinen Preis
durcheinandergeraten durften.
Während Kjell noch das Schlafzimmer und die Küche
abschritt, kniete Tholander vor der Kommode. Die Türen standen
offen. Allerlei Gegenstände, Notizbücher, Musik-CDs und kleine
Kartons, lagen verstreut auf dem Boden.
»Hat sie selbst darin gekramt?«
Kjell musterte die Unordnung auf dem Boden. Sie
bildete einen deutlichen Kontrast zum Rest der Wohnung. »Ist sonst
nicht ihre Art.« Er ging zur Tür und begutachtete den
Schlosszylinder von außen. Das Schloss war uralt und übersät mit
Kratzspuren, die sich unmöglich datieren ließen.
»Ist das Bett unbenutzt?«
»Es ist gemacht. Wie habt ihr sie verloren?«
»Sie kam gestern Abend um sechs Uhr mit ihrer
Sporttasche aus dem Haus und verschwand hinter dem Haus in den
Park. Der Agent konnte ihr nicht folgen. Er vermutete, dass sie zum
Tanzen ging, und wartete im Wagen auf ihre Rückkehr. Aber sie
kehrte nicht zurück.«
»Habt ihr in der Tanzschule nachgefragt?«
»Da war sie nicht.«
Tholander sah aus wie eine alte bürokratische
Maschine, aber schon nach wenigen Minuten hatte Kjell erkannt, dass
er alles aus Instinkt tat. »Was glaubst du?«, fragte er
daher.
»Kennst du diesen Lasse aus der
Tatorttechnik?«
»Natürlich.«
»Von ihm weiß ich, dass Sofi gestern Mittag mit dem
Computer unter dem Arm das Haus in der Bastugatan verlassen hat.
Sie lief damit hinab bis zum Mälarstrand, wo sie sich ein Taxi
nehmen wollte.«
»Ob sie sich mit einer Kopie der Daten aus dem
Staub gemacht hat?«
Tholander schüttelte den Kopf. »Dazu müsste sie
nicht verschwunden sein.«
»Wer sie laufen sah, wusste also, dass sie den
Computer hatte?«
Tholander nickte.
Kjells Telefon klingelte. Endlich war es Ida. Sie
klang gehetzt.
»Es wird ein wenig unheimlich für dich. Bist du
bereit?«
Kjell ging hinüber in Sofis Küche und füllte ein
Glas mit Leitungswasser.
»Der Artikel bietet eine Lösung für das
Drei-Körper-Problem.«
»Drei Körper?«
»Ja.«
»Frauenkörper.«
»Himmelskörper. Stell dir vor, ein Mond kreist um
einen Planeten. Wie berechnet man das?«
»Mit den Kepler’schen Gesetzen.« Kjell hatte
schließlich seine Tochter Linda jahrelang bei ihrer Odyssee durch
die Schulphysik begleitet.
»Stell dir drei Himmelskörper vor, die
umeinanderkreisen. Wie berechnet man die Bahnen?«
»Noch mehr Kepler’sche Gesetze?«
»Der Fall N gleich drei, bei einer Anzahl
von drei umeinanderkreisenden Himmelskörpern also, ist nicht nur
für dich das Ende der Mathematik. Es ist ein komplexer, dynamischer
Vorgang, der als nicht zu beschreiben gilt.«
»Und Ardelius hat die Lösung?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt Unklarheiten.«
»Und wenn doch?«
»Es wäre der Durchbruch in die Analysis dynamischer
Systeme.«
»Kannst du mir mehr verraten?«
»Ich kann dir alles über deinen Mordfall verraten.
Er ist eine Inszenierung des Grundproblems mitsamt dem
Lösungsansatz. Barbro berichtet, Ardelius habe ein Exposé
vorausgeschickt. Das dürfte sich mit der Zusammenfassung am Anfang
des Artikels decken. Darin gibt es eine Skizze, die die drei
Himmelskörper in einer gewissen Position zeigt. Wenn du die Kontur
von Södermalm darum herumzeichnest, hast du die Stellen, wo die
Leichen saßen.«
»Nur Ardelius und Elin kannten die Skizze.«
»Barbro vermutet, dass die E-Mails abgefangen
wurden. Und zwar nicht auf Seiten von Ardelius, sondern bei dem
Herausgeber der Zeitschrift, wo alles veröffentlicht werden sollte.
Anscheinend fängt jemand alle guten Sachen ab, die er so bekommt.
Außerdem hat sie von dieser Wetterstation in der Winterbucht
erzählt. Da ist angeblich vor kurzem eingebrochen worden, obwohl es
dort nichts zu holen gibt.«
88
Ida seufzte, als Barbro ihr am Telefon die
neuesten Erkenntnisse vortrug. »Vielleicht siehst du die Sache zu
idealistisch.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Barbro.
»Mir drängt sich beim Lesen des Artikels der
Verdacht auf, dass der Artikel ein Bluff ist. Vielleicht hat er die
Frauen damit getäuscht.«
»Ist der Artikel nichts wert?«
»Das kann man nicht sagen, aber eine Lösung für das
Drei-Körper-Problem sehe ich nicht. Ich bin auf Seite 103. Alles
mündet in einen Haufen von Gleichungen, die man nicht lösen
kann.«
»Dann ist der Artikel nichts anderes als die
mathematisch-poetische Beschreibung der Morde?«, fragte Barbro
unsicher.
»Daran habe ich gedacht, ja.«
»Welche Fassung des Textes hast du?«
»Die letzte natürlich.«
»Mir ist da etwas aufgefallen«, sagte Barbro. »Die
allererste Fassung stammt vom 12. September. Kurz davor müssen sich
Elin und Ardelius kennengelernt haben. Von da an folgte in kurzen
Abständen von einer Woche eine Überarbeitung. Das endet mit der
vorletzten Fassung am 1. Dezember. Das ist der vereinbarte
Abgabetermin. Und dann geschieht drei Wochen lang nichts. Und am
23. Dezember entsteht die letzte Fassung. Da war Elin bereits
verschwunden. Ardelius muss sie ganz allein gemacht haben. Sie
steht isoliert von den anderen Fassungen.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still, doch
Barbro konnte Ida vor ihrem inneren Auge nach Luft schnappen sehen.
»Kjell hat mir den Text ausgedruckt«, sagte sie nach einer
Weile.
»Hast du die anderen Fassungen?«
Ida seufzte und legte auf.
89
»Barbro hat recht«, sagte Ida. »Die letzte Fassung
ist eine Verschlechterung.«
»Absicht?«, fragte Kjell. Er hatte es sich auf
Sofis Sofa bequem gemacht. Es duftete sogar nach ihr.
»Ganz sicher. Es ist Sabotage. Ardelius muss Jahre
an seinem Beweis gearbeitet haben. Er ist sehr effizient und
elegant. Der eigentliche Kern ist eine Zahlenmatrix, mit der man
die Riesengleichungen faktorisieren und lösen kann. Genau diese
Matrix fehlt in der letzten Fassung, obwohl sie im Exposé erwähnt
ist.«
»Dann ist es doch kein Bluff?«
»Die Wahrscheinlichkeit für einen Bluff ist
dramatisch gesunken. Ich rechne es gerade durch.«
»Ich will dich nicht aufhalten«, sagte Kjell.
Tholander hatte soeben Sofis Kleiderschrank geöffnet und starrte
hinein. Kjell beendete das Gespräch. »Da brauchst du gar nicht
hineinzuschauen. Sie ist nicht abgehauen.«
Tholander zwinkerte nervös und schloss die Türen.
Ganz bestimmt war es sein Prinzip, alles selbst nachzuprüfen und
sich nie auf die Ergebnisse anderer zu verlassen. Kjell fürchtete,
in zwanzig Jahren wie Tholander auszusehen.
»Auf der Fahrt hierher hast du mich gefragt, ob ich
die Frau für eine Einzeltäterin oder für eine Handlangerin von
Ardelius halte. Jetzt bin ich mir sicher, du hast recht. Sie hat
alles geplant.«
»Das erfahren wir, wenn wir sie haben.«
»Wir können uns jetzt schon sicher sein. Sie hat
alles so aussehen lassen, als wäre Ardelius der Täter.«
»Sie hätte ihn umbringen können.«
Kjell schüttelte den Kopf. »Sie ist eine perfide
Sadistin. Die Morde dienen dem Zweck, ihn zuerst zu erpressen und
zu guter Letzt in den Tod zu treiben. Ihre Mordopfer sind
Statisten. Ihren eigentlichen Opfern nimmt sie dagegen alles, nur
nicht das Leben. Hast du nicht erzählt, dass das Haus des Mannes in
Italien mit Leichen überfüllt war und er selbst im Auto in die
Schlucht gestürzt ist?«
Tholander reagierte nicht auf rhetorische Fragen.
In Italien wusste man nicht, ob der Unfall eingefädelt war oder
Selbstmord.
»Sie wiederholt dauernd dasselbe Spiel«, erklärte
Kjell. »Sie fotografiert die Leichen für die Erpressung, lässt sie
danach aber nicht verschwinden. Sie will, dass die Polizei sie
findet.«
»Auch Rache kommt in Frage«, sagte Tholander.
»Rache wofür?«
Tholander nickte einsichtig. »Ihre eigentlichen
Opfer, wie du sie nennst, sollen sich selbst umbringen?«
»Wenn es nicht gründlich schiefläuft. Wie in diesem
Fall.«
»Schief? Er ist tot.«
»Das eigentliche Opfer soll sich erst am
Ende umbringen. Aber die Sache war noch längst nicht zu Ende.
Ardelius geht nicht auf die Erpressung ein und wartet auch nicht
auf das nächste Opfer. Weil er klüger ist als der Mann in Mailand
und wahrscheinlich glaubte, er könne damit die kleine Filipa
retten, entzieht er sich dem Spiel wie ein kynischer Philosoph. Für
die Erpresserin ist alles schiefgelaufen.«
»Was soll für sie schiefgelaufen sein? Sie hat den
Artikel.«
»Sie hat die Morde begangen. Wir wissen es. Sie
weiß, dass
wir es wissen. Sie ist enttarnt. Und das verdankt sie Sofi
Johansson.«
»Und deshalb soll Sofi etwas zugestoßen
sein?«
»Die Frau ist auch mit ihrem Hauptziel gescheitert.
Wie ich soeben erfahren habe, hat sie nicht bekommen, was sie
wollte. Ardelius hat sie mit ihren eigenen Mitteln geschlagen. Die
letzte Fassung des Aufsatzes ist ein Bluff. Er hat sie angefertigt,
um zum Schein auf die Erpressung einzugehen und weitere Morde zu
verhindern. Was da unter seinem Kopf lag, muss die letzte Fassung
gewesen sein.«
Tholander riss sich die Brille vom Kopf und putzte
sie mit dem Saum seines Pullovers.
»Und Sofi marschiert bei helllichtem Tag mit dem
Inhalt des Tresors über die Straße«, sagte Kjell. »Das ist typisch
für sie.«
»Hast du dich nicht gefragt, warum sich Ardelius
nicht an die Polizei gewandt hat?«
Kjell hatte nicht die geringste Ahnung. Vielleicht
hatte er gewusst, dass auch Judit schon verschwunden war, und es
für zu riskant gehalten, die Polizei einzuschalten.
»Die Frau will an die Daten«, sagte Tholander
nachdenklich.
»Sofi hat keinen Zugriff auf die Daten. Gilt ihre
Suspendierung noch?«
Tholander nickte. »Spielt das eine Rolle?«
»Eine wichtige. Sie kommt nicht ins Polizeigebäude.
Sind die Daten dort?«
»Aber du hast deiner Frau doch die Daten
gebracht.«
»Eine Kopie, von der niemand weiß. Sie wird also
versuchen, ins Polizeigebäude zu kommen.«
»Dann muss sie aufgeben. Niemand kommt in dieses
Gebäude, der nicht hineingehört.«
Kjell musterte Tholander. »Wieso sagst du das
so?«
»Verzeihung, ich verstehe nicht.«
»Niemand kommt in dieses Gebäude, der nicht
hineingehört. Wieso hast du das gesagt?«
»Weil es der Fall ist. Ihre Aussichten sind gleich
null.«
»Ich kenne jemand, der es geschafft hat.«
»Aber nicht ins Polizeigebäude.«
»Genau dort.«
Verdammt, dachte Kjell. Hulda hatte es bis in den
sechsten Stock geschafft. Hampus hatte von Ardelius und seinem
Frauenzirkel gewusst. Auch den Artikel musste er kennen. Hulda war
in Elins Wohnung gewesen. Hulda und Hampus waren kopfüber nach
Island abgehauen. Nicht abgehauen, sie waren geflohen.
Tholanders Telefon klingelte. Das Gespräch dauerte
nicht lang. »Jemand ist ins Haus gekommen, der nicht hierhergehört.
Er hat zu uns hinaufgesehen.«
»Sofi?«
»Ein Mann. Er trägt einen Hut.«
»Einen Hut?«
»Entspricht dem Phantombild, das ihr über ganz
Schweden verbreitet habt.«
Sie starrten sich entsetzt an, vereint in einem
gemeinsamen Gedanken: Ardelius war tot. Aber im Treppenhaus stand
ein Mann mit Hut.
»Mein Agent sichert den Hauseingang«, flüsterte
Tholander.
Sie schlichen zur Tür. Kjell legte sein Ohr auf das
Holz. Schritte hallten durch das Treppenhaus. Sie näherten sich,
waren aber nicht zu lokalisieren.
»Er ist irgendwo stehen geblieben«, flüsterte Kjell
und schob Tholander aus dem Flur zurück ins Zimmer. Beide zogen
ihre Waffen. Kjell lehnte sich an die linke Wand, Tholander an die
rechte. So verharrten sie und horchten. Nichts rührte sich.
Tholander warf Kjell einen fragenden Blick zu. Der hob die
Schultern. Tholander prüfte sein Telefon, aber es war keine
Nachricht eingegangen. Der Mann musste noch im Haus sein. Wo ist
der hin, überlegte Kjell. Er hatte keine Wohnungstür gehört, und
einen Aufzug gab es nicht. Vielleicht war er umgekehrt.
Er muss in eine der Wohnungen verschwunden sein,
schloss Kjell nach einer Ewigkeit und riss die Tür auf. Der Mann
stand nur einen Fußbreit vor ihm.
90
Jesus, dachte Henning, links war das Meer, rechts
war das Meer. Und wenn das Meer hier einmal anfing, hörte es so
bald nicht mehr auf. Deshalb zwang er seinen Blick geradeaus, wo
der Wind den Schnee wie einen weißen Teppich über die Fahrbahn zog.
Der kleine Wagen aus Japan, in dem Henning saß, wurde hin und her
gerüttelt. Einmal hüpfte er weit zum Stra- ßenrand. Ohne sein
Gewicht hätte Snæfríður den Wagen nicht auf der Straße halten
können, glaubte er.
»Lass den Türgriff lieber los«, sagte Snæfríður,
obwohl sie so beharrlich nach vorn blickte, dass Henning sich
fragte, wie sie das bemerkt haben konnte. »Es sind noch vierzig
Kilometer.«
Er löste seine Finger vom Griff und atmete durch.
Doch als plötzlich ein Jeep an ihnen vorbeizog, griff Henning
wieder zu. Es war das erste Auto seit dem Flughafen.
»Jesus, ist der wahnsinnig?«
»Das ist ganz normales isländisches Jeeptempo«,
sagte Snæfríður.
»Vielleicht hätten wir doch einen größeren Wagen
nehmen sollen.«
»Um nach Reykjavík zu fahren?«
Sie war der einzige ruhige Punkt in dieser Hölle.
Ihre
Durchsetzungsschwäche, die man ihr zu Hause als Defizit auslegte,
erwies sich hier als Zähigkeit. Dafür sorgte allein die
Umgebung.
Die ersten Ampeln und Häuser tauchten auf, doch was
wie der Beginn der Stadt aussah, entpuppte sich als Vorort. Als der
erste von vielen, wie sich herausstellen sollte.
Eine Viertelstunde später setzte Snæfríður den
Blinker. »Jetzt kommt Garðabær. Da müssen wir raus.«
»Was ist Garðabær?«, fragte Henning, der nur weiß
sah.
»Ein Vorort.«
»Verstehe.«
»Jeder Reykvikinger will in Garðabær wohnen. Das
ist so etwas wie Djursholm.«
»Verstehe.«
Gleich nach der Ausfahrt begannen die Wohnstraßen,
an denen sich ein Grundstück ans andere reihte. Die Villen waren
riesige und verschachtelte Alpträume aus Beton. In den Einfahrten
hingen sogar Basketballkörbe über dem Garagentor.
»Nirgendwo brennt Licht«, bemerkte Henning.
»Seit der Finanzkrise schon nicht mehr. Du kannst
dir etwas aussuchen und sofort mit Lena Axelsson einziehen.«
Henning blinzelte hinüber zu Snæfríður. Er konnte
sich nicht erinnern, je etwas so Deftiges aus ihrem Mund gehört zu
haben. Sie hielt am letzten Grundstück der Siedlung. Henning sehnte
sich nach festem Boden unter den Füßen und begleitete sie zum Haus.
Dort öffnete ein kleiner Junge. Während Snæfríður mit ihm sprach,
vollführte Henning eine langsame Pirouette, um die Umgebung auf
sich wirken zu lassen. Die Vororte lagen auf Landzungen mit tief
eingeschnittenen Buchten. Bis zum Wasser waren es fünfzig Schritte,
aber der Boden war viel zu schroff, als dass man am Morgen mit
seinem Kaffee zum Ufer hätte schlendern können. Schwarze Lavakanten
ragten aus der Schneedecke.
»Sie ist nicht da«, fasste Snæfríður das Gespräch
mit dem Jungen zusammen. »Ihre Mutter hat sie mit in die Stadt
genommen.«
Die Rede war von Fjóla, Huldas bester Freundin und
Zwillingsseele. Snæfríðurs ganze Islandstrategie bestand in der
Idee, dass die beiden zusammen waren. Falls diese Strategie
scheiterte, konnte Fjóla angeblich als einziger Mensch Huldas
Absichten wie den nächsten Zug eines Springers beim Schach
vorausbestimmen.
»Die Mutter nimmt an einem Bridgeturnier teil«,
erzählte Snæfríður, als sie wieder auf der Schnellstraße fuhren.
»Fjóla ist wahrscheinlich mit ihren Freunden in der Stadt
unterwegs, um zu feiern. Ich muss die Mutter fragen, wo wir sie
finden.«
Henning wollte sich ein Bridgeturnier am
Silvesterabend nicht entgehen lassen. Deshalb begleitete er
Snæfríður in die Halle des Hotels Loftleiðir, wo sie ohne
Namensschild am Revers und mit ihrem klaren Verstand auffielen wie
bunte Hunde.
»Weißt du, wie sie aussieht, Fjólas Mutter?«
»Ich frage mich durch.« Sie deutete auf die offenen
Türen zum Tagungssaal.
»Wie heißt die Mutter? Dann sehe ich mich hier
um.«
Sie wusste bloß den Vornamen: Þórunn. Ein Hoch auf
die Erfindung des Namensschildes, dachte Henning. Den Namen hätte
er nicht über die Zunge gebracht. An der Bar musste er nur den Arm
ausstrecken, um ein Glas Goldbräu zu erhalten. Damit ließ er
sich auf dem Sofa zwischen zwei Damen nieder, die sich als sehr
kontaktfreudig erwiesen. Das Alter ihrer Lidschatten datierte
Henning auf etwa drei Tage. So lange dauerte das Bridgeturnier
nämlich schon. Henning begriff, dass Durchhaltevermögen keine
Besonderheit an Snæfríður war, sondern die gemeinsame Eigenschaft
aller Isländer. Obwohl sich kaum noch jemand auf den Beinen halten
konnte,
wurden auf der anderen Seite der Halle mit putziger
Ernsthaftigkeit Ranglisten an die Wand projiziert. Bertil Svensson
war als einziger Abgesandter Schwedens auf Platz 49 gelandet.
»Woher kommst du?«, fragte die draufgängerischere
der beiden Damen zum dritten Mal auf Englisch.
»Garðabær«, antwortete Henning. »Ich bin
Villenbesitzer.«
»Garðabær, Wahnsinn! Da ist es schön!«
Während die beiden Damen Hennings angebliche Heimat
als Paradies auf Erden lobten, behielt er die vorbeiziehenden
Frauen im Auge. Ständig strömten Menschen aus dem Aufzug oder
verschwanden darin. In Henning keimte der Gedanke, dass die
zweihundert Turnierteilnehmer vielleicht nicht nur im Bridge
gegeneinander antraten. Er kannte Þórunn nicht, traute ihr aber zu,
sich oben in einem Hotelbett mit einem anderen Turnierteilnehmer zu
entspannen, während ihre Familie in Garðabær alleine feierte.
Als Snæfríður wieder in der Menge auftauchte, hatte
Henning seinen Harem auf sieben Isländerinnen erweitert.
Sie zerrte ihn vom Sofa. »Ich habe sie. Dein Bier
kannst du mitnehmen.«
Und so fand sich Henning bald mit seinem
Goldbräu zwischen den Knien im Wagen auf der breiten
Snorrabraut dahinrollen. Plötzlich bog Snæfríður in eine kleine
Seitenstraße ab.
»Von nun an müssen wir aufpassen.«
»Wie sollen wir sie denn identifizieren?«
»Hierzulande haben die Menschen alle einen eigenen
Geschmack. Sie trägt eine grüne Mütze und ein weißes Kleid.«
Die Straße war nicht breiter als ein Feldweg, aber
nach Snæfríðurs Erklärung die isländische Antwort auf die Champs
Élysées. Alle zehn Meter wechselten sich links und rechts
Parkbuchten ab, so dass Snæfríður ständig steuern musste.
Auf beiden Seiten säumten Lokale die Straße, vor
denen lauter Menschengruppen standen, als wären nach einem Erdbeben
alle ins Freie gerannt. Henning betrachtete die Welt jenseits der
Scheibe mit Staunen. Sie sah aus, als hätte das hippste Viertel
Londons eine heruntergekommene walisische Kleinstadt belagert und
sich unter die Bergarbeiter gemischt. Er war definitiv dreißig
Jahre zu spät hergekommen.
Immer mehr Raketen stiegen zum Himmel. Noch eine
halbe Stunde bis Mitternacht. Sie waren Teil eines langen Konvois
aus Geländewagen, amerikanischen Schlitten und japanischen
Kleinwagen, die alle vom gleichen Modell waren. Der Konvoi kam nur
langsam voran. Henning musterte die Gesichter der jungen Mädchen.
Alle fünfzig Meter prügelten sich zwei Kerle.
Plötzlich bremste Snæfríður und sprang aus dem
Wagen. Sie hatte die linke Seite überwacht und rannte in einen hell
erleuchteten Imbiss. Tatsächlich, da stand ein Mädchen mit grüner
Mütze vor der Kasse. Henning stürzte den Rest seines Biers hinunter
und beobachtete, wie Snæfríður das Mädchen an der Kapuze ihres
Mantels aus dem Lokal zog. Henning sprang ins Freie und öffnete die
Hintertür. Die Fahrzeuge hinter ihnen hupten nicht. Kleine
Zwischenfälle und zwischenmenschliche Dramen waren hier offenkundig
beliebt. Snæfríður drängte sich zu dem Mädchen auf die Rückbank.
Henning setzte sich hinter das Steuer und hielt zehn Meter weiter
in einer Parkbucht.
Vom Gespräch auf der Rückbank verstand er kein
Wort. Als Snæfríður eine Pause einlegte, drehte er den Kopf zu dem
Mädchen. Sie erinnerte ihn sehr an Hulda und hatte sich wie sie
gelbe Perlen ins Haar geflochten, als Zeichen der
Seelenverwandtschaft.
»Wir glauben, dass Hulda in großer Gefahr ist«,
sagte er auf Englisch.
Das Mädchen antwortete nicht, dafür aber Snæfríður.
»Hulda war gestern bei ihr und hat sich Geld und Kleidung
geliehen.«
»Und dann?«
»Hampus war bei ihr, hat aber kein Wort gesagt. Sie
wollten nicht bei Fjóla übernachten und haben sich ein Taxi
genommen. Sie vermutet, dass sie zu den Flugtaxis wollten.«
»Wohin kommt man damit?«
»Ísafjörður. Das ist da, wo sie aufgewachsen
ist.«
91
Theresa Julander eilte durch den Gang und geriet
dabei ins Rutschen. Sie litt schon den ganzen Tag an den
Ledersohlen ihrer neuen Schuhe. Sie klopfte an die Tür des neuen
Direktors, wartete aber nicht auf eine Antwort. Ohne Einladung sank
sie in den Stuhl vor Kullgrens Schreibtisch, an dem Gregersiö mit
seinen wenigen Sachen aussah, als machte er ein Picknick.
»Ich habe eine Frau gefunden, die heute ebenfalls
in der Maschine nach Island saß«, begann sie. »Sie stammt aus
London und heißt Cathy Ryan.«
Gregersiö blickte wie immer skeptisch drein.
»Es gibt keinerlei Hinweise, warum sie in Stockholm
war, wie lange sie hier war, wie sie eingereist ist und was sie nun
in Island sucht.«
»Gibt es ein Foto von ihr?«
»Der Flug geht im Winter über Kopenhagen. Da werden
die Ausweise nicht erfasst. Aber dem Alter nach könnte sie es sein.
Cathy Ryan, das klingt ein wenig unecht, findest du nicht? Wie ein
Kunstname, wie er auf Musterdokumenten verwendet wird.«
Gregersiö deutete ein Nicken an. Es galt seinen
Unterlagen.
»Bist du dir wirklich sicher, dass Kullgren sie wiedererkannt
hat?«
»Willst du darauf hinaus, er könnte bloß die
Situation richtig eingeschätzt haben?«
Diesmal nickte er. Genau das meinte er. »Er hat
irgendein Merkmal, ein Detail wiedererkannt. Oder er hat die ganze
Situation schon einmal erlebt und ein Schema wiedererkannt.«
»Auf keinen Fall. Das ist ausgeschlossen. Das wäre
viel zu vage für den Entschluss, auf eine Frau mit einem
Kinderwagen zu schießen.«
»In den aktuellen Akten gibt es aber keine Hinweise
auf eine Frau. Es kann sich nur um eine Begegnung mit der
Vergangenheit gehandelt haben.«
Er stand auf und seufzte. Theresa hatte natürlich
schon mehrmals erwähnt, dass niemand im Haus von dieser Frau gehört
hatte, nicht einmal sie selbst, obwohl sie das letzte halbe Jahr in
Kullgrens unmittelbarer Nähe verbracht hatte. Sie musterte sein
Gesicht. Carlito war nicht dumm, er brauchte nur sehr lang, um ein
neues Spiel zu beginnen.
»Wir müssen in den Aktenraum«, sagte er
endlich.
»Dafür habe ich keine Freigabe.« Das erwähnte
Theresa lieber gleich. Zudem lenkte es ihn von der Erkenntnis ab,
dass sie den ganzen Tag auf diesen Moment hingearbeitet
hatte.
»Du stehst auf Kullgrens
Unbedenklichkeitsliste.«
Theresa lächelte erfreut. Sonst fand sich ihr Name
immer nur auf Bedenklichkeitslisten, die bloß ihretwegen angelegt
wurden.
Gregersiö öffnete die Metalltür hinter Kullgrens
Büro. Theresa wurde aus ihm nicht klug. Bisher hatte er jede
Einzelheit mit Blicken oder Worten in Zweifel gezogen, doch nun
nahm er sie mit in das Allerheiligste der Sicherheitspolizei. Wie
alle anderen hatte sie noch nie durch diese Tür gesehen und sich
dahinter eine Kammer ausgemalt. Lampen mit blaustichigem
Licht zuckten an der Decke und offenbarten, wie viele Geheimnisse
die Säpo in den letzten Jahrzehnten angehäuft hatte. Die Vitrinen
mit den Akten waren nicht gesichert. Falls es doch jemand durch die
sieben Sicherheitsschranken bis in Kullgrens Büro schaffte, wollte
die Säpo auf den letzten Metern kein Spielverderber sein. Wie
Dominosteine reihten sich die Vitrinen um alle vier Wände.
Theresas erster Gedanke war banal: Wer machte hier
eigentlich sauber, wenn kein anderer als Kullgren hereindurfte?
»Gibt es keinen Computer?«, fragte sie.
Den gab es nicht. Das autarke Stromaggregat reichte
nur für die Deckenlampen und wurde von umweltfreundlichen
Solarzellen auf dem Hausdach aufgeladen, die man von weither sehen
konnte.
»Wir werden Jahre brauchen!« Theresa drehte sich
mit ausgestreckten Armen um ihre Achse, als wäre das ihr
glücklichster Tag. Ein wenig war es das auch: Sie hatte es in vier
Jahren bis hierher geschafft.
Gregersiö öffnete eine Vitrine, in der sich keine
Ordner befanden, sondern Karteikästen. Er hievte gleich mehrere
davon auf den Tisch in der Mitte des Raumes und erklärte das
System. Zu jeder Person, die in einer Akte erwähnt wurde, gab es
eine Karteikarte. Je aktueller das Ereignis war, mit dem die Person
in Verbindung stand, desto weiter wanderte die Karte nach vorn. Sie
teilten die Frauenkarten auf. Theresas erste Karte gehörte der
Chefin der Sozialdemokratischen Partei.
»Was hat die denn angestellt?«
»Das kann nur ein Sicherheitsproblem sein.«
Ein Besuch des Ehemanns in einer Gogo-Bar war
etwas, was die Säpo ein Sicherheitsproblem nannte. Die Karten
enthielten lediglich Verweise auf Akten.
»Was bedeuten die Vermerke mit E? Das sind keine
Aktenzeichen von uns.«
»Externe Vermerke. E steht für Extern.«
E stand für den internationalen Kampf gegen Terror,
dachte Theresa. Alle Frauen mit E sahen ausländisch aus. Sie nahm
ein Bündel Karten und spielte Daumenkino. Bei jedem roten E zog sie
die Karte heraus. Nach zwei Minuten war sie durch.
Gregersiö verstand schnell, doch sein Gemüt
brauchte eine Weile, bis auch er alle blonden Berühmtheiten aus dem
öffentlichen Leben auf diese einfache Weise herausfilterte.
»Ich suche noch einmal«, sagte Theresa eine
Viertelstunde später. »Sie muss dabei sein.«
Gregersiö rutschte auf seinem Stuhl herum. Er hatte
sich auf dem langen Flug erkältet und besuchte dreimal in der
Stunde die Toilette. Er sah Theresa prüfend an und fragte sich
wohl, ob er sie hier in diesem Raum für einige Minuten allein
lassen konnte. Sie lächelte aufmunternd. Gregersiö stand
widerwillig auf und eilte aus dem Raum.
Nachdem die Tür zugefallen war, sprang auch Theresa
auf und ging zur dritten Vitrine, öffnete die Tür, nahm den Ordner
mit dem Vermerk »Mord an Ministerpräsident Olof Palme« heraus,
blätterte den Ordner in Windeseile durch und überflog die
Zusammenfassung, staunte, stellte den Ordner wieder ins Regal,
schloss die Vitrine und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Dann
begann sie, den ganzen Stapel noch einmal durchzusehen. Kurz darauf
kehrte Gregersiö zurück.
»Und?«, fragte er.
»Nichts.«
»Er hat sie nicht wiedererkannt.«
»Doch.«
»Hier sind alle Frauen dabei, die er in den letzten
vier Jahren beruflich kennengelernt hat.«
»Dann muss es davor gewesen sein. Vor seiner Zeit
als Säpo-Chef.« Gregersiö schwieg. »Ich habe eine Idee.« Sie
wechselte
zu Kullgrens Schreibtisch. »Nils telefoniert manchmal mit einem
Mann namens Ben«, erklärte Theresa. »Sie sprechen Englisch
miteinander. Er ist ein Freund aus alten Tagen, vermute ich. Sieh
in seinem Kalender nach, ob ein Ben darinsteht.«
Gregersiö nahm den Kalender, den er bereits am
Nachmittag geprüft hatte, und schlug das Namensverzeichnis am Ende
auf. Die Vorwahl lautete +972.
»Das muss sein Kontakt in Israel sein«, sagte
Theresa. »Wir rufen an.«
»Um diese Zeit?«
»Sie telefonieren immer am Abend.«
»Wenn du meinst, bitte.«
Theresa tippte die lange Nummer ab. Es tutete,
dreimal und weit entfernt klingend, dann klickte es leise.
»Hello?«, fragte sie. Die Männerstimme am anderen
Ende der Leitung grunzte knapp. »I am searching for Ben. My name is
Theresa Julander. I am assistant to Nils Kullgren. From
Sweden.«
Gregersiö grinste zum allerersten Mal und rieb sich
weiter nervös am Kinn. Er konnte über den Lautsprecher alles mit
anhören. Am anderen Ende wurde aufgelegt.
»Der hat einfach aufgelegt!«, sagte Theresa. Sie
verglich noch einmal die Nummer auf der Anzeige mit der im
Kalender. Sie stimmten überein.
Das Telefon klingelte. Theresa nahm ab.
»What’s up?«, fragte dieselbe Stimme wie
zuvor.
Theresa begriff, dass der Rückruf eine
Sicherheitsmaßnahme war. Im Stil eines Telegramms berichtete sie,
was Kullgren zugestoßen war und was sie vom Mossad wollte. Dann
wurde wieder aufgelegt.
Theresa zuckte mit den Schultern.
»War er vom Mossad?«, fragte Gregersiö.
»Er fragt sich bestimmt, was für ein Schwachkopf da
aus Schweden anruft. Jedenfalls klang er so.«
»Was hat er gesagt?«
»Okay, we’ll see. Das würde er doch nicht
sagen, wenn er ein Eisverkäufer in Tel Aviv wäre.« Theresa legte
die Hände in den Schoß. »Was hat Nils eigentlich beim Mossad
gemacht?«
»Offiziell war er dort nicht. Er war Mitglied eines
Forschungsinstituts, das sich mit Terrorismus beschäftigt. Deshalb
wurde ihm 2003 die Leitung der Säpo angetragen.«
»Und das Institut hatte Verbindung zum
Mossad?«
»Sagen wir es so: Mossad ist das hebräische
Wort für Institut.«
Im Hintergrund waren Straßengeräusche zu hören
gewesen. Vielleicht war Ben wirklich Eisverkäufer. Ihr kamen
Zweifel. Wenn Ben nicht half, wusste sie nicht mehr weiter. Nicht
weiterzuwissen, war eine völlig neue Erfahrung für Theresa
Julander.
92
Ida hatte sich mit ihrer Tochter Lilly in ihrem
Arbeitszimmer verschanzt. Das Mädchen lag in eine Decke gehüllt auf
dem Sofa und wartete darauf, für das Feuerwerk geweckt zu werden.
Aber bis dahin blieb noch Zeit. Ida war verärgert darüber, dass sie
wegen Kjell einen ganzen Tag mit der falschen Fassung vertan hatte,
und spürte keine Lust zu feiern. Aus dem Flur drangen seit Stunden
Musik und Gelächter. Linda hatte alte Freunde eingeladen. Auch
Kjell und Barbro wollten vor zwölf zum Anstoßen eintreffen.
Es klopfte an der Tür, und Linda steckte den Kopf
herein. Ihre Wangen waren rot, ihr Haar zerzaust und voll Schnee.
»Wir können nicht aufs Dach«, sagte sie atemlos. »Man hält es kaum
aus da draußen.«
»Hat Kjell sich gemeldet?«
»Nein. Aber Barbro ist da. Sie zieht gerade die
Stiefel aus und trinkt ein Glas Champagner, um sich
aufzuwärmen.«
Hinter Linda erschien Barbros rotblonde Mähne. Sie
drängelte sich an Linda vorbei und drückte mit dem Hintern die Tür
zu. »Kennst du einen Peter Damian Deasy?«, fragte sie ohne
Begrüßung.
Ida nickte zögerlich. »Das ist ein
Mathematiker.«
»Ist er berühmt?«
»Berühmt nicht. Aber der Name ist einem geläufig,
wenn man sich mit Mathematik beschäftigt. Er macht irgendetwas mit
Knotentheorie.«
»Er leitet das Trinity College in Dublin. Außerdem
gehört ihm die andere Hälfte von Ardelius’ erfolgreicher Firma. Der
Mann, der das Programm für das Wetteramt und all die anderen
Programme entwickelt hat, ist also kein Jüngling mit Pickeln, wie
wir geglaubt haben, sondern der ehrenhafte Mr. Deasy. Und die Firma
wurde Anfang September abgemeldet.« Barbro wollte sich auf das Sofa
fallen lassen, entdeckte jedoch rechtzeitig Lillys Kopf und nahm
das Kind auf den Schoß.
»Hast du Elli mitgebracht?«, erkundigte sich Ida.
Barbros Tochter war drei Jahre älter als Lilly.
»Sie feiert draußen mit ihren neuen Freunden. Seit
neuestem hält sie sich für eine Jugendliche. Soll ich Lilly
wecken?«
Ida sah auf die Uhr. »Es ist zu früh. Länger als
eine halbe Stunde hält sie nicht durch. Sie ist eine typische
Cederström und schläft sehr viel. Kannst du dich an Hennings
Umzugstag erinnern?«
Barbro nickte. Henning hatte Ida in einem Taxi
abholen lassen. In der Küche sollte eine versilberte Stange über
zwei Wände laufen, so dass Henning Töpfe und Kellen daran aufhängen
konnte. Von Ida hatte er wissen wollen, wie lang das Stück für die
Ecke sein musste, damit es nach dem Biegen genau in die Lücke
passte. Ida hatte versucht, Henning zu erklären, dass man das nicht
mit einem Dreisatz ausrechnen konnte, und hatte dann ein Stück der
teuren Stange nach Augenmaß abgesägt und den ganzen Nachmittag lang
gefeilt und immer wieder probiert. Während des Feilens hatte sie
über komplexe Fragen der Infinitesimalrechnung nachgedacht.
»Etwa so verhält es sich mit den Umlaufbahnen
dreier umeinander kreisender Körper. Man kann das mit allen
schmutzigen Tricks der Ingenieurskunst ermitteln, aber eine
elegante Formel gibt es nicht. Selbst die Umlaufbahn der Erde um
die Sonne ist viel komplexer, als wir in der Schule lernen.«
»Hat er die elegante Formel?«
»Er hat eine Matrix aus Gleichungen über zehn
Seiten. Elegant ist sie nicht, aber bis Seite 103 schwellen die
Formeln immer mehr an und werden unlösbar. Dann kommt ein Bruch
über zehn Seiten. Und dahinter wird alles knapp und
übersichtlich.«
»Stimmt es?«
»Die Firma wurde abgemeldet, sagtest du?«
»Im September.«
»Also genau zu der Zeit, als Ardelius den Artikel
anbot.«
Barbro leerte ihr Glas. »Obwohl die Firma gut lief.
Ich habe mit der irischen Polizei gesprochen und die Einkünfte
erfahren. Sie bezahlen tatsächlich kaum Steuern.«
»Eure Theorie war verkehrt herum. Ihr glaubtet,
dass Ardelius mit der Firma seine wissenschaftlichen Erkenntnisse
zu Geld machen wollte. Jedes Projekt beschäftigt sich mit komplexen
dynamischen Systemen und kann als Anwendung dieser Theorie
verstanden werden. Und zur selben Zeit, als er die Firma abmeldet,
bietet er der Zeitschrift seinen Artikel an. Die Projekte seiner
Firma dienen dem Zweck, die Theorie zu testen und
abzusichern.«
Lilly streckte sich im Schlaf und ruderte mit den
Händen. Barbro musste mit dem Kopf ausweichen. »Aber wieso hat er
die Theorie so ausgiebig getestet?«, flüsterte sie. »Bereits das
erste Projekt war ja ein Erfolg.«
»Mich interessiert etwas anderes. Er verfälscht den
Artikel, und mit Sicherheit war das die Fassung, die er auf seinem
Schreibtisch liegen hatte. Die hat er nur für diese Gelegenheit
gemacht. Er wollte die Frau damit täuschen.«
»Aber dennoch wollte er die richtige Fassung
veröffentlichen. Daran besteht kein Zweifel. Und diese Fassung
hätte dann auch die Frau lesen können. Sie braucht die Zeitschrift
nur zu abonnieren.«
»Genau. Warum also dieses Spiel?«
»Es ist kein Spiel, glaube ich. Es ist bitterer
Ernst.«
Es klopfte erneut. Linda kam herein und überreichte
Ida das Telefon.
»Hier ist Theresa Julander«, sagte die Stimme am
anderen Ende der Leitung. »Ich arbeite mit Kjell zusammen.«
»Ich weiß«, sagte Ida und suchte nach der
Lautsprechertaste. Sie kannte Theresa Julander nur aus Erzählungen.
Die waren jedoch so plastisch, dass sie sie leibhaftig vor sich
sah.
»Weißt du, worum es in dem Text geht?«
Ida erzählte alles noch einmal.
»Das kann nicht sein«, sagte Theresa Julander
entschieden. »Es kann nicht um theoretische Physik gehen.«
Barbro schnitt eine Grimasse.
»Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel«, erwiderte
Ida.
»Ich habe die Frau gefunden und weiß, warum Nils
Kullgren sie erkannt und geschossen hat.«
Barbro legte Lilly aufs Sofa, sprang auf und riss
Ida das Telefon aus der Hand. »Hier ist Barbro.«
»Kennt ihr euch mit der Renaissance aus?«
»Wahrscheinlich besser als du.«
»Da hast du wohl recht. Sie wird international
gesucht. Ihre Identität ist nicht bekannt, aber aller
Wahrscheinlichkeit nach stammt sie aus den Vereinigten Staaten. Man
nennt sie ›die Condottiera‹. Wisst ihr, was das ist?«
Barbro zögerte. Ida zerrte ihr das Telefon vom Ohr.
»Das wissen wir. Wallenstein war ein Condottiere.«
»Wer ist Wallenstein?«
Barbro holte sich den Hörer zurück. »Vergiss es.
Was ist damit?«
»Der Condottiere war ein neuer Typ von Heerführer
am Ende des Mittelalters. Er fühlt sich keinem Herrn oder Land
verpflichtet. Und auch die Moral ist ihm gleichgültig.«
»Woher weißt du das?«
»Das steht hier auf einem Dokument, das wir
erhalten haben. Diese Frau ist offenkundig genauso intelligent wie
wahnsinnig. Sie hält sich für einen Condottiere der Renaissance,
übernimmt Namen und Verhaltensweisen dieser Zeit. Eines der
besonderen Merkmale ist der raffinierte Giftmord. Den wendet sie
jedes Mal an, und immer spielt sie ein kompliziertes Spiel. Daran
berauscht sie sich.«
»Sie dient jedem Herrn? Dann ist sie eine
Auftragsmörderin.«
»Nein. Der Mord ist nur ihr Mittel oder ihr
Vergnügen. Sie ist Spionin der ersten Liga. Der Text muss etwas
enthalten, was sehr viel Geld oder Macht bringt. Es kann nicht um
Planetenbahnen gehen.«
Ida zuckte mit den Achseln und rief in den Hörer,
den Barbro ihr zudrehte. »Dann kann es nur noch um seine Firma
gehen. Die Projekte bringen viel Geld.«
»Nein, es muss um viel mehr gehen. Sie beschafft
neueste technische Entwicklungen oder Atomwaffen für den Iran. Das
ist ihr Angebot. Und so hat sie auch Kullgrens Weg vor einiger
Zeit gekreuzt. Er hat sich mehrere Jahre lang nur mit ihr
beschäftigt. Der Mossad geht davon aus, dass sie brisante Dinge in
den Nahen Osten liefert, und sucht sie deshalb auf der ganzen Welt.
Und wer es schafft, zehn Jahre lang vom Mossad nicht gefasst zu
werden, ist sehr ausgebufft.«
»Ich weiß es nicht«, rief Ida. »Ich bin damit
überfordert.«
»Wir kommen zu euch und holen die Daten«, sagte
Theresa und legte auf.
Barbro ließ den Hörer sinken. »Sie muss völlig
wahnsinnig sein.«
»Theresa?«
»Und die andere.«
Die Tür sprang auf. »Kommt schnell!«, rief Linda.
»Wir zählen schon.«
Ida griff nach Lilly und folgte Barbro und Linda
hinüber ins Wohnzimmer. Nur ein Drittel der Gäste passte auf den
Balkon. Linda nahm ihre kleine Schwester auf den Arm, setzte ihr
eine Mütze auf und drängte sich hinaus.
Barbro und Ida blieben im Wohnzimmer.
»Wo ist Kjell?«, fragte Ida.
»Der kommt schon. Lass uns anstoßen.«
Es klingelte. Ida stellte ihr Glas ab und rannte in
den Flur. Nachdem sie die Tür aufgerissen hatte, wich sie
zurück.
Barbro konnte die Frau nicht sehen, begriff aber
sogleich, dass sie selbst sie hierhergeführt haben musste. Bestimmt
hatte sie vor dem Polizeigebäude gelauert und gewartet, bis jemand
von der Reichsmord herauskam. Sie ging zur Tür und beschloss
unterwegs, sich dumm zu stellen. Sie hob wie Ida die Hände.
Die Frau war mittelgroß und konnte ihrem Aussehen
nach alles sein, Europäerin, Israeli und sogar Schwedin. Es war
kein Wunder, dass man sie nicht fing. Nur ihre Augen funkelten. Mit
der automatischen Pistole konnte sie ein Blutbad anrichten,
und wie Barbro sie inzwischen einschätzte, würde sie nicht
zögern.
Ihre ersten Worte ließen keinen Zweifel: Sie
stammte aus Amerika. »Hol das Mädchen!«, sagte sie auf Englisch und
warf einen Blick zum Wohnzimmer, wo Lindas Freundeskreis sich um
die Balkontür drängte.
»Welches Mädchen?«, fragte Barbro, obwohl ihr
gerade ein Licht aufging.
»Das in der Wohnung war.«
Hulda hatte bei Elin eine Kopie des Artikels
gefunden, das wurde Barbro jetzt klar. Den Ausdruck der vorletzten
und korrekten Fassung. Und die Frau vor ihr musste inzwischen
dasselbe wie Ida bemerkt haben: Die Fassung aus Ardelius’ Wohnung
war eine Täuschung.
»Die ist hier nicht«, antwortete Barbro und spürte
Idas irritierten Blick auf sich gerichtet. »Da musst du schon nach
Island fahren.« Die Frau sah Barbro durchdringend an. Hulda hatte
sie ausgetrickst. Eigentlich hatte Barbro die Gefahr abwenden
wollen, tatsächlich aber erst heraufbeschworen. Der Artikel
bedeutete Barbro nichts. Sie würde dafür kein Risiko eingehen. »Du
willst den Artikel, oder? Den haben wir.« Sie drehte sich zu Ida.
»Hol den Artikel, Ida!«
Ida reagierte mit einem wütenden Zwinkern.
»Er liegt in dem Zimmer dort«, fügte Barbro hinzu,
um die Sache unumkehrbar zu machen, denn Ida war augenfällig nicht
bereit, den Artikel preiszugeben.
Die Frau richtete den Lauf auf Ida. »Du hast fünf
Sekunden.«
Ida rannte los. Barbro ließ erleichtert die Hände
sinken. Warum sie sie wie im Fernsehen hochgenommen hatte, wusste
sie nicht. Die Frau war sehr ruhig und zeigte keine Nervosität. Das
war ein gutes Zeichen.
Ida kehrte mit dem Stapel zurück und streckte ihn
der Frau hin. Die fasste ihn mit der freien Hand und lockerte den
Griff
der anderen um die Waffe nur, um den Stapel durchzublättern.
Sie wusste genau, welche Stellen sie prüfen musste.
Überall leuchteten rote Anstreichungen, die Ida gemacht hatte.
Anscheinend war sie zufrieden. Sie griff nach der Klinke und
säuselte: »So long!«
Die Tür flog mit einem Krachen zu.
Ida und Barbro standen reglos da. Einige
Jugendliche hatten den Vorfall vom Wohnzimmer aus bemerkt und
strömten in den Flur.
»Sie glaubt, dass es keine weiteren Kopien gibt«,
stammelte Barbro. »Oder es ist ihr egal.«
»Zum Glück! Schnell! Der Schrank da!« Ida zwängte
sich in den Spalt zwischen der Wand und dem Schrank und schob ihn
zur Tür. Die anderen begriffen und halfen ihr.
»Sie kommt nicht zurück«, sagte Barbro. »Sie hat,
was sie wollte.«
»Hat sie nicht«, ächzte Ida und gab dem Schrank mit
ihren dünnen Armen einen Schubs.
Lindas Bilder fielen vom Aufprall von den Wänden.
Linda kam angelaufen und jammerte.
»Setz dich mit Lilly in die Badewanne«, befahl Ida.
»Der Schrank reicht nicht.« Sie zog einen von Lindas Freunden mit
sich ins Wohnzimmer. Von dort schleppten sie eine Kommode herbei.
»Ich konnte es nicht zulassen«, sagte Ida, während sie mit dem
Jungen die Kommode auf den umgefallenen Schrank hievte.
»Hast du ihr etwa die falsche Version
gegeben?«
Ida rieb sich die Hände. »Eine Mixtur, die nicht
funktionieren wird.«
»Bist du wahnsinnig?! Sie hatte eine automatische
Waffe auf dich gerichtet. Hast du nicht verstanden, wie gefährlich
sie ist?«
»Genau da habe ich es verstanden. Sie ist nicht
gefährlich. Gefährlich ist der Artikel. Die Zahlenmatrix und der
ganze Aufsatz ist ein universeller Primzahlenfaktorierer. Ich habe
nicht militärisch genug gedacht, deshalb ist es mir nicht in den
Sinn gekommen.«
»Was macht ein Primzahlenfaktorierer?«
»Er faktoriert Primzahlen in Produkte und kehrt
damit jede Verschlüsselung um. Ardelius hat so lange gezögert und
sich bedeckt gehalten, weil er erkannt hat, wie gefährlich diese
Matrix ist. Er wollte nicht wie Einstein die mächtigste Waffe
seiner Zeit bauen und es danach bereuen. Aber ohne die Matrix ist
seine Theorie nichts wert. Leider war er so naiv, jemandem in den
USA in einer E-Mail mitzuteilen, dass er dynamische Systeme
mathematisch beschreiben kann. Da wird jeder Geheimdienst
hellhörig.«
»Die Polizei kommt!«, rief jemand vom Balkon.
Barbro trat hinaus. Ihre erste Befürchtung war,
dass sich der Vorfall von Ardelius’ Wohnung wiederholen könnte,
aber als Theresa und einige andere aus den vier Fahrzeugen stiegen,
beugte sich das Mädchen, das neben Barbro stand, weit über die
Brüstung, fuchtelte mit den Armen und schrie. Unten sahen alle zum
Balkon hinauf.
»Sie ist aufs Eis gerannt. Da lang!«
Die Horde vor dem Haus begriff nicht, wer aufs Eis
gerannt war, deshalb rief nun auch Barbro.
Theresas Erkenntnisse waren niemals tief, aber
immer schnell. Sofort rannte sie mit drei Männern zum Steg.
»Du bist Cissi, oder?«
»Klar!«, sagte das Mädchen neben ihr.
Das ist aussichtslos, dachte Barbro. Die
Condottiera hatte ihre Flucht geplant. In ihrem hellgrauen
Klempneranzug wurde sie auf dem Eis nach zwanzig Metern unsichtbar.
Und dort standen ihr alle Richtungen offen. Wahrscheinlich
hatte sie mit ihrem gesamten Plan gewartet, bis es schneite.
Die andere Hälfte der Mannschaft war
hinaufgekommen, begriff aber lange nicht, dass die Insassen der
Wohnung erst alle Möbelstücke von der Tür wegschaffen
mussten.
»Seid ihr vom Militär?«, begrüßte Barbro die
Männer.
»KSI.«
Barbro berichtete, wer gerade zu Besuch hier
gewesen war. Der KSI-Mann widersprach. Das könne nicht sein. Die
Säpo habe herausgefunden, dass die Mörderin mit falschem Namen nach
Island gereist war.
»Ihr irrt euch«, sagte Barbro und erklärte, was die
Frau gewollt und was sie bekommen hatte. Im Gesicht des Mannes
deutete eine kaum wahrnehmbare Entspannung der Muskeln auf
Erleichterung hin.
»Wir wissen leider nicht, was an dem Artikel so
besonders sein soll«, log Barbro, bevor Ida auch nur einen Ton
sagen konnte.
»Das braucht ihr auch nicht zu wissen. Wir müssen
alles mitnehmen und die Wohnung durchsuchen.«
Dazu musste das KSI jedoch an Ida vorbei. »Auf dem
Computer sind alle Babyfotos und meine Unterlagen. Das kommt
überhaupt nicht in Frage.«
Der Anführer blinzelte. »Wir werden auf die
Babyfotos achtgeben.«
Nun musste das KSI nur noch an Barbro Setterlind
vorbei. Dass sich das KSI so zu erkennen gab, war für sie ein
klares Zeichen. Sie wissen, welches Geheimnis der Aufsatz enthielt,
dachte Barbro, und Ida verstand es auch. Anscheinend hatte das KSI
Elins Computer endlich geknackt. Nun ging es nur noch darum, dass
nur das KSI in Zukunft Primzahlen faktorisieren konnte und kein
anderer.
»Wühlt ihr etwa auch in unserem Büro?«, fragte
Barbro.
»Natürlich. Das KSI macht so gut wie nichts anderes
als wühlen.«
»Ich würde gern mit dem Justizkanzler telefonieren.
Reine Routine.«
»Das kannst du, aber heute wirst du keinen finden,
der nicht auf unserer Seite ist.«
93
Hier musste es sein: Regeringsgatan 86, erste
Etage. Kjell legte den Kopf in den Nacken und ließ seinen Blick an
den sanft geschwungenen Formen der Fassade entlangwandern. Das Haus
war etwa ein Jahrhundert alt. Er deutete mit dem Kinn hinauf zum
Fenster in der ersten Etage. »Es brennt tatsächlich Licht!«
»Dann klingeln wir«, sagte Tholander, in dessen
Innerem sich die Zahnräder selbst in einem Augenblick wie diesem
einfach weiterdrehten.
Eine Frauenstimme meldete sich aus der
Sprechanlage.
»Wir sind von der Polizei«, antwortete Kjell.
»Könntest du uns hereinlassen?«
Im Treppenhaus hörte Kjell, wie oben die Tür
quietschte. Noch auf den letzten Stufen wünschte er ein frohes
neues Jahr, damit die Frau sich nicht fürchtete.
»Euch auch. Seid ihr von der Säpo?«
»Nein«, antwortete Kjell und klappte seinen Ausweis
auf.
»Ja«, antwortete Tholander und tat dasselbe.
»Wie kommst du darauf, dass wir von der Säpo
sind?«, fragte Kjell.
Die Frau hatte weißes Haar, doch das war das
Einzige, was an ihr wirklich alt aussah. »Die war früher immer für
uns zuständig. Im Reichstag, wisst ihr.«
»Ja, deswegen kommen wir. Wir suchen Elsa
Wetterstig.«
»Die bin ich. Kommt nur herein.«
In der Wohnung musste es über dreißig Grad warm
sein. Kjell und Tholander zogen im Flur ihren Mantel aus. Doch
außer der Hitze und dem sorgsam arrangierten Blumenduft verriet
nichts, dass hier eine alte Dame lebte. Die Möbel waren alle neu
und aus hellem Holz. Dem gleichen hellen Holz wie der Plenarsaal
des Reichstags. Das war bestimmt kein Zufall, dachte Kjell.
Elsa Wetterstig war alleinstehend, aber alles
andere als allein. Im Wohnzimmer saßen sechs weitere Damen an einem
runden Tisch. Sie freuten sich über den Herrenbesuch.
»Habt ihr gemeinsam den Jahreswechsel gefeiert?«,
fragte Kjell, nachdem sie Platz genommen hatten. Zwischen ihm und
Tholander hatte Elsa einen Puffer von zwei Damen vorgesehen.
»Wir feiern alles zusammen«, lautete die
Antwort.
Kjell willigte ein, auf das neue Jahr anzustoßen,
weil die Damenrunde so kultiviert wirkte. Keine war unter siebzig.
Au- ßerdem wollte er beobachten, wie Tholander an dem
bernsteingelben Likör nippte. »Wir kommen in einer dringenden
Angelegenheit«, begann er dann und wandte sich an Elsa. »Nach
unseren Informationen warst du von 1971 bis 1998 als Protokollantin
im Reichstag beschäftigt.«
»Nicht nur ich. Alle hier.«
Die Damen nickten. Kjell fischte seinen Notizblock
aus der Hosentasche. »Ist eine von euch Solveig Ehrsson?«
»Das bin ich!«
»Ich bin Charlotta«, sagte eine andere.
»Und ich bin Martha.«
»Ich bin Gull-Britt«, meldete sich die Letzte. Sie
hatte auch noch goldgelbe Locken.
Kjell starrte auf seine Liste. Dort standen genau
diese Namen.
Eine Stunde lang hatte er zusammen mit Tholander herauszufinden
versucht, welche Angestellten zum entscheidenden Zeitpunkt im
Schreibbüro des Reichstags gearbeitet hatten. Sie hatten nur
deshalb mit Elsa begonnen, weil sie damals die Chefin gewesen war.
Und nun saßen sie hier alle an der runden Tafel. Offenkundig
erfasste auch Tholander diesen dramaturgischen Glanzpunkt, doch
wegen seiner seelischen Trockenheit fühlte er sich darin
unwohl.
»Ihr habt also alle im Herbst des Jahres 1982 im
Reichstag gearbeitet?«, erkundigte sich Kjell.
»Ja.«
»Dann könnt ihr euch vielleicht an eine Frau mit
dem Namen Ellen Johansson erinnern. Sie war damals eine Kollegin
von euch. Von 1980 bis 86.«
Mit einer kleinen Verzögerung nickten Elsa und
darauf auch die anderen.
»Im Sommer 1982 habt ihr alle einen Ausflug nach
Lissabon gemacht, eure ganze Abteilung.«
»Es handelte sich nicht um einen Ausflug«, sagte
Elsa. »Der Europa-Ausschuss ist damals dorthin gereist, und wir
haben ihn zum Mitstenografieren begleitet. Aber es war nicht die
ganze Abteilung. Ein halbes Dutzend vielleicht.«
»Ich war nicht dabei«, wandte Charlotta ein. »Ich
konnte kein Englisch.«
»Die Teilnehmer wurden nach ihren
Fremdsprachenkenntnissen ausgewählt«, erklärte Elsa. »Aber wer das
war, weiß ich nicht mehr.«
»War Ellen Johansson dabei?«
»Ja.«
»Warum bist du dir sicher?«
»Es gab Schwierigkeiten. Ich war als Chefin dafür
verantwortlich.«
»Was für Schwierigkeiten gab es denn?«
»Ellen war plötzlich verschwunden. Sie hat etwas
mit einem Einheimischen angefangen und sich zwei Tage lang nicht
gemeldet.«
Die anderen lehnten sich interessiert vor.
Offenkundig wussten sie nichts von dem Vorfall. Elsa hatte ihn
damals wohl diskret behandelt.
»Es gab einen weiteren Vorfall«, sagte Kjell.
»Später, hier in Stockholm.«
Elsa nickte. »Ellen hat ein Kind bekommen.«
»Das meine ich nicht. Kurz nach eurer Rückkehr
kreuzte ein Mann im Büro auf.«
Elsa nickte, daraufhin nickten auch die anderen.
Davon wussten sie.
»Nach meiner Kenntnis wollte er Ellen Johansson
sehen«, sagte Kjell.
»Sie war an jenem Tag nicht da. Ich habe sie
angerufen.«
»Ahntest du damals, dass er Ellens Affäre in
Lissabon war?«
»Natürlich. Er kam ja aus Lissabon. Den
Zusammenhang habe ich sofort begriffen.«
»Er hat bei seinem Besuch hier in der Stadt
allerdings nicht erfahren, dass er Vater würde?«
»Ellen ließ sich verleugnen. Sie war immer recht
sonderbar. Sie war ein wunderbarer Mensch, aber ohne jedes Gefühl
für Gemeinschaft. Irgendwann ist sie weggezogen aus Stockholm. Wir
wissen nicht, was sie heute macht.«
»Ihr habt den Mann damals im Büro also alle
gesehen?«
»Das haben wir.«
»Er war sehr schön«, ergänzte Charlotta. »Ein wenig
älter als Ellen war er, aber genauso, wie ein Portugiese sein
muss.«
Tholander reichte Kjell das Kuvert über den Tisch.
Der nahm drei großformatige Bilder heraus und breitete sie auf dem
Tisch aus. »Ist es dieser Mann?«
Die Reaktion fiel nicht gerade eindeutig aus. Elsa
und Charlotta zogen je einen Abzug zu sich heran. Martha suchte
nach ihrer Lesebrille.
»Euer Urteil ist für uns von höchster Wichtigkeit.
Ellens Tochter Sofi ist heute siebenundzwanzig Jahre alt …«
Charlotta ließ ihre Hände auf die Tischplatte
sausen. »Natürlich! Sofi hieß das Mädchen! Die hatte ganz schwarzes
Haar. Wie der Portugiese.«
»… und arbeitet als meine Assistentin bei der
Reichsmordkommission«, nahm Kjell den Faden wieder auf. »Wir
ermitteln in einem Fall, wo ein Mann dieses Alters und mit einem
solchen Hut die Schlüsselfigur ist.« Kjell nahm das Phantombild aus
der Mappe, mit dem sie Ardelius gesucht hatten.
Die Frauen verstanden noch nicht recht. Sie
verglichen die Fotos von dem Mann, der vorhin vor Sofis Tür
gestanden hatte, mit der Phantomzeichnung von Ardelius. Das hatte
Kjell einem Foto von Ardelius’ Leiche vorgezogen, weil er darauf
natürlich keinen Hut trug.
»Hm«, meinte Elsa. »Die sind beide im selben Alter
und tragen einen Hut. Wollt ihr nun von uns wissen, ob der Mann auf
den Fotos der Mann auf der Zeichnung ist?«
»Nein. Das könntet ihr ja nicht besser beurteilen
als wir. Ich möchte wissen, ob der Mann auf dem Foto Ellens
Liebhaber aus Portugal ist. Das behauptet er nämlich. Und er
behauptet, Sofis Vater zu sein.«
Elsa Wetterstieg wog das Foto und die
Phantomzeichnung in den Händen. »Verstehe ich das richtig? Die
beiden sehen sich verflixt ähnlich. Wenn der auf dem Foto
tatsächlich der Mann ist, den wir kennen, dann hat der überhaupt
nichts mit deiner Ermittlung zu tun, weil er Sofis Vater ist,
ja?«
Kjell lächelte verkrampft. »Genauso ist es.«
Der Chor der pensionierten
Reichtstagsschreiberinnen seufzte.
»Der angebliche Vater taucht also mitten in deiner
Ermittlung auf und sieht aus wie dein Hauptverdächtiger. Wieso
taucht der erst jetzt auf?«
Kjell und Tholander tauschten einen kurzen, aber
verzweifelten Blick. Die Damen hatten sie in Hand.
»Irgendwie erfuhr er zwei Jahre nach dem Vorfall in
Lissabon, dass Ellen Johansson nicht mehr in Stockholm, sondern in
Karlstad wohnt und in einem Krankenhaus liegt«, erklärte Kjell
also. »Er reiste dorthin, um sie zu besuchen. Das Krankenhaus war
aber in Wahrheit ein Sanatorium. Ellen wurde kurz nach ihrem Umzug
nach Westschweden eingewiesen, wegen einer schweren Schizophrenie,
die organisch war. Zu sehen bekam er sie damals nicht. Er kehrte
nach Portugal zurück. Vor kurzem kam sie ihm wieder in den Sinn.
Als er sich erkundigte, was aus ihr geworden war, erfuhr er, dass
sie bereits vor siebzehn Jahren an einem Schlaganfall gestorben
ist.«
»Das arme Kind. Wie alt war Sofi damals?«
»Etwa zehn. Sie ist bei einer Pflegefamilie in
Westschweden aufgewachsen. Nach Stockholm kehrte sie erst während
des Studiums zurück. Von der Verwaltung des Krankenhauses erfuhr er
beiläufig, Ellen Johansson habe eine Tochter. Wie er 1982 auf die
Idee kam, Ellen könnte von ihm ein Kind erwarten, weiß ich nicht,
aber als er jetzt hörte, dass Ellen tatsächlich eine Tochter hat,
die im richtigen Alter ist, um damals in Lissabon gezeugt worden
sein zu können, da hat er nicht mehr losgelassen. Das Amt in
Karlstad fand für ihn heraus, wo diese Tochter heute lebt. Und
dabei kam heraus, dass Sofi genau neun Monate nach Lissabon geboren
wurde. Im Volksbuch war kein Vater eingetragen. Angeblich ist er
schon seit Wochen hier in Stockholm. Es hätte ja sein können, dass
Ellen damals viele Männer hatte. So stellte er sich als Südeuropäer
die Sitten hier in Schweden vor. Sofis Teint gab ihm die
Gewissheit, dass der Vater nie und nimmer Schwede sein kann.«
Tholander hatte ein Porträt von Sofi parat. Ihre
schwarzen Haare verzückten die alten Damen.
»Heiligabend wollte er bei ihr klingeln.«
»Als Weihnachtsgeschenk«, murmelte Tholander.
»Aber sie war nicht da. Sie haben sich mehrmals
verpasst.«
Der Vater hatte ihr Nachrichten hinterlassen. Worte
wollte er dabei nicht gebrauchen, deswegen hatte er
gezeichnet.
»Verstehe ich dich richtig?«, sagte Elsa. »Sofi
weiß gar nicht, dass er ihr Vater ist?«
»Das Einzige, worüber ich mir bei Sofi Johansson
sicher bin, ist, dass sie nicht weiß, wer ihr Vater ist. Auf dieser
Ungewissheit beruht ihr gesamtes Wesen.«
Elsa betrachtete wieder das Foto des Mannes und
seufzte. »Es ist bald dreißig Jahre her. Ihr bei der Polizei habt
doch Methoden, um herauszufinden, ob er ihr Vater ist!«
»Leider ist Sofi seit gestern verschwunden, und
heute klingelt er an ihrer Tür und tischt uns diese Geschichte auf.
Er sitzt jetzt im Untersuchungsgefängnis. Ohne Beweis lassen wir
ihn nicht frei, solange Sofi nicht wieder auftaucht.«
Und wenn dieser Mann ihr Vater war, verringerte
sich die Wahrscheinlichkeit, dass Sofi gegen ihren Willen
verschwunden war. Sie konnte dann zwar immer noch in der Hand der
unbekannten Frau sein, aber alle unerklärlichen Ereignisse, die in
der vergangenen Woche in Sofis Privatleben vorgefallen waren,
hätten nichts mit dem Fall zu tun.
»Das kannst du uns nicht weismachen«, sagte
Charlotta. »Ihr habt doch bestimmt genetische Gegenproben von allen
Polizisten. Und ihre Wohnung wird ja nicht auch verschwunden sein.
Da müsst ihr nur eine Haarprobe nehmen.«
»Ja.«
Charlotta lächelte milde. »Du traust dich nicht
ohne ihre Einwilligung.«
»Ja.«
»Hast du die Geschichte von damals heute Abend von
ihm erfahren?«
»Ja.«
Elsa legte die Fotos von Sofi und ihrem angeblichen
Vater vor Kjell auf den Tisch. Wenn man sie nebeneinanderlegte, war
die Ähnlichkeit frappierend. »Dann hast du die Antwort bereits«,
sagte sie. »Meine brauchst du nicht.«