MONTAG 31. DEZEMBER

81

Barbro zog ihren Morgenmantelknoten fester. »Passwort? Da klingelt bei mir gar nichts.«
Sie blickte auf den kleinen Bildschirm neben ihrer Wohnungstür und wartete ab, wie die beiden Säpo-Agenten unten vor dem Haus reagieren würden.
Der eine, der einen Schritt hinter dem anderen stand, begann sich links und rechts auf dem Strandvägen umzusehen, was Barbro als eher schlechtes Zeichen deutete. Das Haus der Setterlinds war jedoch eines der bestgesicherten Häuser am Strandvägen. An dieser Tür würden die beiden scheitern. Barbro erwog, die rote Taste neben dem Monitor zu drücken, entschied sich dann aber für die gelbe. Damit konnte man einen Abzug des Kamerabildes speichern. Zum Beispiel, um anderen damit später das Leben zur Hölle zu machen. Diese Sonderfunktion war bei allen Nachbarn beliebt, die erst vor kurzem zu Vermögen gekommen waren und seinen Segen noch genießen konnten.
Barbro war sich darüber im Klaren, dass sie die beiden nicht aufhalten, sondern nur ein bisschen ärgern konnte. Das hatte sich bei einem Telefonat mit dem Justizkanzler am gestrigen Abend herausgestellt. Sein Rat war unmissverständlich: Dem Exekutivbefehl der Säpo durfte sie sich nicht widersetzen. Natürlich sah das schwedische Recht eine Einspruchsmöglichkeit beim Rechtsausschuss des Reichstags vor. Später allerdings, wenn die Sache gelaufen war.
»Doch«, sagte der andere gelassen, obwohl einen verdächtigen Augenblick zu spät. »Deine Fingerabdrücke sind auf den Tasten, und die von Sofi Johansson auch. Deswegen stehen wir hier.«
Dank der Abdrücke wusste man sogar, welche Zeichen das Passwort enthielt, die beiden Agenten standen nur noch wegen der richtigen Reihenfolge der Zeichen zu dieser frühen Stunde vor Barbros Tür.
»Wie kommt ihr darauf, dass wir das Passwort herausgefunden haben?«
Weil auch Funktionstasten gedrückt worden waren. »Wir brauchen ungefähr drei Tage ohne dich.«
»Ich will deinen Ausweis sehen.«
Der Mann klappte ihn auf und hielt ihn dicht vor die Kamera.
Barbro drückte wieder die gelbe Taste. Und dann auf die grüne. Das Türschloss summte. »Komm allein hoch.«
Die Setterlinds hatten bereits am Strandvägen gewohnt, als auf der anderen Seite der Straße noch Fässer über die Landungsstege gerollt wurden. Der Altadel renovierte seine Häuser behutsam. Deshalb konnte Barbro am Quietschen der Treppenstufen hören, dass er tatsächlich allein kam. In der Zwischenzeit notierte sie das Passwort auf eine alte Parkquittung.
»Das da«, sagte sie und überreichte ihm den Zettel.
Der Kerl war jung. Er betrachtete den Satz und runzelte die Stirn. »Wie habt ihr das herausbekommen?«
»Ihr solltet die Arbeit lieber Leute machen lassen, die etwas davon verstehen. Frohes neues Jahr, falls wir uns nicht mehr sehen!«
Barbro schloss die Tür und hätte am liebsten Kjell angerufen. Aber das ließ sie lieber bleiben. Auf dem Weg zum Ankleidezimmer schlüpfte sie aus ihrem Morgenmantel.

82

Durch die Vorderscheibe des Wagens war der letzte Tag des Jahres ein Sonnendezembertag. Die halbe Stadt hatte sich auf dem zugefrorenen Fjord versammelt. Irgendwo da draußen mussten auch die Mädchen sein. Linda hatte sich Schlittschuhe angezogen und Lilly auf den Schlitten gesetzt. Ihr Ziel war das Stadthaus gewesen, das von hier aus in der Sonne glänzte. Ihre Strahlen brachten den Staub auf dem Armaturenbrett zum Schweben.
Ein Polizeiwagen bremste auf der Fahrbahn. Kjell sah ihn im Rückspiegel langsam über den Kai auf sich zurollen. Als Einsatzleiter Tom-Olof Klingberg die Beifahrertür aufriss, wirbelte Eiswind herein und brachte den Stadtplan, den Kjell über dem Lenkrad ausgebreitet hatte, in Unordnung. Klingberg trug Uniform und hängende Schultern. Augenfällig erwartete er eine Zurechtweisung, weil seine Großfahndung nach der Frau mit dem Kinderwagen in der vergangenen Nacht ergebnislos verlaufen war.
Kjell deutete einladend auf die Thermoskanne neben Klingbergs Stiefeln. »Es gibt also keine einzige Spur von ihr?«
»Leider nicht.«
Wieder breitete sich Kaffeeduft im Wagen aus.
»Zufällig Appetit auf Butterkekse? Die haben meine Töchter für uns gebacken.«
Klingberg entschied sich für einen lädierten Stern. Den hatte Lilly ausgestochen.
»Wir sollten die Suche umstellen«, begann Kjell und tippte auf den Stadtplan. »Du bist ein ebenso systematischer Kopf wie eingebungsvoller Künstler bei Großfahndungen, Tom-Olof, das weißt du.«
»Aha.«
»Diesmal bist du auf einen Flüchtigen gestoßen, der dich ideal ergänzt. Wie diese entzweiten Herzen, die man zusammenstecken kann.«
»Was soll ich umstellen?« Zudem stand Klingberg noch die Frage ins Gesicht geschrieben, warum sie sich ausgerechnet hier treffen mussten, am Söder Mälarstrand. Von der anderen Straßenseite waren es nur hundert Schritte bis zu Ardelius’ Wohnung.
»Das hier ist genau die Stelle, wohin ich vorgestern Nacht gerannt bin«, erklärte Kjell. »Aber weil in beiden Richtungen keine Menschenseele zu sehen war, so weit das Auge reichte, bin ich zurück und hinauf zum Monteliusvägen, bis ich den Leuten von der Maria-Wache begegnete.«
Klingberg klappte seine Mappe auf. »Die haben sich im Viertelkreis von Ost bis Süd genähert. Im Westen kommt gleich der Guldfjärdsplan.«
»Guldfjärdsplan?«
Klingberg deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Die mit düsterem, gelbem Licht beleuchtete und heruntergekommene Großbushaltestelle unter der Centralbrücke, nach einhelliger Meinung aller Stockholmer die hässlichste Stelle der Stadt, hatte tatsächlich einen Namen. Guldfjärdsplan.
»Wir haben dort alle Überwachungskameras ausgewertet, auch oben am Södermalmstorg. Da ist sie nicht vorbeigekommen.«
»Was schließen wir daraus?« Kjell hatte dieses Treffen so akribisch vorbereitet, dass diese Frage direkt in die aktuelle Parkposition seines Wagens mündete.
»Sie muss sich in einem der Häuser in der Nähe verbergen«, antwortete Klingberg. Seiner Intuition waren also Grenzen gesetzt.
»Habt ihr die Häuser nicht durchsucht?«
»Das haben wir, aber eine andere Erklärung gibt es nicht. Wenn sie nicht senkrecht nach oben geflogen ist wie eine Silvesterrakete.«
Kjell strich den Stadtplan glatt und tippte auf Långholmen. »Ich habe dir doch erzählt, wie unser Fall aussieht. Neulich war ich beim Wetteramt. Bei der ersten Leiche wurde eine Unterwasserboje beschädigt, direkt vor der Stelle und zur gleichen Zeit. Wir hielten das lange für einen Zufall. Aber was kann einer Boje schon etwas anhaben?«
»Ein Schiffsrumpf. Oder der Kiel.«
»Sie nutzt die Geografie der Stadt äußerst kreativ. Sie ist mit einem Boot gekommen. Deshalb konnte sie die Leiche, den Schirm und den Liegestuhl ungesehen zum Ufer schaffen. Die beiden anderen Leichen fanden wir am Rand großer Parks. Die Sofiakirche liegt in Vita Bergen, umgeben von Hügeln und Bäumen, und der Sportplatz an der Nordgrenze vom Tantolunden. Wieder ein Park. Dahinter jeweils: das Wasser. Das ist das Geheimnis der Orte. Aber es gibt noch etwas, was sie uns verrät.«
»Da bin ich gespannt.«
»Ein Schiffsbug kann den Bojen eigentlich nichts anhaben. Die Bojen schweben an einem Seil im Wasser. Selbst wenn eine Kollision eigentlich stattfinden müsste, sorgt die Wasserverdrängung des Bugs dafür, dass die Boje zum Grund gedrückt wird, bevor der Bug sie berühren kann. Auch die dicke Eisdecke, die jetzt auf dem Wasser liegt, drückt die Bojen nach unten. Der Schaden ist nur durch einen Umstand zu erklären.«
»Einen Anker.«
»Genau. Ein kleiner Anker. Die Spitzen müssen so klein sein, dass sie in die Öffnung der Sensoreinheit am Kopf der Boje passen. Ein verdammter Zufall.«
»Und was verrät der Anker nun?«
»Das Allerwichtigste: Sie ist ganz allein.«
»Verstehe.«
»Das Boot war leer, während sie am Strand alles dekorierte. Neulich wusste ich davon nichts. Deshalb stand ich hier. Ich sah nach links und nach rechts, aber nicht geradeaus. Aufs Wasser.«
Klingberg starrte hinaus. Das Eis war so dick, dass man selbst die Fahrrinne in der Mitte längst aufgegeben hatte.
»Diesmal hatte sie natürlich kein Boot«, sagte Kjell. »Das ändert jedoch nichts am Fluchtweg. Man konnte gut auf dem Eis rennen. Ich habe das gestern Abend mit meiner Tochter nachgestellt. Sie trug einen hellgrauen Mantel. Nach dreißig Metern wurde sie unsichtbar.«
»Wie willst du die Suche denn ändern? Die Wasserschutzpolizei kann ja schlecht patrouillieren.«
»Ich will, dass du die Männer hier in der Stadt nach Hause schickst, damit sie am Abend feiern können. Du konzentrierst dich auf alle Möglichkeiten, wie die Frau das Land verlassen könnte. Ich werde dem Fernsehen gleich mitteilen, dass sie das bereits geschafft hat, aber euch beeinflusst das nicht.«
Klingberg starrte durch die Vorderscheibe des Wagens und drehte in seinem Kopf eine große Runde. Bei seiner Rückkehr hatte er verstanden. »Du willst sie in Sicherheit wiegen. Wieso glaubst du, alles wäre vorbei?«
»Wegen der Wohnung«, antwortete Kjell. »Der Kerl hatte alles in seinen Safe gepackt, als wollte er seine persönlichen Sachen in Sicherheit bringen. Der Safe war so voll, dass uns die Sachen beim Öffnen der Tür entgegenfielen. Auf seinem Schreibtisch lag dagegen nur ein Manuskript und darauf sein toter Kopf.«
Die Frau war auf dieses präparierte Arrangement angesprungen und hatte das Manuskript mitgenommen. Daran hatte Kjell die ganze Nacht denken müssen.
»Ardelius hätte es für die Frau auch gleich unter den Weihnachtsbaum legen können, meinst du das?«
»Das hätte er«, fand Kjell. »Aber er hatte keinen.«

83

Sonst gab es nichts, worüber Barbro Setterlind nicht stehen konnte. Früher hatte Kjell ihre maßlose Gelassenheit für angeboren gehalten, mittlerweile war ihm die Erkenntnis gekommen, dass ihr als Millionenerbin einfach die Erfahrung fehlte, sich in ihrer Existenz bedroht zu fühlen.
Er hatte Barbro nie so empört gesehen. Sie war schon im Besprechungszimmer herumgelaufen, als er ankam.
»Ich hätte doch auf die rote Taste drücken sollen!«, jammerte sie.
»Was wäre dann passiert?«
»Der Wachschutz wäre im Nu gekommen und hätte die beiden dem Schicksal jedes Hausierers zugeführt.«
»Wohl kaum. Sie hätten einfach ihren Ausweis gezückt und notfalls ihre Knarren.«
»Eben deshalb bereue ich es so!« Sie warf das angebissene Gebäck auf den Teller und rauschte in ihr Büro. »Sieh dir das an«, rief sie von drüben. »Ich habe den ganzen Musterkatalog durchgeblättert. Diese Ausweise gibt es bei der Säpo nicht.«
Die Ausweise sahen wirklich sonderbar aus. »Wie bist du darangekommen?«
»Er hat ihn in die Hauskamera gehalten. Da habe ich abgedrückt.«
»Diese Ausweise gibt es nicht?«
»Nein. Wenn wir Pech haben, waren das gar keine Polizisten.«
Kjell stand von seinem Stuhl auf. In seiner Schreibtischschublade kramte er nach der Lupe. Die beiden Kerle mussten zur Säpo gehören, denn was hätte ihnen das Passwort gebracht, wenn sie die Daten gar nicht besaßen? Wie Sherlock Holmes kehrte er ins andere Zimmer zurück. »Sieh dir mal das Wappen an.«
Barbro ließ die Lupe über dem Papier kreisen. Ihre Stirn legte sich in Falten. »Sieht komisch aus.«
»Das Drei-Kronen-Wappen ist dasselbe wie bei uns. Aber bei uns liegt das Wappen auf zwei gekreuzten Beilen.«
»Und hier auf einem Schwert. Das Militär. Das ist das Wappen des Militärs.«
»Beim Militär zeigt die Spitze des Schwertes nach oben«, bemerkte Kjell. »Hier zeigt sie nach unten.«
»Ein Fälschung.«
Kjell schüttelte den Kopf. »Die beiden waren vom KSI.«
Über das KSI war so gut wie nichts bekannt. Es war ein Teil des militärischen Nachrichtendienstes MUST. Vor Jahren war das KSI wegen der IB-Affäre in die Schlagzeilen geraten: Reporter hatten die Existenz des KSI herausgefunden. Das war auch für den Souverän Schwedens eine hübsche Überraschung gewesen. Während Reichstag und Volk das KSI also kennenlernten, erfuhr man zugleich, dass das KSI die Sicherheit des Reiches durch Berichte und Akten sicherte. Darin konnten Linke und Aufmüpfige über sich lesen wie in ihrem privaten Tagebuch. Daraufhin hatte es zuerst Bestürzung, dann einen Untersuchungsausschuss und schließlich die erforderlichen Veränderungen gegeben: Das IB, das Informations-Büro, hatte seine Telefonnummer und seinen Namen in KSI, Büro für Einsätze der besonderen Art, geändert. Der neue Name passte ohnehin besser zur Aufgabe des KSI, ausländischen Botschaften nächtliche Besuche abzustatten.
»Wir hätten also eine neue IB-Affäre«, sagte Kjell. »Das KSI weckt Barbro Setterlind am frühen Montagmorgen und bringt sie dadurch in Rage.«
Barbro verkrampfte sich am ganzen Körper. »Wie sicher bist du dir?«
»Überhaupt nicht sicher. Aber möglich ist es. Als ziviler Geheimdienst arbeitet die Säpo oft mit dem militärischen Nachrichtendienst zusammen. Ich kann mir gut vorstellen, dass die KSI-Leute generell für Verschlüsselungen zuständig sind. Auch bei Elins Computer.«
Barbro seufzte. Das würde erklären, warum diese Typen bei ihr geklingelt und das Passwort verlangt hatten. Allerdings hatte die Säpo ihre eigene Kryptografie-Abteilung. Barbro war nicht ganz davon überzeugt, dass die beiden Geheimdienste nicht noch aus einem anderen Grund als zur Ersparung von Personalkosten zusammenarbeiteten. Die beiden Typen vor ihrer Haustür hatten ein wenig zu eifrig gewirkt.
»Ich habe mich vorhin mit Einsatzleiter Klingberg getroffen«, sagte Kjell. »Seit dreißig Stunden suchen sie. Ohne jeden Erfolg. Man muss einiges auf dem Kasten haben, wenn man da nicht ins Netz geht.«
Barbro öffnete ihre Haarspange, strich alles nach hinten und befestigte die Spange wieder. Jetzt saß es schön straff. »Willst du damit sagen, die Frau könnte auch zum KSI gehören?«
»Über den KSI ist so gut wie nichts bekannt«, sagte Kjell.
»Sie kann doch zu einem ausländischen Dienst gehören.«
»Dann würde die Säpo mit uns zusammenarbeiten, um die Sache aufzuklären. Sie setzen aber alles daran, die Sache zu vertuschen.«
»Dann wäre das KSI in einen Dreifachmord verwickelt. Es gibt nicht den geringsten Hinweis, dass einer unserer Geheimdienste je einen Mord begangen hätte. Und schon gar nicht an drei unbeteiligten Frauen. Das klingt wie ein amerikanischer Thriller.«
»Stumpfsinnig?«
Barbro stöhnte. »Ich meinte: Als wäre es ganz natürlich, dass man drei Menschen tötet, um ein Ziel zu erreichen. Als wäre das je bei uns vorgekommen!«
»Ich finde es plausibler als eine verrückte Serienmörderin.«
Im Nebenraum klingelte ein Telefon. Kjell hielt sich für gesammelter als Barbro und stand auf. Nach dem Abheben meldete sich Jonas Gulliksson von der Kryptografie.
»Das Passwort, das deine Kollegin uns gegeben hat, stimmt nicht.«
Jetzt hatte die Säpo einen Fehler gemacht. Gulliksson gehörte zur Säpo. Die Säpo versuchte also selbst, den Computer zu entschlüsseln. »Uns?«, fragte Kjell. »Seit wann bist du denn beim KSI?«
Das war nur ein Versuch. Der jedoch kläglich scheiterte.
»Weiß ich nicht. Mit den Agenten habe ich nichts zu tun. Wir sitzen hier in einem fensterlosen Raum, und die Wände sind mit Aluminium tapeziert.«
»Was hast du eingegeben?«
»I’m good for magic. And magic is good for me!«
»Das müsste klappen«, sagte Kjell wie das Hotline-Fräulein von Telia. »An uns kann es nicht liegen.«
»Ich brauche zweiunddreißig Hexziffern.«
Kjell blickte auf den verlassenen Stuhl von Sofi. Jeden Morgen änderte sie zuerst ihr Passwort, gleich nachdem sie ihren Tisch mit dem blauen Lappen abgewischt und den Lappen zum Trocknen auf die Heizung gelegt hatte. Er lächelte. »Was sagt Sofi Johansson dazu?«
»Sie kann uns nicht helfen.«
»Wieso?«
»Die Agenten sagen, dass sie verschwunden ist.«
»Verschwunden?«
»Angeblich ist sie gestern Abend zu dem Tanzstudio gefahren und nicht mehr heimgekommen.«
Kjell sah aus dem Fenster. Dort berührte die Sonne gerade die Dachgiebel auf der anderen Seite des Parks. Die Beleuchtung änderte sich dramatisch. »Das macht gar nichts. Wir haben die Daten. Ich komme gleich mal runter und bringe sie euch. Melde mich bitte beim Empfang.«
 
Nachdem sich die Aufzugtür im dritten Stock geöffnet hatte, konnte Barbro kaum Schritt halten. Auf der einen Seite wollte sie auf keinen Fall verpassen, was gleich geschah, auf der anderen wäre sie lieber oben geblieben.
Die Empfangsdame öffnete, als sie sich näherten.
»Wo ist Tholander?«, fragte Kjell. »Ich spreche nur mit ihm.«
Die Sekretärin nickte und konsultierte ihren Plan. »E9. Das ist der Besprechungssaal ganz hinten.«
Kjell öffnete, ohne anzuklopfen. Hinter der Tür saß eine Gruppe von Männern und Frauen wie eine Schulklasse vor einem Mann.
»Bist du Tholander?«, fragte Kjell.
Der Mann nickte.
Kjell steuerte geradewegs auf den provisorischen Generaldirektor zu und versetzte der Stuhllehne einen Tritt. Ohne sich voneinander zu trennen, kippten Tholander und der Stuhl um und lagen am Boden.
»Ich habe alle zweiunddreißig Ziffern in meinem Kopf. Ich gebe dir Zeit bis Mitternacht. Dann komme ich mit einem Knüppel zurück, wenn du Sofi Johansson bis dahin nicht unversehrt bei mir ablieferst. Hast du verstanden?«
Tholander nahm seinen Unfall mit asiatischer Gelassenheit hin. Er rappelte sich auf und brachte seine Brille in Ordnung. »Ich glaube nicht, dass du das tun wirst«, sagte er.
»Du hast mein Ehrenwort. Deine Aufstiegsphantasien sind vorüber.«

84

Karl Gregersiö wartete in aller Seelenruhe am Gepäckband auf seinen Koffer. Plötzlich stieß ein Gepäckwagen gegen seine Knie. Er wich zurück. Die Frau, die den Wagen lenkte, lächelte.
»Hej! Ich bin’s. Theresa!«
Karl Gregersiö nickte knapp. Er würde eine Herausforderung für sie werden, das erkannte Theresa sofort. In seinem Gesicht regte sich nichts. Bei seinem Einheitsgesicht mit meliertem Haarkranz und dem blauen Anzug hatte sie Schwierigkeiten gehabt, ihn in der Menge zu entdecken, und beim Kontaktaufnehmen mit dem Gepäckwagen bereits zwei Fehltreffer hinter sich.
Sie war ihm erst einige Male begegnet und hatte nie ein Wort mit ihm gewechselt. Sie wusste nur, dass ihn alle im Haus Carlito nannten. Da er sie um zwei Köpfe überragte, konnte sich der Spitzname nur auf seine Aura beziehen.
»Bist du sauer, weil du nicht mit deiner Familie ins neue Jahr feiern kannst?«
»Da kommt mein Koffer, glaube ich.« Carlito schlängelte sich zwischen den Wartenden hindurch. Tatsächlich schien der Koffer, der allen anderen glich, seiner zu sein. Theresa manövrierte den Wagen hinterher.
»Am besten folgst du mir einfach. Mein Wagen steht auf dem Zollparkplatz. Da haben wir es nicht weit.«
Carlito nickte. Beim Anschieben schielte Theresa nach rechts und sah die beiden Säpo-Agenten hinter dem Ausgang mit ihrem handgemalten Namensschild zwischen den Taxifahrern und Abholern warten. Eins zu null für Theresa Julander, zwei zu null, wenn man ihre ausgiebige Vorbereitung bedachte. Sie lächelte vor sich hin, bis sie das Auto erreichten.
Die Fahrt verlief schweigend. Auf halber Strecke begann Theresa einfach ihren Rapport, den Carl Gregersiö schweigend entgegennahm. Wahrscheinlich feierte seine in Thailand zurückgebliebene Familie seine vorzeitige Abreise gerade mit Mai Tais, dachte sie.
Als sie eine Stunde später die Polizeigarage erreichten, war Carlitos Gesicht zwar so ausdruckslos wie zuvor, doch immerhin nickte er inzwischen fast doppelt so häufig wie zu Beginn.
»Hast du einen Schlüssel für Kullgrens Büro?«, fragte sie deshalb.

85

Die Parklücke war so klein, dass der Wagen mit dem Heck in die Garageneinfahrt ragte. Kjell überlegte, ob er zur Sicherheit das Blaulicht auf das Dach montieren sollte. Das hing davon ab, ob die drei Jungen, die zehn Meter weiter die ersten Raketen zum Himmel steigen ließen, davon abgeschreckt oder angelockt würden.
Alle Fenster der Långholmsgatan 7 leuchteten, auch die von Elin Gustafssons Wohnung. Die Tür war angelehnt. Per saß mit mildem Gesicht und gefalteten Händen am Tisch.
»Wo war es?«, fragte Kjell.
Per hob das Telefon, den einzigen Gegenstand auf dem Tisch, hoch und legte es wieder ab.
»Das Telefon? Habt ihr das neulich nicht mitgenommen?«
»Haben wir«, antwortete Per seelenruhig. »Ich kann natürlich nicht bei jedem Tatort davon ausgehen, dass die Wohnung von einem Geheimdienst verwanzt wurde.«
Kjell wollte etwas Ungehaltenes erwidern, besann sich jedoch. Er hatte ja selbst erst vor einigen Stunden erkannt, dass die Säpo bei diesem Fall eine andere Rolle spielte, als er vermutet hatte. Er verstand plötzlich, warum Kullgren sich als Leiter der Gegengruppe angeboten hatte.
Kjell nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz und wog das Telefon in den Händen. Es funktionierte drahtlos und bestand nur aus dem Hörer. »Hast du den Sender ausgebaut?«
»Das ist das Perfide daran. Das Telefon selbst ist der Sender.« Per wusste natürlich nicht, ob jemand die Wohnung betreten und bloß die Platine oder das ganze Telefon ausgetauscht hatte. »Das Modell bekommst du an jeder Ecke für tausend Kronen.« Das erklärte, warum die Techniker bei ihrem ersten Besuch nichts gefunden hatten. »Wir haben die Strahlung gemessen, aber das Telefon strahlt ja nicht. Es funktioniert nur beim Telefonieren.«
»Die Wohnung kann man damit nicht abhören?«
»Nein.«
»Weißt du, was das bedeutet?«
Per nickte. »Ein anderer steckt dahinter. Das ist nicht der Stil der Säpo. Um das Telefon abzuhören, müssen die nicht aus dem Haus gehen. Sie könnten sich bei der Telefongesellschaft eine Umleitung legen lassen, ohne dass es jemand nachweisen kann.«
»Und wenn es ein Manöver ist?«
»Das Telefon lag tagelang bei mir im Labor und war in der Inventarliste verzeichnet.«
»Die hätten es sich geholt?«
»Das ist sicher.«
»Und sonst?«
»Nichts. Weder bei ihren Eltern noch im Telia-Laden.«
Auch bei Judit Juholt und Filipa Lindenbaum hatte Per nichts gefunden. Also musste Elin eine besondere Bedeutung zukommen.
»Elins Name taucht in diesem Aufsatz auf«, fügte Per nach einer Weile der Stille hinzu.
»Daran denke ich gerade. Als Mitautorin. Wir haben sie falsch eingeschätzt.«
»Weißt du inzwischen, worum es in dem Text geht?«
Kjell prüfte auf seinem Telefon, ob Ida endlich angerufen hatte. Sie saß seit gestern in ihrem Arbeitszimmer und studierte den Aufsatz. Drei Wochen brauchte sie unter normalen Umständen, um einen Text dieses Kalibers so durchzuarbeiten, dass sie ihn in groben Zügen verstand.
Er ließ Per mit der offenen Frage am Tisch zurück und streifte durch die Zimmer. Keiner der Besuche, weder von den Ermittlern, den Technikern noch von Hulda, hatte Elins Ordnung etwas anhaben können. Sie hatte wirklich ein enormes Talent besessen, viele Dinge auf wenig Raum unterzubringen. Kjell setzte sich auf die Matratze und wippte ratlos.
Es klingelte an der Wohnungstür. Kjell schlich in das Wohnzimmer zurück. Per war aufgesprungen und hob die Achseln. Da es keinen Spion gab, entsicherte Kjell seine Pistole und riss die Tür auf. Es war Tholander.
Ertappt, dachte Kjell im ersten Augenblick, er will das Telefon holen. Aber Tholander sah alles andere als ertappt aus.
»Vielleicht können wir vergessen, was heute Nachmittag passiert ist.«
Es war Tholander, der das sagte, nicht Kjell. Der musterte Tholander abwartend.
»Hast du einen Schlüssel für ihre Wohnung?«
Kjell nickte.
»Bei dir?«
Kjell nickte wieder. Er war eigentlich schon auf dem Weg dorthin.
»Können wir nachsehen?«
»Keine Spur?«
Tholander steckte den Zeigefinger in den Knoten seines Schals und lockerte ihn.
»Dann fahren wir.«
Sie liefen schweigend ins Erdgeschoss. Tholander hatte seinen Wagen hinter dem von Kjell geparkt. Kjell erkundigte sich, ob sie getrennt fahren würden, aber Tholander schüttelte den Kopf.
»Ich will dir etwas zeigen.«
Im Wagen öffnete er ein Kuvert und zog ein Foto von sehr großem Format heraus.
»Ist das Sofi?«, fragte Kjell. Tholander antwortete nicht. Offenbar war das Bild von einer Verkehrsüberwachungskamera aufgenommen worden. Es zeigte eine junge Frau am Steuer eines Wagens. »Wo ist das entstanden?«
»In Växsjö.«
»Was macht sie dort?«
»Das Bild ist nicht von heute. Es wurde am 10. September gemacht.«
»Das ist nicht ihr Wagen«, sagte Kjell. »Das Nummernschild stimmt auch nicht.«
»Es ist auch nicht Sofi Johansson. Der Wagen wurde in Malmö gemietet und ist seitdem verschwunden. Gemietet wurde er von einer Frau mit dem Namen Laura Vasari. Deshalb kam das Bild zu uns.«
Die Kamera überwachte nämlich nicht den Verkehr, sondern einen Autobahnabschnitt im Süden Schwedens, den viele Ausländer nach der Einreise passierten. Das Nummernschild war wie alle anderen geprüft worden.
»Vor einem Jahr hat diese Frau in Mailand ein Auto gemietet. Die italienische Polizei fand heraus, dass dieses Auto eine Rolle in einem Mord an einem Mailänder Geschäftsmann spielen muss. Die Mieterin hieß Magdalena Mariano. Diesen Namen gibt es in Italien nicht. Ein findiger Ermittler hat aber entdeckt, dass einmal eine Frau diesen Namen getragen hat. Und zwar zu Zeiten der Hochrenaissance.«
»Muss man sie kennen?«
»Der Name taucht nur an einer einzigen Stelle auf: in einem Bürgerregister, das dreihundert Namen umfasst.«
»Sind die Italiener sich sicher, dass sie den Namen aus dieser Liste gewählt hat? Ist das nicht leichtsinnig?«
»Es gibt einige Hinweise, dass die Frau gewisse Spurenstrukturen aussät, als wollte sie die Spannung erhöhen. Weil der Name also ein Pseudonym war, haben die Italiener alle hundertsechzig Frauennamen aus dieser Liste zur internationalen Fahndung ausgeschrieben.«
»Muss ein schlimmer Mord gewesen sein, wenn Italiener so viele Formulare ausfüllen.«
»Die ganze Familie des Geschäftsmannes wurde getötet. Sieben Personen lagen im Haus. Man fand sie nur, weil der Mann selbst nicht im Haus lag, sondern mit seinem Auto in eine Schlucht stürzte. Ohne die anderen Leichen hätte das wie ein Unfall ausgesehen.«
»Wie kommt die Frau mit ihrem Mietwagen ins Spiel?«
»Durch die Gnade der Verkehrsüberwachung.«
»Der Name Laura Vasari steht also auch auf dieser Fahndungsliste der hundertsechzig Frauennamen aus der Renaissance?«
Tholander nickte. »Wir erfuhren im September, dass sie nach Schweden eingereist war, aber sonst wussten wir nichts, nicht einmal, ob sie die Morde selbst begangen hat. Vielleicht half sie nur dabei.«
»Habt ihr überprüft, wo Sofi an diesem Tag war?«
»Dem Journal nach vier Tage lang in Öresund zur Revision bei der örtlichen Kriminalpolizei. Das kam hin.«
»Auch wir verdächtigen eine Frau.«
»Mir ist die Ähnlichkeit zu Sofi Johansson erst aufgefallen, als ich eure Personalakten gelesen habe.«
»Und woher weißt du plötzlich, dass diese Frau nicht Sofi ist?«, fragte Kjell, denn hätte Tholander behauptet, die Frau auf diesem künstlich aufgehellten und körnigen Bild wäre Sofi, hätte er es geglaubt.
»Sofi Johansson kann nicht die Frau sein, die auf Nils Kullgren geschossen hat. Das ist unser Problem.«
»Es gibt nicht mehr als dieses Foto von ihr, verstehe ich das richtig?«
»So ist es.«
»Dann trägt sie hier eine Perücke. Im Treppenhaus waren ihre Haare braun und lockig. Außerdem will mir nicht in den Kopf, wie Kullgren sie erkannt haben will. Er muss eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit in Kauf genommen haben, auf eine unbeteiligte Frau mit Kind zu schießen.«
»Genau das fragen wir uns seit gestern.«
»Und wie lautet eure Erklärung?«
»Aufgrund dieses Fotos hätte er niemals geschossen.«

86

»Dear Mrs. Setterlind!« las Barbro. Sie ballte die Faust und reckte sie zur Bürodecke. Nobody can stop Miss Setterlind. Sie hatte nicht erwartet, am selben Tag Antwort zu erhalten, noch dazu an einem wie diesem. Seit dem Mittag hatte sie alle E-Mails in Elins Daten durchforstet und war auf eine Quittung gestoßen, eine Nachricht, die nicht mehr enthielt als die Bestätigung, dass der Empfänger eine E-Mail, die Elin am 7. September abgeschickt hatte, empfangen und gelesen hatte.
Elin hatte viele Universitäten angeschrieben und sich beworben, aber die lagen alle in Schweden. Princeton dagegen passte nicht zu Elin.
Barbro legte den angebissenen Apfel beiseite und begann zu lesen.
Steven.Gardiner@math.princeton.edu antwortete: »Ich kann bestätigen, dass sich Jon Anfang Juni in der von Ihnen erwähnten E-Mail an mich gewandt hat. Das Thema der Nachricht war ein Angebot für einen Beitrag für die Zeitschrift Proceedings in Mathematics, die ich herausgebe. Das Thema des Artikels lautete ›n≥3 revisited‹. Jon Ardelius hat einen so außergewöhnlichen Ruf, dass ich einer Veröffentlichung zustimmte, obwohl er den Inhalt seines Artikels nur in wenigen Zeilen skizzierte. Da Proceedings in Mathematics zu den renommiertesten Zeitschriften für Mathematik gehört, vereinbarten wir in einem längeren Telefonat, welche Gutachter den Artikel prüfen sollten. Er versprach mir, innerhalb einer Woche eine ausführliche Zusammenfassung zu schicken und Anfang Dezember den fertigen Artikel. Die Veröffentlichung war für April des kommenden Jahres in der Jubiläumsausgabe unserer Zeitschrift geplant, da das Thema so gut zu den Borromäischen Ringen, dem Signet von Proceedings in Mathematics passt.«
Barbro fluchte. Sie hatte nicht mit einer schnellen Antwort gerechnet und daher versäumt zu fragen, worum es in dem Artikel überhaupt ging. Sie lud die Internetseite der Zeitschrift und schnappte nach Luft. Das Signet sah ziemlich alt aus und existierte seit der ersten Auflage, die ein Jahrhundert zurücklag. Es zeigte drei ineinander verflochtene Dreiecke. Herrgott, dachte Barbro, wie viele Bedeutungen hatte das Zeichen denn noch? Welche Bedeutung es für Elin auch immer gehabt hatte, Jon hatte ihren Anhänger an jenem Herbstmorgen im Telia-Laden als mathematischen Knoten identifiziert.
Barbro las weiter. »Da ich nach dieser Verabredung keine Nachricht mehr von Jon erhielt und auch nicht das Manuskript, sandte ich mehrere E-Mails, die alle unbeantwortet blieben. Der Name Elin Gustafsson ist mir bekannt. Sie sollte den Artikel in Schriftform bringen und dafür als Mitautorin genannt werden. Ich wünsche Ihnen ein frohes neues Jahr! Ihr Steven Gardiner.«
Das war sonderbar, dachte Barbro. Auf Elins Computer gab es keine Erinnerungsschreiben von Steven. Und umgekehrt hatte Steven den Aufsatz nie erhalten, obwohl Barbro diese E-Mail auf Elins Computer im Ordner der versandten Nachrichten fand. Nach der ersten Kontaktaufnahme war also keine Nachricht, die eine der beiden Seiten versandt hatte, beim Empfänger angekommen.
Barbro sah keinen Grund, Steven nicht zu glauben. Ebensowenig hatte Barbro allerdings Grund, Elin und Ardelius nicht zu glauben. Sie stellte sich ans Fenster. Sie konnte Elin und Ardelius klar vor sich sehen: Er will ein Kabel kaufen und spricht sie auf das Amulett an ihrem Hals an.
›Das ist ein magisches Symbol‹, sagte sie.
›Ach ja? Für mich ist es Mathematik.‹
›Wirklich? Ich möchte Physik studieren.‹
›Wunderbar! Am besten sprechen wir mal bei einer Tasse Kaffee darüber. Wann beginnt deine Mittagspause?‹
Kjell hatte recht, Ardelius war ein Leuchtturm in der Nacht gewesen. Elin hatte plötzlich ein Ziel. Wenn sie als Mitautorin über dem Artikel stand, konnte ihr Anteil nicht unwesentlich sein. Dasselbe Schema bei Judit. Sie haben sich bei ihrem Konzert kennengelernt. Und dass sich ›alle heute Abend treffen‹ wollten, Ardelius und die drei Frauen, ließ keinen Zweifel zu: Es hatte sich um einen Club gehandelt. Auch Filipa hatte Ardelius irgendwo kennengelernt. Mit Sicherheit hatte er ihre Lücken in Mathematik geschlossen. Filipa musste uneingeschränkt zum Club gehört haben, sie war schließlich am 22. Dezember wegen der Ereignisse in Stockholm hierhergereist. Barbro bezweifelte, dass sie Filipas Aufgabe herausfinden konnte, solange sie nicht verstand, worum es in dem Artikel überhaupt ging.

87

Sofis Wohnung war mit ihrer Leere das Gegenteil von Elins vollen Zimmern. Gemeinsam war ihnen nur die Ordnung, doch im Gegensatz zu Elin hatte Sofis Ordnungsliebe eher schrullige Züge. Es gab Dinge in ihrem Leben, die um keinen Preis durcheinandergeraten durften.
Während Kjell noch das Schlafzimmer und die Küche abschritt, kniete Tholander vor der Kommode. Die Türen standen offen. Allerlei Gegenstände, Notizbücher, Musik-CDs und kleine Kartons, lagen verstreut auf dem Boden.
»Hat sie selbst darin gekramt?«
Kjell musterte die Unordnung auf dem Boden. Sie bildete einen deutlichen Kontrast zum Rest der Wohnung. »Ist sonst nicht ihre Art.« Er ging zur Tür und begutachtete den Schlosszylinder von außen. Das Schloss war uralt und übersät mit Kratzspuren, die sich unmöglich datieren ließen.
»Ist das Bett unbenutzt?«
»Es ist gemacht. Wie habt ihr sie verloren?«
»Sie kam gestern Abend um sechs Uhr mit ihrer Sporttasche aus dem Haus und verschwand hinter dem Haus in den Park. Der Agent konnte ihr nicht folgen. Er vermutete, dass sie zum Tanzen ging, und wartete im Wagen auf ihre Rückkehr. Aber sie kehrte nicht zurück.«
»Habt ihr in der Tanzschule nachgefragt?«
»Da war sie nicht.«
Tholander sah aus wie eine alte bürokratische Maschine, aber schon nach wenigen Minuten hatte Kjell erkannt, dass er alles aus Instinkt tat. »Was glaubst du?«, fragte er daher.
»Kennst du diesen Lasse aus der Tatorttechnik?«
»Natürlich.«
»Von ihm weiß ich, dass Sofi gestern Mittag mit dem Computer unter dem Arm das Haus in der Bastugatan verlassen hat. Sie lief damit hinab bis zum Mälarstrand, wo sie sich ein Taxi nehmen wollte.«
»Ob sie sich mit einer Kopie der Daten aus dem Staub gemacht hat?«
Tholander schüttelte den Kopf. »Dazu müsste sie nicht verschwunden sein.«
»Wer sie laufen sah, wusste also, dass sie den Computer hatte?«
Tholander nickte.
Kjells Telefon klingelte. Endlich war es Ida. Sie klang gehetzt.
»Es wird ein wenig unheimlich für dich. Bist du bereit?«
Kjell ging hinüber in Sofis Küche und füllte ein Glas mit Leitungswasser.
»Der Artikel bietet eine Lösung für das Drei-Körper-Problem.«
»Drei Körper?«
»Ja.«
»Frauenkörper.«
»Himmelskörper. Stell dir vor, ein Mond kreist um einen Planeten. Wie berechnet man das?«
»Mit den Kepler’schen Gesetzen.« Kjell hatte schließlich seine Tochter Linda jahrelang bei ihrer Odyssee durch die Schulphysik begleitet.
»Stell dir drei Himmelskörper vor, die umeinanderkreisen. Wie berechnet man die Bahnen?«
»Noch mehr Kepler’sche Gesetze?«
»Der Fall N gleich drei, bei einer Anzahl von drei umeinanderkreisenden Himmelskörpern also, ist nicht nur für dich das Ende der Mathematik. Es ist ein komplexer, dynamischer Vorgang, der als nicht zu beschreiben gilt.«
»Und Ardelius hat die Lösung?«
»Ich weiß es nicht. Es gibt Unklarheiten.«
»Und wenn doch?«
»Es wäre der Durchbruch in die Analysis dynamischer Systeme.«
»Kannst du mir mehr verraten?«
»Ich kann dir alles über deinen Mordfall verraten. Er ist eine Inszenierung des Grundproblems mitsamt dem Lösungsansatz. Barbro berichtet, Ardelius habe ein Exposé vorausgeschickt. Das dürfte sich mit der Zusammenfassung am Anfang des Artikels decken. Darin gibt es eine Skizze, die die drei Himmelskörper in einer gewissen Position zeigt. Wenn du die Kontur von Södermalm darum herumzeichnest, hast du die Stellen, wo die Leichen saßen.«
»Nur Ardelius und Elin kannten die Skizze.«
»Barbro vermutet, dass die E-Mails abgefangen wurden. Und zwar nicht auf Seiten von Ardelius, sondern bei dem Herausgeber der Zeitschrift, wo alles veröffentlicht werden sollte. Anscheinend fängt jemand alle guten Sachen ab, die er so bekommt. Außerdem hat sie von dieser Wetterstation in der Winterbucht erzählt. Da ist angeblich vor kurzem eingebrochen worden, obwohl es dort nichts zu holen gibt.«

88

Ida seufzte, als Barbro ihr am Telefon die neuesten Erkenntnisse vortrug. »Vielleicht siehst du die Sache zu idealistisch.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Barbro.
»Mir drängt sich beim Lesen des Artikels der Verdacht auf, dass der Artikel ein Bluff ist. Vielleicht hat er die Frauen damit getäuscht.«
»Ist der Artikel nichts wert?«
»Das kann man nicht sagen, aber eine Lösung für das Drei-Körper-Problem sehe ich nicht. Ich bin auf Seite 103. Alles mündet in einen Haufen von Gleichungen, die man nicht lösen kann.«
»Dann ist der Artikel nichts anderes als die mathematisch-poetische Beschreibung der Morde?«, fragte Barbro unsicher.
»Daran habe ich gedacht, ja.«
»Welche Fassung des Textes hast du?«
»Die letzte natürlich.«
»Mir ist da etwas aufgefallen«, sagte Barbro. »Die allererste Fassung stammt vom 12. September. Kurz davor müssen sich Elin und Ardelius kennengelernt haben. Von da an folgte in kurzen Abständen von einer Woche eine Überarbeitung. Das endet mit der vorletzten Fassung am 1. Dezember. Das ist der vereinbarte Abgabetermin. Und dann geschieht drei Wochen lang nichts. Und am 23. Dezember entsteht die letzte Fassung. Da war Elin bereits verschwunden. Ardelius muss sie ganz allein gemacht haben. Sie steht isoliert von den anderen Fassungen.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still, doch Barbro konnte Ida vor ihrem inneren Auge nach Luft schnappen sehen. »Kjell hat mir den Text ausgedruckt«, sagte sie nach einer Weile.
»Hast du die anderen Fassungen?«
Ida seufzte und legte auf.

89

»Barbro hat recht«, sagte Ida. »Die letzte Fassung ist eine Verschlechterung.«
»Absicht?«, fragte Kjell. Er hatte es sich auf Sofis Sofa bequem gemacht. Es duftete sogar nach ihr.
»Ganz sicher. Es ist Sabotage. Ardelius muss Jahre an seinem Beweis gearbeitet haben. Er ist sehr effizient und elegant. Der eigentliche Kern ist eine Zahlenmatrix, mit der man die Riesengleichungen faktorisieren und lösen kann. Genau diese Matrix fehlt in der letzten Fassung, obwohl sie im Exposé erwähnt ist.«
»Dann ist es doch kein Bluff?«
»Die Wahrscheinlichkeit für einen Bluff ist dramatisch gesunken. Ich rechne es gerade durch.«
»Ich will dich nicht aufhalten«, sagte Kjell. Tholander hatte soeben Sofis Kleiderschrank geöffnet und starrte hinein. Kjell beendete das Gespräch. »Da brauchst du gar nicht hineinzuschauen. Sie ist nicht abgehauen.«
Tholander zwinkerte nervös und schloss die Türen. Ganz bestimmt war es sein Prinzip, alles selbst nachzuprüfen und sich nie auf die Ergebnisse anderer zu verlassen. Kjell fürchtete, in zwanzig Jahren wie Tholander auszusehen.
»Auf der Fahrt hierher hast du mich gefragt, ob ich die Frau für eine Einzeltäterin oder für eine Handlangerin von Ardelius halte. Jetzt bin ich mir sicher, du hast recht. Sie hat alles geplant.«
»Das erfahren wir, wenn wir sie haben.«
»Wir können uns jetzt schon sicher sein. Sie hat alles so aussehen lassen, als wäre Ardelius der Täter.«
»Sie hätte ihn umbringen können.«
Kjell schüttelte den Kopf. »Sie ist eine perfide Sadistin. Die Morde dienen dem Zweck, ihn zuerst zu erpressen und zu guter Letzt in den Tod zu treiben. Ihre Mordopfer sind Statisten. Ihren eigentlichen Opfern nimmt sie dagegen alles, nur nicht das Leben. Hast du nicht erzählt, dass das Haus des Mannes in Italien mit Leichen überfüllt war und er selbst im Auto in die Schlucht gestürzt ist?«
Tholander reagierte nicht auf rhetorische Fragen. In Italien wusste man nicht, ob der Unfall eingefädelt war oder Selbstmord.
»Sie wiederholt dauernd dasselbe Spiel«, erklärte Kjell. »Sie fotografiert die Leichen für die Erpressung, lässt sie danach aber nicht verschwinden. Sie will, dass die Polizei sie findet.«
»Auch Rache kommt in Frage«, sagte Tholander.
»Rache wofür?«
Tholander nickte einsichtig. »Ihre eigentlichen Opfer, wie du sie nennst, sollen sich selbst umbringen?«
»Wenn es nicht gründlich schiefläuft. Wie in diesem Fall.«
»Schief? Er ist tot.«
»Das eigentliche Opfer soll sich erst am Ende umbringen. Aber die Sache war noch längst nicht zu Ende. Ardelius geht nicht auf die Erpressung ein und wartet auch nicht auf das nächste Opfer. Weil er klüger ist als der Mann in Mailand und wahrscheinlich glaubte, er könne damit die kleine Filipa retten, entzieht er sich dem Spiel wie ein kynischer Philosoph. Für die Erpresserin ist alles schiefgelaufen.«
»Was soll für sie schiefgelaufen sein? Sie hat den Artikel.«
»Sie hat die Morde begangen. Wir wissen es. Sie weiß, dass wir es wissen. Sie ist enttarnt. Und das verdankt sie Sofi Johansson.«
»Und deshalb soll Sofi etwas zugestoßen sein?«
»Die Frau ist auch mit ihrem Hauptziel gescheitert. Wie ich soeben erfahren habe, hat sie nicht bekommen, was sie wollte. Ardelius hat sie mit ihren eigenen Mitteln geschlagen. Die letzte Fassung des Aufsatzes ist ein Bluff. Er hat sie angefertigt, um zum Schein auf die Erpressung einzugehen und weitere Morde zu verhindern. Was da unter seinem Kopf lag, muss die letzte Fassung gewesen sein.«
Tholander riss sich die Brille vom Kopf und putzte sie mit dem Saum seines Pullovers.
»Und Sofi marschiert bei helllichtem Tag mit dem Inhalt des Tresors über die Straße«, sagte Kjell. »Das ist typisch für sie.«
»Hast du dich nicht gefragt, warum sich Ardelius nicht an die Polizei gewandt hat?«
Kjell hatte nicht die geringste Ahnung. Vielleicht hatte er gewusst, dass auch Judit schon verschwunden war, und es für zu riskant gehalten, die Polizei einzuschalten.
»Die Frau will an die Daten«, sagte Tholander nachdenklich.
»Sofi hat keinen Zugriff auf die Daten. Gilt ihre Suspendierung noch?«
Tholander nickte. »Spielt das eine Rolle?«
»Eine wichtige. Sie kommt nicht ins Polizeigebäude. Sind die Daten dort?«
»Aber du hast deiner Frau doch die Daten gebracht.«
»Eine Kopie, von der niemand weiß. Sie wird also versuchen, ins Polizeigebäude zu kommen.«
»Dann muss sie aufgeben. Niemand kommt in dieses Gebäude, der nicht hineingehört.«
Kjell musterte Tholander. »Wieso sagst du das so?«
»Verzeihung, ich verstehe nicht.«
»Niemand kommt in dieses Gebäude, der nicht hineingehört. Wieso hast du das gesagt?«
»Weil es der Fall ist. Ihre Aussichten sind gleich null.«
»Ich kenne jemand, der es geschafft hat.«
»Aber nicht ins Polizeigebäude.«
»Genau dort.«
Verdammt, dachte Kjell. Hulda hatte es bis in den sechsten Stock geschafft. Hampus hatte von Ardelius und seinem Frauenzirkel gewusst. Auch den Artikel musste er kennen. Hulda war in Elins Wohnung gewesen. Hulda und Hampus waren kopfüber nach Island abgehauen. Nicht abgehauen, sie waren geflohen.
Tholanders Telefon klingelte. Das Gespräch dauerte nicht lang. »Jemand ist ins Haus gekommen, der nicht hierhergehört. Er hat zu uns hinaufgesehen.«
»Sofi?«
»Ein Mann. Er trägt einen Hut.«
»Einen Hut?«
»Entspricht dem Phantombild, das ihr über ganz Schweden verbreitet habt.«
Sie starrten sich entsetzt an, vereint in einem gemeinsamen Gedanken: Ardelius war tot. Aber im Treppenhaus stand ein Mann mit Hut.
»Mein Agent sichert den Hauseingang«, flüsterte Tholander.
Sie schlichen zur Tür. Kjell legte sein Ohr auf das Holz. Schritte hallten durch das Treppenhaus. Sie näherten sich, waren aber nicht zu lokalisieren.
»Er ist irgendwo stehen geblieben«, flüsterte Kjell und schob Tholander aus dem Flur zurück ins Zimmer. Beide zogen ihre Waffen. Kjell lehnte sich an die linke Wand, Tholander an die rechte. So verharrten sie und horchten. Nichts rührte sich. Tholander warf Kjell einen fragenden Blick zu. Der hob die Schultern. Tholander prüfte sein Telefon, aber es war keine Nachricht eingegangen. Der Mann musste noch im Haus sein. Wo ist der hin, überlegte Kjell. Er hatte keine Wohnungstür gehört, und einen Aufzug gab es nicht. Vielleicht war er umgekehrt.
Er muss in eine der Wohnungen verschwunden sein, schloss Kjell nach einer Ewigkeit und riss die Tür auf. Der Mann stand nur einen Fußbreit vor ihm.

90

Jesus, dachte Henning, links war das Meer, rechts war das Meer. Und wenn das Meer hier einmal anfing, hörte es so bald nicht mehr auf. Deshalb zwang er seinen Blick geradeaus, wo der Wind den Schnee wie einen weißen Teppich über die Fahrbahn zog. Der kleine Wagen aus Japan, in dem Henning saß, wurde hin und her gerüttelt. Einmal hüpfte er weit zum Stra- ßenrand. Ohne sein Gewicht hätte Snæfríður den Wagen nicht auf der Straße halten können, glaubte er.
»Lass den Türgriff lieber los«, sagte Snæfríður, obwohl sie so beharrlich nach vorn blickte, dass Henning sich fragte, wie sie das bemerkt haben konnte. »Es sind noch vierzig Kilometer.«
Er löste seine Finger vom Griff und atmete durch. Doch als plötzlich ein Jeep an ihnen vorbeizog, griff Henning wieder zu. Es war das erste Auto seit dem Flughafen.
»Jesus, ist der wahnsinnig?«
»Das ist ganz normales isländisches Jeeptempo«, sagte Snæfríður.
»Vielleicht hätten wir doch einen größeren Wagen nehmen sollen.«
»Um nach Reykjavík zu fahren?«
Sie war der einzige ruhige Punkt in dieser Hölle. Ihre Durchsetzungsschwäche, die man ihr zu Hause als Defizit auslegte, erwies sich hier als Zähigkeit. Dafür sorgte allein die Umgebung.
Die ersten Ampeln und Häuser tauchten auf, doch was wie der Beginn der Stadt aussah, entpuppte sich als Vorort. Als der erste von vielen, wie sich herausstellen sollte.
Eine Viertelstunde später setzte Snæfríður den Blinker. »Jetzt kommt Garðabær. Da müssen wir raus.«
»Was ist Garðabær?«, fragte Henning, der nur weiß sah.
»Ein Vorort.«
»Verstehe.«
»Jeder Reykvikinger will in Garðabær wohnen. Das ist so etwas wie Djursholm.«
»Verstehe.«
Gleich nach der Ausfahrt begannen die Wohnstraßen, an denen sich ein Grundstück ans andere reihte. Die Villen waren riesige und verschachtelte Alpträume aus Beton. In den Einfahrten hingen sogar Basketballkörbe über dem Garagentor.
»Nirgendwo brennt Licht«, bemerkte Henning.
»Seit der Finanzkrise schon nicht mehr. Du kannst dir etwas aussuchen und sofort mit Lena Axelsson einziehen.«
Henning blinzelte hinüber zu Snæfríður. Er konnte sich nicht erinnern, je etwas so Deftiges aus ihrem Mund gehört zu haben. Sie hielt am letzten Grundstück der Siedlung. Henning sehnte sich nach festem Boden unter den Füßen und begleitete sie zum Haus. Dort öffnete ein kleiner Junge. Während Snæfríður mit ihm sprach, vollführte Henning eine langsame Pirouette, um die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Die Vororte lagen auf Landzungen mit tief eingeschnittenen Buchten. Bis zum Wasser waren es fünfzig Schritte, aber der Boden war viel zu schroff, als dass man am Morgen mit seinem Kaffee zum Ufer hätte schlendern können. Schwarze Lavakanten ragten aus der Schneedecke.
»Sie ist nicht da«, fasste Snæfríður das Gespräch mit dem Jungen zusammen. »Ihre Mutter hat sie mit in die Stadt genommen.«
Die Rede war von Fjóla, Huldas bester Freundin und Zwillingsseele. Snæfríðurs ganze Islandstrategie bestand in der Idee, dass die beiden zusammen waren. Falls diese Strategie scheiterte, konnte Fjóla angeblich als einziger Mensch Huldas Absichten wie den nächsten Zug eines Springers beim Schach vorausbestimmen.
»Die Mutter nimmt an einem Bridgeturnier teil«, erzählte Snæfríður, als sie wieder auf der Schnellstraße fuhren. »Fjóla ist wahrscheinlich mit ihren Freunden in der Stadt unterwegs, um zu feiern. Ich muss die Mutter fragen, wo wir sie finden.«
Henning wollte sich ein Bridgeturnier am Silvesterabend nicht entgehen lassen. Deshalb begleitete er Snæfríður in die Halle des Hotels Loftleiðir, wo sie ohne Namensschild am Revers und mit ihrem klaren Verstand auffielen wie bunte Hunde.
»Weißt du, wie sie aussieht, Fjólas Mutter?«
»Ich frage mich durch.« Sie deutete auf die offenen Türen zum Tagungssaal.
»Wie heißt die Mutter? Dann sehe ich mich hier um.«
Sie wusste bloß den Vornamen: Þórunn. Ein Hoch auf die Erfindung des Namensschildes, dachte Henning. Den Namen hätte er nicht über die Zunge gebracht. An der Bar musste er nur den Arm ausstrecken, um ein Glas Goldbräu zu erhalten. Damit ließ er sich auf dem Sofa zwischen zwei Damen nieder, die sich als sehr kontaktfreudig erwiesen. Das Alter ihrer Lidschatten datierte Henning auf etwa drei Tage. So lange dauerte das Bridgeturnier nämlich schon. Henning begriff, dass Durchhaltevermögen keine Besonderheit an Snæfríður war, sondern die gemeinsame Eigenschaft aller Isländer. Obwohl sich kaum noch jemand auf den Beinen halten konnte, wurden auf der anderen Seite der Halle mit putziger Ernsthaftigkeit Ranglisten an die Wand projiziert. Bertil Svensson war als einziger Abgesandter Schwedens auf Platz 49 gelandet.
»Woher kommst du?«, fragte die draufgängerischere der beiden Damen zum dritten Mal auf Englisch.
»Garðabær«, antwortete Henning. »Ich bin Villenbesitzer.«
»Garðabær, Wahnsinn! Da ist es schön!«
Während die beiden Damen Hennings angebliche Heimat als Paradies auf Erden lobten, behielt er die vorbeiziehenden Frauen im Auge. Ständig strömten Menschen aus dem Aufzug oder verschwanden darin. In Henning keimte der Gedanke, dass die zweihundert Turnierteilnehmer vielleicht nicht nur im Bridge gegeneinander antraten. Er kannte Þórunn nicht, traute ihr aber zu, sich oben in einem Hotelbett mit einem anderen Turnierteilnehmer zu entspannen, während ihre Familie in Garðabær alleine feierte.
Als Snæfríður wieder in der Menge auftauchte, hatte Henning seinen Harem auf sieben Isländerinnen erweitert.
Sie zerrte ihn vom Sofa. »Ich habe sie. Dein Bier kannst du mitnehmen.«
Und so fand sich Henning bald mit seinem Goldbräu zwischen den Knien im Wagen auf der breiten Snorrabraut dahinrollen. Plötzlich bog Snæfríður in eine kleine Seitenstraße ab.
»Von nun an müssen wir aufpassen.«
»Wie sollen wir sie denn identifizieren?«
»Hierzulande haben die Menschen alle einen eigenen Geschmack. Sie trägt eine grüne Mütze und ein weißes Kleid.«
Die Straße war nicht breiter als ein Feldweg, aber nach Snæfríðurs Erklärung die isländische Antwort auf die Champs Élysées. Alle zehn Meter wechselten sich links und rechts Parkbuchten ab, so dass Snæfríður ständig steuern musste.
Auf beiden Seiten säumten Lokale die Straße, vor denen lauter Menschengruppen standen, als wären nach einem Erdbeben alle ins Freie gerannt. Henning betrachtete die Welt jenseits der Scheibe mit Staunen. Sie sah aus, als hätte das hippste Viertel Londons eine heruntergekommene walisische Kleinstadt belagert und sich unter die Bergarbeiter gemischt. Er war definitiv dreißig Jahre zu spät hergekommen.
Immer mehr Raketen stiegen zum Himmel. Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Sie waren Teil eines langen Konvois aus Geländewagen, amerikanischen Schlitten und japanischen Kleinwagen, die alle vom gleichen Modell waren. Der Konvoi kam nur langsam voran. Henning musterte die Gesichter der jungen Mädchen. Alle fünfzig Meter prügelten sich zwei Kerle.
Plötzlich bremste Snæfríður und sprang aus dem Wagen. Sie hatte die linke Seite überwacht und rannte in einen hell erleuchteten Imbiss. Tatsächlich, da stand ein Mädchen mit grüner Mütze vor der Kasse. Henning stürzte den Rest seines Biers hinunter und beobachtete, wie Snæfríður das Mädchen an der Kapuze ihres Mantels aus dem Lokal zog. Henning sprang ins Freie und öffnete die Hintertür. Die Fahrzeuge hinter ihnen hupten nicht. Kleine Zwischenfälle und zwischenmenschliche Dramen waren hier offenkundig beliebt. Snæfríður drängte sich zu dem Mädchen auf die Rückbank. Henning setzte sich hinter das Steuer und hielt zehn Meter weiter in einer Parkbucht.
Vom Gespräch auf der Rückbank verstand er kein Wort. Als Snæfríður eine Pause einlegte, drehte er den Kopf zu dem Mädchen. Sie erinnerte ihn sehr an Hulda und hatte sich wie sie gelbe Perlen ins Haar geflochten, als Zeichen der Seelenverwandtschaft.
»Wir glauben, dass Hulda in großer Gefahr ist«, sagte er auf Englisch.
Das Mädchen antwortete nicht, dafür aber Snæfríður. »Hulda war gestern bei ihr und hat sich Geld und Kleidung geliehen.«
»Und dann?«
»Hampus war bei ihr, hat aber kein Wort gesagt. Sie wollten nicht bei Fjóla übernachten und haben sich ein Taxi genommen. Sie vermutet, dass sie zu den Flugtaxis wollten.«
»Wohin kommt man damit?«
»Ísafjörður. Das ist da, wo sie aufgewachsen ist.«

91

Theresa Julander eilte durch den Gang und geriet dabei ins Rutschen. Sie litt schon den ganzen Tag an den Ledersohlen ihrer neuen Schuhe. Sie klopfte an die Tür des neuen Direktors, wartete aber nicht auf eine Antwort. Ohne Einladung sank sie in den Stuhl vor Kullgrens Schreibtisch, an dem Gregersiö mit seinen wenigen Sachen aussah, als machte er ein Picknick.
»Ich habe eine Frau gefunden, die heute ebenfalls in der Maschine nach Island saß«, begann sie. »Sie stammt aus London und heißt Cathy Ryan.«
Gregersiö blickte wie immer skeptisch drein.
»Es gibt keinerlei Hinweise, warum sie in Stockholm war, wie lange sie hier war, wie sie eingereist ist und was sie nun in Island sucht.«
»Gibt es ein Foto von ihr?«
»Der Flug geht im Winter über Kopenhagen. Da werden die Ausweise nicht erfasst. Aber dem Alter nach könnte sie es sein. Cathy Ryan, das klingt ein wenig unecht, findest du nicht? Wie ein Kunstname, wie er auf Musterdokumenten verwendet wird.«
Gregersiö deutete ein Nicken an. Es galt seinen Unterlagen. »Bist du dir wirklich sicher, dass Kullgren sie wiedererkannt hat?«
»Willst du darauf hinaus, er könnte bloß die Situation richtig eingeschätzt haben?«
Diesmal nickte er. Genau das meinte er. »Er hat irgendein Merkmal, ein Detail wiedererkannt. Oder er hat die ganze Situation schon einmal erlebt und ein Schema wiedererkannt.«
»Auf keinen Fall. Das ist ausgeschlossen. Das wäre viel zu vage für den Entschluss, auf eine Frau mit einem Kinderwagen zu schießen.«
»In den aktuellen Akten gibt es aber keine Hinweise auf eine Frau. Es kann sich nur um eine Begegnung mit der Vergangenheit gehandelt haben.«
Er stand auf und seufzte. Theresa hatte natürlich schon mehrmals erwähnt, dass niemand im Haus von dieser Frau gehört hatte, nicht einmal sie selbst, obwohl sie das letzte halbe Jahr in Kullgrens unmittelbarer Nähe verbracht hatte. Sie musterte sein Gesicht. Carlito war nicht dumm, er brauchte nur sehr lang, um ein neues Spiel zu beginnen.
»Wir müssen in den Aktenraum«, sagte er endlich.
»Dafür habe ich keine Freigabe.« Das erwähnte Theresa lieber gleich. Zudem lenkte es ihn von der Erkenntnis ab, dass sie den ganzen Tag auf diesen Moment hingearbeitet hatte.
»Du stehst auf Kullgrens Unbedenklichkeitsliste.«
Theresa lächelte erfreut. Sonst fand sich ihr Name immer nur auf Bedenklichkeitslisten, die bloß ihretwegen angelegt wurden.
Gregersiö öffnete die Metalltür hinter Kullgrens Büro. Theresa wurde aus ihm nicht klug. Bisher hatte er jede Einzelheit mit Blicken oder Worten in Zweifel gezogen, doch nun nahm er sie mit in das Allerheiligste der Sicherheitspolizei. Wie alle anderen hatte sie noch nie durch diese Tür gesehen und sich dahinter eine Kammer ausgemalt. Lampen mit blaustichigem Licht zuckten an der Decke und offenbarten, wie viele Geheimnisse die Säpo in den letzten Jahrzehnten angehäuft hatte. Die Vitrinen mit den Akten waren nicht gesichert. Falls es doch jemand durch die sieben Sicherheitsschranken bis in Kullgrens Büro schaffte, wollte die Säpo auf den letzten Metern kein Spielverderber sein. Wie Dominosteine reihten sich die Vitrinen um alle vier Wände.
Theresas erster Gedanke war banal: Wer machte hier eigentlich sauber, wenn kein anderer als Kullgren hereindurfte? »Gibt es keinen Computer?«, fragte sie.
Den gab es nicht. Das autarke Stromaggregat reichte nur für die Deckenlampen und wurde von umweltfreundlichen Solarzellen auf dem Hausdach aufgeladen, die man von weither sehen konnte.
»Wir werden Jahre brauchen!« Theresa drehte sich mit ausgestreckten Armen um ihre Achse, als wäre das ihr glücklichster Tag. Ein wenig war es das auch: Sie hatte es in vier Jahren bis hierher geschafft.
Gregersiö öffnete eine Vitrine, in der sich keine Ordner befanden, sondern Karteikästen. Er hievte gleich mehrere davon auf den Tisch in der Mitte des Raumes und erklärte das System. Zu jeder Person, die in einer Akte erwähnt wurde, gab es eine Karteikarte. Je aktueller das Ereignis war, mit dem die Person in Verbindung stand, desto weiter wanderte die Karte nach vorn. Sie teilten die Frauenkarten auf. Theresas erste Karte gehörte der Chefin der Sozialdemokratischen Partei.
»Was hat die denn angestellt?«
»Das kann nur ein Sicherheitsproblem sein.«
Ein Besuch des Ehemanns in einer Gogo-Bar war etwas, was die Säpo ein Sicherheitsproblem nannte. Die Karten enthielten lediglich Verweise auf Akten.
»Was bedeuten die Vermerke mit E? Das sind keine Aktenzeichen von uns.«
»Externe Vermerke. E steht für Extern.«
E stand für den internationalen Kampf gegen Terror, dachte Theresa. Alle Frauen mit E sahen ausländisch aus. Sie nahm ein Bündel Karten und spielte Daumenkino. Bei jedem roten E zog sie die Karte heraus. Nach zwei Minuten war sie durch.
Gregersiö verstand schnell, doch sein Gemüt brauchte eine Weile, bis auch er alle blonden Berühmtheiten aus dem öffentlichen Leben auf diese einfache Weise herausfilterte.
»Ich suche noch einmal«, sagte Theresa eine Viertelstunde später. »Sie muss dabei sein.«
Gregersiö rutschte auf seinem Stuhl herum. Er hatte sich auf dem langen Flug erkältet und besuchte dreimal in der Stunde die Toilette. Er sah Theresa prüfend an und fragte sich wohl, ob er sie hier in diesem Raum für einige Minuten allein lassen konnte. Sie lächelte aufmunternd. Gregersiö stand widerwillig auf und eilte aus dem Raum.
Nachdem die Tür zugefallen war, sprang auch Theresa auf und ging zur dritten Vitrine, öffnete die Tür, nahm den Ordner mit dem Vermerk »Mord an Ministerpräsident Olof Palme« heraus, blätterte den Ordner in Windeseile durch und überflog die Zusammenfassung, staunte, stellte den Ordner wieder ins Regal, schloss die Vitrine und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Dann begann sie, den ganzen Stapel noch einmal durchzusehen. Kurz darauf kehrte Gregersiö zurück.
»Und?«, fragte er.
»Nichts.«
»Er hat sie nicht wiedererkannt.«
»Doch.«
»Hier sind alle Frauen dabei, die er in den letzten vier Jahren beruflich kennengelernt hat.«
»Dann muss es davor gewesen sein. Vor seiner Zeit als Säpo-Chef.« Gregersiö schwieg. »Ich habe eine Idee.« Sie wechselte zu Kullgrens Schreibtisch. »Nils telefoniert manchmal mit einem Mann namens Ben«, erklärte Theresa. »Sie sprechen Englisch miteinander. Er ist ein Freund aus alten Tagen, vermute ich. Sieh in seinem Kalender nach, ob ein Ben darinsteht.«
Gregersiö nahm den Kalender, den er bereits am Nachmittag geprüft hatte, und schlug das Namensverzeichnis am Ende auf. Die Vorwahl lautete +972.
»Das muss sein Kontakt in Israel sein«, sagte Theresa. »Wir rufen an.«
»Um diese Zeit?«
»Sie telefonieren immer am Abend.«
»Wenn du meinst, bitte.«
Theresa tippte die lange Nummer ab. Es tutete, dreimal und weit entfernt klingend, dann klickte es leise.
»Hello?«, fragte sie. Die Männerstimme am anderen Ende der Leitung grunzte knapp. »I am searching for Ben. My name is Theresa Julander. I am assistant to Nils Kullgren. From Sweden.«
Gregersiö grinste zum allerersten Mal und rieb sich weiter nervös am Kinn. Er konnte über den Lautsprecher alles mit anhören. Am anderen Ende wurde aufgelegt.
»Der hat einfach aufgelegt!«, sagte Theresa. Sie verglich noch einmal die Nummer auf der Anzeige mit der im Kalender. Sie stimmten überein.
Das Telefon klingelte. Theresa nahm ab.
»What’s up?«, fragte dieselbe Stimme wie zuvor.
Theresa begriff, dass der Rückruf eine Sicherheitsmaßnahme war. Im Stil eines Telegramms berichtete sie, was Kullgren zugestoßen war und was sie vom Mossad wollte. Dann wurde wieder aufgelegt.
Theresa zuckte mit den Schultern.
»War er vom Mossad?«, fragte Gregersiö.
»Er fragt sich bestimmt, was für ein Schwachkopf da aus Schweden anruft. Jedenfalls klang er so.«
»Was hat er gesagt?«
»Okay, we’ll see. Das würde er doch nicht sagen, wenn er ein Eisverkäufer in Tel Aviv wäre.« Theresa legte die Hände in den Schoß. »Was hat Nils eigentlich beim Mossad gemacht?«
»Offiziell war er dort nicht. Er war Mitglied eines Forschungsinstituts, das sich mit Terrorismus beschäftigt. Deshalb wurde ihm 2003 die Leitung der Säpo angetragen.«
»Und das Institut hatte Verbindung zum Mossad?«
»Sagen wir es so: Mossad ist das hebräische Wort für Institut.«
Im Hintergrund waren Straßengeräusche zu hören gewesen. Vielleicht war Ben wirklich Eisverkäufer. Ihr kamen Zweifel. Wenn Ben nicht half, wusste sie nicht mehr weiter. Nicht weiterzuwissen, war eine völlig neue Erfahrung für Theresa Julander.

92

Ida hatte sich mit ihrer Tochter Lilly in ihrem Arbeitszimmer verschanzt. Das Mädchen lag in eine Decke gehüllt auf dem Sofa und wartete darauf, für das Feuerwerk geweckt zu werden. Aber bis dahin blieb noch Zeit. Ida war verärgert darüber, dass sie wegen Kjell einen ganzen Tag mit der falschen Fassung vertan hatte, und spürte keine Lust zu feiern. Aus dem Flur drangen seit Stunden Musik und Gelächter. Linda hatte alte Freunde eingeladen. Auch Kjell und Barbro wollten vor zwölf zum Anstoßen eintreffen.
Es klopfte an der Tür, und Linda steckte den Kopf herein. Ihre Wangen waren rot, ihr Haar zerzaust und voll Schnee. »Wir können nicht aufs Dach«, sagte sie atemlos. »Man hält es kaum aus da draußen.«
»Hat Kjell sich gemeldet?«
»Nein. Aber Barbro ist da. Sie zieht gerade die Stiefel aus und trinkt ein Glas Champagner, um sich aufzuwärmen.«
Hinter Linda erschien Barbros rotblonde Mähne. Sie drängelte sich an Linda vorbei und drückte mit dem Hintern die Tür zu. »Kennst du einen Peter Damian Deasy?«, fragte sie ohne Begrüßung.
Ida nickte zögerlich. »Das ist ein Mathematiker.«
»Ist er berühmt?«
»Berühmt nicht. Aber der Name ist einem geläufig, wenn man sich mit Mathematik beschäftigt. Er macht irgendetwas mit Knotentheorie.«
»Er leitet das Trinity College in Dublin. Außerdem gehört ihm die andere Hälfte von Ardelius’ erfolgreicher Firma. Der Mann, der das Programm für das Wetteramt und all die anderen Programme entwickelt hat, ist also kein Jüngling mit Pickeln, wie wir geglaubt haben, sondern der ehrenhafte Mr. Deasy. Und die Firma wurde Anfang September abgemeldet.« Barbro wollte sich auf das Sofa fallen lassen, entdeckte jedoch rechtzeitig Lillys Kopf und nahm das Kind auf den Schoß.
»Hast du Elli mitgebracht?«, erkundigte sich Ida. Barbros Tochter war drei Jahre älter als Lilly.
»Sie feiert draußen mit ihren neuen Freunden. Seit neuestem hält sie sich für eine Jugendliche. Soll ich Lilly wecken?«
Ida sah auf die Uhr. »Es ist zu früh. Länger als eine halbe Stunde hält sie nicht durch. Sie ist eine typische Cederström und schläft sehr viel. Kannst du dich an Hennings Umzugstag erinnern?«
Barbro nickte. Henning hatte Ida in einem Taxi abholen lassen. In der Küche sollte eine versilberte Stange über zwei Wände laufen, so dass Henning Töpfe und Kellen daran aufhängen konnte. Von Ida hatte er wissen wollen, wie lang das Stück für die Ecke sein musste, damit es nach dem Biegen genau in die Lücke passte. Ida hatte versucht, Henning zu erklären, dass man das nicht mit einem Dreisatz ausrechnen konnte, und hatte dann ein Stück der teuren Stange nach Augenmaß abgesägt und den ganzen Nachmittag lang gefeilt und immer wieder probiert. Während des Feilens hatte sie über komplexe Fragen der Infinitesimalrechnung nachgedacht.
»Etwa so verhält es sich mit den Umlaufbahnen dreier umeinander kreisender Körper. Man kann das mit allen schmutzigen Tricks der Ingenieurskunst ermitteln, aber eine elegante Formel gibt es nicht. Selbst die Umlaufbahn der Erde um die Sonne ist viel komplexer, als wir in der Schule lernen.«
»Hat er die elegante Formel?«
»Er hat eine Matrix aus Gleichungen über zehn Seiten. Elegant ist sie nicht, aber bis Seite 103 schwellen die Formeln immer mehr an und werden unlösbar. Dann kommt ein Bruch über zehn Seiten. Und dahinter wird alles knapp und übersichtlich.«
»Stimmt es?«
»Die Firma wurde abgemeldet, sagtest du?«
»Im September.«
»Also genau zu der Zeit, als Ardelius den Artikel anbot.«
Barbro leerte ihr Glas. »Obwohl die Firma gut lief. Ich habe mit der irischen Polizei gesprochen und die Einkünfte erfahren. Sie bezahlen tatsächlich kaum Steuern.«
»Eure Theorie war verkehrt herum. Ihr glaubtet, dass Ardelius mit der Firma seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Geld machen wollte. Jedes Projekt beschäftigt sich mit komplexen dynamischen Systemen und kann als Anwendung dieser Theorie verstanden werden. Und zur selben Zeit, als er die Firma abmeldet, bietet er der Zeitschrift seinen Artikel an. Die Projekte seiner Firma dienen dem Zweck, die Theorie zu testen und abzusichern.«
Lilly streckte sich im Schlaf und ruderte mit den Händen. Barbro musste mit dem Kopf ausweichen. »Aber wieso hat er die Theorie so ausgiebig getestet?«, flüsterte sie. »Bereits das erste Projekt war ja ein Erfolg.«
»Mich interessiert etwas anderes. Er verfälscht den Artikel, und mit Sicherheit war das die Fassung, die er auf seinem Schreibtisch liegen hatte. Die hat er nur für diese Gelegenheit gemacht. Er wollte die Frau damit täuschen.«
»Aber dennoch wollte er die richtige Fassung veröffentlichen. Daran besteht kein Zweifel. Und diese Fassung hätte dann auch die Frau lesen können. Sie braucht die Zeitschrift nur zu abonnieren.«
»Genau. Warum also dieses Spiel?«
»Es ist kein Spiel, glaube ich. Es ist bitterer Ernst.«
Es klopfte erneut. Linda kam herein und überreichte Ida das Telefon.
»Hier ist Theresa Julander«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Ich arbeite mit Kjell zusammen.«
»Ich weiß«, sagte Ida und suchte nach der Lautsprechertaste. Sie kannte Theresa Julander nur aus Erzählungen. Die waren jedoch so plastisch, dass sie sie leibhaftig vor sich sah.
»Weißt du, worum es in dem Text geht?«
Ida erzählte alles noch einmal.
»Das kann nicht sein«, sagte Theresa Julander entschieden. »Es kann nicht um theoretische Physik gehen.«
Barbro schnitt eine Grimasse.
»Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel«, erwiderte Ida.
»Ich habe die Frau gefunden und weiß, warum Nils Kullgren sie erkannt und geschossen hat.«
Barbro legte Lilly aufs Sofa, sprang auf und riss Ida das Telefon aus der Hand. »Hier ist Barbro.«
»Kennt ihr euch mit der Renaissance aus?«
»Wahrscheinlich besser als du.«
»Da hast du wohl recht. Sie wird international gesucht. Ihre Identität ist nicht bekannt, aber aller Wahrscheinlichkeit nach stammt sie aus den Vereinigten Staaten. Man nennt sie ›die Condottiera‹. Wisst ihr, was das ist?«
Barbro zögerte. Ida zerrte ihr das Telefon vom Ohr. »Das wissen wir. Wallenstein war ein Condottiere.«
»Wer ist Wallenstein?«
Barbro holte sich den Hörer zurück. »Vergiss es. Was ist damit?«
»Der Condottiere war ein neuer Typ von Heerführer am Ende des Mittelalters. Er fühlt sich keinem Herrn oder Land verpflichtet. Und auch die Moral ist ihm gleichgültig.«
»Woher weißt du das?«
»Das steht hier auf einem Dokument, das wir erhalten haben. Diese Frau ist offenkundig genauso intelligent wie wahnsinnig. Sie hält sich für einen Condottiere der Renaissance, übernimmt Namen und Verhaltensweisen dieser Zeit. Eines der besonderen Merkmale ist der raffinierte Giftmord. Den wendet sie jedes Mal an, und immer spielt sie ein kompliziertes Spiel. Daran berauscht sie sich.«
»Sie dient jedem Herrn? Dann ist sie eine Auftragsmörderin.«
»Nein. Der Mord ist nur ihr Mittel oder ihr Vergnügen. Sie ist Spionin der ersten Liga. Der Text muss etwas enthalten, was sehr viel Geld oder Macht bringt. Es kann nicht um Planetenbahnen gehen.«
Ida zuckte mit den Achseln und rief in den Hörer, den Barbro ihr zudrehte. »Dann kann es nur noch um seine Firma gehen. Die Projekte bringen viel Geld.«
»Nein, es muss um viel mehr gehen. Sie beschafft neueste technische Entwicklungen oder Atomwaffen für den Iran. Das ist ihr Angebot. Und so hat sie auch Kullgrens Weg vor einiger Zeit gekreuzt. Er hat sich mehrere Jahre lang nur mit ihr beschäftigt. Der Mossad geht davon aus, dass sie brisante Dinge in den Nahen Osten liefert, und sucht sie deshalb auf der ganzen Welt. Und wer es schafft, zehn Jahre lang vom Mossad nicht gefasst zu werden, ist sehr ausgebufft.«
»Ich weiß es nicht«, rief Ida. »Ich bin damit überfordert.«
»Wir kommen zu euch und holen die Daten«, sagte Theresa und legte auf.
Barbro ließ den Hörer sinken. »Sie muss völlig wahnsinnig sein.«
»Theresa?«
»Und die andere.«
Die Tür sprang auf. »Kommt schnell!«, rief Linda. »Wir zählen schon.«
Ida griff nach Lilly und folgte Barbro und Linda hinüber ins Wohnzimmer. Nur ein Drittel der Gäste passte auf den Balkon. Linda nahm ihre kleine Schwester auf den Arm, setzte ihr eine Mütze auf und drängte sich hinaus.
Barbro und Ida blieben im Wohnzimmer.
»Wo ist Kjell?«, fragte Ida.
»Der kommt schon. Lass uns anstoßen.«
Es klingelte. Ida stellte ihr Glas ab und rannte in den Flur. Nachdem sie die Tür aufgerissen hatte, wich sie zurück.
Barbro konnte die Frau nicht sehen, begriff aber sogleich, dass sie selbst sie hierhergeführt haben musste. Bestimmt hatte sie vor dem Polizeigebäude gelauert und gewartet, bis jemand von der Reichsmord herauskam. Sie ging zur Tür und beschloss unterwegs, sich dumm zu stellen. Sie hob wie Ida die Hände.
Die Frau war mittelgroß und konnte ihrem Aussehen nach alles sein, Europäerin, Israeli und sogar Schwedin. Es war kein Wunder, dass man sie nicht fing. Nur ihre Augen funkelten. Mit der automatischen Pistole konnte sie ein Blutbad anrichten, und wie Barbro sie inzwischen einschätzte, würde sie nicht zögern.
Ihre ersten Worte ließen keinen Zweifel: Sie stammte aus Amerika. »Hol das Mädchen!«, sagte sie auf Englisch und warf einen Blick zum Wohnzimmer, wo Lindas Freundeskreis sich um die Balkontür drängte.
»Welches Mädchen?«, fragte Barbro, obwohl ihr gerade ein Licht aufging.
»Das in der Wohnung war.«
Hulda hatte bei Elin eine Kopie des Artikels gefunden, das wurde Barbro jetzt klar. Den Ausdruck der vorletzten und korrekten Fassung. Und die Frau vor ihr musste inzwischen dasselbe wie Ida bemerkt haben: Die Fassung aus Ardelius’ Wohnung war eine Täuschung.
»Die ist hier nicht«, antwortete Barbro und spürte Idas irritierten Blick auf sich gerichtet. »Da musst du schon nach Island fahren.« Die Frau sah Barbro durchdringend an. Hulda hatte sie ausgetrickst. Eigentlich hatte Barbro die Gefahr abwenden wollen, tatsächlich aber erst heraufbeschworen. Der Artikel bedeutete Barbro nichts. Sie würde dafür kein Risiko eingehen. »Du willst den Artikel, oder? Den haben wir.« Sie drehte sich zu Ida. »Hol den Artikel, Ida!«
Ida reagierte mit einem wütenden Zwinkern.
»Er liegt in dem Zimmer dort«, fügte Barbro hinzu, um die Sache unumkehrbar zu machen, denn Ida war augenfällig nicht bereit, den Artikel preiszugeben.
Die Frau richtete den Lauf auf Ida. »Du hast fünf Sekunden.«
Ida rannte los. Barbro ließ erleichtert die Hände sinken. Warum sie sie wie im Fernsehen hochgenommen hatte, wusste sie nicht. Die Frau war sehr ruhig und zeigte keine Nervosität. Das war ein gutes Zeichen.
Ida kehrte mit dem Stapel zurück und streckte ihn der Frau hin. Die fasste ihn mit der freien Hand und lockerte den Griff der anderen um die Waffe nur, um den Stapel durchzublättern.
Sie wusste genau, welche Stellen sie prüfen musste. Überall leuchteten rote Anstreichungen, die Ida gemacht hatte. Anscheinend war sie zufrieden. Sie griff nach der Klinke und säuselte: »So long!«
Die Tür flog mit einem Krachen zu.
Ida und Barbro standen reglos da. Einige Jugendliche hatten den Vorfall vom Wohnzimmer aus bemerkt und strömten in den Flur.
»Sie glaubt, dass es keine weiteren Kopien gibt«, stammelte Barbro. »Oder es ist ihr egal.«
»Zum Glück! Schnell! Der Schrank da!« Ida zwängte sich in den Spalt zwischen der Wand und dem Schrank und schob ihn zur Tür. Die anderen begriffen und halfen ihr.
»Sie kommt nicht zurück«, sagte Barbro. »Sie hat, was sie wollte.«
»Hat sie nicht«, ächzte Ida und gab dem Schrank mit ihren dünnen Armen einen Schubs.
Lindas Bilder fielen vom Aufprall von den Wänden. Linda kam angelaufen und jammerte.
»Setz dich mit Lilly in die Badewanne«, befahl Ida. »Der Schrank reicht nicht.« Sie zog einen von Lindas Freunden mit sich ins Wohnzimmer. Von dort schleppten sie eine Kommode herbei. »Ich konnte es nicht zulassen«, sagte Ida, während sie mit dem Jungen die Kommode auf den umgefallenen Schrank hievte.
»Hast du ihr etwa die falsche Version gegeben?«
Ida rieb sich die Hände. »Eine Mixtur, die nicht funktionieren wird.«
»Bist du wahnsinnig?! Sie hatte eine automatische Waffe auf dich gerichtet. Hast du nicht verstanden, wie gefährlich sie ist?«
»Genau da habe ich es verstanden. Sie ist nicht gefährlich. Gefährlich ist der Artikel. Die Zahlenmatrix und der ganze Aufsatz ist ein universeller Primzahlenfaktorierer. Ich habe nicht militärisch genug gedacht, deshalb ist es mir nicht in den Sinn gekommen.«
»Was macht ein Primzahlenfaktorierer?«
»Er faktoriert Primzahlen in Produkte und kehrt damit jede Verschlüsselung um. Ardelius hat so lange gezögert und sich bedeckt gehalten, weil er erkannt hat, wie gefährlich diese Matrix ist. Er wollte nicht wie Einstein die mächtigste Waffe seiner Zeit bauen und es danach bereuen. Aber ohne die Matrix ist seine Theorie nichts wert. Leider war er so naiv, jemandem in den USA in einer E-Mail mitzuteilen, dass er dynamische Systeme mathematisch beschreiben kann. Da wird jeder Geheimdienst hellhörig.«
»Die Polizei kommt!«, rief jemand vom Balkon.
Barbro trat hinaus. Ihre erste Befürchtung war, dass sich der Vorfall von Ardelius’ Wohnung wiederholen könnte, aber als Theresa und einige andere aus den vier Fahrzeugen stiegen, beugte sich das Mädchen, das neben Barbro stand, weit über die Brüstung, fuchtelte mit den Armen und schrie. Unten sahen alle zum Balkon hinauf.
»Sie ist aufs Eis gerannt. Da lang!«
Die Horde vor dem Haus begriff nicht, wer aufs Eis gerannt war, deshalb rief nun auch Barbro.
Theresas Erkenntnisse waren niemals tief, aber immer schnell. Sofort rannte sie mit drei Männern zum Steg.
»Du bist Cissi, oder?«
»Klar!«, sagte das Mädchen neben ihr.
Das ist aussichtslos, dachte Barbro. Die Condottiera hatte ihre Flucht geplant. In ihrem hellgrauen Klempneranzug wurde sie auf dem Eis nach zwanzig Metern unsichtbar. Und dort standen ihr alle Richtungen offen. Wahrscheinlich hatte sie mit ihrem gesamten Plan gewartet, bis es schneite.
Die andere Hälfte der Mannschaft war hinaufgekommen, begriff aber lange nicht, dass die Insassen der Wohnung erst alle Möbelstücke von der Tür wegschaffen mussten.
»Seid ihr vom Militär?«, begrüßte Barbro die Männer.
»KSI.«
Barbro berichtete, wer gerade zu Besuch hier gewesen war. Der KSI-Mann widersprach. Das könne nicht sein. Die Säpo habe herausgefunden, dass die Mörderin mit falschem Namen nach Island gereist war.
»Ihr irrt euch«, sagte Barbro und erklärte, was die Frau gewollt und was sie bekommen hatte. Im Gesicht des Mannes deutete eine kaum wahrnehmbare Entspannung der Muskeln auf Erleichterung hin.
»Wir wissen leider nicht, was an dem Artikel so besonders sein soll«, log Barbro, bevor Ida auch nur einen Ton sagen konnte.
»Das braucht ihr auch nicht zu wissen. Wir müssen alles mitnehmen und die Wohnung durchsuchen.«
Dazu musste das KSI jedoch an Ida vorbei. »Auf dem Computer sind alle Babyfotos und meine Unterlagen. Das kommt überhaupt nicht in Frage.«
Der Anführer blinzelte. »Wir werden auf die Babyfotos achtgeben.«
Nun musste das KSI nur noch an Barbro Setterlind vorbei. Dass sich das KSI so zu erkennen gab, war für sie ein klares Zeichen. Sie wissen, welches Geheimnis der Aufsatz enthielt, dachte Barbro, und Ida verstand es auch. Anscheinend hatte das KSI Elins Computer endlich geknackt. Nun ging es nur noch darum, dass nur das KSI in Zukunft Primzahlen faktorisieren konnte und kein anderer.
»Wühlt ihr etwa auch in unserem Büro?«, fragte Barbro.
»Natürlich. Das KSI macht so gut wie nichts anderes als wühlen.«
»Ich würde gern mit dem Justizkanzler telefonieren. Reine Routine.«
»Das kannst du, aber heute wirst du keinen finden, der nicht auf unserer Seite ist.«

93

Hier musste es sein: Regeringsgatan 86, erste Etage. Kjell legte den Kopf in den Nacken und ließ seinen Blick an den sanft geschwungenen Formen der Fassade entlangwandern. Das Haus war etwa ein Jahrhundert alt. Er deutete mit dem Kinn hinauf zum Fenster in der ersten Etage. »Es brennt tatsächlich Licht!«
»Dann klingeln wir«, sagte Tholander, in dessen Innerem sich die Zahnräder selbst in einem Augenblick wie diesem einfach weiterdrehten.
Eine Frauenstimme meldete sich aus der Sprechanlage.
»Wir sind von der Polizei«, antwortete Kjell. »Könntest du uns hereinlassen?«
Im Treppenhaus hörte Kjell, wie oben die Tür quietschte. Noch auf den letzten Stufen wünschte er ein frohes neues Jahr, damit die Frau sich nicht fürchtete.
»Euch auch. Seid ihr von der Säpo?«
»Nein«, antwortete Kjell und klappte seinen Ausweis auf.
»Ja«, antwortete Tholander und tat dasselbe.
»Wie kommst du darauf, dass wir von der Säpo sind?«, fragte Kjell.
Die Frau hatte weißes Haar, doch das war das Einzige, was an ihr wirklich alt aussah. »Die war früher immer für uns zuständig. Im Reichstag, wisst ihr.«
»Ja, deswegen kommen wir. Wir suchen Elsa Wetterstig.«
»Die bin ich. Kommt nur herein.«
In der Wohnung musste es über dreißig Grad warm sein. Kjell und Tholander zogen im Flur ihren Mantel aus. Doch außer der Hitze und dem sorgsam arrangierten Blumenduft verriet nichts, dass hier eine alte Dame lebte. Die Möbel waren alle neu und aus hellem Holz. Dem gleichen hellen Holz wie der Plenarsaal des Reichstags. Das war bestimmt kein Zufall, dachte Kjell.
Elsa Wetterstig war alleinstehend, aber alles andere als allein. Im Wohnzimmer saßen sechs weitere Damen an einem runden Tisch. Sie freuten sich über den Herrenbesuch.
»Habt ihr gemeinsam den Jahreswechsel gefeiert?«, fragte Kjell, nachdem sie Platz genommen hatten. Zwischen ihm und Tholander hatte Elsa einen Puffer von zwei Damen vorgesehen.
»Wir feiern alles zusammen«, lautete die Antwort.
Kjell willigte ein, auf das neue Jahr anzustoßen, weil die Damenrunde so kultiviert wirkte. Keine war unter siebzig. Au- ßerdem wollte er beobachten, wie Tholander an dem bernsteingelben Likör nippte. »Wir kommen in einer dringenden Angelegenheit«, begann er dann und wandte sich an Elsa. »Nach unseren Informationen warst du von 1971 bis 1998 als Protokollantin im Reichstag beschäftigt.«
»Nicht nur ich. Alle hier.«
Die Damen nickten. Kjell fischte seinen Notizblock aus der Hosentasche. »Ist eine von euch Solveig Ehrsson?«
»Das bin ich!«
»Ich bin Charlotta«, sagte eine andere.
»Und ich bin Martha.«
»Ich bin Gull-Britt«, meldete sich die Letzte. Sie hatte auch noch goldgelbe Locken.
Kjell starrte auf seine Liste. Dort standen genau diese Namen. Eine Stunde lang hatte er zusammen mit Tholander herauszufinden versucht, welche Angestellten zum entscheidenden Zeitpunkt im Schreibbüro des Reichstags gearbeitet hatten. Sie hatten nur deshalb mit Elsa begonnen, weil sie damals die Chefin gewesen war. Und nun saßen sie hier alle an der runden Tafel. Offenkundig erfasste auch Tholander diesen dramaturgischen Glanzpunkt, doch wegen seiner seelischen Trockenheit fühlte er sich darin unwohl.
»Ihr habt also alle im Herbst des Jahres 1982 im Reichstag gearbeitet?«, erkundigte sich Kjell.
»Ja.«
»Dann könnt ihr euch vielleicht an eine Frau mit dem Namen Ellen Johansson erinnern. Sie war damals eine Kollegin von euch. Von 1980 bis 86.«
Mit einer kleinen Verzögerung nickten Elsa und darauf auch die anderen.
»Im Sommer 1982 habt ihr alle einen Ausflug nach Lissabon gemacht, eure ganze Abteilung.«
»Es handelte sich nicht um einen Ausflug«, sagte Elsa. »Der Europa-Ausschuss ist damals dorthin gereist, und wir haben ihn zum Mitstenografieren begleitet. Aber es war nicht die ganze Abteilung. Ein halbes Dutzend vielleicht.«
»Ich war nicht dabei«, wandte Charlotta ein. »Ich konnte kein Englisch.«
»Die Teilnehmer wurden nach ihren Fremdsprachenkenntnissen ausgewählt«, erklärte Elsa. »Aber wer das war, weiß ich nicht mehr.«
»War Ellen Johansson dabei?«
»Ja.«
»Warum bist du dir sicher?«
»Es gab Schwierigkeiten. Ich war als Chefin dafür verantwortlich.«
»Was für Schwierigkeiten gab es denn?«
»Ellen war plötzlich verschwunden. Sie hat etwas mit einem Einheimischen angefangen und sich zwei Tage lang nicht gemeldet.«
Die anderen lehnten sich interessiert vor. Offenkundig wussten sie nichts von dem Vorfall. Elsa hatte ihn damals wohl diskret behandelt.
»Es gab einen weiteren Vorfall«, sagte Kjell. »Später, hier in Stockholm.«
Elsa nickte. »Ellen hat ein Kind bekommen.«
»Das meine ich nicht. Kurz nach eurer Rückkehr kreuzte ein Mann im Büro auf.«
Elsa nickte, daraufhin nickten auch die anderen. Davon wussten sie.
»Nach meiner Kenntnis wollte er Ellen Johansson sehen«, sagte Kjell.
»Sie war an jenem Tag nicht da. Ich habe sie angerufen.«
»Ahntest du damals, dass er Ellens Affäre in Lissabon war?«
»Natürlich. Er kam ja aus Lissabon. Den Zusammenhang habe ich sofort begriffen.«
»Er hat bei seinem Besuch hier in der Stadt allerdings nicht erfahren, dass er Vater würde?«
»Ellen ließ sich verleugnen. Sie war immer recht sonderbar. Sie war ein wunderbarer Mensch, aber ohne jedes Gefühl für Gemeinschaft. Irgendwann ist sie weggezogen aus Stockholm. Wir wissen nicht, was sie heute macht.«
»Ihr habt den Mann damals im Büro also alle gesehen?«
»Das haben wir.«
»Er war sehr schön«, ergänzte Charlotta. »Ein wenig älter als Ellen war er, aber genauso, wie ein Portugiese sein muss.«
Tholander reichte Kjell das Kuvert über den Tisch. Der nahm drei großformatige Bilder heraus und breitete sie auf dem Tisch aus. »Ist es dieser Mann?«
Die Reaktion fiel nicht gerade eindeutig aus. Elsa und Charlotta zogen je einen Abzug zu sich heran. Martha suchte nach ihrer Lesebrille.
»Euer Urteil ist für uns von höchster Wichtigkeit. Ellens Tochter Sofi ist heute siebenundzwanzig Jahre alt …«
Charlotta ließ ihre Hände auf die Tischplatte sausen. »Natürlich! Sofi hieß das Mädchen! Die hatte ganz schwarzes Haar. Wie der Portugiese.«
»… und arbeitet als meine Assistentin bei der Reichsmordkommission«, nahm Kjell den Faden wieder auf. »Wir ermitteln in einem Fall, wo ein Mann dieses Alters und mit einem solchen Hut die Schlüsselfigur ist.« Kjell nahm das Phantombild aus der Mappe, mit dem sie Ardelius gesucht hatten.
Die Frauen verstanden noch nicht recht. Sie verglichen die Fotos von dem Mann, der vorhin vor Sofis Tür gestanden hatte, mit der Phantomzeichnung von Ardelius. Das hatte Kjell einem Foto von Ardelius’ Leiche vorgezogen, weil er darauf natürlich keinen Hut trug.
»Hm«, meinte Elsa. »Die sind beide im selben Alter und tragen einen Hut. Wollt ihr nun von uns wissen, ob der Mann auf den Fotos der Mann auf der Zeichnung ist?«
»Nein. Das könntet ihr ja nicht besser beurteilen als wir. Ich möchte wissen, ob der Mann auf dem Foto Ellens Liebhaber aus Portugal ist. Das behauptet er nämlich. Und er behauptet, Sofis Vater zu sein.«
Elsa Wetterstieg wog das Foto und die Phantomzeichnung in den Händen. »Verstehe ich das richtig? Die beiden sehen sich verflixt ähnlich. Wenn der auf dem Foto tatsächlich der Mann ist, den wir kennen, dann hat der überhaupt nichts mit deiner Ermittlung zu tun, weil er Sofis Vater ist, ja?«
Kjell lächelte verkrampft. »Genauso ist es.«
Der Chor der pensionierten Reichtstagsschreiberinnen seufzte.
»Der angebliche Vater taucht also mitten in deiner Ermittlung auf und sieht aus wie dein Hauptverdächtiger. Wieso taucht der erst jetzt auf?«
Kjell und Tholander tauschten einen kurzen, aber verzweifelten Blick. Die Damen hatten sie in Hand.
»Irgendwie erfuhr er zwei Jahre nach dem Vorfall in Lissabon, dass Ellen Johansson nicht mehr in Stockholm, sondern in Karlstad wohnt und in einem Krankenhaus liegt«, erklärte Kjell also. »Er reiste dorthin, um sie zu besuchen. Das Krankenhaus war aber in Wahrheit ein Sanatorium. Ellen wurde kurz nach ihrem Umzug nach Westschweden eingewiesen, wegen einer schweren Schizophrenie, die organisch war. Zu sehen bekam er sie damals nicht. Er kehrte nach Portugal zurück. Vor kurzem kam sie ihm wieder in den Sinn. Als er sich erkundigte, was aus ihr geworden war, erfuhr er, dass sie bereits vor siebzehn Jahren an einem Schlaganfall gestorben ist.«
»Das arme Kind. Wie alt war Sofi damals?«
»Etwa zehn. Sie ist bei einer Pflegefamilie in Westschweden aufgewachsen. Nach Stockholm kehrte sie erst während des Studiums zurück. Von der Verwaltung des Krankenhauses erfuhr er beiläufig, Ellen Johansson habe eine Tochter. Wie er 1982 auf die Idee kam, Ellen könnte von ihm ein Kind erwarten, weiß ich nicht, aber als er jetzt hörte, dass Ellen tatsächlich eine Tochter hat, die im richtigen Alter ist, um damals in Lissabon gezeugt worden sein zu können, da hat er nicht mehr losgelassen. Das Amt in Karlstad fand für ihn heraus, wo diese Tochter heute lebt. Und dabei kam heraus, dass Sofi genau neun Monate nach Lissabon geboren wurde. Im Volksbuch war kein Vater eingetragen. Angeblich ist er schon seit Wochen hier in Stockholm. Es hätte ja sein können, dass Ellen damals viele Männer hatte. So stellte er sich als Südeuropäer die Sitten hier in Schweden vor. Sofis Teint gab ihm die Gewissheit, dass der Vater nie und nimmer Schwede sein kann.«
Tholander hatte ein Porträt von Sofi parat. Ihre schwarzen Haare verzückten die alten Damen.
»Heiligabend wollte er bei ihr klingeln.«
»Als Weihnachtsgeschenk«, murmelte Tholander.
»Aber sie war nicht da. Sie haben sich mehrmals verpasst.«
Der Vater hatte ihr Nachrichten hinterlassen. Worte wollte er dabei nicht gebrauchen, deswegen hatte er gezeichnet.
»Verstehe ich dich richtig?«, sagte Elsa. »Sofi weiß gar nicht, dass er ihr Vater ist?«
»Das Einzige, worüber ich mir bei Sofi Johansson sicher bin, ist, dass sie nicht weiß, wer ihr Vater ist. Auf dieser Ungewissheit beruht ihr gesamtes Wesen.«
Elsa betrachtete wieder das Foto des Mannes und seufzte. »Es ist bald dreißig Jahre her. Ihr bei der Polizei habt doch Methoden, um herauszufinden, ob er ihr Vater ist!«
»Leider ist Sofi seit gestern verschwunden, und heute klingelt er an ihrer Tür und tischt uns diese Geschichte auf. Er sitzt jetzt im Untersuchungsgefängnis. Ohne Beweis lassen wir ihn nicht frei, solange Sofi nicht wieder auftaucht.«
Und wenn dieser Mann ihr Vater war, verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, dass Sofi gegen ihren Willen verschwunden war. Sie konnte dann zwar immer noch in der Hand der unbekannten Frau sein, aber alle unerklärlichen Ereignisse, die in der vergangenen Woche in Sofis Privatleben vorgefallen waren, hätten nichts mit dem Fall zu tun.
»Das kannst du uns nicht weismachen«, sagte Charlotta. »Ihr habt doch bestimmt genetische Gegenproben von allen Polizisten. Und ihre Wohnung wird ja nicht auch verschwunden sein. Da müsst ihr nur eine Haarprobe nehmen.«
»Ja.«
Charlotta lächelte milde. »Du traust dich nicht ohne ihre Einwilligung.«
»Ja.«
»Hast du die Geschichte von damals heute Abend von ihm erfahren?«
»Ja.«
Elsa legte die Fotos von Sofi und ihrem angeblichen Vater vor Kjell auf den Tisch. Wenn man sie nebeneinanderlegte, war die Ähnlichkeit frappierend. »Dann hast du die Antwort bereits«, sagte sie. »Meine brauchst du nicht.«